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Mrinmaji

I

Apurbakrischna hatte sein Examen bestanden und kehrte von Kalkutta in sein heimatliches Dorf zurück.

Der Fluß war klein; in der regenlosen Zeit trocknete er fast ganz aus. Aber jetzt, nach dem Regen, war sein Wasser über die Ufer gestiegen und umspülte die Wurzeln der Hecken und Bambusgebüsche des Dorfes.

Wochenlang war der Himmel von dichten Regenwolken verhangen gewesen. Heute zum erstenmal strahlte die Sonne wieder vom wolkenlosen Himmel.

Und der Geist des Jünglings, der da auf dem Schiffe saß, glich dem jungen Flusse, dessen windgeschaukelte, überströmende Wasser im Sonnenlicht fröhlich glitzerten.

Das Schiff legte pünktlich an der Landungsbrücke an. Apurba konnte vom Fluß aus das helle Dach seines väterlichen Hauses hinter den Bäumen hervorlugen sehen. Man wußte zu Hause nichts von seinem Kommen, deshalb erwartete ihn niemand an der Landungsbrücke. Der Bootsmann wollte seinen Koffer nehmen, doch Apurba griff selbst nach seinem Gepäck und sprang in freudiger Hast ans Ufer.

Allein das Ufer war glitschig, und kaum hatte er den Fuß aufs Land gesetzt, so glitt er aus und fiel mit seinem Koffer in den Schlamm. Und wie er hinfiel, ertönte irgendwo ganz in der Nähe ein helles, liebliches Lachen, so daß die Vögel erschreckt von dem Aschokabaum neben ihm aufflogen.

Apurba schämte sich sehr; er raffte sich schnell auf und sah sich um. Da erblickte er auf einem Haufen von Ziegelsteinen, die ein Frachtschiff am Ufer abgeladen hatte, ein Mädchen. Sie saß da und lachte in übermütigem Spott.

Apurba erkannte sie. Es war Mrinmaji, die Tochter der zugezogenen Nachbarsfamilie. Die Leute hatten ihre Heimat weiter unten am Fluß; vor zwei Jahren hatten sie bei einer Überschwemmung ihr Heim verlassen und waren hierher ins Dorf gekommen.

Von diesem Mädchen wurde manche skandalöse Geschichte erzählt. Die Männer im Dorfe nannten sie mit sichtlichem Wohlgefallen ein tolles Ding, aber die Frauen waren entsetzt über ihr freies und zuchtloses Benehmen. Sie trieb sich den ganzen Tag mit den Kindern des Dorfes herum, während sie sich um ihre Altersgenossinnen gar nicht kümmerte oder sie mit Geringschätzung behandelte.

Vielleicht war sie so eigenwillig, weil sie der Liebling ihres Vaters und von ihm sehr verzogen war. Die Mutter selbst klagte darüber bei ihren Freunden und Nachbarn, aber da sie wußte, daß jede Träne des Mädchens dem Herzen des Vaters weh tat, konnte auch sie das Kind nicht weinen sehen.

Mrinmaji war von dunkler Hautfarbe. Das Haar fiel ihr in krausen Locken in den Nacken. In den großen dunklen Augen ihres knabenhaften Antlitzes war nichts von Scheu oder Verschämtheit, aber auch keine Spur von Koketterie. Sie war groß und schlank gewachsen, ihr Körper war voll erblüht, gesund und kräftig. Aber es fiel niemand ein, nach ihrem Alter zu fragen; sonst hätten die Leute die Eltern getadelt, daß sie noch unverheiratet war.

Wenn fremde Handelsschiffe an der Landungsbrücke des Dorfes anlegten und die Dorfbewohner aufgeregt an den Fluß eilten, wenn die Mädchen am Flusse schnell ihr Antlitz bis zur Nasenspitze züchtiglich verhüllten, kam Mrinmaji mit flatternden Locken, irgendein nacktes Kind auf dem Arm, plötzlich angelaufen. Furchtlos wie ein junges Reh, das noch nichts von Jäger und Gefahr weiß, stand sie da und schaute neugierig zu, bis sie schließlich zu ihren Spielgefährten zurücklief, um ihnen eine lebhafte und ausführliche Schilderung von den fremden Leuten und allem, was sie taten und mit sich führten, zu geben.

Unser Freund Apurba hatte das Mädchen schon mehrmals, wenn er in den Ferien zu Hause war, gesehen und gelegentlich – oder auch ungelegentlich – an sie gedacht. Wir sehen in der Welt viele Gesichter, aber ohne daß wir sagen können warum, prägt sich plötzlich eins unserm Geiste ein. Der Vorzug, der dies bewirkt, ist nicht nur seine Schönheit, es ist noch etwas anderes: es ist die geheimnisvolle Welt des Innern, die sich so selten in einem Menschenantlitz ganz rein und ungehemmt ausdrückt. Wo sie dies tut, da fällt uns dies Antlitz unter tausenden auf und läßt uns nicht los. Aus Mrinmajis Antlitz und Augen sprach eine ganz echte und unverdorbene Frauennatur, eigenwillig und ungezähmt wie das Wild des Waldes. Daher konnte Apurba das Mädchen, als er es einmal gesehen hatte, nicht wieder vergessen.

Ich brauche dem Leser wohl nicht erst zu sagen, daß Mrinmajis übermütiges Lachen, so lieblich es auch klingen mochte, dem unglücklichen Apurba höchst peinlich war. Er gab schnell dem Bootsmann seinen Koffer und eilte mit rotem Kopf heimwärts. Es war vorher alles so schön gewesen – das Flußufer, der Schatten der Bäume, der Gesang der Vögel, seine zwanzig Jahre! Und wenn auch der Ziegelhaufen sonst nichts Besonderes an sich hatte, so hatte doch das Wesen, das auf ihm saß, über diesen rauhen, harten Sitz einen Glanz von Schönheit gebreitet. Ach, daß er schon bei seinem ersten Auftritt in dieser Szene der Lächerlichkeit anheimfallen mußte! Hätte das Schicksal sich etwas Peinlicheres und Grausameres für ihn ausdenken können?

 

II

Mit beschmutzten Kleidern ging Apurba im Schatten der Bäume seinem Hause zu, während ihn vom Ziegelhaufen her das übermütige Lachen verfolgte.

Die Mutter, Rama Ray, die als Witwe allein mit den Dienstboten im Hause lebte, war aufs höchste erfreut über die unerwartete Ankunft ihres Sohnes. Es ging sofort an ein eifriges Zurüsten für ein festliches Mahl; die Leute mußten laufen, um frische Milch, Sahne, Fisch usw. herbeizuschaffen, und die ganze Nachbarschaft nahm an der Freude und Aufregung teil.

