Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Gast

I

Der Gutsherr von Kanthaliya, Matilal Babu, war mit seiner Familie auf der Heimreise. Sie reisten zu Schiff. Als sie eines Tages um die Mittagszeit bei einem Marktflecken anlangten und das Mittagsmahl rüsteten, trat ein etwa fünfzehnjähriger Brahmanenknabe an das Schiff heran und fragte: »Babu, wohin fährst du?«

»Nach Kanthaliya«, antwortete Matilal Babu.

»Kannst du mich unterwegs bei dem Dorfe Nandi absetzen?« fragte der Brahmanenknabe.

Matilal Babu bejahte und fragte: »Wie heißt du?«

»Ich heiße Tarapad.«

Der Knabe war von heller Gesichtsfarbe und sehr schön. Er hatte große, ausdrucksvolle Augen, und um seinen feingeschnittenen Mund spielte ein liebliches Lächeln. Als Bekleidung trug er nur ein schmutziges Lendentuch, der übrige Körper war nackt. Er war tadellos gebaut; es war, als hätte die Meisterhand eines Künstlers diese zarten, runden Glieder mit größter Sorgfalt geformt. Man hätte glauben können, dieser Knabe sei in seiner früheren Geburt Aszet gewesen, und kraft seiner strengen Übungen sei er nun, nachdem das Körperliche zum größten Teil vernichtet, zu voller Brahmanenschönheit erblüht.

Matilal Baku sagte freundlich: »Nimm dein Bad, Baba, und dann komm und iß mit uns.«

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte Tarapad. Und damit machte er sich ganz unbefangen daran, beim Zurichten zu helfen. Matilal Babus Diener war Hindu; beim Fischzerteilen und ähnlichen Verrichtungen war er nicht sehr geschickt. Tarapad besorgte diese Sachen in kurzer Zeit, richtete auch mit großer Geschicklichkeit einen Salat her. Als das Essen fertig war, badete er im Fluß, öffnete sein Bündel und band ein reines Lendentuch um, dann kämmte er mit einem kleinen Holzkamm sein dichtes Haar, so daß es hinten über den Nacken fiel, legte seine heilige Schnur um und ging ins Schiff zu Matilal Babu.

Matilal Babu führte ihn in das Innere des Schiffes zu seiner Frau und seiner neunjährigen Tochter. Als Matilals Frau Annapurna diesen schönen Knaben sah, hatte er sofort ihr Herz gewonnen. Sie ließ ihn sich zum Essen neben Matilal Babu setzen In Indien ißt der Mann zuerst; erst wenn er gesättigt ist, ißt die Frau.. Der Knabe war kein starker Esser. Als Annapurna sah, daß er wenig aß, dachte sie, er wäre befangen, und nötigte ihn zu diesem und jenem. Aber er erklärte bald, er sei mit dem Essen fertig, und gab ihren Bitten nicht nach. Man sah, daß der Knabe genau das tat, was er wollte, aber doch in einer so natürlichen Art, daß es nicht wie Laune oder Eigenwillen aussah. Sein Benehmen zeigte keine Spur von Verlegenheit.

Nachdem alle gegessen hatten, rief Annapurna ihn zu sich heran und fing an, ihn auszufragen. Aber eine ausführliche Erzählung erhielt sie nicht. Sie erfuhr nur mit kurzen Worten, daß der Knabe mit sieben oder acht Jahren von Hause fortgelaufen war.

»Hast du keine Mutter?« fragte Annapurna.

»O ja«, sagte Tarapad.

»Liebt sie dich denn nicht?«

Tarapad fand diese Frage sehr merkwürdig. Er lachte und sagte: »Warum sollte sie mich nicht lieben?«

»Aber wie konntest du sie dann verlassen?« fragte Annapurna.

»Sie hat ja noch vier Söhne und drei Töchter.«

Annapurna war über diese merkwürdige Antwort etwas entsetzt. »Wie du redest!« rief sie. »Soll man dir, weil du fünf Finger hast, einen Finger abschneiden?«

Tarapad war noch jung, aber er hatte seine ganz ausgesprochene Eigenart. Er war der vierte Sohn seiner Eltern; sein Vater war gestorben, als er noch klein war. Obwohl er eine ganze Reihe von Geschwistern hatte, war er doch sehr mit Liebe verwöhnt, sowohl von der Mutter und den Geschwistern als von dem ganzen Dorfe. Auch der Lehrer pflegte ihn nie zu schlagen; wenn er es getan hätte, so hätten alle Verwandten und Freunde sich darüber aufgeregt. So war also durchaus kein Grund, weshalb er von Hause hätte fortlaufen sollen. Selbst das arme, vernachlässigte Kind, das überall die Früchte von den Bäumen stiehlt und von den Eigentümern vielfältig dafür gestraft wird, bleibt in seinem heimatlichen Dorfe und kehrt immer wieder zu seiner strafenden Mutter zurück, und dieser vom ganzen Dorf geliebte Knabe verließ eines Tages leichten Sinnes das Dorf und schloß sich einer fremden Schauspielertruppe an.

