Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Enttäuschung

Bei meiner Ankunft in Dardschiling war der Himmel ganz von Regenwolken verhangen. Es war nicht verlockend, aus dem Hause zu gehen, aber im Hotel zu bleiben, lockte mich noch weniger.

So zog ich denn nach dem Frühstück meine dicken Stiefel an, hüllte mich in meinen Regenmantel und ging hinaus. Es regnete unaufhörlich, und die dichten Wolkennebel ringsum erweckten die Vorstellung, der Schöpfer hätte sich daran gemacht, den ganzen Himalaja von der Weltkarte wegzuradieren.

Als ich auf der menschenleeren Kalkuttaer Straße dahinging, dachte ich bei mir, daß ich bald genug haben würde von diesem freudlosen Wolkenreich; ich bekam Sehnsucht, meine altgewohnte Welt mit all ihrer Fülle bunten Lebens wieder an die Brust zu drücken und in alle meine Sinne aufzunehmen.

Da hörte ich plötzlich in der Nähe das klägliche Weinen einer Frau. In dieser Welt voll Kummer und Elend ist solch ein Laut nichts Besonderes, zu einer andern Zeit und an einem andern Orte hätte ich mich vielleicht gar nicht danach umgewandt; aber hier drang dieser Laut wie das Weinen der ganzen fernen Welt, von der ich getrennt war, an mein Ohr.

So folgte ich denn der Stimme und erblickte abseits von der Straße eine Frau, die in ein Aszetengewand gehüllt war. Ihre schweren goldbraunen Haarflechten waren oben auf dem Kopf zu einer dichten Krone geschlungen. Sie saß auf dem Stein und weinte leise vor sich hin. Das war kein Augenblickskummer; hier weinte sich ein lange aufgestautes Leid aus, das in dieser Wolkenfinsternis und Menschenöde erschöpft zusammengebrochen war.

Ich konnte der Frau nicht ansehen, zu welcher Volksrasse oder -klasse sie gehörte. So fragte ich sie kurzweg auf hindustanisch: »Wer bist du? Was fehlt dir?«

Sie antwortete nicht sogleich, sondern blickte nur aus tränenumflorten Augen zu mir auf.

»Hab keine Angst vor mir«, sagte ich, »ich bin ein Gentleman.«

Sie lächelte und sagte in reinem Hindustanisch: »Angst kenne ich schon lange nicht mehr, wie ich auch keine weibliche Scheu mehr kenne. Es gab wohl eine Zeit, Babudschi, wo ich mich in dem Zenana abgeschlossen hielt und selbst meinen Bruder nicht dort eintreten lassen wollte; heute gibt es in der weiten Welt keinen Purdah Vorhang, der die Frauen vornehmen Ranges den Blicken der Männer entzieht. mehr für mich.«

Ich war etwas ärgerlich; wie konnte diese elende Frau mich so ohne weiteres mit Babudschi anreden? Man sah mir doch von außen den Sahib an! Ich hätte im ersten Augenblick am liebsten gleich Schluß gemacht und wäre stolz wie ein Europäer, den Zigarettenrauch um die erhobene Nase blasend, davongedampft. Doch die Neugierde siegte bald über diese Regung, und ich fragte ein wenig hochmütig über die Achsel hin: »Kann ich etwas für dich tun? Brauchst du etwas?«

Sie sah mich eine Weile ruhig an, dann sagte sie einfach: »Ich bin die Tochter des Fürsten von Badraon, Golam Kader Khan.«

Ich ahnte nicht, was für ein Land Badraon sein mochte, und wußte auch nichts von dem Fürsten Golam Kader Khan und wie es kam, daß seine Tochter im Aszetengewande auf der Kalkuttaer Straße von Dardschiling saß und weinte – und ich glaubte auch nicht daran. Aber die Geschichte fing an, interessant zu werden! Ich wollte mir den Spaß nicht verderben, daher machte ich mit ernstem Gesicht eine tiefe Verbeugung und sagte: »Verzeih, Prinzessin, ich konnte nicht wissen, wer du bist.«

Sie schien mir dies auch nicht weiter übelzunehmen, sondern lud mich mit einer Handbewegung ein, auf einem Stein neben ihr Platz zu nehmen.

