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Nachwort

Der indische Dichter Rabindranath Tagore (der Name lautet eigentlich Thâkur) entstammt einer alten, hochangesehenen Brahmanenfamilie, die seit dem 10. Jahrhundert im öffentlichen wie im geistigen Leben Bengalens eine ruhmvolle Rolle gespielt hat. Sein Vater, Debendranath Tagore, ist bekannt als der Führer des Brahma Samadsch, der monotheistischen Kirche Indiens, der freiesten und geistig bedeutendsten unter den Religionsgemeinschaften, die im modernen Indien unter christlichem Einfluß entstanden sind. (Sie konnte in diesem Jahre ihr hundertjähriges Bestehen feiern.) Rabindranath wurde am 7. Mai 1861 als jüngster von sieben Brüdern geboren. Seine Jugend verfloß in dem alten, weitläufigen Familienhause, wo der Knabe, durch seine Jugend einsam, von Dienern mehr tyrannisiert als betreut und mit Unterrichtsstunden überbürdet, im Verkehr mit den Bäumen und Pflanzen des Innengartens seinen besten Trost fand. Seine Jugend fiel in die Zeit, wo sich in Bengalen unter dem Anhauch des europäischen Geistes neues Leben regte, die moderne Literatur ihre ersten Werke von Rang hervorbrachte und die ersten Anfänge der Swadeschibewegung in Erscheinung traten. Das Haus Tagore war ein Mittelpunkt namentlich der künstlerischen und literarischen Bestrebungen, wie denn ein Bruder des Dichters Philosoph, ein andrer Musiker und ein Vetter Maler ist. So war es eine geistig bewegte, mit mannigfachen Keimen geschwängerte Luft, die der heranwachsende Jüngling atmete.

Mit 17 Jahren wurde er nach England geschickt zu seiner juristischen Ausbildung, aber er blieb schon im Lateinlernen hängen. Statt dessen versenkte er sich in die englische Literatur, besonders die großen Lyriker des 19. Jahrhunderts: Shelley, Wordsworth, Browning. Denn ihm war längst klar, daß er zum Dichter geschaffen war und nichts andres sein konnte. Und nach seiner Heimkehr floß der Strom der Dichtung ununterbrochen. Er lebte meist zurückgezogen im Vaterhause oder er begleitete einen Bruder, der an verschiedenen Orten als Richter wirkte. In dieser Zeit erhielt der Dichter durch visionäre Erlebnisse seine volle Reife und sein endgültiges Gesicht. Mit 22 Jahren heiratete Tagore und nahm nun eine Wohnung mit Ausblick auf eine Siedlung, wo arme Leute wohnten. Im übrigen ließ er sich vom Strome des geselligen und literarischen Lebens der Hauptstadt treiben. Aber weder die Freuden der Geselligkeit noch die einsame Muße und das Sicheinspinnen in eine Traumwelt konnten den Dichter auf die Dauer befriedigen, der nach Tätigkeit und Berührung mit der realen Welt verlangte. So griff er freudig zu, als sein Vater ihn aufs Land schickte, zur Verwaltung eines Familiengutes Schilaidah am Padmaflusse. In den Jahren, die Tagore hier verbrachte (1891-1895), gewann er die intime Vertrautheit mit dem Leben und Charakter des bengalischen Landvolkes, von der seine Erzählungen zeugen.

Ein erstaunlich reiches und mannigfaches Dichterwerk hat Tagore geschaffen, das noch beständig wächst und von dem wir nur den kleineren Teil kennen, der in englischer Übersetzung erschienen ist. Es umfaßt alle Gattungen der Poesie: Lieder, Verserzählungen, Spruchdichtung, dramatische Dichtungen und Singspiele, Romane und Novellen; dazu Lebenserinnerungen, religiöse und andere Vorträge, Abhandlungen und Kritiken aus den verschiedensten Gebieten. Doch Kern und Herz seines gesamten Werkes ist seine Lyrik. Er ist seinem innersten Wesen nach Lyriker, Sänger, Poet, wie Goethe; aber, wie bei Goethe, ist um diesen Kern ein universales Dichter- und Menschentum gewachsen, das fast alle geistigen Bestrebungen seiner Zeit in sich vereinigt, so daß Tagore der Repräsentant des indischen Volkes in einem so umfassenden Sinne ist, wie es selten einem Menschen zuteil wurde. – Von dieser Lyrik haben wir eine recht unzulängliche Vorstellung, denn wir kennen sie nur in dem schlichten Prosagewande, das ihr der Dichter gab, als er sie der abendländischen Welt darbot. Im Urtext – Tagore dichtet ausschließlich in seiner bengalischen Muttersprache – sind sie dagegen in mannigfachen kunstvollen Strophen mit reichem Reimschmuck abgefaßt. Denn sie sind nicht zum Lesen bestimmt, sondern zum Singen. Der Dichter erfindet sie singend zugleich mit der Melodie, indem er zum Teil Volksweisen benutzt; er singt sie seinen Schülern und Freunden vor, und so verbreiten sie sich weiter und gehen von Mund zu Mund. So ist ein großer Teil dieser Lieder Gemeinbesitz des Volkes geworden und wird gesungen, so weit bengalische Sprache verstanden wird. In einziger Weise vereinigt Tagores Lyrik die schlichte Anmut des Volksliedes mit der Formvollendung hoher Kunst.