Alles begab sich auf die Suche, und man brachte ihn ins Dorf zurück. Seine Mutter drückte ihn an die Brust, ihn mit ihren Tränen benetzend, auch seine Schwestern weinten vor Freude; sein ältester Bruder versuchte zwar, seine schwere Pflicht als Vormund zu erfüllen und ihm wegen seiner Flucht sanfte Vorwürfe zu machen, aber auch er verzieh ihm bald und liebkoste ihn. Die Mädchen des Dorfes riefen ihn von einem Hause ins andere und suchten ihn durch viel Liebenswürdigkeit und Schmeichelei zu fesseln, aber er ertrug keine Fessel, wenn es auch die Fessel der Liebe war. Sein Gestirne hatte ihn so heimatlos gemacht. Wenn er fremde Schiffer ihr Schiff auf dem Fluß hinziehen sah oder einen Sannyasin, der aus einem fernen Lande kommend, unter dem großen Feigenbaum des Dorfes Obdach nahm, oder Zigeuner, die auf der Steppe am Flußufer kleine Matten flochten und Körbe aus Bambusrinde fertigten, dann wurde sein Herz unruhig, und ihn überkam eine Sehnsucht nach der liebelosen Freiheit der großen Erde. Als er immer wieder entfloh, gaben die Seinen und die Leute im Dorfe ihn endlich auf.

Zuerst hatte er sich einer fahrenden Schauspielertruppe angeschlossen. Aber als der Besitzer ihn wie einen eigenen Sohn zu lieben begann und er der Liebling der ganzen Truppe geworden war, als man ihn überall, wo die Truppe spielte, besonders einlud und vor allem die Frauen ihn mit Freundlichkeiten überschütteten, da war er eines Tages, ohne irgend jemandem etwas zu sagen, verschwunden, und niemand hörte wieder von ihm.

Tarapad fürchtete jegliche Bande, wie ein junges Reh, und wie dies Tier liebte er auch die Musik Man sagt in Bengalen, daß das Reh durch Musik zu Tränen gerührt wird.. Der Gesang der Truppe hatte ihn zuerst von Hause fortgelockt. Beim Klang des Liedes rann ein Entzücken durch alle seine Adern, und sein ganzer Körper schwang gleichsam im Rhythmus der Melodie. Als er noch klein war, pflegte er, wenn seine Eltern ihn in ein Konzert mitnahmen, ganz still und ernst wie ein Erwachsener dazusitzen, nur leise den Kopf nach dem Takt der Musik bewegend, so daß die Erwachsenen sich Gewalt antun mußten, um nicht über den kleinen Kerl zu lachen.

Und es war nicht nur die Musik. Wenn der Herbstregen auf das dichte Laub der Bäume fiel, wenn am Himmel die Wolken riefen und im Walde der Wind heulte und klagte wie ein verwaistes Dämonenkind, dann wurde sein Herz von Unruhe gepackt. Am stillen Mittag der ferne Ruf des Geiers hoch oben in den Lüften, der abendliche Lärm der Frösche in der Regenzeit, das Zirpen der Heimchen in der Nacht – alles erregte ihn tief.

Vom Zauber der Musik angezogen, hatte er sich ein andermal einer fahrenden Sängerschar angeschlossen. Die Sänger hatten ihn mit großem Fleiß in ihrer Kunst unterrichtet, und dabei hatten sie ihn bald wie ein zahmes Vögelchen ganz in den Käfig ihres Herzens eingeschlossen. Aber als der Vogel die Lieder gelernt hatte, war er eines Tages auf und davon geflogen.

Zuletzt war er zu einer Akrobatentruppe gegangen. Von Anfang Juni bis Mitte Juli finden hierzulande an verschiedenen Orten nacheinander große Messen statt. Bei dieser Gelegenheit fahren Schauspielertruppen, religiöse Sänger, Wettsänger, Tänzer und die verschiedensten Händler zu Schiff auf den kleinen Flüssen von einer Messe zur andern. Im letzten Jahre hatte eine kleine Akrobatentruppe aus Kalkutta bei diesen fahrenden Messen zur Unterhaltung beigetragen. Tarapad war anfangs bei den reisenden Kaufleuten auf dem Schiff gewesen und hatte für sie den Betelverkauf besorgt. Darauf hatte die erstaunliche Gewandtheit der Akrobatenkinder sein spontanes Interesse erregt, und so hatte er sich der Truppe zugesellt. Er selbst hatte mit der Zeit durch fleißige Übung die Flöte meisterhaft spielen gelernt; bei den Akrobaten mußte er in schnellem Tempo die leichten Weisen von Lakhnau Zentrum der mohammedanischen Kultur (engl. Lucknov). spielen; das war seine einzige Aufgabe.

Von dieser Truppe war er nun zuletzt geflohen. Er hatte gehört, daß man im Dorfe Nandi großartige Vorbereitungen traf, um ein Liebhabertheater zu gründen; er hatte gerade sein Bündel geschnürt und sich auf die Reise nach Nandi gemacht, als die Begegnung mit Matilal Baku stattfand.

Wenn Tarapad auch verschiedenen Truppen angehört hatte, so hatte er doch allen gegenüber seine innere Unabhängigkeit bewahrt. Er hatte in der Welt schon manches rohe und gemeine Wort gehört und manches Häßliche gesehen, aber davon hatte nichts in seinen phantasievollen Geist Eingang gefunden. Wie dieser Knabe überhaupt keinerlei Bande duldete, so ließ auch sein Geist sich durch nichts fesseln. Er schwamm auf dem trüben Wasser dieser Welt reinen Gefieders wie ein Schwan dahin. So oft auch seine Neugierde ihn hinabtauchen ließ, sein Gefieder wurde weder durchnäßt noch beschmutzt. Als daher der alte Matilal Baku den Ausdruck natürlicher Reinheit und jugendlichen Frohsinns auf dem schönen Antlitz dieses heimatlosen Knaben sah, da schlug ihm sein Herz in Liebe entgegen und er nahm ihn ohne Frage oder Bedenken bei sich auf.