Ich sah, daß diese Frau gewohnt war zu befehlen, und machte ohne Zögern von der unerwarteten Ehre Gebrauch, den harten, moosbewachsenen Steinsitz an der Seite der Prinzessin Nurunnischa oder Meherunnischa oder Nurulmulk Landläufige arabische Namen für Prinzessinnen. einnehmen zu dürfen. Das hatte ich mir, als ich, mit meinem Regenmantel angetan, das Hotel verließ, nicht träumen lassen.

»Wer hat dich in diesen Zustand gebracht, Prinzessin?« fragte ich sie.

Sie schlug sich vor die Stirn. »Wie kann ich wissen, wer dies alles macht!« sagte sie. »Wer verdeckt diese gewaltigen Himalajaberge mit einer armseligen Nebelwolke?«

Ich ging nicht weiter auf diese philosophische Betrachtung ein, sondern sagte nur zustimmend: »Ach ja, wer weiß um die unsichtbaren Geheimnisse! Der Mensch ist nicht viel mehr als ein Wurm!«

Ich hätte die Diskussion aufgenommen und die Prinzessin nicht so leicht davongelassen, aber mein Sprachschatz reichte nicht aus. Das bißchen Hindustanisch, das ich für den Verkehr mit Hoteldienern und Gepäckträgern brauchte, genügte nicht, um mit einer Fürstentochter oder sonst jemand über Determinismus und Willensfreiheit zu diskutieren.

Die Prinzessin sagte: »Die seltsame Geschichte meines Lebens ist heute zum Abschluß gelangt. Wenn Sie befehlen, so erzähle ich sie Ihnen.«

»Befehlen!« rief ich beschämt. »Wenn Sie die Gnade haben, sie mir zu erzählen, wird es mir eine Ehre sein, Ihnen zuzuhören.«

Man denke nicht etwa, daß ich genau diese Worte auf hindustanisch sagte – ich hätte sie sagen mögen, aber ich wußte sie leider nicht.

Während die Prinzessin erzählte, war mir, als ob ein sanfter Morgenwind über ein taugebadetes, goldenhäuptiges Kornfeld strich – so leicht und anmutvoll glitt der Strom ihrer Rede dahin. Und ich hatte sie so ohne weiteres in meinem radebrecherischen Hindustanisch angeredet! Eine so vollkommene Gewandtheit des sprachlichen Ausdrucks war mir nie begegnet; während sie zu mir sprach, empfand ich zum erstenmal in meinem Leben meine eigene barbarische Unzulänglichkeit. Sie erzählte: »In den Adern meines Vaters floß das Blut der Könige von Delhi. Daher war es schwer, für mich einen Bräutigam zu finden, der dem Familienstolz genügte. Ein Fürst von Lakhnau hatte sich um mich beworben; der Vater zögerte noch – da brach der Sepoy-Aufstand Sepoys oder Sipahis = eingeborene Truppen (1856-62). aus, und ganz Hindustan wurde vom Rauch der Kanonen verfinstert.«

Ich hatte die hindustanische Sprache nie aus dem Munde einer Frau, geschweige denn einer vornehmen Dame gehört; nun wurde mir klar, eine wie edle Sprache es ist – und daß sie der Vergangenheit angehört. Heute, in dieser Zeit der Eisenbahnen, des Telegraphen und der Arbeitshast, wo die edlen Geschlechter ausgestorben sind, ist alles klein und schmucklos geworden. Während ich der Prinzessin zuhörte, stieg inmitten des Nebelnetzes dieser modernen englischen Gebirgsstadt vor meinem geistigen Auge wie durch Zauberkraft die Idealstadt der mohammedanischen Könige auf – ich sah die hochragenden Marmorpaläste, die breiten Straßen, die langgeschwänzten Pferde mit ihren goldgestickten Samtdecken, die Elefanten mit ihren prächtigen, goldgefransten Sitzen, die Bewohner mit ihren vielfarbigen Turbanen, ihren seidenen Gewändern und weiten Hosen, ihren gekrümmten Schwertern um den Gürtel und ihren goldgeschnürten Schnabelschuhen – alles weit und großzügig: der Raum, die mußevolle Zeit, die Gewandung und die ganze Lebensform.

