Auguste Supper
Der stärkste Zauber/Weiße Magie
Auguste Supper

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Weiße Magie

Man hätte Karl Unterwasser durchaus einen anständigen Kerl nennen können, wenn – – – ja wenn!

Er verstand zu arbeiten und arbeitete gern, falls er die richtige Sorte von Arbeit fand. Er war freundlich, gefällig, nüchtern, anstellig, immer guten Muts, hilfsbereit, findig, unverdrossen und sogar ehrlich, wenn – – – ja wenn!

Vorbestraft war er nicht. Ein gütiges Geschick hatte da sein Schifflein an manchem drohenden Riff vorbeigeleitet und wieder flott gemacht, wenn es schon beinahe festsaß.

Er selbst rechnete sich zu den Einwandfreien. Wenn er manchmal aufräumte, was die Leute nicht aufräumten, so konnte er darin kein so schreckliches Unrecht erblicken. Fast verdienstvoll kam es ihm vor. Er war sich nicht bewußt, je einmal danach gesucht, aber er erinnerte sich, unzählige Gelegenheiten gefunden zu haben, wo es einfach das Gegebene war, etwas wegzunehmen.

Wenn man bedenkt, wie oft die Harmlosigkeit, die Nachlässigkeit der Menschen solche Gelegenheiten schafft, solche Fußangeln aufstellt, dann ist es eigentlich erstaunlich, daß Karl Unterwasser seiner Neigung, die er als eine 87 Art Begabung empfand, nicht weit öfter nachgab.

Manchmal allerdings, wenn ihm diese Begabung – wie es auch bei andersartigen Begabungen vorkommt – wieder einen Streich gespielt hatte, wäre er sie im Grunde seines Herzens gerne los gewesen. Er hätte ihr den Laufpaß geben mögen, wie einem lästigen Begleiter, der einen immer wieder in Ungelegenheiten bringt; aber er fand Mittel und Wege nicht, besonders da ihm niemand bewußt oder unbewußt Handreichung dazu tat.

Nicht, als ob er von den Menschen gerade schlecht behandelt worden wäre! Aber ein junger, heimatloser, kräftiger Bursch, der aus einer Gärtnerlehrstelle davongelaufen und dann das geworden ist, was man mit mehr oder weniger Anführungszeichen »Gelegenheitsarbeiter« nennt, der darf sich nicht wundern, wenn man ihn seinen Weg auf eigene Faust machen läßt. Er machte ihn ja auch. Aber es ging oft im Zickzack. Nicht zum wenigsten wegen jener Neigung und Begabung, die immer wieder einmal zur Unzeit durchbrach.

Bei Frau Agnes Tröster, der Bäckerswitwe, fand Karl Unterwasser einen Dienst.

Die Bäckerswitwe war eine große und wohlbeleibte Frau, deren Menschenfreundlichkeit und warme Güte noch beträchtlicher war als ihr gewaltiger Körperumfang. Sie 88 lebte in guten Verhältnissen, war kinderlos und führte das alte Geschäft, das von ihren Eltern stammte, in einer zugleich umsichtigen und patriarchalischen Weise. Neben der Bäckerei hatte sie noch eine Liebe, das war ihr Garten vor der Stadt. Das weithingedehnte Stück Land war wertvolles Baugelände. Aber nicht deshalb liebte sie es. Der Gedanke, es um noch so viel Geld herzugeben, flößte ihr Grauen ein.

Sie holte sich dort draußen, wo man den Wald in der Nähe rauschen hörte und den weiten Himmel sah, immer wieder die Kraft, die sie für ihr Leben brauchte.

Es war ein sehr schlichter, wenn auch großer Garten. Anspruchsvolle Leute hätten ihn überhaupt nicht als solchen gelten lassen. Die ungezählten Beete waren eher ackermäßig bepflanzt. Fast nur nützliche Dinge wuchsen da, die man zur Notdurft und Nahrung brauchte. Kraut, Sellerie, Bohnen, Salat, Kartoffeln. Und dann hauptsächlich eine Menge Rettiche, weil die der erste Bäcker, der Höchstkommandierende nach der Meisterin, zu seiner Leibspeise erkoren hatte.

Aber in etlichen Rabatten gediehen doch auch prächtige Blumen, vom Veilchen im Märzwind an bis zu den späten Astern, die der Herbststurm zauste und der erste Schnee noch blühend antraf. 89

Der größte und eigentlich einzige Fehler an diesem Garten war, daß er viel Arbeit erforderte, und daß man im Bäckerhaus wenig Zeit für ihn hatte. In früheren Jahren hatte die Frau selbst oft und gerne draußen gegraben und gehackt, gesät und gepflanzt, gejätet und begossen. Aber nun war ihr das zu beschwerlich und die Zeit und die Ruhe mangelten ihr, seit sie nicht mehr ihren Mann daheim im Laden wußte. Sie kam fast nur noch Sonntags hinaus, und dann war die Freude oft nicht ungetrübt, weil sie sah, wie das Unkraut dem guten Gewächs so mühelos den Rang ablief und wie die Rabatten verwilderten. Dazu wurde seit einiger Zeit unheimlich gestohlen. Die schönsten Rettiche und Salatköpfe fehlten, wenn man sie holen wollte, und in der soliden Bretterhütte, die man Gartenhaus nannte, nächtigte, den Spuren nach, lichtscheues Gesindel.

Zur Arbeit in diesem Garten wurde Karl Unterwasser von der Bäckersfrau eingestellt, als er ihr, am Ladentisch lehnend, eindringlich und »ergreifend« von seiner Ehrlichkeit erzählt hatte, die in dieser argen Welt beständig in Versuchung geführt werde. »Ergriffen« wurde bei dieser Geschichte, außer dem guten Herzen der lauschenden Frau, auch noch eine schöne, fast noch warme Brezel, die aufreizend nahe bei der Hand des eifrigen Erzählers 90 lag und Eile hatte, in dessen Tasche zu kommen.