 

II

Nach dem Essen fuhr das Schiff weiter. Annapurna fing an, den Knaben liebevoll nach seiner Heimat und den Seinen zu fragen, aber Tarapad gab kurze Antworten und suchte möglichst bald davonzukommen. Der Fluß war infolge des Regens bis an den äußersten Uferrand gestiegen und versetzte durch sein selbstvergessenes Ungestüm Mutter Erde ganz in Unruhe. In der wolkenfreien Sonne schien alles – das halb im Wasser stehende Schilf am Flußufer, die dichten, saftigen Zuckerfelder und die dunkle Waldreihe fern am Horizont – wie mit einem goldenen Zauberstabe berührt und vor dem bewundernden Blick des sprachlosen blauen Himmels zu neuer Schönheit erwacht und erblüht. Alles war voll sprühenden Lebens, voll Erregung und voll beredten Ausdrucks.

Tarapad hatte sich auf das Dach des Schiffes in den Schatten des Segels zurückgezogen. Sein Blick schweifte von dem grünen Wiesenhang zu den überschwemmten Jutefeldern und den wogenden Reisfeldern, zu dem schmalen Pfade, der vom Landungssteg nach dem Dorfe führte, und zu den schattigen Bäumen, die das Dorf umhegten. Dieser wolkenlose, klare Himmel, diese allgemeine Bewegtheit, Lebendigkeit, Beredtheit, diese Mannigfaltigkeit und unbegrenzte Weite, dies unermeßliche, ewige, schweigende All, es war diesem jungen Knaben verwandt. Gleichwohl zog es den Ruhelosen keinen Augenblick an seine Brust. Am Flußufer liefen die Kälber mit tanzenden Schwänzen, das Füllen drüben sprang mit zusammengebundenen Vorderbeinen umher und fraß Gras, der Fischreiher stand spähend auf den Netzpfählen der Fischer und holte sich plötzlich mit blitzschnellem Schwung seine schwimmende Beute. Die Knaben tollten im Fluß und schlugen aufeinander ein; die Mädchen standen bis zur Brust im Wasser und wuschen, eifrig mit den Händen reibend, den Saum ihres Kleides, das sie über dem Wasser ausbreiteten, wobei sie sich mit lauten Stimmen lustige Geschichten erzählten; die hochgeschürzten Fischfrauen kamen mit ihren Körben und kauften Ware von den Fischern – dies alles sah der Knabe mit unersättlicher Neugier, nichts entging seinem durstigen Blick.

Allmählich machte er sich mit den Bootsleuten bekannt, und bald machte es sich ganz von selbst, daß er ihnen die Ruderstange aus der Hand nahm und selbst anfing zu stoßen. Als der Steuermann rauchen wollte, ergriff er das Steuer; wenn das Segel umgelegt werden mußte, war er gleich mit großer Geschicklichkeit bei der Hand.

Gegen Abend rief ihn Annapurna und fragte: »Was willst du zu Abend essen?«

»Ich esse, was ich bekomme«, erwiderte Tarapad, »mitunter esse ich auch gar nichts.«

Die Gleichgültigkeit dieses schönen Brahmanenknaben ihrer Gastlichkeit gegenüber war Annapurna nachgerade etwas schmerzlich. Sie hätte ihn so gern durch ein besonders schönes Mahl erfreut, aber sie konnte nicht herausbekommen, was er gern aß. Sie machte sich allerlei Umstände, ließ Milch, Süßigkeiten und andere gute Sachen aus dem Dorfe holen. Tarapad aß wieder sehr mäßig; Milch trank er nicht. Als Matilal Babu ihn mit stummem Wink darauf hinwies, sagte er kurz: »Ich mag sie nicht.«

So vergingen ein paar Tage auf dem Flusse. Tarapad half freiwillig und geschickt bei jeder Arbeit. Wo sich seinen Augen etwas Neues bot, dahin lief sein neugieriger Blick; wo es etwas zu tun gab, bot er sogleich die Hand. Aber wie er der stets regen Natur in ihrer Tatkraft glich, so glich er ihr auch in ihrer absoluten Unbekümmertheit. Jeder Mensch hat seinen festen Wohnsitz, aber Tarapad glich einer fröhlichen Welle auf dem endlosen Strom der Zeit – nichts verband ihn mit Vergangenheit und Zukunft, er tanzte in sorglosem Spiel dahin.

Dabei hatte er sich bei den verschiedenen Truppen, denen er sich anschloß, die verschiedensten Unterhaltungskünste angeeignet. Seinem mit keinerlei schweren Gedanken belasteten Gedächtnis prägte sich alles mit wunderbarer Leichtigkeit ein. Weltliche und geistliche Lieder, Duette, große Schauspielrollen, alles hatte er stets auf der Zunge bereit. Matilal Babu las eines Abends, wie er es oft zu tun pflegte, seiner Frau und Tochter aus dem Ramayana vor; es war die Stelle, wo Kuscha und Lava eingeführt werden. Plötzlich kam Tarapad, der seine Begeisterung nicht mehr bezwingen konnte, vom Deck herunter und sagte: »Lassen Sie das Buch! Ich werde Ihnen die Stelle Vorsingen!«

Darauf begann er das Lied von Kuscha und Lava. Und wie seine flötengleiche, süße Stimme Daschurayas Verse wie auf leichten Schwingen dahintrug, da kamen die Bootsleute alle herbei und standen mit vorgeneigtem Haupt an der Tür, die Reisenden auf den vorüberfahrenden Schiffen horchten sehnsüchtig, und ein lauschendes Schweigen breitete sich weithin über die beiden Ufer.

Als er geendet hatte, seufzten alle schmerzlich auf. In Annapurnas Augen standen Tränen; sie drückte den Knaben an ihre Brust und preßte ihre Lippen auf seinen Scheitel. Matilal Babu dachte: Wenn doch dieser Knabe bei mir bleiben wollte, ich wollte ihn ganz wie einen Sohn halten! – Nur das Herz der kleinen Tochter Tscharuschaschi war von Eifersucht und Haß erfüllt.