Nach dem Essen fing Rama an, von der Heirat zu sprechen, die sie für ihren Sohn plante. Apurba war darauf gefaßt, denn der Plan war alt. Aber der Sohn hatte als Antwort auf das alte Lied der Mutter auch wieder seinen alten Kehrreim: erst müsse er sein Studium beenden, vorher könne er nicht an Heiraten denken. Bis jetzt halte Rama sich damit abweisen lassen, aber heute wollte sie von keinem Aufschub mehr hören. Am Ende sagte Apurba: »Erst muß man die Braut sehen, danach können wir dann die Sache beschließen.« – »Die Braut habe ich gesehen«, sagte Rama, »darum brauchst du dich nicht zu kümmern.« – Doch Apurba war sehr geneigt, sich darum zu kümmern. Er sagte: »Ich kann das Mädchen nicht heiraten, wenn ich sie nicht vorher gesehen habe.« Die Mutter fand das eigentlich ungehörig, aber sie erklärte sich einverstanden.

Als Apurba am Abend seine Lampe gelöscht hatte und zu Bett gegangen war, kam von jenseits aller Geräusche der Regennacht, aus einer fernen Stille, ein übermütiges, helles, liebliches Lachen an sein einsames, schlafloses Lager und klang ihm ununterbrochen im Ohr. Und unaufhörlich verfolgte und quälte ihn der eine Gedanke, wie er das Ausgleiten von heute morgen wieder wettmachen könne. Könnte er dem Mädchen doch begreiflich machen, daß er ungeheuer viel gelernt hatte, daß er lange in Kalkutta studiert hatte, daß er in einer Monatsschrift mit Namen »Leuchte des Alls« Bücher rezensierte und daß in seinem Koffer unter Essenzen, Lackschuhen und buntem Briefpapier ein ganz vollgeschriebenes, dickes Heft wie die im Schoße der Nacht ruhende Morgenröte auf sein Ans-Licht-Kommen wartete! Wenn er auch durch einen bösen Zufall in den Schlamm geglitten war, so war er doch darum kein tölpelhafter Dorfjunge, über den man geringschätzig lachen durfte!

Am folgenden Tage machte Apurba sich fertig, um die ihm bestimmte Braut zu besuchen. Es war nicht weit; sie wohnte im selben Dorfbezirk. Er kleidete sich mit besonderer Sorgfalt an. Schulter- und Lendentuch verschmähend, legte er einen seidenen Tschapan an, setzte einen Turban auf, zog ein Paar neue Lackschuhe an die Füße und machte sich, einen seidenen Schirm in der Hand, frühmorgens auf den Weg.

Im Hause des voraussichtlichen Schwiegervaters verursachte sein Erscheinen große Freude und Aufregung. Er wurde vom Hausherrn aufs höflichste empfangen, während drinnen die Frauen das Mädchen, besten Herz vor Angst zitterte, eifrig abrieben, um ihrer Haut die richtige Röte und Frische zu geben. Darauf wurde sie mit aller Kunst frisiert und geschmückt, in einen leuchtenden Sari Ein großes Tuch, das als Obergewand um den ganzen Körper drapiert wird. gehüllt und endlich dem Bräutigam vorgeführt. Schweigend saß sie dann in einer Ecke, den Kopf fast bis auf die Knie gesenkt, während eine ältere Magd sich hinter ihr aufstellte, um ihr Mut zu machen. Ihr kleiner Bruder war auch da und starrte unentwegt diesen neuen Menschen an, der in seine Familie eindringen wollte; er musterte mit großer Aufmerksamkeit seinen Turban, seine Uhrkette und seinen jungen Schnurrbart. Apurba strich sich eine Weile schweigend diesen neugewachsenen Schmuck, schließlich fragte er das Mädchen ernst: »Was lernst du in der Schule?« Aber von dem verhüllten Bündel Scheu und Verlegenheit, das da in der Ecke hockte, kam keine Antwort. Nachdem er seine Frage ein paarmal wiederholt und die Magd dem Mädchen von hinten verschiedene ermutigende Rippenstöße versetzt hatte, antwortete sie leise und monoton, als hätte sie es auswendig gelernt: »Lesen, Grammatik, Erdkunde, Arithmetik, indische Geschichte.« Jetzt hörte man draußen schnelle Schritte, und im selben Augenblick kam Mrinmaji mit wirrem Haar ins Zimmer gestürmt. Ohne Apurba eines Blickes zu würdigen, ergriff sie die Hand des kleinen Bruders Rakhal und wollte ihn mit sich ziehen. Rakhal aber war noch lange nicht mit seinen Beobachtungen fertig und hatte keine Lust, sie abzubrechen. Die Magd, obwohl sie sich immer noch bemühte, sich zurückzuhalten und leise zu sprechen, fing an, Mrinmaji mit scharfer Stimme zu schelten. Apurba nahm seine ganze Würde zusammen, hielt den turbanbedeckten Kopf hoch und spielte nachlässig mit seiner Uhrkette. Endlich, als Mrinmaji ihren Spielgefährten durchaus nicht bewegen konnte, mitzukommen, gab sie ihm einen gehörigen Klaps auf den Rücken, zog geschwind der Braut den Sari hinten vom Kopfe herab und war wie der Wind zum Zimmer hinaus. Die Magd brummte wütend, während Rakhal über den Streich, den Mrinmaji seiner Schwester gespielt hatte, belustigt lachte. Den Schlag auf den Rücken, den er selbst bekommen hatte, nahm er nicht weiter übel, an dergleichen war man beim Spiel gewöhnt. Ja, einmal, als Mrinmajis Haarknoten sich wieder gelöst hatte und die Locken auf den Rücken herabfielen, war Rakhal plötzlich von hinten mit einer Schere gekommen und hatte angefangen, sie abzuschneiden. Mrinmaji hatte ihm wütend die Schere entrissen und schwipp schwapp den Rest ihrer Haare und dann seine eigenen mitleidslos weggeschnitten, so daß die lockigen Haarbüschel wie dunkle Trauben auf den Boden fielen. Derlei Bestrafungen waren zwischen den beiden üblich.

Die schweigende Gesellschaft drinnen blieb nicht mehr lange zusammen. Das Bündel in der Ecke richtete sich schließlich auf und ging mit der Magd hinaus. Apurba strich sich noch eine Weile nachdenklich den spärlichen Schnurrbart, dann schickte er sich an fortzugehen. Aber als er an die Tür kam, sah er, daß seine neuen Lackschuhe nicht mehr dastanden, und soviel er auch suchte, er konnte sie nirgends entdecken.