Als ein neuer Haus- und Gartenbursche wurde Karl den Bäckern und Mägden vorgestellt. Sein Nachtlager bekam er in einem Magazin, in dem auch die Lehrbuben und ein Geselle schliefen.

Eine Zeitlang ging alles glänzend. Dann ließ einmal der Geselle seinen Regenschirm so ungeschickt in seinem Schrank stehen, daß er dem Karl, als dieser die unverschlossene Tür auftat, buchstäblich in die Hand fiel.

Manchmal braucht ein Bäcker seinen Regenschirm wochenlang nicht. Aber gerade damals wollte es das Schicksal, daß der Ausgangstag des Gesellen auf einen häßlichen Regentag fiel, und in diesem Zusammenhang entdeckte der Geselle seinen Schirm in des neuen Burschen Kammer. Es regnete nun schwere Prügel, und infolgedessen konnte Karl verschiedene Tage nicht ausgehen.

Die Meisterin erfuhr den Zusammenhang nicht. Sie wurde in dem Glauben gelassen, daß eine Erkältung infolge des Regens vorliege. Sie schickte allerlei Warmes, auch warme Brezeln, in des Burschen Kammer, ja sie kam selbst, um zu fragen, ob man ihn ins Krankenhaus schaffen oder mit Hausmitteln kurieren solle.

Er versicherte, daß Hausmittel ausreichend seien, er habe dieses Leiden schon öfter gehabt. Auch der Geselle 91 war dieser Meinung und sagte mit Lachen, da helfen nur trockene Umschläge, und dafür sei er Manns genug.

Nach einigen Tagen, als sich das Wetter wieder gebessert hatte, erklärte der Geselle, für den Burschen wäre es das Beste, wenn er an die frische Luft käme. Entweder solle ihn die Meisterin zum Teufel jagen oder sie solle ihn nur noch im Garten arbeiten und draußen schlafen lassen im Gartenhaus.

Die Frau konnte sich die Herzlosigkeit solcher Reden nur damit erklären, daß eben jederzeit die Zünftigen ein Aber haben gegen die Hergelaufenen. Aber was wollte sie machen! Man konnte nicht einen guten erprobten Gesellen vor den Kopf stoßen um eines Fremden willen.

Bekümmerten Herzens, fast beschämt, machte sie dem Karl den Vorschlag, draußen im Gartenhaus zu wohnen.

Zu ihrer großen Erleichterung ging er sofort, und, wie es schien, sogar begeistert, darauf ein. Es wurde eine Pritsche für ihn hinausgeschafft, die Löcher im Dach wurden zugestopft, Tür und Wände ausgebessert und alles getan, um den Raum wohnlich zu machen. Zum Mittagessen sollte der Karl ins Bäckerhaus kommen und sich dann jeden Tag die Vorräte für die übrigen Mahlzeiten hinausnehmen. Es waren schöne, vernünftige Vereinbarungen und alles ging gut. Man muß ehrlich 92 anerkennen: der Garten gewann sichtlich durch die ständige Anwesenheit des Karl. Und umgekehrt war nicht zu leugnen: der Karl gewann, seit er beständig im Garten war.

Jeder Kundige weiß ja, daß es Gartenarbeit an sich und in sich hat. Sie nimmt einesteils so hin, daß man Leib und Seele über ihr vergessen kann. Und andernteils beschenkt sie so, daß man meint, man habe einen neuen Leib und eine neue Seele bekommen. Besonders die Menschen, die einen Blick haben – wer einen Blick hat, versteht schon, was damit gemeint ist, und wer keinen hat, dem kann man's nicht sagen – diese Sorte Menschen wird von der Gartenarbeit weiter und weiter gelockt, wie Hänsel und Gretel in den Wald hinein. Viele, denen die Alltagsarbeit ihres Berufs als ein Bleiklotz an den Füßen hängt, bekommen Flügel, wenn sie sich an der Erde zu tun machen. Aus den dunklen, schweigenden Krumen strömt eine Kraft, deren geheimnisvolles Wesen man nicht ergründen, nur spüren kann. Der Karl, als er so allein, so herrscherhaft dort draußen schalten und walten durfte, geriet in einen Zustand hinein, den Böswillige vielleicht Größenwahn genannt hätten. Er fühlte sich alles so untertan, so dienstbar, so völlig zu eigen, als sei eine ganze Welt in seine Hände gelegt. 93

Da wuchs jeder Rettich, jeder Salatkopf gleichsam nach seinem Kommando, denn mit Gießkanne und Düngergabe hatte er das Wachstum weithin in seiner Hand. Er konnte die Pflanzen je nach ihrem Wohlverhalten bevorzugen oder auf schmale Kost setzen. Er konnte der Erde vorschreiben, ob sie Rüben oder Reseden hervorbringen solle, denn er verabreichte ihr den nötigen Samen. Den stolzesten Stauden und Blüten konnte er den Standort anweisen nach seinem Gutdünken, und wenn er sie ausrotten wollte, konnte er auch dies. So war er denn Herr über Leben und Tod, und das stieg ihm – ehrlich gesagt – einigermaßen in den Kopf. War dieser Kopf doch nicht kühl genug, zu merken, daß es ein Kniff, eine lächelnde Mutterlist der Erde ist, sich zu stellen, als ob sie nur die gehorsame, die blindergebene Dienerin der Sterblichen und völlig der Oberhoheit ihrer eigenen Kinder unterstellt sei. Menschliche Mütter treiben oft das gleiche Spiel mit ihren Kleinen, und auch diese fallen darauf herein und krähen vor Vergnügen und Machtgefühl.