Man kann bei Tagore zwischen weltlicher und geistlicher Dichtung unterscheiden, ohne daß sich eine scharfe Grenze ziehen ließe; denn auch die Liebesdichtung und die Lieder vom Kinde (»Der zunehmende Mond«) rühren an die tiefsten Saiten des Herzens, wie sich in der geistlichen Dichtung nirgends eine Absage an die Welt ausdrückt. Immerhin bemerken wir um die Jahrhundertwende einen Wandel in seiner Dichtung, indem von nun an die ausgesprochen religiöse Dichtung überwiegt. Mehrere Gedichtbände, von denen uns eine Auswahl in »Gitanjali« (spr. gîtândschali) vorliegt, und das große mystische Drama »Der König der dunklen Kammer« sind die Hauptdenkmäler dieser Periode. Gleichzeitig ändert sich auch das Leben des Dichters. In alter Zeit pflegte der Inder hoher Kaste sich in einem gewissen Alter von Haus, Familie und Geschäft zu lösen, um als Waldeinsiedler oder wandernder Bettler ganz seinem Seelenheil zu leben. Der Vater, Debendranath, hatte ein Stück Heideland in abgelegener Gegend erworben, wo er in jedem Jahre einige Wochen oder Monate in völliger Weltabgeschiedenheit zubrachte; er nannte es Santiniketan (Wohnsitz des Friedens). Hierher zog sich der Sohn zurück, allerdings nicht zu beschaulicher Muße, sondern zu einer neuen Tätigkeit. Im Dezember 1901 eröffnete er eine Schule, zunächst für wenige Kinder, eigene und die von Freunden, um ihnen ein Aufwachsen in voller Freiheit inmitten der freien Natur zu ermöglichen. Dies war der Keim, der sich zu der viele Zweige umfassenden Schulsiedlung ausgewachsen hat, die heute Weltruf genießt. In eben diesen Jahren trafen den Dichter schwere Schicksalsschläge: er verlor kurz nacheinander sein geliebtes Weib und zwei hoffnungsvolle Kinder. Dadurch wurde der Zug zur Weltabgeschiedenheit noch verstärkt. Doch war auch diese Wendung nicht endgültig. Vielmehr sammelte Tagore in der Einsamkeit Kräfte und Gedankenvorrat für neues, fruchtbares Wirken auf die Welt mit noch größerem Radius.

Im Frühjahr 1912 trat er abermals eine Reise nach England an. Während der langen Überfahrt übertrug er eine Auswahl seiner religiösen Lyrik in englische Prosa; so entstand das schon erwähnte »Gitanjali«. Die englischen Freunde waren begeistert und veranlaßten, daß die Sammlung gedruckt und der Öffentlichkeit übergeben wurde (März 1913). Mit diesem Buche, von dem im gleichen Jahre noch 13 weitere Auflagen erschienen, wurde Tagore aus dem indischen Dichter zum Weltdichter, zumal als ihm im Herbst 1913 daraufhin der literarische Nobelpreis zuerkannt und dadurch die außerenglische Welt auf ihn aufmerksam gemacht wurde. Dem ersten Bande folgten rasch weitere Proben seiner Dichtung, die Lyrik vom Verfasser selbst übertragen, die Dramen und Erzählungen mit wenigen Ausnahmen von Freunden und Schülern. Aber das Abendland lernte Tagore auf dieser Reise nicht nur als Dichter kennen, er trat auch als Prophet, als religiöser Verkünder vor die Menschheit des Westens mit einer Reihe von Vorträgen, die er zuerst an drei amerikanischen und englischen Universitäten hielt und die dann im Oktober 1913 unter dem Titel »Sadhana« als Buch erschienen. Es enthält das persönliche Glaubensbekenntnis des Dichters und zugleich die religiöse Botschaft Indiens, denn Tagore verkörpert die indische Religion auf ihrer höchsten Entwicklungsstufe, befreit von dem weltverneinenden Pessimismus und Aszetismus ihrer Vergangenheit und zu neuem Leben erweckt durch den Geist der Neuzeit und die Berührung mit der europäischen Kultur.