Die Prinzessin erzählte: »Unsere Burg stand am Ufer der Jamuna. Unser Feldherr war ein hindustanischer Brahmane. Sein Name war Kescharlal.«

Es war, als ob die Frau die ganze Musik ihrer Stimme in diesen Namen ausströmen ließ. Ich hatte meinen Stock auf den Boden gelegt und saß in gespannter Erwartung unbeweglich da.

»Kescharlal war ein vornehmer Hindu. Ich stand jeden Morgen in aller Frühe auf und sah durch das kleine, runde Fenster des Serails Kescharlal bis an die Brust im Wasser stehen, das erhobene Antlitz der aufgehenden Sonne zugewandt, die Hände anbetend gefaltet. Danach saß er in seinem nassen Gewand auf der Flußtreppe, und nachdem er mit tiefer Andacht sein Gebet verrichtet, sang er mit reiner, schöner Stimme die Morgenhymne.

Ich bin zwar Mohammedanerin, aber ich hatte nie etwas von religiösen Dingen gehört, und die Riten meiner eigenen Religion waren mir unbekannt. Denn dazumal hatten sich sowohl bei unsern dem Luxus und Trunk ergebenen zügellosen Männern als auch in unsern vergnügungssüchtigen Serails die Bande der Religion vollständig gelockert.

Ob nun Gott mir einen natürlichen Hang zur Religion gegeben hat, oder aus einem andern Grunde – jeden Morgen, wenn ich im neu erblühten Sonnenlicht Kescharlal im stillen Gebet auf den weißen Landungsstufen der blauen Jamuna sitzen sah, wurde mein aus seinem Schlaf erwachtes Herz von Andacht überflutet. Die helle, jugendlich schlanke Gestalt des keuschen, frommen Kescharlal erschien mir wie eine reine Opferflamme, und die Seele des mohammedanischen Mädchens neigte sich anbetend vor der Glorie des Brahmanen.

Ich hatte eine Hindusklavin. Sie nahte jeden Tag ehrfurchtsvoll dem jungen Feldherrn und nahm den Staub von seinen Füßen Eine indische Ehrfurchtsbezeigung: man berührt mit den Händen die Füße des Betreffenden und dann die eigene Stirn.. Wenn ich auch Freude darüber empfand, so konnte ich mich doch eines Gefühls der Eifersucht nicht erwehren. Bei religiösen Festlichkeiten speiste und beschenkte diese Sklavin bisweilen die Brahmanen. Ich selbst gab ihr Geld zu diesem Zweck und sagte einmal: ›Willst du Kescharlal nicht auch einladen?‹ Sie aber erwiderte ganz erschrocken: ›Wie könnte ich das wagen? Kescharlal Thakur ißt nicht mit andern und nimmt auch keine Gaben an.‹

So konnte ich Kescharlal auf keine Weise, weder mittelbar noch unmittelbar, meine Ergebenheit zeigen, und dadurch wurde die Sehnsucht meines Herzens nur immer brennender.

Einer unsrer Vorfahren hatte die Tochter eines Brahmanen mit Gewalt entführt und geheiratet. Wenn ich in meinem einsamen Winkel im Serail saß, fühlte ich den heiligen Strom ihres Blutes in meinen eigenen Adern fließen, und es beglückte mich, wenn ich mir vorstellte, daß diese Blutsgemeinschaft mich auch ein wenig mit Kescharlal verband.

Von meiner Hindumagd kannte ich das ganze Wesen und die Gebräuche der Hindureligion, kannte alle Sagen von den wunderbaren Taten der Götter, alle herrlichen Geschichten aus dem Ramayana und Mahabharata bis in alle Einzelheiten; und wenn ich ihren Erzählungen zuhörte, stieg vor meinem Geiste eine wundervolle Vision der Hinduwelt auf. Bild auf Bild zog vorüber – ich hörte den Klang der Muschelhörner, sah die vergoldeten Zinnen der Tempel, atmete den Wohlgeruch des Weihrauchs, den lieblich gemischten Duft der Blumen und des Sandelbalsams, staunte über die unerhörte Macht der Jogis, die Heiligkeit der Sannyasins, die hehre Größe der Brahmanen, über das bunte Spiel der in Menschengestalt auf die Erde herabgestiegenen Götter. Dies alles wurde mir zu einer ganz alten, ganz fernen, ganz unwirklichen Zauberwelt. Mein Geist glich einem kleinen verirrten Vögelchen, das in der Dämmerung in den Ruinen eines alten Palastes umherflattert und sein Nest sucht.