Das Machtgefühl, das den Karl überkam, sorgte dafür, daß er den Dingen der Außenwelt anders gegenüberstand als früher, solang er sich als der arme Garnichts gefühlt hatte. Das ist eine ganz natürliche Sache. 94 Solch ein Garnichts wird immer versuchen, auf irgendeine Weise doch auch ein Brosamlein vom Gelage des Lebens zu erhaschen. Sogar aufs Stehlen kann er verfallen, wenn er nicht klug genug ist, zu begreifen, daß Unrecht immer ein Umweg ist, wenn man nach Glück und Freude auszieht.

Ein Mensch mit dem nötigen Machtgefühl aber hat auch bei leeren Taschen die Sicherheit in sich, daß er sich jederzeit an einen gedeckten Tisch setzen könnte, wenn er nur wollte, und so gerät er nicht beständig in allerlei Versuchung.

Wenn sich Karl Unterwasser, müde und wohlgesättigt von reichlicher Arbeit und einem reichlichen Nachtessen, auf seine Pritsche streckte, dann war es ihm wie ein unerfreulicher Traum, daß er früher schon in diesem jetzt so ehrbaren und sicheren Gartenhaus als kecker Eindringling genächtigt und Salate und Rettiche von den gleichen Beeten gestohlen hatte, die er jetzt bepflanzte und beherrschte.

Eme Wut stieg in ihm auf, wenn er sich vorstellte, es steige da draußen in der warmen Nacht ein frecher Kerl über den Zaun und verwüstete und zerstörte ihm die Arbeit seiner Tage.

Manchmal lag er wachend und horchend, und für vorkommende Fälle stellte er sich einen gediegenen Prügel in 95 die Ecke. Aber seit Karl Unterwasser sich der Ehrbarkeit ergeben hatte, war dort draußen nicht mehr über Unsicherheit zu klagen.

Er selbst hätte das nicht so beurteilen können. Aber im Nebengarten, der zu einer Gruppe von verwilderten Grundstücken gehörte, arbeitete eines schönen Sommerabends eine Frauensperson.

Karl sah ihr lange von weitem zu und machte sich innerlich lustig über ihre zögernde Art, der Wildnis zuleibe zu gehen. Schließlich rief er sie über den Zaun hinüber an und geizte nicht mit spottenden Worten. Sie kam näher und betrachtete sich den Nachbar. Er mußte ihr wohl nicht den schlechtesten Eindruck machen, denn sie legte die Arme über den Zaun zu längerer Aussprache. Da sah er, daß sie in seinem Alter, eher darunter, war. Aus ihrem jungen hübschen Gesicht blickten zwei kluge Augen, die etwas Prüfendes hatten, an das sich Karl Unterwasser erst gewöhnen mußte. Er fing an, die Erde von dem Spaten zu putzen, mit dem er hantiert hatte.

»Sind Sie Gärtner?« fragte die Hübsche.

Das gab dem Mann sein Selbstgefühl zurück, und sie kamen ins Gespräch. Das Mädchen gestand, daß ihr die Arbeit da draußen im Garten ihres Großvaters von Grund aus verleidet gewesen sei, weil immer gestohlen werde. 96 Erst in letzter Zeit sei das besser geworden, und sie wolle jetzt wieder anfangen, etwas Rechtes zu pflanzen.

In Karl Unterwasser regte sich allerlei; ohne Frechheit sagte er, wenn der Kerl, der da immer gemaust habe, gewußt hätte, was für ein bildsauberes Fräulein den Garten bearbeite, dann hätte er sich wahrscheinlich lieber die Hand abgehackt, als so etwas Häßliches zu tun.

Das Mädchen lachte hell auf. Sie meinte, da kenne er das Gesindel schlecht. Wer halt das Stehlen in sich habe, der lasse es nicht, und es sei ihm einerlei, wem er stehle.

Karl widersprach. Sein Kopf wurde rot vor Eifer. Er warf ihr vor, daß sie doch das nicht wissen könne, sie werde wohl noch nie gestohlen haben. – Er doch sicherlich auch nicht, rief sie, und sie mußten beide unbändig lachen, daß sie da von Dingen redeten, die sie gar nicht verstanden.

So gingen sie zu anderem über. Zu dem, was ein Gärtner verstehen muß. Sie fragte ihn um die Namen mancher der Blumen, die da in den Rabatten blühten. Er sagte sie ihr in einer Sprache, die sie nicht verstand. Lateinisch, meinte sie, und tat ein wenig verächtlich. Er ließ sie in dem frommen Glauben, denn es konnte ihm doch kein Mensch zumuten, daß er vor diesem hübschen fremden 97 Mädchen sich selbst bloßstellen sollte. Doch ging er jetzt schnell von den Blumen zu anderem über. Wie man einen Komposthaufen nach allen Regeln der Kunst schichtet und umsticht, verstand er vortrefflich darzulegen, auch über die Kultur von Rettichen und Salat wußte er glänzend Bescheid.

Das Mädchen schien befriedigt. Ihre Augen verloren von der prüfenden Schärfe, wurden freundlich, fast zutraulich.

Ihr Großvater sei auch Gärtner gewesen, erklärte sie, aber dann sei er um sein Vermögen gekommen. Das kleine Grundstück da sei sein letzter Besitz. Sie verstummte, als hätte sie zuviel gesagt vor dem fremden Menschen. Karl Unterwasser ließ die Augen über das verwilderte Land gleiten. Nun, das sei schon noch etwas, meinte er sachverständig, wenn man sich da tüchtig dahinter mache, sei etwas herauszuziehen.

Sie schüttelte den Kopf. Der Großvater sei zu alt, und sie selbst gehe doch »ins Geschäft«. Sie habe nur ganz selten Zeit für den Garten, und dann sei doch seither alles gestohlen worden.