 

III

Tscharuschaschi war das einzige Kind ihrer Eltern; sie war also die alleinige rechtmäßige Besitzerin der Elternliebe. Ihre Launen kannten keine Grenzen. Ihre Speisen, ihre Kleidung, ihre Haarfrisur, alles mußte nach ihrer besonderen Art sein, aber diese Art war niemals die gleiche. Wenn sie irgendwo eingeladen war, war die Mutter immer in Angst, daß die Tochter in bezug auf ihren Anzug irgendeinen unmöglichen Einfall haben könnte. Wenn die Frisur einmal nicht nach ihrem Sinn geriet, so konnte man das Haar noch so oft lösen und wieder neu frisieren, es war ihr nicht recht zu machen, und schließlich gab es ein großes Geheul. So war es mit allem. Wenn sie aber guter Laune war, so war ihr alles recht. Dann zeigte sie sich äußerst liebevoll, drückte die Mutter an sich und überschüttete sie mit Zärtlichkeiten. – Dies kleine Mädchen war ein schwer zu lösendes Rätsel.

Nun fing sie an, Tarapad mit erbittertem Haß zu verfolgen. Auch die Eltern quälte sie auf jede Art und Weise. Beim Essen schob sie mit weinerlichem Gesicht den Teller zurück, das Essen schmeckte nicht. Sie schlug das Mädchen und klagte über alles. Wenn Tarapad alle durch seine Künste unterhielt, so wurde ihr Zorn dadurch nur noch vermehrt. Sie wollte nichts Gutes an ihm anerkennen, und je beliebter er wurde, desto gereizter wurde sie gegen ihn. An dem Tage, als Tarapad das Lied von Kuscha und Lava sang, dachte Annapurna: »Die Vögel des Waldes werden von seinem Gesang bezaubert, heute wird auch gewiß das Herz meiner Tochter gerührt!« Sie fragte sie: »Nun, wie gefällt es dir, Tscharu?« Doch Tscharu gab keine Antwort und schüttelte nur heftig den Kopf. Die Geste sagte deutlich: »Es gefällt mir gar nicht und wird mir nie gefallen!«

Der ungebärdige Charakter dieses dunkeläugigen Mädchens erschien Tarapad höchst merkwürdig. Er machte oft den Versuch, sie durch Geschichtenerzählen, durch Gesang oder Flötenspiel zu gewinnen, aber er fand keinen Dank. Nur wenn er am Mittag in den Fluß stieg, um zu baden, und sein hellfarbiger, schlanker Körper strahlend wie ein junger Flußgott sich leicht und frei im Wasser bewegte, dann konnte das Mädchen sich den Genuß dieses Anblicks nicht versagen. Sie wartete immer die Zeit ab, aber sie ließ niemand ihr Interesse merken. Eifrig an einem wollenen Schal strickend, saß sie in der Nähe und warf nur von Zeit zu Zeit einen verächtlichen Seitenblick auf Tarapads Schwimmkünste.

 

IV

Als sie an dem Dorfe Nandi vorbeikamen, beachtete Tarapad es gar nicht. Gelassen und ruhig glitt das große Schiff dahin; bald unter Segel, bald von den Bootsleuten gezogen, gelangte es von einem Arm des Flusses in den andern. Auch den Insassen flössen die Tage inmitten all der mannigfaltigen friedlichen Schönheit und getragen von der leisen, süßen Musik der Wellen, leicht und froh dahin. Niemand beeilte sich, es wurde oft spät, bis sie ihr Bad nahmen und zu Mittag aßen; oft auch machten sie, wenn sie an ein größeres Dorf kamen, schon vor Abend halt und legten nahe bei einem sonnengeküßten, von Heimchensang erfüllten Walde an.

So vergingen zehn Tage, bis sie in Kanthaliya anlangten. Um die Gutsherrschaft zu empfangen, standen Sänften und Pferde bereit, und die Dienerschar verstärkte mit ihrem sinnlosen Hinundherrufen das Geschrei der aufgescheuchten Dorfkrähen.

All dieser Aufstand dauerte eine ganze Zeit. Inzwischen war Tarapad schnell vom Schiff gestiegen und streifte überall im Dorf umher. Wenn er dort auch keinen Menschen hatte, den er Onkel oder Tante oder Dada oder Didi nannte, so hatte er doch schon im Laufe von zwei Stunden mit dem ganzen Dorfe Freundschaft geschlossen. Vielleicht gerade weil diesen Knaben nirgends ein wirkliches Band knüpfte, konnte er sich so leicht und schnell mit allen anfreunden. So hatte er in wenig Tagen alle im Dorfe gewonnen.

Der Grund seiner allgemeinen Beliebtheit war, daß er auf jeden einzugehen verstand. Durch keinerlei Kastenvorurteile gehemmt, paßte er sich jeder Lage und jeder Aufgabe mit Leichtigkeit an. Mit den Knaben war er ganz Knabe, wiewohl mit einer gewissen Überlegenheit und Besonderheit; Erwachsenen gegenüber war er nicht Kind, aber auch nicht altklug; mit den Kuhhirten war er Kuhhirt, obwohl Brahmane. Eines jeden Arbeit wußte er mit geübter Hand anzufassen. Wenn er beim Zuckerbäcker eintrat, um zu plaudern, und dieser sagte: »Dadathakur, setz dich einen Augenblick, ich komme gleich«, so nahm Tarapad ohne Zögern Platz und fing an, mit einem Fächer die Fliegen von dem Gebäck zu verscheuchen. Er selbst konnte meisterhaft backen; auch verstand er allerlei von der Webe- und Töpferkunst.