Um die Zeit begann der Aufstand der Sepoys gegen die Engländer. Auch bis an die Wälle unsrer kleinen Burg schlugen die Wogen des Tumults.

Kescharlal sagte: ›Jetzt werden wir die Rindfleischesser aus unserm heiligen Lande jagen, und dann wird das Schicksal entscheiden, ob Hindu oder Muselmann über Hindustan herrschen soll.‹

Mein Vater war ein vorsichtiger Mann; er ließ sich zwar in schmähenden Worten über die englische Rasse aus, aber dann sagte er: ›Sie haben eine ungeheure Macht; die Hindus können es mit ihnen nicht aufnehmen. Ich kann nicht auf unsinnige Hoffnungen hin meine Burg aufs Spiel setzen – ich werde nicht gegen die englischen Truppen kämpfen.‹

Diese kaufmännische Vorsicht meines Vaters in einem Augenblick, wo das Blut aller Hindus und Mohammedaner zum Freiheitskampf entflammt war, erfüllte uns alle mit Verachtung. Kescharlal erschien bewaffnet an der Spitze des Heeres und erklärte meinem Vater: ›Wenn Ihr Euch uns nicht anschließt, so werde ich Euch in dem Augenblick, wo der Kampf beginnt, gefangennehmen und die Burg besetzen.‹

›Sei ohne Sorge‹, sagte mein Vater, ›ich werde auf eurer Seite bleiben.‹

›Wir brauchen Geld aus der Schatzkammer‹, sagte Kescharlal.

Aber mein Vater gab noch nichts her. ›Ich werde es schon herausgeben, wenn es nötig ist‹, sagte er.

Ich nahm meinen sämtlichen Schmuck ab, vom Stirndiadem bis zu den Fußspangen, tat alles in ein Bündel und schickte meine Hindumagd heimlich damit zu Kescharlal. Er nahm es! Ein Glücksschauer überrieselte meinen schmuckberaubten Körper!

Kescharlal ließ die rostigen Gewehre und die alten krummen Schwerter putzen und hielt alles bereit – da kam eines Nachmittags plötzlich ein Abgesandter der englischen Regierung in gestrecktem Galopp daher und ritt mit seinen Rotjacken in unsre Burg ein.

Mein Vater unterrichtete ihn heimlich von dem Verrat.

Kescharlal hatte sein Heer so in der Gewalt, daß jeder bereit war, auf sein Wort mit dem Schwert in der Hand zu sterben.

Das Haus meines verräterischen Vaters war mir zur Hölle geworden. Mir wollte vor Zorn und Schmerz und Scham und Haß die Brust zerspringen; dennoch kam keine Träne aus meinen Augen. Ich legte die Kleider meines feigen Bruders an und stahl mich in dieser Verkleidung unbemerkt aus dem Palaste.

Als dann die Wolken von Staub und Rauch sich etwas verzogen hatten und das Geschrei der Soldaten und der Lärm der Geschosse schwieg, war die Abendluft von der furchtbaren Stille des Todes erfüllt. Die untergehende Sonne färbte das Wasser der Jamuna blutigrot, der Abendhimmel war vom Licht des Mondes hell erleuchtet.

Auf dem Schlachtfelde bot sich weithin nach allen Seiten der grausige Anblick des Todes. Zu einer andern Zeit wäre mein Herz in Mitleid ganz verzweifelt, aber nun ging ich wie eine Traumwandelnde umher – ich suchte Kescharlal – auf irgend etwas anderes zu achten, erschien mir wie Untreue.

Nachdem ich lange umhergesucht hatte, sah ich plötzlich beim hellen Mondlicht der Mitternacht nicht weit vom Schlachtfelde am Ufer der Jamuna etwas unter einem Mangobaum liegen. Es war Kescharlal, der neben dem Leichnam seines treuen Dieners Deoki Nandan lag. Man konnte denken, daß vielleicht der Herr den tödlich verwundeten Diener oder der Diener den Herrn vom Schlachtfelde an diesen geschützten Ort gebracht hätte und darauf selbst in den Frieden des Todes hinübergeglitten wäre.