Die Leute im Hause gerieten alle in große Aufregung, und ein Hagel von Schelten und Schimpfen erhob sich gegen den Schuldigen. Da alles Suchen sich als vergeblich erwies, mußte Apurba schließlich ein Paar alte Schuhe des Hausherrn anziehen und begab sich mit seinem seidenen Tschapan und Turban hinaus auf die schlammige Dorfstraße, die er mit größter Vorsicht entlang zu schreiten begann.

Als er dann an den einsamen Pfad kam, der am Teich hinführte, hörte er plötzlich wieder jenes helle, übermütige Lachen, als ob eine neckische Waldgottheit, durch das Dickicht spähend, die absonderliche Fußbekleidung Apurbas bemerkt hätte und sich darüber totlachen wollte. Apurba stand erschrocken und verwirrt still und sah sich zögernd um. Da trat die Schuldige ganz frech aus dem Gebüsch hervor, warf ihm seine neuen Schuhe hin und wollte entfliehen. Aber Apurba ergriff schnell ihre Hände und hielt sie fest.

Mrinmaji wand sich und versuchte, ihre Hände zu lösen und davonzukommen, aber es gelang ihr nicht. Durch die Zweige fielen die Sonnenstrahlen auf ihr von krausen Locken umrahmtes hübsches Schelmengesicht. Wie ein Wanderer sich neugierig über den sonnenbeglänzten, klaren Fluß beugt, um ihm auf den Grund zu schauen, so blickte Apurba wie gebannt in Mrinmajis Antlitz und in ihre blitzenden Augen. Langsam lösten sich seine Hände von den ihren, und er gab seine Gefangene frei. Hätte Apurba sie im Zorn geschlagen, so würde sie sich darüber gar nicht gewundert haben, aber was diese merkwürdige stumme Strafe bedeuten sollte, konnte sie absolut nicht verstehen.

 

III

Apurba wußte es den ganzen Tag so einzurichten, daß er seiner Mutter nicht begegnete. Er war zum Essen eingeladen und kam erst spät nach Hause. Als er dann gegen Abend zu Rama ins Zimmer trat, fragte diese: »Nun, Apurba, hast du das Mädchen gesehen? Wie gefällt sie dir? Hast du deine Wahl getroffen?«

Apurba antwortete etwas verlegen: »Ja, Mutter, ich habe die Mädchen gesehen, und ich habe meine Wahl getroffen.«

»Was für ein Mädchen hast du denn sonst noch gesehen?« fragte Rama erstaunt.

Und nun erfuhr sie, daß die Wahl ihres Sohnes auf Mrinmaji gefallen war! Eine solche Wahl, nachdem er soviel gelernt hatte!

Zuerst war Apurba sehr verlegen, aber als Rama nun anfing, heftige Einwände zu machen, war es mit seiner Verlegenheit aus. Er erklärte zornig, er würde keine andere heiraten als Mrinmaji. Wenn er sich nur vorstellte, daß er so eine leblose Puppe heiraten sollte wie die andere, so ergriffe ihn ein Ekel vor dem Heiraten überhaupt.

Nachdem Mutter und Sohn ein paar Tage lang mit tiefgekränktem Gesicht umhergegangen waren und weder essen noch schlafen konnten, trug Apurba den Sieg davon. Rama sagte sich, daß Mrinmaji ja noch ein Kind sei und ihre Mutter es nicht verstanden habe, sie zu erziehen; wenn sie nach der Hochzeit in ihre Hände käme, würde sie sie schon ganz umwandeln. Und sie fand auch, daß Mrinmaji eigentlich ein hübsches Mädchen sei. Zwar, wenn sie an ihre kurzgeschnittenen Haare dachte, wollte ihr Herz verzweifeln. Aber sie hoffte, daß, wenn sie die Haare fest zusammenbinden und tüchtig Öl hineintun würde, auch dieser Schaden mit der Zeit zu beheben sei.

Alle Leute im Dorfe erklärten Apurba für toll, als sie von der Wahl hörten. Manche hatten zwar das wilde Mädchen gern, aber sie deswegen als Schwiegertochter ins Haus zu nehmen, nein, das wäre niemandem eingefallen!

Mrinmajis Vater Ischan Mazumdar wurde benachrichtigt. Er hatte eine Art Schreiberposten bei einer Schiffahrtsgesellschaft und wohnte weiter unten am Flusse in einem kleinen, mit Zink gedeckten Schuppen, wo er die Verladung der Waren und den Fahrkartenverkauf zu besorgen hatte.

Als er den Heiratsantrag für seine Tochter erhielt, schossen ihm die Tränen in die Augen. Ob aus Freude oder Schmerz oder beidem, das hätte er selbst wohl nicht sagen können.

Er schrieb an den Direktor der Gesellschaft und bat um Urlaub, um bei der Hochzeit seiner Tochter zugegen sein zu können. Aber der Direktor fand den Anlaß zu unwichtig und schlug den Urlaub ab. Darauf schrieb Ischan an die Seinen, man möge die Hochzeit bis zum Pudschafest Das größte Fest in Bengalen, Anfang Oktober, zu Ehren der Göttin Kali. verschieben, da ihm dann eine Woche Urlaub zustände. Allein Rama erklärte, man dürfe nicht warten, da der für die Hochzeit günstigste Tag Nach dem bengalischen Kalender. gerade in diesen Monat falle.

Nachdem Ischan auf beiden Seiten abschlägig beschieden war, ergab er sich traurigen Herzens in sein Schicksal und fuhr fort, Waren abzuwägen und Fahrkarten zu verkaufen.

Indessen bemühte sich Mrinmajis Mutter und mit ihr alle älteren Frauen des Dorfes, das Mädchen über ihre künftigen Pflichten zu belehren. Tag und Nacht plagten sie sie damit. Ihr Hang zum Spielen, ihr schnelles Laufen, ihr lautes Lachen, ihr ungezwungener Verkehr mit den Knaben, ihr ungeniertes Sichsattessen, alles wurde einer strengen Kritik unterzogen, so daß die guten Frauen am Ende den Erfolg hatten, ihr die Heirat als etwas Fürchterliches erscheinen zu lassen. Sie hatte das Gefühl, als ob ihr junges Leben zu Kerker und Galgen verurteilt sei.

Und wie ein widerspenstiges Füllen krümmte sie den Nacken, bäumte sich und sagte: »Ich heirate nicht!«

 

IV

Aber das half nichts, sie mußte heiraten. Darauf wurde sie in eine andere Schule genommen. Ihre ganze frühere Welt mußte sie draußen lassen, als sie eines Tages in das Zenana ihrer Schwiegermutter eintrat.