Der Mann ärgerte sich, daß sie nun schon wieder mit dem dummen Stehlen anfing. »Ach was,« sagte er, »das können doch auch balgende Hunde gewesen sein, die Ihnen 98 die Beete verscharrt und verwüstet haben, oder es sind Kinder hineingekommen und haben das Land zertrampelt!«

Sie lachte. So dumm sei sie nicht, daß sie da den Unterschied nicht sehe. Hunde fressen kein Grünzeug, und Kinder schleppen nicht Körbe voll Salat weg. Sie wisse schon, was sie wisse, da könne man ihr nichts vormachen. Er fuhr auf. Vormachen! Er wolle ihr doch nichts vormachen. Ob sie vielleicht gar glaube – – –! Er wisse nichts von ihrem Garten, er habe mit dem seinen genug zu tun und bei ihm sei früher auch mächtig gestohlen worden. Aber er habe der Schweinerei ein Ende gemacht. Seit er da draußen im Gartenhaus schlafe, sei Ruhe. Er habe einen Prügel in der Ecke stehen – – – ob er ihr den einmal zeigen solle, den Prügel? –

Sie wehrte ab. Also er schlafe da draußen? Ja, ob er sich denn da nicht fürchte? Die Spitzbuben könnten doch auch einmal zu zweit oder zu dritt kommen, da könnte sein Prügel nicht viel nützen. Vielleicht wäre es besser, wenn er sich eine Tüte mit Pfeffer eintäte, daß er ihn den Kerlen in die Augen streuen könnte.

Er mußte lachen. Da könne sie ganz ruhig sein; das sei sicher immer nur einer gewesen. Wegen der paar Rettiche und Salatköpfe trage es keine Organisation aus. Es sei auch kein rechter Dieb gewesen. Halt so ein Bursche, 99 der nirgends hingehörte und Hunger hatte! Das seien die schlimmsten nicht. Wenn die zur rechten Zeit noch in die rechten Hände kämen, dann könnten die tüchtigsten Leute aus ihnen werden.

Das Mädchen sah ihm auf den Mund in einer Weise. die ihn eigentlich hätte freuen müssen. Aber es war ihm nicht ganz geheuer dabei. Sie hatte etwas in ihrem klaren Blick, was ihm Unbehagen schuf, wie Sand im Schuh.

Ob sie ihm vielleicht nicht glaube? brauste er unwillig auf. Sie fuhr mit der Hand am Zaun entlang, als wolle sie da Harfe spielen. War wohl Spott in ihrer Stimme, oder hörte er nur Spott heraus, als sie jetzt fragte, ob denn er schon einmal einen gekannt habe, der nur so – mir nichts – dir nichts – aus einem Dieb und Tunichtgut wieder ein rechter Kerl geworden sei? Er bückte sich und riß eine Handvoll Nesseln am Zaun aus. Das Brennen des hinterlistigen Krautes trieb ihm das Blut ins Gesicht. Er schüttelte die schmerzende Hand und murmelte etwas, in dem Donnerwetter vorkam. Dann fragte er sehr gehalten, wie sie das meine: mir nichts – dir nichts? –

Sie legte wieder die Arme auf, als hätte sie eine Unmenge Zeit, so über den Zaun zu plaudern. Nun, sie 100 meine halt – und ihr Großvater meine das auch – wenn es einem in seiner Natur liege, zu stehlen, der lasse es nicht mehr von selber. Früher sei so einer eben zum Schluß an den Galgen gekommen und heutigentags – – sie schaute auf einmal weit über ihren Zuhörer hinweg, und die Augen waren seltsam verdunkelt.

Karl Unterwasser, der sonst nicht zu den Schüchternen gehörte, fand nicht gleich den Mut, weiter vorzudringen. Er lehnte jetzt am Zaun und blickte dorthin, wo das Mädchen hinschaute. Aber beide sahen sie nicht die Wolkenwand, die langsam heraufzog, sondern irgend etwas Fernes, Unsichtbares, Unwirkliches, das ihnen die Wirklichkeit des nahenden Gewitters völlig verdeckte, so daß sie nicht einmal das leise Murren in der Luft hörten und nicht das erregte Schrillen der Schwalben, die immer hastiger über die weiße Straße und die schweigenden Gärten hinstrichen, als müßten sie die Jagd noch nützen, ehe ein Gewitterregen die Mücklein niederstreckte.

Sehr sachlich und wie erwachend fragte jetzt das Mädchen, ob es wohl noch zu früh sei, den späten Eskarol zu säen?

Der Gefragte machte eine Bewegung, die die Mitte hielt zwischen Nicken und Kopfschütteln. Da kam ein Sturmstoß von Westen herüber; das anmarschierende 101 Wetter sandte seinen gewalttätigen Herold. Erschrocken blickte das Mädchen auf. Nun müsse sie heim, sagte sie mit hörbarem Bedauern, ihr Weg sei weit. Es sei schade, daß sie erst so wenig gearbeitet habe.

Karl Unterwasser schaute sich um und musterte den dunkelnden Horizont. Mit einer schönen Ruhe erklärte er, es werde nicht viel kommen, und nach dem Regen sei um so besser zu arbeiten. Besonders den Eskarol solle man nur nach Regen säen.

Sie lachte und sagte, ihr Großvater habe das Gegenteil behauptet: Eskarol dürfe nur vor einem Regen und bei abnehmendem Mond gesät werden.

Er machte eine wegwerfende Bewegung. Alte Leute seien abergläubisch. Das mit dem Mond sei dummes Zeug. Und überdies sei jetzt gerade der Mond im Abnehmen, und der Regen sei auch noch nicht da. Wenn sie also nach ihres Großvaters Rat tun wolle, sei heute die beste Zeit.

Sie lachten einander an und plötzlich setzte Karl Unterwasser mit einem gewandten Schwung über den Zaun und erklärte sich bereit, ihr bei der immerhin drängenden Arbeit zu helfen. So säten sie denn Eskarol, und der Donner grollte dazu, und in den schütteren Blättern der paar alten Pflaumenbäume, die den Baumschmuck 102 des Gartens bildeten, knisterten die ersten schweren Regentropfen.