Dieser Reise sind dann weitere gefolgt, nach den verschiedenen Ländern Europas, Asiens, Amerikas. Sie standen alle im Dienste einer Idee: eine innigere Verbindung, ein Verhältnis gegenseitigen Verstehens und seelischer Sympathie herzustellen zwischen den Völkern des Ostens und des Westens. Auch nach Deutschland ist der Dichter gekommen, sobald die Nachwirkungen des Krieges es erlaubten (Frühling 1921). Damals war ihm ein neuer Plan aufgegangen: er wollte seine Schule zu einer internationalen Universität ausbauen, als Werkzeug der geistigen Berührung und gegenseitigen Befruchtung von Indien und Europa. Aber gerade da setzte die indische Unabhängigkeitsbewegung mit großer Energie ein, und alles Interesse wandte sich der Politik zu; eine feindliche Haltung gegen alles Europäische, die Tendenz, sich dagegen abzuschließen, gewann die Oberhand, und der Einfluß Tagores wurde von dem Gandhis verdrängt. So konnte jener Plan nur unvollkommen verwirklicht werden. Immerhin ist in Santiniketan im Laufe der Jahre neben der Elementarschule eine Frauenschule, eine Kunstschule, eine Ackerbauschule und eine Anstalt für orientalische Studien entstanden.

Tagores Lyrik ist von wunderbarer Zartheit und Innigkeit; sie ist ganz Klang und Duft, von aller Stofflichkeit, aller Erdenschwere befreit. Auch seine dramatischen Dichtungen sind in hohem Grade idealistisch und voll latenter Lyrik; sie spielen mehr im Reiche der Phantasie als in einer örtlich und zeitlich bestimmten Wirklichkeitswelt. Ganz anders die epischen Werke. Sie stehen mit wenigen Ausnahmen fest auf dem Boden der Wirklichkeit; ihr Schauplatz ist das heutige Indien, und sie geben uns tiefe Einblicke in das indische Volk, seine Sitten und Einrichtungen, vor allem in seine Seele und seinen Charakter. Auch ihr Zweck ist nicht die Wiedergabe äußerer Tatsachen, sie behandeln psychologische und ethische Themen, und die Hauptgestalten haben ihr Leben aus der Seele des Dichters. Während die großen Romane in der gebildeten Gesellschaft der Hauptstadt oder unter dem Landadel spielen, führen uns die kürzeren Erzählungen in die Welt des Dorfes, der die überwiegende Mehrheit des indischen Volkes angehört. Der weitaus größte Teil hat tragische Tönung. Von diesen Novellen liegen drei Sammlungen in englischer Übersetzung vor, die den reichen Vorrat doch längst nicht ausschöpfen. Die drei Proben, die hier ausgewählt sind und die bisher noch in keiner europäischen Sprache übersetzt waren, zeigen Tagores Erzählkunst von verschiedenen Seiten. »Enttäuschung« entwirft das altindische Ideal des sittenreinen Brahmanen und des ganz von selbstloser Liebe beherrschten Weibes in einem leuchtenden Bilde, das durch die kühle Ironie der Umrahmung in eine Ferne und Unwirklichkeit gerückt wird. So große sittliche Kräfte in ihm wirken und ihm Wert geben, es ist eine versunkene Welt, für die in der Gegenwart kein Raum ist. In dieser Erzählung ist die tiefe Offenbarung der indischen Seele und die souveräne Kunst der Darstellung gleich bewunderungswürdig. »Der Gast« zeigt Tagores tiefes Verständnis für die Kindesseele. Es ist das Bild eines edlen Wildlings, der, ein Stück ungebrochene Natur, in seinem unbedingten Freiheitsbedürfnis jede Bindung scheut, auch die der Liebe, und daher überall nur als Gast auftritt, nirgends heimisch wird. »Mrinmaji«, der das in Indien seltene Glück widerfährt, aus Liebe geheiratet zu werden, erscheint anfangs als ein weibliches Gegenstück zum »Gast«, aber sie ist nur noch zu jung, ein ausgelassenes Kind, als sie, nach indischer Sitte, in die Ehe tritt, und muß erst durch Entbehrung und Sehnsucht zum Weibe reifen. Eine der wenigen Erzählungen des Dichters, die in ungetrübtem Glück enden.

Wandsbek, den 28. Oktober 1930.
Heinrich Meyer-Benfey.

 


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