Rama begann sofort ihr Besserungswerk. Mit strengem Gesicht sagte sie: »Nun höre einmal, mein Töchterchen, du bist jetzt kein unreifes Kind mehr; in unserm Hause hast du dich anständig zu benehmen. Deine frühere Art paßt nicht hierher.«

Aber das war nicht der richtige Ton, um auf Mrinmaji zu wirken. Sie dachte bei sich: Nun, wenn meine Art nicht hierher paßt, so paßt sie anderswohin! Am Nachmittage ließ sie sich nicht mehr blicken. Man fing an, nach ihr zu suchen. Schließlich zog man sie aus ihrem heimlichen Versteck hervor. Sie saß unter einem Feigenbaum, hinter dem Gerümpel von Radhankanta Thakurs zerbrochenem Wagen. Wie die Schwiegermutter, dir Mutter und sämtliche wohlmeinenden Leute des Dorfes ihr Vorwürfe machten, das mag der phantasievolle Leser sich selbst ausmalen.

In der Nacht überzog sich der Himmel mit dichten Wolken, und mit lautem Geprassel setzte der Regen ein. Apurba rückte im Bett sachte ein wenig auf Mrinmajis Seite und flüsterte ihr zu: »Mrinmaji, liebst du mich nicht?«

»Nein«, erwiderte sie prompt, »ich werde dich niemals lieben!« Alles, was sich an Zorn und Rachedurst in ihr angesammelt hatte, schleuderte sie gleichsam wie einen Donnerkeil auf Apurbas Haupt.

»Warum? Was habe ich dir denn zuleide getan?« fragte Apurba betrübt.

»Du hast mich geheiratet!« erwiderte Mrinmaji.

Es war schwer, sich dieser Anklage gegenüber zu rechtfertigen. Allein Apurba liest sich noch nicht entmutigen. Er sagte sich, daß es ihm irgendwie schon gelingen werde, dies widerspenstige Herz zu bezwingen.

Am nächsten Tage, als Rama bemerkte, in welcher rebellischen Verfassung ihre Schwiegertochter war, schloß sie sie in ihrem Zimmer ein. Zuerst gebärdete Mrinmaji sich wie ein Waldvogel, den man plötzlich in einen Käfig sperrt und der lange ungestüm umherflattert. Als sie endlich sah, daß sich keine Gelegenheit zur Flucht bot, warf sie sich aufs Bett und begann in ohnmächtigem Zorn das Bettuch mit den Zähnen zu zerreißen. Dann warf sie sich bäuchlings auf den Fußboden und rief, unaufhörlich schluchzend, nach ihrem Vater.

Da trat jemand leise ins Zimmer und kniete bei ihr nieder. Liebevoll wollte er ihr das wirre Haar aus der Stirn streichen. Aber Mrinmaji zog heftig den Kopf zurück und stieß seine Hand weg. Apurba flüsterte ihr leise ins Ohr: »Ich habe heimlich die Tür aufgeschlossen. Komm, wir schleichen uns durch die Hintertür in den Garten!« Mrinmaji schüttelte heftig den Kopf. »Nein!« stieß sie unter Schluchzen hervor. Apurba faßte sie am Kinn und versuchte, ihr Gesicht zu heben. »Sieh doch einmal, wer da steht«, sagte er. An der Tür stand Rakhal und sah die am Boden liegende Spielgefährtin ganz fassungslos an. Aber Mrinmaji sah nicht auf; heftig stieß sie Apurbas Hand zurück. Apurba sagte: »Rakhal wollte dich zum Spielen abholen, gehst du mit?« – »Nein!« rief sie zornig. Als Rakhal sah, daß er so ungelegen gekommen war, machte er sich zögernd wieder davon. Apurba blieb schweigend neben Mrinmaji sitzen. Schließlich schlief diese, vom Weinen erschöpft, ein. Da erhob er sich leise, ging auf den Zehen hinaus und schloß die Tür wieder ab.

Am folgenden Tag erhielt Mrinmaji einen Brief von ihrem Vater. Er sagte ihr, daß er zu seinem Schmerze nicht zur Hochzeit seiner geliebten Minu hätte kommen können und daß er dem jungen Paar aus tiefstem Herzen seinen Segen schicke.

Mrinmaji ging zu ihrer Schwiegermutter und sagte: »Ich gehe zu meinem Vater.« Rama war entrüstet. »Was für ein Einfall ist das nun wieder!« schalt sie. »Zu deinem Vater willst du reisen! Ohne überhaupt zu wissen, wie du dahinkommst! Bist du denn ganz verrückt?« Mrinmaji antwortete nichts und ging hinaus. Sie schloß sich in ihrem Zimmer ein, und wie ein verzweifelter Mensch die Gottheit anfleht, so rief sie zu ihrem Vater: »Vater, hole mich von hier fort! Hier habe ich niemanden! Ich werde sterben, wenn ich hier bleibe!«

Als es Nacht war und Apurba fest schlief, stand sie leise auf und schlich sich hinaus aus dem Hause. Am Himmel zogen zwar noch Wolken, aber es brach genug Mondlicht hindurch, um den Weg zu erhellen. Mrinmaji hatte keine Ahnung, welche Straße nach dem Orte führte, wo ihr Vater wohnte. Aber sie hatte die bestimmte Vorstellung, daß sie nicht fehlgehen könne, wenn sie den Weg einschlüge, auf dem der Briefbote immer gegangen kam. So trabte sie denn tapfer darauflos. Aber als die Nacht sich ihrem Ende neigte, spürte sie doch eine große Müdigkeit in allen Gliedern. In den Bäumen an der Straße fingen bei dem um diese Stunde ungewohnten Geräusch ihrer Schritte ein paar Vögel leise und zaghaft an zu zwitschern. Sie hielt zögernd an und überlegte, wie spät es wohl sein mochte. Da sah sie vom Ende der Straße her den Fluß schimmern. Schnell schritt sie weiter und gelangte an einen großen Marktplatz. Wieder stand sie unschlüssig still, denn sie wußte nicht, nach welcher Seite sie abbiegen mußte. Da hörte sie bekannte stapfende Fußtritte. Es war der Postbote, der mit dem Briefsack auf der Schulter schweren Schrittes daherkam. Mrinmaji ging auf ihn zu und sagte in müdem, klagendem Ton: »Ich will nach Kuschigan zu meinem Vater, kannst du mich nicht mitnehmen?« – »Kuschigan? Ich weiß gar nicht, wo das ist«, antwortete der Mann. Darauf stieg er ins Postboot, weckte den Bootsmann, und schon fuhr das Boot ab. Man hatte keine Zeit für mitleidige Fragen.