Als das Werk getan war, goß es schon ganz beträchtlich, und eine Weile später – sie wußten selbst nicht recht, wie es zuging, – standen die beiden nebeneinander in Karl Unterwassers einsamer Behausung und schauten stumm und einigermaßen verstört durch die offene Tür hinaus in ein wildes Toben, dem sie mit knapper Not in rasender Flucht entgangen waren.

Das Eingeregnetsein in irgendeinem Unterschlupf hat schon in manchem Roman und vielleicht auch schon oft im Leben eine entscheidende Rolle gespielt. Aber in dem Gartenhaus der Bäckerswitwe Tröster geschah nichts Besonderes. Vielleicht gab es zu denken, daß das Mädchen, auch als der Regen tief herein in den dämmerigen Raum peitschte, nicht erlaubte, daß Karl die Türe schließe. Aber es mochte dies auch nur eine Laune und von keiner tieferen Bedeutung sein. Jedenfalls sah das Mädchen gar nicht aus, als ob sie sich vor Karl in irgendeiner Hinsicht fürchte. Erst starrte sie stumm in das klatschende, tosende, grollende, krachende Treiben, dann, als das Wetter zahmer wurde, sah sie sich ohne Frechheit und ohne Schüchternheit in dem Obdach um, in das höhere Gewalt sie gegen oder doch ohne ihren 103 Willen getrieben hatte.

Wie es ihr da gefalle? fragte mit Selbstbewußtsein Karl, der – auch ein Feind mußte ihm das lassen – sauberste Ordnung hielt in seinem kleinen Reich, so daß selbst der Blumenstrauß auf dem Tisch nicht fehlte.

Sie lachte ihn an. Vielleicht hatte dies Lachen etwas besonders Frohes, weil es aus dem von Gewitterangst befreiten Herzen kam. Schön sei es hier, sagte sie; so müsse es wohl beim Hanickel gewesen sein, von dem ihr Großvater oft erzählte, der in Silmlingen im Wald gehaust habe in einer eigenen Hütte.

Wer das sei, der Hanickel, wollte Karl wissen.

Ja nun, das sei doch ein übler Räuber gewesen, der den Bauern die Würste aus dem Rauch und die Gänse aus dem Stall, die Rüben und Kartoffeln vom Felde und das Geld aus der Kommode gestohlen habe. Aber schon vor hundert Jahren.

Es blieb eine Weile still. Dann meinte Karl, das sei gewiß so gewesen, weil die Bauern, die dreckigen Schlamper, alles hätten herumfahren lassen, so daß der Hanickel eigentlich gar nicht gestohlen, sondern nur aufgeräumt habe.

Aber darauf ließ sich nun das Mädchen nicht ein und im Handumdrehen waren sie wieder in einem Gespräch 104 über Diebe und Diebsgebräuche, als gäbe es für sie beide kein näherliegendes Thema. Sie erhitzten sich daran, und sie lachten; aber hinter dem Lachen schwang etwas anderes mit, und plötzlich brach es aus dem Mädchen heraus, halb wie ein auszuspielender Trumpf, halb wie Niederlage: »Wo doch mein eigener Bruder – –«. Sie schwieg wie zum Tode erschrocken und starrte Karl ins Gesicht, und der starrte auch. Dann sahen sie beide dem leise rieselnden Regen zu, der die Pfützen vor der Hüttentür kräuselte.

Und nun klang ein dünnes, verlorenes Schluchzen auf. »Er ist ja tot und es geht niemand etwas an. Mein Großvater hat das Letzte mit ihm probieren wollen. Da ist er gestorben. Ueber die Gestorbenen soll man nichts Schlechtes sagen. Sie können sich nicht mehr wehren.« Karl Unterwasser spürte etwas wie Atemnot. Er verstand nichts und wußte nichts zu sagen und fühlte doch, daß hier etwas gesagt werden müßte, daß man etwas von ihm erwartete. Sein warmes Herz wäre gern irgendwie beigesprungen, aber es fiel ihm kein Weg ein. So blieb er stumm und bedrückt am Türpfosten stehen, und das war es vielleicht, was jetzt dem Mädchen wieder Haltung gab. In einem merkwürdig kühlen, ja hochmütigen Ton sagte sie, das sei schon oft vorgekommen, 105 daß auch in ganz rechten Familien ein Glied aus der Art schlage. Sogar der Hanickel sei eines Schulzen Sohn gewesen, darum habe man ihn auch an einen eschenen Galgen gehängt. Ihr Bruder aber, ihr Fritz – ihre Stimme begann schon wieder zu schwanken, als sei das Weinen nicht fern – der habe doch, wie sie, keine Eltern gehabt, und der Großvater sei immer auf Arbeit gewesen und – – sie schwieg, als sei es ihr nicht mehr der Mühe wert, weiterzureden.

Jetzt sagte Karl merkwürdig leise, er habe auch keine Eltern gehabt und nicht einmal einen Großvater. Er sei in der Anstalt aufgewachsen.

Sie gab keine Antwort. Ihr Blick hing unverwandt an den Regenpfützen, die von den fallenden Tropfen zerwühlt wurden und auf denen trübe Blasen wie eilende Schifflein dahintrieben. Dann fing sie wieder zu reden an; nur so vor sich hin, als gehe es keinen Menschen an. Der Fritz habe halt nichts liegenlassen können, und der Großvater habe ihn halbtot geschlagen. Manchmal sei lange nichts vorgekommen, so daß man schon gemeint habe, jetzt sei's gewonnen. Aber dann – wie wenn der Teufel in ihn gefahren wäre – habe er wieder gemaust, und da helfe nur ein einziges Mittel. Das habe denn auch der Großvater mit dem Fritz 106 probiert, und so sei eben alles gekommen – –. Sie schien gar nicht zu empfinden, daß ihre Rede für den stillen Zuhörer am Türpfosten reichlich undurchsichtig war, und daß sie ihm einen klaren Schluß schuldig blieb. Ein trauriger Ernst lagerte über ihrem jungen, vorher so freundlichen Gesicht. Trübe Erinnerungen schienen sie umsponnen zu halten, sie völlig abzudrängen von der Gegenwart und aus der Nähe ihres Hörers, der sich zu wehren hatte, daß er sich nicht ganz überflüssig vorkam.