Zuerst stillte ich meine langgehegte Sehnsucht, Kescharlal meine Ehrfurcht zu erweisen. Ich warf mich zu seinen Füßen nieder, löste meine bis zu den Knien reichenden Haarflechten und wischte immer wieder damit den Staub von seinen Füßen. Dann legte ich seine kalten Lotosfüße an meine brennende Stirn, und wie ich sie küßte, brach der langunterdrückte Strom meiner Tränen ungehemmt hervor.

Da regte sich Kescharlal und stieß einen Schmerzenslaut aus. Als ich erschrocken seine Füße losließ und mich erhob, sagte er mit geschlossenen Augen und heiserer Stimme: ›Wasser!‹

Schnell lief ich hin und tauchte mein Gewand in den Fluß, dann drückte ich das Wasser zwischen Kescharlals geöffnete Lippen. Er hatte einen furchtbaren Hieb über die Stirn erhalten, der das linke Auge verletzt hatte. Ich riß einen nassen Streifen von meinem Gewande und verband seine Wunde.

Nachdem ich viele Male zum Fluß hinabgestiegen war und immer wieder seine Lippen und sein Auge genetzt hatte, kam er allmählich zum Bewußtsein zurück. Ich fragte ihn: ›Soll ich noch Wasser bringen?‹

›Wer bist du?‹ fragte er.

Ich konnte nicht anders, ich mußte sagen: ›Ich bin Ihre treuergebene Sklavin. Ich bin die Tochter des Fürsten Golam Kader Khan.‹ – Ich dachte bei mir: Das Glück soll mir niemand rauben, daß Kescharlal vor seinem Tode doch noch von mir und meiner tiefen Verehrung für ihn erfährt.

Kaum hatte Kescharlal gehört, wer ich war, so fuhr er wie ein wütender Löwe auf und schrie: ›Die Tochter des Verräters! Eine Ungläubige! Du hast mir vor dem Sterben Wasser gegeben und so mein religiöses Verdienst vernichtet!‹ Dabei versetzte er mir mit der Rechten einen gewaltigen Schlag gegen die Stirn. Es wurde mir dunkel vor den Augen.

Damals war ich sechzehn Jahre alt. Des weiten Himmels sengend heißer Sonnenstrahl hatte die rosige Lieblichkeit meiner jungfräulichen Wange noch nicht hinweggenommen. Dies war mein erster Schritt aus dem Serail hinaus, und dies war die Begrüßung, die ich von der Gottheit meiner Welt empfing!«

Ich hatte die ganze Zeit mit meiner erloschenen Zigarette regungslos wie eine Statue dagesessen und der Erzählung zugehört. Nun brach ich plötzlich aus: »Das Tier!«

»Inwiefern ein Tier?« sagte die Prinzessin. »Ist der ein Tier, der in der Sterbequal das Wasser von seinen verschmachtenden Lippen zurückweist?«

Ich schwieg verwirrt.

Die Prinzessin fuhr fort: »Zuerst war mir, als sei plötzlich die ganze Welt zerschmetternd auf mein Haupt gefallen. Aber dann kam ich zur Besinnung. Ich beugte mich vor diesem strengen, heiligen Brahmanen, und mein Herz rief: ›O Brahmane, du nimmst ja niemals den Dienst der Unreinen, die Speise der Fremden, die Geschenke der Reichen, die Liebe der Frauen; du bist anders und einsam und fern – woher sollte ich das Recht haben, mich dir darzubieten?‹

Was in Kescharlal vorging, als er sah, wie die Prinzessin das Haupt vor ihm in den Staub beugte, weiß ich nicht; auf seinem Antlitz zeigte sich weder Staunen noch inneres Schwanken. Er sah mich einen Augenblick unbewegt an, dann erhob er sich schnell. Ich streckte erschrocken die Hand aus, um ihn zu stützen, er wies sie schweigend zurück, ging mit mühsamen Schritten zur Flußtreppe und stieg die Stufen hinab. Dort lag ein Fährboot angebunden, aber kein Fährmann war zu sehen. Kescharlal stieg ins Boot, band es los, und bald fuhr es mit der Strömung dahin und war meinen Augen entschwunden.