Tarapad hatte sich das ganze Dorf unterworfen, aber die Eifersucht eines kleinen Mädchens hatte er nicht besiegen können. Vielleicht war das erbitterte Verlangen dieses Mädchens, ihn aus dem Dorfe zu verbannen, gerade das, was ihn in diesem Dorfe festhielt.

Aber es ist schwer, die Rätsel eines Mädchenherzens zu lösen; davon gab Tscharuschaschi den Beweis.

Die Tochter des Brahmanen Thakur, Schonamani, war mit fünf Jahren Witwe geworden. Sie war Tscharus gleichaltrige Freundin. Sie war durch Kränklichkeit oft ans Haus gefesselt und konnte ihre Freundin nicht besuchen; aber wenn sie wohl war und sie besuchte, kam es fast jedesmal, oft ohne irgendwelchen Grund, zu einem Streit zwischen den beiden Freundinnen.

Heute fing Tscharu an, sehr breitspurig zu erzählen. Sie hatte sich vorgenommen, durch den bis in alle Einzelheiten ausgeführten und ausgeschmückten Bericht über ihren neu erworbenen Schatz, mit Namen Tarapad, die Neugierde ihrer Freundin aufs höchste zu spannen. Aber als sie dann vernahm, daß Tarapad Schonamani durchaus kein Fremder war, daß er ihre Mutter Maschi Tante., und daß sie selbst ihn Dada nannte, daß er nicht nur Mutter und Tochter mit seinem Gesang zu unterhalten pflegte, sondern daß er Schonamani auf ihre Bitte sogar eigenhändig eine Flöte fabriziert hatte, da fühlte Tscharu sich wie von einem Pfeil ins Herz getroffen. Tarapad gehörte doch ihr allein; sie wollte ihn heimlich für sich aufbewahren, die andern sollten nur eine Ahnung von seiner Existenz bekommen, sollten von weitem von seiner Schönheit und seinen Tugenden hören und Tscharuschaschi dafür Dank wissen. Wie war dieser kostbare Brahmanenknabe Schonamani so leicht zugänglich geworden? Wenn sie und die Ihren ihn nicht mitgebracht und bei sich behalten hätten, so hätte Schonamani ihn nie zu sehen bekommen. Und nun nannte sie ihn Dada! Sie war ganz außer sich vor Zorn.

Aber wie kam es, daß Tscharuschaschi Tarapad, den sie die ganze Zeit mit den Pfeilen ihres Haffes verfolgt hatte, nun durchaus für sich allein besitzen wollte? Das verstehe, wer kann!

Am selben Tage entzweite Tscharu sich wegen einer geringfügigen Sache heftig mit ihrer Freundin. Dann ging sie in Tarapads Zimmer, ergriff seine Flöte, trat und stampfte darauf, so daß sie kurz und klein brach.

Als sie gerade ihren Zorn an dem unschuldigen Instrument ausgelassen hatte, trat Tarapad ins Zimmer. Mit großer Verwunderung blickte er auf das Bild gänzlicher Vernichtung. »Warum hast du denn meine Flöte zerbrochen, Tscharu?« fragte er. Tscharu sah ihn mit flammendem Gesicht und blitzenden Augen an: »Weil ich es will, darum!« sagte sie und gab der zersplitterten Flöte noch ein paar überflüssige Fußtritte; dann lief sie laut weinend aus dem Zimmer. Tarapad hob die Flöte auf und besah sie von allen Seiten – damit war nichts mehr zu machen. Er mußte lächeln, als er an das plötzliche unverdiente Schicksal seiner alten Flöte dachte. Tscharuschaschi wurde ihm immer mehr ein Gegenstand neugierigen Interesses.

Seine Neugierde hatte noch ein anderes Feld; das waren die englischen Bilderbücher in Matilal Babus Bibliothek. Mit der Außenwelt war er sonst gut bekannt, aber in die Welt dieser Bilder konnte er nicht recht eindringen. Er hatte sich mit Hilfe seiner Phantasie allerlei erklärt, aber sein Geist blieb doch durchaus unbefriedigt dabei.

Als Matilal Babu Tarapads Interesse an den Büchern sah, sagte er eines Tages: »Möchtest du wohl Englisch lernen? Dann kannst du alle diese Bilder verstehen.« Tarapad sagte sogleich: »Ich werde es lernen.«

Matilal Babu war sehr erfreut. Er sprach mit dem Leiter der höheren Schule, Ramratan Babu, und übergab ihm am folgenden Abend den Knaben, damit er ihn mit der englischen Sprache bekannt mache.

 

V

Tarapad machte sich mit seiner starken Gedächtniskraft und mit ungeteiltem Eifer und Interesse an seine Aufgabe. Er betrat gleichsam eine neue Welt, und um die alte kümmerte er sich jetzt nicht mehr. Die Leute im Dorf bekamen ihn nicht mehr zu sehen; wenn er am Nachmittag am einsamen Flußufer hinging und dabei seine Aufgaben auswendig lernte, beobachteten ihn die bewundernden Knaben von ferne, aber sie wagten nicht, ihn zu stören.

Auch Tscharu sah jetzt nicht viel von ihm. Sonst war er zum Essen ins Frauenhaus gekommen und hatte seine Mahlzeit unter Annapurnas liebevoller Fürsorge eingenommen; aber weil ihm das zuviel Zeit nahm, bat er Matilal Babu, draußen essen zu dürfen. Annapurna war darüber betrübt und wollte es nicht dulden, aber Matilal Babu freute sich über den Eifer des Knaben und willigte in die Neuerung ein.