Die aufgezwungene Rolle wollte ihm auf die Dauer nicht behagen. Er tippte leicht an den Arm der Reglosen, und als sie ihm, wie erwachend, das Gesicht zuwandte, deutete er in die Ecke, wo sein Prügel lehnte. Ob sie glaube, daß der genüge? fragte er gewollt leichthin.

Sie nahm den derben Stecken in die Hand und wog ihn. Alles Trübselige von vorhin schien wieder von ihr gewichen. Da könne er schon einem Frechling einen Denkzettel geben, meinte sie, aber zur Vorsicht wolle sie ihm doch, wenn sie wieder herauskomme, eine Tüte Pfeffer mitbringen.

Ob sie morgen wiederkomme?

Morgen wohl nicht. Das Nötigste sei ja jetzt wieder gearbeitet. Er lachte. Das Nötigste! Was denn in 107 einem Garten das Nötigste sei? Da sei alles das Nötigste und fertig sei man da nie. Wenn er es frei heraus sagen dürfe, so sei es eine Schweinerei, wie es in ihrem Garten aussehe, da könne nichts Gescheites wachsen.

Der Kopf wurde ihr rot. Da solle er den schelten, der seither immer gestohlen habe! Sie hob den Prügel und tat einen Schlag über Karls Rücken. »Hiebe muß er haben!« rief sie lachend.

Er entriß ihr den Stecken und warf ihn hinter sich. Da traf er das Glas, in dem die Blumen auf dem Tisch standen, und die Scherben klirrten.

Erschrocken standen beide. Dann fing das Mädchen an, mit ihrer Schürze die Wasserpfütze auf dem Tisch zu trocknen. »Ich bin schuldig,« sagte sie dabei so reuevoll und demütig, daß es dem Karl durchs Herz ging. »Ach was,« rief er, mehr gutmütig als besonnen, »da lass' ich halt wieder ein Glas mitlaufen, wenn ich vom Essen gehe.« Sie wandte sich um, als habe sie einen Schlag empfangen. Ihre Augen waren dunkel und es wetterleuchtete drin. »Also so einer sind Sie!« stieß sie hervor und durchbohrte ihn mit den Blicken, als hätte er sich soeben zu allen Schandtaten der Welt bekannt und sie sei zum Richteramt aufgefordert.

Seine Leichtfertigkeit wollte ins Wanken kommen, 108 aber er trotzte sich's ab, zu sagen: »Nun – da ist doch nichts dabei!«

Das Mädchen nahm langsam die nasse Schürze ab. In einer merkwürdigen Feierlichkeit stand sie vor ihm und maß ihn vom Kopf bis zu den Füßen. »Nein,« sagte sie mit einer glasharten Stimme, »da ist nichts dabei. Aber ich muß jetzt heim.«

Er starrte sie an. Er spürte wohl, daß ihm soeben ein ganz böses Urteil gesprochen worden war, so harmlos die Rede klang. Sein Hirn arbeitete um das richtige Wort, das die zerstörte Brücke wieder schlagen sollte, aber ein Bangen sagte ihm, daß alles vertan sei. Mechanisch sammelte er die Blumen auf, die auf Tisch und Boden hingestreut lagen, indes das Mädchen langsam aus der Türe ging, ohne Gruß, ohne Abschiedswort.

Draußen blieb sie stehen. Der Regen hatte aufgehört. Der Himmel war von jener grellen, abendlichen Klarheit, wie sie hinter schweren Wettern herzukommen pflegt. Sie rollte ihre nasse Schürze zusammen, um sie auszuwringen. Dabei schaute sie empor und verzog plötzlich den Mund in sichtlicher Verachtung. Den Kopf nach Karl zurückgewendet rief sie unsäglich geringschätzig: »Lügen tun Sie auch. Der Mond ist gar nicht im Abnehmen. Da oben steht er ja.« 109

Karl trat unter die Tür, als müsse er sich vergewissern. Sie schauten beide nach der bleichen, kaum sichtbaren Sichel, die der entschwundenen Sonne nach ihre hohe Bahn zog. Angesichts solcher Beweise versagten dem sonst so Selbstsicheren die Worte. Den heimatlos gewordenen Blumenstrauß in der Hand stand er wie ein Gescholtener, und drüben überm Zaun sang in den nassen Pflaumenbäumen eine Amsel so hell und stark, als freue sie sich von Herzen seiner Demütigung.

Aber war auch die Lage für den Burschen nicht beneidenswert, und zeigte auch des Mädchens junges Gesicht einen unwirschen Ausdruck, so fühlten doch die beiden Herzen die tiefe Schönheit des Abends, in der so viel Versöhnliches lag, nachdem doch eben das böse Wetter über den Wald gezogen war.

Vielleicht weil sie sich weich und versöhnlich werden fühlte, brach jetzt das Mädchen wieder los und schüttelte dabei die nasse Schürze, daß es klatschte: »So hat es angefangen bei meinem Fritz! Lügen, lügen, nur daß gelogen ist! Den Lehrer anlügen, den Großvater anlügen, mich anlügen und immer: Da ist doch nichts dabei! – Und mitlaufen lassen, was einem paßt und was man gerade brauchen kann – da ist doch nichts dabei! –«

Ihre Stimme hatte einen gar grellen Klang, und ihre 110 Worte stürzten daher wie gepeitscht von Zorn, von Verachtung, von Bitterkeit. Der Hörer war kein großer Seelenkundiger. Er vernahm es schwerlich, daß das furchtbare Leid einer geschändeten, zerstörten Kindheit aus dem erregten Mädchen brach, aber so viel merkte er doch, daß nicht mit ihr zu spaßen war. Wie um sie zu besänftigen, hielt er ihr den Blumenstrauß hin und tat schon den Mund auf, um etwas Versöhnliches zu sagen, da fuhr sie ihn an: »Hat Ihnen Frau Tröster erlaubt, daß Sie Blumen verschenken dürfen? Oder ist da vielleicht auch nichts dabei? Ich will nichts von so einem, daß Sie's nur wissen.«

Drüben verstummte jetzt die Amsel. Der Streit schien ihr die Stimmung zu stören. Das Mädchen ging gegen den Zaun hin. Plötzlich kehrte sie um. Ihr Gesicht hatte einen ganz veränderten Ausdruck. Es war nicht mehr zornig und gerötet, sondern sorgenvoll, gealtert, blaß.