Lange stand ich in jener Nacht, die gefalteten Hände wie anbetend nach dem verschwundenen Fährboot ausgestreckt, am schweigenden Ufer. So hätte ich am liebsten mein nutzloses Leben mit der ganzen Last meines Herzens, mit der ganzen Last meiner Jugend, mit der ganzen Last meines verschmähten Opferwillens wie eine vorzeitig abgefallene Blüte in die stille, mondbeglänzte Flut der Jamuna hinabgleiten lassen.

Und doch konnte ich es nicht. Zwar, der Mond am Himmel, die dunklen Bäume am Ufer, die stillen Wasser des Flusses, und über dem Mangohain die im Mondlicht schimmernden Zinnen unsrer Burg – alles sang in schweigender Harmonie das Lied des Todes. Nur ein auf dem wellenlosen Busen der Jamuna dahingleitendes unsichtbares Schifflein riß mich von den lockend ausgestreckten Armen des erlösenden Todes fort auf den Pfad des Lebens. Und ich fing an, wie eine Zauberschlafbefangene umherzuirren, bald im Schilf, bald auf dem Sande, bald am zerbröckelten Uferabhang, bald im dichten Gestrüpp des Waldes.«

Hier schwieg die Erzählerin. Auch ich blieb stumm.

Nach einer langen Pause fuhr sie fort: »Was dann geschah, ist sehr schwer zu erzählen, ich könnte auch heute die einzelnen Erlebnisse gar nicht mehr unterscheiden. Ich wanderte wie durch einen dichten Wald; wie ich mich hindurchfand, weiß ich selbst nicht. Aber in all dieser Zeit meines Lebens begriff ich, daß nichts unmöglich und unausführbar ist. Man könnte denken, daß eine Prinzessin unter solchen Umständen nie den Weg durch die Welt finden könnte. Das ist eine falsche Vorstellung. Wenn sie einmal draußen ist, so findet sie auch einen Weg. Es ist zwar kein Prinzessinnenweg, aber es ist ein Weg – ein Weg, auf dem beständig Menschen gehen und kommen. Er ist rauh und voll endloser An- und Abstiege und Verzweigungen, er ist mit unzähligen Hemmnissen und Gefahren bestreut, aber es ist ein Weg.

Der Bericht von meiner langen Wanderung auf der großen Menschenstraße ist keine liebliche Unterhaltung, aber auch wenn er es wäre, hätte ich nicht die Kraft und den Mut dazu. Ich will nur kurz zusammenfassend sagen, daß, wenn ich auch viel Leid und Not und Gefahren und Kränkungen durchzumachen hatte, das Leben dennoch nicht unerträglich war. Gleich der brennenden Rakete genoß ich die Freiheit der Bewegung. Solange ich schnell dahinging, fühlte ich den Brand nicht. Heute ist der Funke höchsten Glückes, den ich bei dem größten Leid in mir fühlte, erloschen, und ich bin wie ein totes Ding im Staube des Weges liegengeblieben – heute ist meine Wanderung zu Ende gekommen, und damit meine Geschichte.«

Die Prinzessin schwieg. Ich widersprach innerlich; hier konnte sie doch auf keinen Fall enden. Nachdem ich eine Weile geschwiegen hatte, sagte ich in gebrochenem Hindustanisch: »Verzeihen Sie meine Dreistigkeit – es würde das Herz Ihres Dieners erleichtern, wenn Sie ihm den letzten Teil Ihrer Geschichte erzählen wollten.«

Die Prinzessin lächelte. Ich verstand, daß es meinem gebrochenen Hindustanisch galt. Wenn ich meine Rede in tadellosem Hindustanisch hätte loslassen können, so hätte sie sich mir gegenüber wohl nicht so frei gefühlt, aber da ich ihre Muttersprache so wenig kannte, war schon dadurch eine große Distanz zwischen uns geschaffen; die Sprache bildete gleichsam eine schützende Schranke.