Da erklärte Tscharu plötzlich: »Ich will auch Englisch lernen!« Die Eltern nahmen diesen Einfall ihres launenhaften Töchterchens anfangs mit liebevollem Scherz auf, aber Tscharu machte dem Scherz bald durch einen Tränenstrom ein Ende. Schließlich willigten die hilflosen Eltern ein, und Tscharu wurde dem Lehrer zu gemeinsamem Unterricht mit Tarapad übergeben.

Jedoch ein ernstes Studium lag diesem unruhigen Mädchen durchaus nicht. Sie selbst lernte nichts und hinderte nur Tarapad am Arbeiten. Aber wenn sie auch nicht lernen wollte, so wollte sie doch auf keinen Fall hinter Tarapad zurückbleiben. Als er ihr weit vorauskam und sogar ein neues Lehrbuch anfing, wurde sie zornig, und des Weinens war kein Ende. Sie wollte auch ein neues Buch haben; wenn für Tarapad ein neues Buch gekauft würde, sollte für sie auch eins gekauft werden. Tarapad setzte sich, wenn es Zeit war, immer von selbst an die Arbeit und fing an zu schreiben oder auswendig zu lernen. Das konnte das eifersüchtige Mädchen nicht ertragen; sie beschmutzte sein Schreibheft heimlich mit Tinte, stahl ihm die Feder oder riß sogar die Lektion, die er zu lernen hatte, aus dem Buch heraus. Tarapad pflegte alle Bosheiten mit heiterer Gelassenheit zu ertragen; wurde es gar zu arg, so schlug er sie, aber zähmen konnte er sie nicht.

Da fand er zufällig ein Mittel. Eines Tages hatte er im Ärger sein beschmutztes Schreibheft zerrissen und saß nun ziemlich ratlos, mit ernstem, traurigem Gesicht da. Tscharu kam an die Tür; sie dachte, heute würde sie Schläge bekommen. Aber ihre Erwartung erfüllte sich nicht. Tarapad sagte kein einziges Wort und blieb stumm sitzen. Tscharu fing an, unruhig aus und ein zu gehen. Bisweilen kam sie ihm so nahe, daß Tarapad ihr, wenn er wollte, unvermutet einen Schlag auf den Rücken hätte versetzen können. Aber er tat es nicht und blieb in ernstes Schweigen gehüllt. Dem Mädchen wurde die Sache unheimlich. Sie hatte es nicht gelernt, um Verzeihung zu bitten, und doch war ihr reuevolles kleines Herz ganz krank vor Sehnsucht nach der Verzeihung ihres Klassengenossen. Als sie gar nicht wußte, was sie tun sollte, nahm sie ein Stück Papier von Tarapads zerrissenem Heft, setzte sich neben ihn und schrieb mit großen Buchstaben: »Ich will nie wieder dein Heft mit Tinte beschmieren.« Als sie fertig war, blieb sie unruhig sitzen und wartete augenscheinlich darauf, daß Tarapad es beachten sollte. Als Tarapad dies sah, war es ihm nicht mehr möglich, ernst zu bleiben; er fing an zu lachen. Aber darüber geriet die Kleine ganz außer sich vor Scham und Zorn; sie sprang auf und stürzte aus dem Zimmer.

Schonamani war inzwischen schon ein paarmal gekommen, hatte schüchtern von außen ins Schulzimmer geguckt und war dann wieder fortgegangen. Sie verstand sich eigentlich ganz gut mit Tscharu, aber sobald es sich um Tarapad handelte, hatte sie Angst vor ihr. Als nun Tscharu aus dem Zimmer war, kam sie vorsichtig herein und blieb an der Tür stehen. Tarapad sah von seinem Buch auf und sagte freundlich: »Ach, da ist ja Schona! Wie geht es dir? Was macht Maschi?«

»Du bist lange nicht bei uns gewesen«, sagte Schonamani, »Mutter läßt sagen, du möchtest doch einmal kommen. Sie hat Schmerzen in der Hüfte und kann darum nicht ausgehen.«

In diesem Augenblick kam Tscharu zurück! Schonamani wurde ganz verlegen. Es sah aus, als sei sie heimlich gekommen, um der Freundin den Kameraden abspenstig zu machen. Tscharu sah sie herausfordernd an und sagte mit erhobener Stimme: »Ah, Schona! Du kommst in der Schulzeit hierher, um zu schwatzen? Das werde ich Vater sagen!« Sie fühlte sich plötzlich verpflichtet, Tarapads Arbeit zu beaufsichtigen und aufzupassen, daß er in seinen Studien durch niemand gestört wurde. Aber weshalb sie selbst so zur Unzeit in Tarapads Arbeitszimmer gedrungen war, das wußte außer Gott auch Tarapad sehr gut. Schonamani jedoch griff in ihrer Angst und Verlegenheit zu allerlei unwahren Erklärungen, und als Tscharu ihr schließlich verächtlich mit der Bemerkung, daß sie lüge, das Wort abschnitt, ging sie gekränkt und tief beschämt fort. Tarapad rief ihr mitleidig nach: »Ich komme heute nachmittag zu dir, Schona!« Tscharu zischte ihn wie eine Schlange an: »Du willst zu ihr gehen? Hast du denn nicht zu arbeiten? Ich werde es dem Lehrer sagen!«

Tarapad ließ sich durch diese Drohung nicht einschüchtern und besuchte an demselben und auch am folgenden Nachmittage die Familie Thakur. Das drittemal aber begnügte Tscharu sich nicht mit leeren Drohungen; sie befestigte leise und vorsichtig an Tarapads Zimmertür eine Kette, zog ein Schloß, das sie von einer Truhe ihrer Mutter abgenommen hatte, hindurch und schloß zu. Den ganzen Nachmittag mußte Tarapad in seiner Gefangenschaft bleiben; als es Zeit zum Abendessen war, öffnete sie ihm. Tarapad sagte in seinem Zorn kein Wort und wollte, ohne zu essen, fortgehen. Tscharu geriet in große Angst. Sie flehte ihn mit demütig gefalteten Händen an: »Ich verspreche dir fußfällig, ich werde nie wieder so etwas tun! Ich flehe dich auf meinen Knien an, komm und iß!« Und als Tarapad auch darauf nicht hörte, fing sie furchtbar an zu weinen, so daß er schließlich doch umkehrte und sich zum Essen setzte.