»Ich will Ihnen nur sagen,« redete sie ihn an und schaute dabei gegen den Wald, »wenn Sie mein Bruder wären, dann ließ' ich Sie beizeiten das tun, was mein Großvater meinen Fritz zu spät tun ließ.« Er schien sie unterbrechen zu wollen, aber sie fuhr schon mit erhobener Stimme fort: »Ist einer ein rechter Kerl, so 111 kann er's ruhig tun; es schadet ihm nichts. Ist er das aber nicht, so muß er entweder sterben, oder er muß davon recht werden.«

Karl, als sei ihm die Hand ermüdet, ließ den Blumenstrauß erst sinken und dann achtlos in die Pfütze neben der Türe fallen. Etwas in ihm war ganz Widerstand und Empörung. Er kam sich vor, als verschmiere ihm dieses junge Ding das Gesicht mit Ruß und lache ihn dann aus, weil er schwarz sei. Doch nein – sie lachte nicht. Sie sah ja viel eher traurig aus, oder so, als hätte sie Angst, er könne nicht auf sie hören. Da zwang er selbst sich zu einem Lachen: »Also heraus mit der Katze aus dem Sack!« rief er gewollt leichtfertig, »was soll ich tun?«

Unwillig schaute sie ihn an. »Sie meinen, das sei Aberglauben, so wie das vom Mond? Aber auf das, was mein Großvater vom Mond sagt, kann man sich verlassen, und aufs andere auch. Aber von mir aus können Sie's ja halten, wie Sie wollen. Sie sind ja mein Bruder nicht – zum Glück!« setzte sie ganz besonders herausfordernd hinzu und wandte sich wieder zum Gehen.

Er vertrat ihr den Weg. »Ich glaube Ihnen doch. Jedes Wörtlein glaube ich Ihnen. Und Ihrem 112 Großvater auch. Warum sind Sie denn so wild? Sie dürfen mir doch nur sagen, was ich tun soll. Von selber kann ich das doch nicht wissen.«

Sie standen dicht voreinander wie Feinde, die sich an die Gurgel fahren wollen; aber die Amsel nebendraußen sang wieder, als könne sie nichts Bedrohliches oder Beunruhigendes in der Situation erblicken. Da wurde des Mädchens blasses Gesicht plötzlich wieder ganz rosig. Die Augen sahen blank aus, wie der Himmel, über den das Wetter hinweggezogen war. »Ach ja,« sagte sie überredend, mütterlich, »tun Sie's doch! Wenn es nicht nötig ist, dann ist's ja um so besser; aber Sie kommen mir vor wie mein Fritz. Gleich, als ich Sie sah, sind Sie mir so vorgekommen.« Ganz leise hatte sie zuletzt gesprochen und das Blanke in ihren Augen war langsam zu zwei dicken Tränen geworden, die ihr jetzt über die Wangen rollten, ohne daß sie es vielleicht wußte.

Dem Burschen verschlug's die Sprache. Er war sich nicht klar, ob er sich freuen oder sich grämen sollte, daß er dem Fritz gleichsah, diesem Fritz, von dem er nichts wußte, als daß er gestohlen habe und gestorben sei. Es schwebte ihm vor, daß am schönen, stillen Sommerabend in der Einsamkeit weit vor der Stadt 113 ein junger Bursch und ein junges, hübsches Mädchen doch auch andere Dinge miteinander reden könnten, als von einem mißratenen und obendrein toten Bruder. Aber wie er sich auch gegen die auferlegte Last stemmte – er fühlte, daß das Mädchen diejenige war, die bestimmte, was und wie hier gesprochen werde. Und – merkwürdig zu sagen – im Grunde war es ihm ganz recht so.

Anderen Tones, bescheidener, ernsthafter als zuvor, bat er sie, ihm nun doch zu sagen, was sie eigentlich von ihm wolle und was er zu tun habe? Er sei doch kein Spielverderber, und wenn es ihr Freude mache, oder wenn sie es für das Richtige halte, gehe er gern auf alles ein. Da wurde auch sie ganz zahm und friedfertig. Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen und sagte, wenn man so viel durchgemacht habe wie sie, dann sei man vielleicht ein bißchen wunderlich; aber das habe sie sich eben nun einmal fest vorgenommen: mit einer Mannsperson, die es mit der Ehrlichkeit nicht genau nehme, wolle sie ihrer Lebtag nichts mehr zu schaffen haben, denn das sei ein arges Elend, von dem sie erzählen könne.

Karl senkte den Kopf. Es war ihm ungut zumute. Sein ganzes junges Leben sah ihn plötzlich mit anderen, viel ernsteren Augen an als seither. 114

Jenes dumpfe Gefühl, das er manchmal gehabt hatte: daß er von etwas loskommen müsse, daß etwas nicht in Ordnung sei, – es stürzte jetzt über ihn her, als habe dieses weinende Mädchen die drohende Lawine in Schwung gebracht.

Er wolle gern tun, was sie sage, versicherte er noch einmal. Sie schaute auf und prüfte sein Gesicht. Es lag jetzt kein Lachen darauf, keine Keckheit, keine Unaufrichtigkeit. Aber sie war noch nicht ruhig. »Streichen Sie mir's in die Hand, daß Sie es tun wollen und nicht darüber reden, sonst hilft's nicht,« sagte sie und hielt ihm die von der Schürze nasse Handfläche hin, die für ihre Jugend rechtschaffen zerarbeitet war.