Allmählich wurde es auf dem Marktplatz und auf der Brücke lebendig. Mrinmaji stieg die Landungsstufen hinab und rief einem Bootsmann zu: »Bootsmann, kannst du mich wohl nach Kuschigan fahren?« Bevor der Bootsmann ihr antworten konnte, rief ein Mann von einem andern Boot herüber: »Wer ist denn das? Mütterchen Minu, wie kommst du hierher?« Mrinmaji erwiderte eifrig: »Ach, Banamali, ich will zu meinem Vater nach Kuschigan, bringe mich mit deinem Boot hin!« Banamali war ein Bootsmann aus dem Dorfe. Er hatte mit Erstaunen das Mädchen erkannt und sagte nun: »Zu deinem Vater willst du? Nun gut, komm, ich bringe dich hin.« Mrinmaji stieg ein.

Das Boot fuhr ab. Der Himmel hatte sich wieder dicht bewölkt, und es fing an zu regnen. Das kleine Boot schaukelte auf dem in der Regenzeit angeschwollenen Fluß auf und ab; Mrinmaji fühlte sich von Müdigkeit überwältigt; sie zog sich den Sari über Gesicht und Füße und legte sich im Boot nieder, und von Mutter Natur sanft und liebevoll gewiegt, schlief sie bald den sorglosen Schlummer eines Kindes.

Als sie erwachte, befand sie sich im Bett, im Hause ihrer Schwiegermutter. Die Magd stand neben ihr, und sobald sie sah, daß Mrinmaji sich rührte, rief sie: »Sie ist wach!« Sogleich kam Rama herein und fing an, ihr bittere Vorwürfe zu machen. Mrinmaji sagte nichts, sie sah die Schwiegermutter nur mit weitgeöffneten Augen an. Als diese aber anfing, auf die schlechte Erziehung ihres Vaters zu schelten, sprang Mrinmaji auf und eilte ins Nebenzimmer, das sie von innen verriegelte.

Apurba fühlte sich durch dies alles aufs tiefste gedemütigt, aber er bezwang seine Scham und sagte zu Rama: »Mutter, könntest du sie denn nicht auf ein paar Tage zu ihrem Vater reisen lassen?«

»Nie und nimmer!« erklärte Rama, und darauf fing sie an, ihn mit Vorwürfen zu überhäufen, daß er, der unter so vielen Mädchen der Gegend die Wahl gehabt hatte, ihr eine solche Wildkatze ins Haus gebracht.

 

V

Den ganzen Tag stürmte und regnete es draußen, und im Hause herrschte ein Unwetter anderer Art.

So verging auch der folgende Tag. In der Nacht darauf weckte Apurba Mrinmaji leise und sagte: »Mrinmaji, wollen wir zu deinem Vater fahren?«

Mrinmaji ergriff heftig seine Hand. »Ja, laß uns fort!« flüsterte sie.

»Komm denn«, sagte Apurba, »wir müssen schnell machen. Ich habe ein Boot an der Landungsstelle bereit.«

Mrinmaji sah ihn einen Augenblick dankbar an. Dann sprang sie auf, kleidete sich eilig an und war im Nu bereit. Apurba ließ einen Brief zurück, damit die Mutter sich nicht ängstigen sollte, und dann schlichen sie hinaus.

Als sie in der dunklen Nacht die stille, menschenleere Dorfstraße entlang gingen, faßte Mrinmaji zum erstenmal freiwillig und vertrauensvoll die Hand ihres Gatten. Die freudige Erregung ihres Herzens strömte bei der weichen Berührung gleichsam in seine Adern über und ließ sein Blut tanzen.

Das Boot fuhr ab. Trotz ihrer Erregtheit schlief Mrinmaji bald ein. Als sie am Morgen erwachte, welch ein Gefühl der Befreiung und Freude! Und all das Neue, das sich ihren Augen bot! Die Dörfer zu beiden Seiten, die Märkte, die Reisfelder, die Wälder! Und dann all die Schiffe, die an ihnen vorüberfuhren! Mrinmaji stellte tausend Fragen, jede Kleinigkeit wollte sie wissen: was für ein Schiff das eben war, woher jenes wohl kam, wie dieser Ort hieß – alles Fragen, für deren Beantwortung Apurba seine Buchgelehrsamkeit nicht verwenden konnte. Seine Kalkuttaer Freunde wären gewiß sehr verlegen gewesen, wenn sie alles hätten beantworten sollen, aber er gab auf jede Frage Antwort, wenn auch das meiste nicht ganz mit der Wahrheit übereinstimmte. Z. B. bezeichnete er ganz kühn die Sesamsäcke aus einem Schiff als Leinsamensäcke, den Ort Pandschbere als Raynagar und ein Amtsgericht als Gutsverwaltungsgebäude. Aber die vertrauensvolle Fragerin war mit diesen zweifelhaften Auskünften durchaus zufrieden.

Am folgenden Tage langte das Boot gegen Abend in Kuschigan an. In seinem kleinen Schuppen, der von einer trüben Öllaterne spärlich erleuchtet war, saß Ischan an seinem Pult und machte Eintragungen in ein großes, in Leder gebundenes Rechnungsbuch. Da trat plötzlich das junge Paar ein. »Vater!« rief Mrinmaji. Diesen Laut hatte dieser Raum noch nie gehört.

Ischan stürzten die Tränen aus den Augen. Er war so überwältigt, daß er nicht wußte, was er sagen oder tun sollte. Sein Schwiegersohn und seine Tochter erschienen ihm wie Prinz und Prinzessin; wie er ihnen zwischen allen diesen Juteballen einen würdigen Thron herrichten sollte, dafür wollte seinem verwirrten alten Kopf gar keine Idee kommen.

Und dann das Essen – das war erst eine Sorge! Als armer Schreiber pflegte er sich selbst nur irgendwie etwas Reis zuzurichten – wie sollte er nur heute, an einem solchen Freudentage, eine passende Mahlzeit schaffen? Aber Mrinmaji sagte: »Weißt du, Vater, jetzt kochen wir alle zusammen.« Und Apurba stimmte freudig zu.

Der Raum war eng und dürftig, aber wie aus dunkler Enge der Brunnen um so fröhlicher emporsprudelt, so begann hier aus der Armut selbst ein Strom von Freude sich zu ergießen.