Wie oft gelobte Tscharu inständig, daß sie freundlich gegen Tarapad sein und ihn nie wieder ärgern wolle! Aber wenn Schonamani oder irgendein anderer dazwischenkam, wurde sie gereizt, und es war ihr unmöglich, sich zu beherrschen. War sie ein paar Tage lang besonders artig gewesen, so machte Tarapad sich schon auf einen baldigen heftigen Ausbruch gefaßt. Aus welcher Richtung und bei welchem Anlaß der Angriff kommen würde, das konnte niemand sagen. Dann folgte ein großer Sturm, auf den Sturm folgte ein großer Tränenguß, und darauf sonniger, lieblicher Friede.

 

VI

So vergingen fast zwei Jahre. So lange Zeit hatte Tarapad sich noch nie von einem Menschen halten lassen.

Vielleicht übte das Studium eine so große Anziehung auf seinen Geist; vielleicht änderte sich auch seine Natur mit den Jahren und sein Geist setzte sich bei den Genüssen und dem Luxus dieser Welt allmählich zur Ruhe; – vielleicht hatte die aufreizende, ewig wechselnde Schönheit seiner Schulgefährtin unbemerkt sein Herz in Fesseln gelegt.

Inzwischen hatte Tscharu ihr elftes Jahr vollendet. Matilal Babu fing an, sich nach einem passenden Schwiegersohn umzusehen und bekam ein paar gute Heiratsvorschläge. Da sie im Heiratsalter war, durfte sie jetzt nicht mehr ausgehen, und damit hörte auch der englische Unterricht auf. Die Folge von dieser plötzlichen Absperrung war, dass Tscharu im Hause eine solche Wirtschaft machte, daß sie alles auf den Kopf stellte.

Da sagte Annapurna eines Tages zu Matilal Babu: »Warum suchst du noch lange nach einem Schwiegersohn? Tarapad ist doch ein guter Junge, und unsre Tochter hat ihn gern.«

Matilal Babu war sehr überrascht. »Wie wäre das möglich?« sagte er. »Wir wissen gar nichts über Tarapads Familie. Ich will meine einzige Tochter nur einem Manne von sehr guter Herkunft geben.«

Eines Tages kam ein Bote von der Familie Raydanga. Man wollte Tscharu schmücken und ihm vorführen. Aber sie schloß sich in ihrem Schlafzimmer ein und war nicht herauszubringen. Matilal Babu stand draußen und bat und drohte, aber es nützte alles nichts. Schließlich ging er zu dem Boten zurück und sagte ihm, seine Tochter sei plötzlich erkrankt; er könne sie leider heute nicht sehen. Der Bote mußte unverrichtetersache wieder abziehen. Da dachte die Familie Raydanga, das Mädchen hätte vielleicht irgendeinen Fehler, daher hätte man diese Ausrede gebraucht, und man gab die Sache auf.

Nun fand Matilal Babu, daß es doch vielleicht für alle Fälle gut sei, sich nach der Familie Tarapads zu erkundigen. »Wenn ich ihn bei mir im Hause behalten kann«, sagte er sich, »so brauche ich mein einziges Kind nicht in ein fremdes Haus zu schicken.« Er sah auch wohl ein, daß man im Hause des Schwiegervaters die Launen seiner schwierigen Tochter nicht so leicht ertragen würde.

Nach langer Beratung mit seiner Frau schickte er also Leute aus, die sich in Tarapads Heimat umhören und alles über die Familie in Erfahrung bringen sollten. Sie brachten die Nachricht, daß die Familie zwar arm, aber sehr angesehen sei. Darauf schickte er einen Boten mit dem Heiratsvorschlag an die Mutter und Brüder Tarapads. Diese waren sehr erfreut und zögerten keinen Augenblick, ihre Einwilligung zu geben.

Matilal Babu und Annapurna fingen jetzt an, über den Hochzeitstermin zu beraten, aber seine natürliche Neigung zur Vorsicht und Zurückhaltung veranlaßte Matilal Babu, noch nichts von der Sache verlauten zu lassen.

Aber Tscharu ließ sich nicht einsperren. Von Zeit zu Zeit machte sie wie ein Mahratta-Räuber plötzlich einen Einfall in Tarapads Arbeitszimmer und störte bald durch Zorn, bald durch Zärtlichkeit, bald durch Gleichgültigkeit den stillen Frieden seines Studiums. Und der sonst innerlich so freie und ungebundene Brahmanenknabe wurde jetzt zeitweise durch nie gekannte Erregungen aus dem innern Gleichgewicht gebracht. Der, der sonst leichten Sinnes und von nichts berührt oder gehemmt auf den Wellen des Zeitstromes dahingehüpft war, saß jetzt oft wie geistesabwesend da und träumte in den Tag hinein. Bisweilen ließ er seine englischen Bücher liegen und ging in die Bibliothek Matilal Babus, wo er in den Bilderbüchern blätterte. Die Phantasiewelt, die er sich jetzt aus diesen Bildern schuf, sah ganz anders und viel bunter aus als die frühere. Er konnte auch jetzt nicht mehr über Tscharus merkwürdiges Benehmen lächeln; es kam ihm auch nie mehr der Gedanke, sie zu schlagen, wenn sie Bosheiten ausübte. Ihm selbst erschien diese geheime Wandlung und Verstricktheit wie ein Traum.