Er zog mit seinem erdigen Finger ein Kreuz darüber und sagte fest: »Auf Ehre!«

Das schien ihr merkwürdigerweise zu genügen auch von einem, den sie doch erst durch ihres Großvaters kraftvolle Magie den Krallen der Unehrlichkeit entreißen wollte.

Sie zog ihn in die Hütte, als dürfe die Amsel und der klare Abendhimmel und die silberne Sichel des Mondes nicht Zeuge sein ihrer wichtigen Unterweisung. Vielleicht sollten auch wir sie nicht hören. Aber es wird ja unter uns keine Seele geben, die von solcher 115 Armut und Leere wäre, daß sie zu spotten vermöchte über etwas, was so gut, ja heilig vermeint war. Ja, es mag sogar sein, daß jemand unter uns ist, der für sich selbst das brauchen kann und anwenden will, was dem Karl angeraten wurde. Der soll dann wissen, daß wir ihm unsern Segen geben zu seinem Unterfangen, denn es ist ja schließlich einerlei, auf welche Weise ein Mensch üblen Wegen entrissen und auf den Pfad der Tugend gestellt wird. Drinnen in der Hütte also legte das Mädchen dem Burschen die Hand auf die Schulter und sah ihm tief, aber beileibe nicht frech oder herausfordernd in die Augen. Leise sprach sie: – und sie sagte »du« zu ihm, weil man das bei allen magischen Besprechungen so machen muß – »Geh bei Vollmond in einen fremden Garten. Dort grabe ein Erdloch; aber ohne Werkzeug, nur mit den Händen. So tief muß es sein, als ein Schuh von dir lang ist.«

Karl warf einen besorgten Blick auf seine Schuhe, aber das Mädchen fuhr schon fort: »Um Mitternacht hältst du deine Hände hinein bis an die Gelenke. Fünf Vaterunser lang oder noch länger. Aber kürzer nicht! Dazu mußt du sagen:

Allhier kommt einer zur Erden,
Sie soll ihn lassen sauber werden! 116
Sie soll ihm waschen die Hände,
Oder sie mach' ein Ende! –«

Dem Burschen, obgleich das Mädchen so nah, so zutraulich neben ihm stand, lief ein kalter Schauder über den Rücken. Wie vor einer Gefahr trat er unwillkürlich zurück.

»Hast du Angst? Steht es so bei dir? Kannst du dir's nicht getrauen?« zischte das Mädchen, schon wieder auffahrend.

Da riß er sich zusammen. »Angst –? Wieso? Da ist doch nichts dabei!« Sie sah ihn seltsam an. So, als sollte ihr Blick bedeuten: Auch diese dumme Redensart wirst du verlernen! Dann gebot sie: »Sag das Sprüchlein, ob du's kannst!«

Dreimal, viermal mußte er es wiederholen. Dann zeigte sie ihm noch, wie er die Hände in das Erdloch zu halten habe. Genau nach des Großvaters Vorschrift: mit den Handflächen gegeneinander, aber nicht allzu dicht, damit, wie sie sagte, der Hauch der Erde noch dazwischen durchkönne!

Als sie nun so sehr besorgt um ihn war und immer das magische »du« gebrauchte, verlor sich der kalte Schauder in dem Burschen wieder. Ja, von seiner 117 natürlichen Keckheit kehrte sogar etwas zurück, so daß er sie fragte, ob sie ihm, wenn er alles vorschriftsmäßig getan habe, zur Belohnung dann einen Kuß geben werde? Sie sagte etwas darauf, was etwa lautete: er werde das ja sehen! Nur gebrauchte sie weit magischere Worte, so daß der Bursche darauf in eine Art stiller und entrückter Seligkeit verfiel. –

Es bleibt jetzt nicht mehr viel zu berichten.

Was beim nächsten Vollmond vor sich ging, darf, wie schon von dem Mädchen streng betont worden ist, nicht besprochen werden.

Nur das sei festgestellt, daß Karl Unterwasser diesmal die Mondphasen weder übersah noch verwechselte. Allerdings war er auch häufig nicht allein, wenn er seine Feststellungen am Mond machte, und auf vier Augen, besonders wenn zwei davon so klare Mädchenaugen sind, ist mehr Verlaß als nur auf zwei Männeraugen.

Auch das ist noch zu erwähnen, daß es eine Zeitlang nach dem bedeutungsschweren Vollmond für Karl eine etwas bängliche Frage war, ob mit ihm wohl gar keine, oder eine erfreuliche, oder gar jene letzte und gründliche Veränderung vorgehen werde, die für den Bruder Fritz eingetreten war. 118

Aber da er im Grunde eben doch ein tüchtiger Bursche war und auch weit kräftiger als Fritz, von dem der Arzt nie viel Gutes gehalten hatte, so zeigte sich bald, daß des Großvaters Magie bei ihm durchaus am Platze und von den allerbesten Folgen war.

Nicht nur der Garten der Frau Agnes Tröster, sondern auch der danebenliegende mit den alten Pflaumenbäumen, nahm einen ungeahnten Aufschwung, und die singenden Amseln schmetterten an schönen Abenden Geheimnisse in die leuchtende Einsamkeit, die sie irgendwo erlauscht hatten und vor Freude nicht bei sich behalten konnten. Denn wenn Amseln Liebe wittern, müssen sie singen, was aus den Kehlen geht.

Aus dieser wahren Geschichte ist zu lernen, daß jeder, der in den Fesseln eines halben oder ganzen Lasters liegt, gut daran tut, den Gang zur Erde anzutreten und sich das Sprüchlein einzuprägen:

Allhier kommt einer zur Erden,
Sie soll ihn lassen sauber werden!
Sie soll ihm waschen die Hände,
Oder sie mach' ein Ende! –

 


 


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