So vergingen drei Tage. Zweimal täglich legte das Dampfschiff regelmäßig an. Welch ein Getriebe, welch eine bunte Menschheit! Und am Abend, wenn das Flußufer in vollkommenem Schweigen dalag, wie man dann die ungehemmte Freiheit genoß! Dann machten die drei sich zusammen ans Kochen, und wieviel Spaß hatten sie bei ihren eifrigen Zurüstungen – wenn eins von ihnen etwas verkehrt machte, oder wenn sie über einer Sache die andere vergessen hatten! Darauf setzten Schwiegervater und Schwiegersohn sich zum Essen In Indien essen die Männer zuerst., und während Mrinmaji mit liebevollen Händen und leise klirrenden Armbändern die Speisen auftrug, neckten die beiden sie mit tausend kleinen kritischen Bemerkungen, um ihr fröhliches Lachen oder ihr gespieltes Gekränktsein hervorzurufen.

Aber schließlich sagte Apurba, daß sie nicht länger bleiben könnten. Mrinmaji bat ihn inständig, noch ein paar Tage zuzugeben, doch Ischan selbst erklärte, daß es nicht anginge.

Beim Abschied zog der Vater die Tochter an seine Brust, legte seine Hand auf ihr Haupt und sagte mit erstickter Stimme: »Nun geh zu deiner Schwiegermutter, mein Kind, und werde das Licht und die Lakschmi ihres Hauses! Niemand soll sich über meine Minu beklagen können!«

Weinend brach Mrinmaji mit ihrem Gatten auf. Und Ischan kehrte in seine nun zwiefach freudlose Hütte zurück, um Tag für Tag, Monat für Monat Waren abzuwägen und Eintragungen in das große lederne Buch zu machen.

 

VI

Als das Sünderpaar wieder zu Hause ankam, empfing Rama sie mit strenger Miene, sagte aber kein Wort. Dadurch, daß sie ihnen keine Vorwürfe machte, nahm sie ihnen die Gelegenheit, ihr Vorgehen zu rechtfertigen. Diese schweigende Anklage, dieser stumme Groll lag unaufhörlich wie ein Alp auf dem ganzen Hause.

Schließlich wurde es Apurba unerträglich. Er ging zu seiner Mutter und sagte: »Mutter, die Ferien sind zu Ende, ich muß jetzt wieder nach Kalkutta.«

Rama sagte gleichgültig: »Und deine Frau?«

»Meine Frau bleibt hier.«

»Nein, mein Junge, das geht nicht; die mußt du mitnehmen.«

Apurba war tief verletzt. Aber er sagte nur leise: »Gut.«

Die Vorbereitungen wurden getroffen. Als Apurba sich am Abend vor der Abreise schlafen legen wollte, sah er, daß Mrinmaji weinte.

Es ging ihm wie ein Stich durchs Herz. Traurig fragte er: »Mrinmaji, gehst du nicht gern mit mir nach Kalkutta?«

»Nein«, erwiderte sie.

»Hast du mich denn nicht lieb?«

Auf diese Frage erhielt er keine Antwort. Früher wäre ihr die Antwort leicht gewesen, aber jetzt war sie sich über den Zustand ihres Herzens nicht mehr so ganz klar.

»Wird es dir schwer, von Rakhal fortzugehen?« fragte Apurba.

»Ja«, erwiderte sie leichthin.

Obwohl unser gelehrter Jüngling von der Höhe seiner Weisheit sehr auf den Knaben Rakhal herabsah, konnte er sich doch einer quälenden Eifersucht nicht erwehren. Aber er sagte gelassen: »Ich werde wohl lange nicht nach Hause kommen können.«

Mrinmaji sagte nichts auf diese Ankündigung.

»Es kann vielleicht zwei Jahre oder länger dauern.«

»Wenn du wiederkommst, bring mir doch ein Messer mit drei Klingen für Rakhal mit!«

Apurba richtete sich im Bett auf. »Du willst also hierbleiben?« fragte er.

»Ja, ich werde zu meiner Mutter gehen.«

Apurba seufzte. »Gut«, sagte er, »meinetwegen. Solange du mir nicht schreibst, daß ich kommen soll, werde ich fortbleiben. Ist dir's so recht?«

Mrinmaji hielt es für überflüssig, diese Frage zu beantworten. Sie schlief bald ein, aber Apurba konnte keinen Schlaf finden. Er schob das Kissen hoch und blieb halb aufgerichtet im Bett sitzen.

Der Mond war inzwischen aufgegangen, und sein Licht fiel auf Mrinmajis schlummerndes Antlitz. Apurba sah sie unverwandt an. Wie sie dalag, erschien sie ihm wie die Prinzessin im Märchen, die durch die Berührung mit dem silbernen Zauberstabe in Schlaf versenkt war. Wenn er doch den goldenen Zauberstab fände, um ihre schlummernde Seele zu wecken und den Blumenkranz mit ihr zu tauschen! Der silberne Zauberstab war Lachen, der goldene Tränen.

Früh am Morgen weckte er sie und sagte: »Mrinmaji, ich muß nun fort. Komm, daß ich dich zu deiner Mutter bringe.«

Mrinmaji stand auf. Apurba faßte ihre beiden Hände und sagte: »Jetzt habe ich eine Bitte an dich. Ich habe dir so oft beigestanden, willst du mir nun zum Abschied eine Belohnung geben?«

»Was für eine?« fragte Mrinmaji erstaunt.

»Gib mir einen Kuß!«

Als Mrinmaji diese merkwürdige Bitte hörte und dabei Apurbas ernstes Gesicht sah, mußte sie lachen. Sie bezwang sich jedoch, neigte ihr Gesicht vor und schickte sich an, ihn zu küssen. Aber als sie ihm ganz nahe war, konnte sie sich nicht mehr halten und fing an zu lachen. Zweimal machte sie einen Versuch, doch schließlich gab sie es auf, schlug den Sari vors Gesicht und brach in ein sprudelndes Gelächter aus. Apurba faßte sie strafend am Ohrzipfel.

Er war in einer schwierigen Lage. Er hätte sich ja einfach den Kuß rauben können, doch das wollte er nicht. Gleich einer stolzen Gottheit wartete er auf ein freiwilliges Opfer; er wollte nicht selbst die Hand danach ausstrecken.

Mrinmaji lachte nicht mehr. Apurba führte sie im Dämmerlicht auf der einsamen Straße zum Hause ihrer Mutter. Als er wieder zurückkam, sagte er zu Rama: »Mutter, ich habe mir überlegt, daß meine Frau mich in Kalkutta bei meiner Arbeit stören würde. Freundinnen hat sie dort auch nicht. Da du sie nicht hier bei dir behalten willst, habe ich sie zu ihrer Mutter gebracht.«

Mutter und Sohn schieden in stummem Groll.