Matilal Babu hatte die Hochzeit auf einen glückverheißenden Tag Der bengalische Kalender gibt die Tage an, die für Hochzeiten günstig sind. im Monat Sraban Juli/August. festgesetzt und ließ Tarapads Mutter und Brüder holen; aber Tarapad sagte er nichts davon. Er beauftragte seinen Agenten in Kalkutta, englische Musikanten zu engagieren, und gab ihm eine große Liste von Sachen, die er für das Fest besorgen sollte.

Die Regenzeit nahte; am Himmel sammelten sich Wolken. Der Fluß war fast ausgetrocknet und allmählich nur noch hier und da als schmutziger Teich stehengeblieben, in dem die kleinen Boote während der trocknen Zeit unter Wasser aufbewahrt wurden. Die tiefen Räderspuren der Ochsenkarren auf der trocknen Lehmstraße am Flußufer waren steinhart geworden.

Da kam eines Tages der Wasserstrom, gleich der ins Vaterhaus heimkehrenden Göttin Durga jubelnd dahergestürzt und warf sich mit fröhlichem Lachen an den sehnsüchtigen Busen des Dorfes. Nackte Knaben und Mädchen eilten ans Ufer und tanzten und sangen und sprangen in ihrer Freude immer wieder mit ausgebreiteten Armen ins Wasser, als wollten sie es an die Brust drücken. Von allen Seiten kamen die Leute aus ihren Hütten herausgelaufen, um ihren alten, geliebten Freund zu begrüßen – in das ausgetrocknete, leblose Dorf war plötzlich von irgendwoher eine große Woge von Leben eingeströmt.

Kleine und große Schiffe kamen von nah und fern mit ihrer Ladung herbei; auf den Landungsstufen des Marktplatzes erklang am Abend die Musik der fremden Bootsleute. Zu den Dörfern an beiden Flußufern, die das ganze Jahr hindurch in ihrem verborgenen Winkel mit ihrem kleinen Haushalt beschäftigt einsam ihre Tage verbracht hatten, kamen jetzt in der Regenzeit die Schiffer in ihren bunten Booten und brachten ihnen ihre Waren aus der großen Welt da draußen. Sie waren mit einem Male über ihre Kleinheit hinausgewachsen in dem Gefühl ihrer Verwandtschaft mit der übrigen Welt. Das ganze Land war voll Erregung und gesteigerten Lebens. Der Lärm der Menschenmenge war von fernen Reichen her in dieses stille Tal gedrungen und machte die Lüfte von allen Seiten erzittern.

Um diese Zeit hatte Kudulkatar Nag Babus berühmte Truppe bei Gelegenheit des Wagenfestes Wagenfest des Gottes Wischnu, des großen »Jagannath« (Herrn der Welt), wobei der Gott auf hohem, schwerem Prunkkarren mit großen Rädern, unter Begleitung von Tausenden von Pilgern, durchs Land gezogen wird. eine Messe angesagt. An einem Mondscheinabend stand Tarapad auf der Landungsbrücke und sah die Schiffe vorüberfahren: Karusselleute, Schauspieler, Händler, alles fuhr auf dem neuen Strom schnell und fröhlich dahin, der Messe zu. Eine Musikkapelle aus Kalkutta stimmte in flottem Tempo ein lustiges Stück an, die Sänger sangen zur Begleitung der Geige, und beim Hahaha des Finale Am Schluß eines Gesangstückes schließen die Sänger allemal mit diesem Ruf, in den bisweilen die ganze Zuhörerschaft einstimmt. machten die begeisterten Bootsleute mit ihren Trommeln und Zimbeln zwar ohne Wohlklang, aber mit um so mehr Lärm die Lüfte bersten. Des erregenden Schauspiels war kein Ende. Allmählich stieg vom östlichen Horizont her ein riesiges schwarzes Wolkensegel bis zur Mitte des Himmels empor und verdeckte den Mond, der Ostwind fuhr mit Gewalt daher, die Wolken jagten einander, die Wasser des Flusses erhoben sich mit boshaftem Lachen, in den schwankenden Baumgruppen am Flußufer verdichtete sich das Dunkel, die Frösche fingen an zu quaken, das Zirpen der Heimchen schien die Finsternis durchsägen zu wollen; es war, als ob heute die ganze Welt ihr Wagenfest feierte: die Räder drehten sich, die Fahnen flatterten, die Erde erzitterte – die Wolken türmten sich, der Fluß jagte dahin, die Schiffe mit ihm, und darüber Musik und Gesang –

Und allmählich fing es an in den Wolken zu grollen, Blitz auf Blitz zerriß den Himmel, von der fernen Finsternis her kam schon der Geruch eines wolkenbruchartigen Regens. – Nur das Dorf Kanthaliya am Ufer des Flusses schloß seine Haustür, löschte das Licht und legte sich schlafen.

Am folgenden Tage kamen Tarapads Mutter und Brüder zu Schiff in Kanthaliya an; am selben Tage kamen von Kalkutta drei große Schiffe mit den bestellten Waren und hielten an der Landungstreppe, und am selben Tage, frühmorgens, kam Schonamani mit einem Päckchen Mangopaste schüchtern an Tarapads Schultür und wartete auf ihn – aber Tarapad kam nicht. Bevor das Netz der Liebe und Freundschaft ihn von allen Seiten einschließen konnte, war dieser Brahmanenknabe in der dunklen Regennacht zu seiner großen, freien, liebelosen Mutter, der weiten Welt, geflüchtet.

 


 << zurück weiter >>