Sie fuhr fort: »Ich hörte oft von Kescharlal, aber es war mir nicht möglich, ihn zu Gesicht zu bekommen. Er hatte sich Tantiyatopis Schar angeschlossen und fiel bald von Westen, bald von Norden, bald von Süden plötzlich wie ein Donnerkeil über dies unglückliche Land her; ebenso plötzlich war er dann wieder verschwunden.

Da legte ich ein Aszetengewand an und begab mich nach Benares unter die Schüler Schibananda Svamis. Ich studierte mit großem Fleiß die heiligen Schriften, verfolgte aber dabei auch mit höchster Spannung die Berichte über den gegenwärtigen Aufstand.

Allmählich gelang es der britischen Regierung, das Feuer des indischen Aufstandes auszutreten. Da hörte ich plötzlich nichts mehr von Kescharlal. Alle die Heldengestalten, die aus allen Enden Indiens herbeigeströmt und im blutroten Licht furchtbarer Zerstörung sichtbar geworden waren, tauchten plötzlich in Finsternis unter.

Da hielt es mich nicht länger. Ich verließ die Zufluchtsstätte, die ich bei meinem Guru Geistlicher Lehrer. gefunden hatte und ging im Aszetengewande wieder hinaus auf die Straße der Menschen. Ich wanderte von einem heiligen Ort, von einem Tempel zum andern – nirgends hörte ich etwas von Kescharlal. Einige, die ihn dem Namen nach kannten, sagten: ›Wenn er nicht im Kampf gefallen ist, so wird er ein Opfer der Rache der Regierung geworden sein.‹ Aber ich sagte mir: ›Nein, Kescharlal ist nicht tot. Dieser Brahmane, diese verzehrende Flamme kann nicht erlöschen; sie brennt auf irgendeinem unzugänglichen, einsamen Altar, um mein Selbstopfer aufzunehmen.‹

In den heiligen Schriften der Hindus steht geschrieben, daß ein Schudra Niedrigste Kaste. durch Wissen und Aszese Brahmane werden kann. Ob dies auch für einen Mohammedaner gilt, ist nicht erwähnt – es gab ja damals noch keine Mohammedaner. Ich wußte, daß meine Begegnung mit Kescharlal noch lange nicht stattfinden würde, denn ich mußte ja erst Brahmanin werden.

So vergingen dreißig Jahre. Ich war innerlich und äußerlich, in meinem Denken und Reden und Handeln Brahmanin geworden; das Blut meiner brahmanischen Ahne floß unverfälscht in meinen Adern, und ich hatte nur noch das eine Verlangen, durch gänzliche Selbstaufgabe zu den Füßen des Brahmanen, der an der Schwelle meiner Jugend gestanden und der der Leitstern meines ganzen Lebens geworden war, dies Leben zu krönen.

Während des Aufstandes hatte ich viel von Kescharlals Heldentaten gehört, aber das alles hatte sich meinem Geiste nicht eingeprägt. Wie ich ihn zuletzt gesehen – in der schweigenden Mondnacht auf den stillen Fluten der Jamuna in einem kleinen Boot allein dahintreibend –, so lebte er in meiner Seele. Ich sah Tag für Tag nur das eine Bild: wie der Brahmane den Strom hinabschiffte, Tag und Nacht irgendeinem unbestimmten großen Geheimnis folgend – ohne Gefährten, ohne Diener – er bedurfte ihrer auch nicht; dieser reine, in sein Inneres versenkte Mensch war sich selbst genug. Nur des Himmels Planeten und Monde und Sterne beobachteten ihn schweigend.

Da erhielt ich die Nachricht, daß Kescharlal der Rache der Regierung entronnen und nach Nepal geflüchtet sei. Ich wanderte nach Nepal. Nachdem ich dort lange gesucht hatte, erfuhr ich, daß er seit lange Nepal verlassen hätte; niemand wußte, wohin er gegangen war.

Darauf wanderte ich weiter, über Berg und Tal. In diesem Lande wohnen keine Hindus, sondern aus Bhutan eingewanderte Barbaren; sie haben keinerlei Speise- und Reinlichkeitsgesetze, sie haben ganz andere Götter und Kulte. Ich war in beständiger Angst, daß meine durch langjährige geistliche Übungen erworbene Reinheit durch irgend etwas befleckt werden könnte, und suchte mich, so gut ich konnte, vor jeder verunreinigenden Berührung zu schützen. Ich wußte, daß mein Boot sich dem Ufer näherte und daß das Ziel meines Lebens nahe war.