 

VII

Mrinmaji fühlte sich im Hause ihrer Mutter sehr unbehaglich. Das Haus schien ihr ganz verwandelt. Die Zeit wollte gar nicht hingehen. Sie wußte nicht recht, was sie eigentlich tun sollte, wohin sie gehen, wen sie besuchen sollte.

Sie hatte plötzlich das Gefühl, daß sie weder im Hause noch im ganzen Dorfe irgendeinen Menschen hätte. Es war wie eine Sonnenfinsternis am hellen Mittage. Sie konnte gar nicht begreifen, wie sie heute dies brennende Verlangen hatte, nach Kalkutta zu reisen, von dem sie noch gestern abend nichts gespürt hatte! Gestern hatte sie noch nicht gewußt, daß das, was sie so eigensinnig aus ihrem Leben hinausstoßen wollte, sie mit starken Banden nach sich ziehen würde.

Ihr altes Schlafzimmer im mütterlichen Hause kam ihr jetzt fremd vor, denn die, die darin gewohnt hatte, hatte an ihr keinen Teil mehr. Ihre Erinnerungen gingen in ein anderes Haus, in ein anderes Zimmer und schwärmten dort um ein anderes Lager.

Draußen bekam niemand sie zu sehen. Ihr fröhliches Lachen war verstummt. Als Rakhal sie einmal aufsuchte, fühlte er sich ganz eingeschüchtert. Von Spielen war nicht mehr die Rede.

Eines Tages sagte sie zu ihrer Mutter: »Mutter, bringe mich wieder zu meiner Schwiegermutter!«

Inzwischen konnte Rama das kummervolle Gesicht des scheidenden Sohnes nicht vergessen, und es quälte sie der Gedanke, daß sie ihn dazu genötigt hatte, seine Frau ins Haus ihrer Mutter zurückzubringen.

Da trat eines Tages Mrinmaji mit verhülltem Haupt zu ihr ein. Ehrfurchtsvoll neigte sie sich vor ihr und nahm den Staub von ihren Füßen Die übliche Form der Ehrfurchtbezeigung, indem man mit den Händen die Füße des Betreffenden und dann die eigene Stirn berührt.. Mit nassen Augen zog Rama sie empor und drückte sie an die Brust. In einem Augenblick war aller Streit zwischen den beiden ausgelöscht. Wie Rama ihrer Schwiegertochter ins Gesicht sah, war sie ganz betroffen. Das war ja nicht mehr Mrinmaji! Eine solche Veränderung hätte sie nie für möglich gehalten. Nur eine ganz große Kraft konnte eine solche Umwandlung bewirkt haben.

Sie hatte die Absicht gehabt, Mrinmaji ihre Fehler nach und nach abzugewöhnen, aber ein andrer, unsichtbarer Erzieher hatte sie auf andere und schnellere Weise zu einem ganz neuen Geschöpf gemacht.

Wie gut die beiden sich jetzt verstanden! Einigen Willens schafften sie zusammen ihre Tagesarbeit, und im Hause herrschte vollkommener Friede und Harmonie.

Aber wie Mrinmaji allmählich zu einem ernsten, liebevollen Weibe erwachte, da erwachten in ihr auch Schmerzen, die sie nie gekannt hatte. Dunkel und tränenvoll zogen schwere Wolken wie die ersten Regenwolken des Juli am Himmel ihres Herzens herauf und warfen in das Dunkel ihrer von langen Wimpern umsäumten Augen einen Schatten tiefen Ernstes. Sie sagte sich im stillen: »Wenn ich mich selbst nicht verstand, warum konntest denn du mich nicht verstehen? Warum straftest du mich nicht? Warum ließest du dich so leicht von mir weisen? Wenn ich widerspenstiges Ding nicht mit dir nach Kalkutta gehen wollte, warum nahmst du mich nicht gewaltsam mit fort? Warum hörtest du immer auf mein Wort und meine Bitte und ertrugst meinen Ungehorsam?«

Und dann dachte sie an den Morgen, wo Apurba sie auf der einsamen Straße am Fluß ergriffen und nur schweigend angeschaut hatte. Alles wurde ihr wieder lebendig gegenwärtig: der Fluß, die Straße, der Baum, unter dem sie standen, das Licht der Morgensonne und jener ernste, herzwehgedrückte Blick, dessen Sinn sie jetzt plötzlich ganz verstand. Und dann der Kuß, den sie an jenem Abschiedsmorgen nach Apurbas Mund ausstreckte und dann zurückzog, dieser unerfüllte Kuß schwebte jetzt, wie eine Luftspiegelung vor dem verschmachtenden Vogel, beständig als versäumte Gelegenheit vor ihren durstigen Lippen. Jetzt sagte sie sich nur immer: »Ach, hätte ich doch damals dies oder jenes getan, hätte ich auf seine Frage doch diese Antwort gegeben! Wäre ich doch die gewesen, die ich jetzt bin!«

Apurba hatte darunter gelitten, daß Mrinmaji ihn nicht verstand; jetzt fragte sich Mrinmaji ein Mal über das andere: »Was denkt er nur von mir? Versteht er mich wohl?« Und bei dem Gedanken, daß er sie nur als unartiges, widerspenstiges, törichtes Mädchen hatte kennengelernt, daß er nichts ahnen konnte von dem überquellenden Reichtum ihres Frauenherzens, das imstande und bereit war, seinen Liebesdurst zu löschen – bei diesem Gedanken wurde sie von Reue und Scham und Selbstvorwürfen gequält. Und was sie Apurba an Küssen und Zärtlichkeit schuldete, zahlte sie seinem Kopfkissen, indem sie es an Lippen und Brust drückte und mit Tränen netzte.

So verging eine lange Zeit. Apurba hatte gesagt: »Wenn du mir nicht schreibst, komme ich nicht.« Hieran erinnerte sich Mrinmaji eines Tages. Sie schloß sich in ihrem Zimmer ein, um den Brief zu schreiben. Apurba hatte ihr schönes rosa Briefpapier mit Goldschnitt geschenkt. Davon nahm sie ein Blatt, und nachdem sie eine Weile nachdenklich davor gesessen, machte sie sich entschlossen an ihre Aufgabe. Ohne Anrede begann sie kurzweg: »Warum schreibst du mir nicht? Wie geht es dir? Komm nach Hause!« Weiter wollte ihr nichts einfallen. Alles Wesentliche hatte sie zwar damit gesagt, aber die Menschen pflegten ihre Briefe länger zu schreiben und dem, was sie auf dem Herzen hatten, noch allerlei hinzuzufügen. Nachdem sie also wieder eine ganze Weile nachgedacht hatte, schrieb sie: »Nun schreib mir einen Brief, und sage mir, wie es dir geht, und komm nach Hause. Mutter geht es gut, Bischu und Puti geht es gut; gestern hat unsre schwarze Kuh ein Kalb gekriegt.« – Damit endete der Brief. Wiewohl sie sich große Mühe gegeben hatte, waren die Zeilen doch schief geraten, die Buchstaben sehr ungleich, und die Finger waren schwarz von Tinte. Sie faltete den Brief sorgfältig zusammen, steckte ihn in den Umschlag und schrieb dann mit großen Buchstaben darauf: » Srijukta Babu Apurbakrischna Ray.« Daß außer dem Namen noch sonst etwas auf dem Briefumschlag stehen mußte, ahnte sie nicht. Und da sie sich schämte, die Schwiegermutter den Brief sehen zu lassen, schickte sie ihn heimlich durch eine zuverlässige Magd auf die Post.

Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß dies Schreiben ergebnislos war.

 

VIII

Die Ferien kamen, aber Apurba kam nicht nach Hause. Rama sah daraus, daß er ihr noch böse war.

Auch Mrinmaji schloß aus seinem Schweigen, daß er ihr grollte, und wenn sie an ihren Brief dachte, hätte sie vor Scham sterben mögen. Apurba hatte es nicht der Mühe wert gefunden, auch nur ein Wort auf ihren Brief zu antworten; vielleicht hatte er, als er ihn gelesen, über das dumme Mädchen die Achseln gezuckt – das Herz krampfte sich ihr zusammen, wenn sie sich das vorstellte. Immer wieder fragte sie die Magd: »Hast du den Brief auch richtig eingesteckt?« Und die Magd versicherte ihr hundertmal: »Gewiß, ich habe ihn eigenhändig in den Briefkasten geworfen; Babu muß ihn inzwischen bekommen haben.«

Endlich rief Rama Mrinmaji eines Tages zu sich und sagte: »Bouma Bouma = Schwiegertochter., Apurba ist schon so lange nicht nach Hause gekommen, ich möchte einmal nach Kalkutta fahren, um ihn zu besuchen. Kommst du mit?« Mrinmaji nickte eifrig, dann lief sie in ihr Zimmer, schloß die Tür, warf sich aufs Bett, drückte das Kissen an die Brust, sprang wieder auf und tanzte vor Freude im Zimmer umher. Aber dann wurde sie plötzlich ernst. Zweifel und Angst stiegen in ihr auf, sie setzte sich still auf den Rand ihres Bettes und fing leise an zu weinen.

Schon am folgenden Morgen machten die beiden reuigen Frauen sich zu ihrer Bußfahrt nach Kalkutta auf, ohne Apurba vorher zu benachrichtigen. Ramas Tochter war in Kalkutta verheiratet; sie stiegen im Hause des Schwiegersohnes ab.

Apurba hatte die ganze Zeit vergeblich auf einen Brief von Mrinmaji gewartet. Nachdem er heute lange mit sich gekämpft, brach er gegen Abend sein Gelübde und setzte sich hin, um ihr zu schreiben. Aber ihm wollte das rechte Wort nicht einfallen. Er suchte vergeblich nach einer Anrede, die zugleich seine Liebe und sein Gekränktsein ausdrücken sollte, und seine Muttersprache erschien ihm sehr unzulänglich und armselig. Als er so dasaß und sich den Kopf zerbrach, kam ein Brief von der Schwester mit der Nachricht, die Mutter sei da, er solle schnell kommen und mit ihnen zu Abend essen. Alle seien wohlauf. – Trotz dieses Nachsatzes war Apurba beunruhigt. Schnell eilte er zum Hause seines Schwagers.

Kaum hatte man sich begrüßt, so fragte er: »Sind alle zu Hause wohl, Mutter?«

»Ja, alle sind wohl. Ich wollte dich abholen, da du zu den Ferien nicht nach Hause gekommen bist.«

»Hast du dir deswegen die Umstände gemacht? Ich hatte so viel zu arbeiten, deshalb blieb ich noch hier.«

Beim Essen fragte die Schwester: »Dada Bezeichnung für den älteren Bruder, auch Vetter oder Freund., diesmal bringst du nun wohl deine Frau mit?«

Dada war verlegen. »Ich weiß nicht, ich will sehen – ich habe so viel zu arbeiten«, sagte er.

Der Schwager lachte. »Ach was, das sind nur Vorwände«, rief er. »Er hat nur Angst, sie uns zu bringen!«

»Ja, vor uns kann man auch Angst haben«, meinte die Schwester. »Wenn das Kind uns plötzlich zu sehen kriegt, kann sie leicht einen Schreck bekommen.«

So scherzten sie miteinander, aber Apurba war immer noch voll innerer Unruhe. Die Sache wollte ihm nicht gefallen. Warum war Mrinmaji nicht mit der Mutter gekommen? Vielleicht hatte die Mutter sie mitnehmen wollen, und sie hatte nicht gewollt. Er scheute sich, danach zu fragen. Und so saß er da und war mit der Einrichtung der Welt gar nicht einverstanden.

Als sie noch beim Essen saßen, erhob sich ein heftiger Regensturm.

»Dada«, sagte die Schwester, »heute mußt du hierbleiben.«

»Nein, ich muß nach Hause«, erwiderte Apurba, »ich habe zu arbeiten.«

»Was willst du denn in der Nacht arbeiten? Bleib nur ruhig hier, du versäumst damit nichts.«

Nach vielem Drängen gab Apurba endlich nach. Nach einer Weile sagte die Schwester: »Du siehst müde aus, Dada, bleib nicht länger auf, geh lieber gleich zu Bett.«

Apurba war nicht abgeneigt. Er sehnte sich danach, allein zu sein und auf keine Frage mehr antworten zu brauchen.

Als er ins Schlafzimmer kam, war kein Licht da. »Der Wind muß es ausgelöscht haben«, sagte die Schwester, »soll ich Licht bringen, Dada?«

»Nein, es ist nicht nötig, ich werde ganz gut im Dunkeln fertig.«

Als die Schwester hinaus war, tappte er sich in der Dunkelheit vorsichtig zum Bett. Doch als er sich hinlegen wollte, hörte er ein leises Klirren, und im selben Augenblick legte sich ein weicher Arm um seinen Nacken und umschlang ihn fest, und bevor er einen Ruf des Staunens ausstoßen konnte, fühlte er eine tränenüberströmte Wange an der seinen, und ein heißes Lippenpaar preßte sich auf seinen Mund. So hatte doch der goldene Zauberstab seine Märchenprinzessin berührt, und was ihr Lachen ihm verweigert hatte, brachten ihm jetzt ihre Tränen dar.

 


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