Was soll ich noch weiter sagen! Das letzte ist so wenig. Wenn eine Lampe im Erlöschen ist, so bläst ein Hauch sie aus – wozu soll ich das noch weiter ausführen!

Nach achtunddreißig Jahren kam ich hierher nach Dardschiling, und heute morgen sah ich Kescharlal.«

Da die Erzählerin schwieg, fragte ich gespannt: »Sie haben ihn gesehen?«

»Ich habe den alten Kescharlal gesehen, wie er in seinem Bhutanhause mit seiner Bhutanfrau und seinen Kindern in schmutziger Kleidung auf seinem schmutzigen Hofe Mais aushülste.«

Die Geschichte war zu Ende. Ich wollte ein beruhigendes Wort sagen. »Wenn er achtunddreißig Jahre als Geächteter unter niedern Kasten leben mußte, wie sollte er sich da rein halten?«

Die Prinzessin erwiderte: »Das verstehe ich wohl. Aber mit welcher Illusion war ich umhergezogen! Wie konnte ich wissen, daß das Brahmanentum, das mein junges Herz stahl, nur eine Gewohnheit des Körpers und des Geistes war! Ich hatte es für echte Religion gehalten, für etwas Ewiges! Wenn es das nicht war, warum hatte ich dann mit sechzehn Jahren mein Vaterhaus verlassen und in jener Mondscheinnacht mein eben erblühtes, von Anbetungseifer zitterndes Selbst mit Leib und Seele dem Brahmanen dargeboten? Und als mir zum Lohn die furchtbare Kränkung von seiner Hand zuteil wurde, warum hatte ich sie schweigend und demütig gesenkten Hauptes wie eine Weihe von der Hand des Gurus hingenommen? O Brahmane, du konntest deine Gewohnheit ablegen und eine andere Gewohnheit annehmen, aber wo soll ich für mein vergeudetes Leben und für meine vergeudete Jugend ein anderes Leben und eine andere Jugend hernehmen?«

Damit erhob sich die Frau und sagte: »Namaskar, Babudschi!«

Im nächsten Augenblick verbesserte sie sich: »Selam, Babu Sahib!« Mit diesem mohammedanischen Gruß nahm sie gleichsam von dem morschen, verstaubten Brahmanentum Abschied. Noch ehe ich ein Wort sagen konnte, verschwand ihre Gestalt wie eine Wolke im grauen Nebel des Himalaja.

Ich schloß eine Weile die Augen und sah die mannigfaltigen Bilder der Erzählung noch einmal im Geiste an mir vorüberziehen. Ich sah die sechzehnjährige Königstochter auf ihrem bequemen Samtsitz am runden Fenster der väterlichen Burg am Ufer der Jamuna – ich sah die in Andacht versunkene Aszetin im Tempel des Pilgerortes beim abendlichen Lampenopfer – und endlich sah ich auf dieser Kalkuttaer Straße von Dardschiling die in Nebel gehüllte Gestalt der unter der Last ihres gebrochenen Herzens zusammengesunkenen Alten –

Als ich die Augen öffnete, hatten sich die Wolken zerteilt, und der Himmel glänzte in freundlichem Sonnenschein. Die englischen Damen kamen in Schiebewagen, und die englischen Herren zu Pferd heraus, um die frische Luft zu genießen; von Zeit zu Zeit spähten ein paar neugierige bengalische Gesichter aus ihren Halstüchern hervor neugierig zu mir herüber.

Ich erhob mich schnell. Vor diesem sonnenerhellten, frei eindringenden Blick der Welt erschien mir diese wolkenverhüllte Geschichte schon nicht mehr wahr. Ich glaube, daß der Rauch meiner Zigarette, mit dem Nebel der Berge sich mischend, die Geschichte in meiner Phantasie zusammengebraut hat, und daß weder die mohammedanische Brahmanin, noch der Brahmanenheld, noch die Burg am Ufer der Jamuna jemals Wirklichkeit gewesen ist.


 << zurück weiter >>