Auguste Supper
Der stärkste Zauber/Weiße Magie
Auguste Supper

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Der stärkste Zauber

Am herbstlich sich färbenden Saume eines Wäldchens hin schritt ein Mann auf taunassem Pfad. Er schien nichts zu empfinden von all der Schönheit des Morgens. Sein Blick hing am Boden, als werde er von dem schmalen nassen Pfad an der Leine geführt wie ein Willenloser. Aber die hohe Gestalt, der unbedeckte Kopf mit dem kurzgeschnittenen, steilen Haar, die breite Stirn, die starke Nase, das feste Kinn – all das sah nicht aus, als könne dieser Mann überhaupt keinen Willen haben.

Jetzt ging dicht neben dem Schreitenden ein Fasan auf.

Der Mann schaute auf. Er blickte sich um wie ein Erwachender. Der Schein von einem Lächeln ging über das gebräunte Gesicht, als er sah, daß der Vogel ohne Scheu dicht am Weg in einer jungen Fichte aufbäumte.

»Du weißt wohl, daß der Jörg Balder kein Schießgewehr mehr trägt«, murmelte er.

Als hätte das dumpfwogende Erinnern, das ihn seither auf seinem Gang begleitet, plötzlich Gestalt gewonnen, so standen jetzt festumrissene Bilder vor dem Manne auf, und seine Haltung wurde straffer. Er sah sich wieder in des Königs Rock, den er lange getragen. Und er sah auch schärfer und klarer als je, 7 daß er ihn nicht getragen, wie manche unter seinen gewesenen Kameraden ihn trugen: als das Kleid heimlicher Manneseitelkeit oder als Symbol eines bevorzugten Standes. Nein, ihm war dieser Rock ein Treuschwur zu allen hohen Dingen gewesen, eine Verpflichtung zum Schwersten, ein Sinnbild, eine Mahnung zur Hingabe an Volk und Vaterland. Ueber wieviel Hindernisse und Widerstände hinüber hatte er, der einzige Sohn aus altem Kaufmannsgeschlecht, sich diesen Rock dereinst erkämpfen müssen!

Die schwere Bitterkeit stieg wieder in ihm hoch, die den entlassenen Hauptmann quälte, so oft sein neuer Beruf ihm eine freie Stunde gönnte. An den stillen Sonntagmorgenfrühen wurde sie am stärksten. Wenn die ruhige, die bescheidene Schönheit seiner neuen Heimat ihn innerlich gefangennehmen wollte, dann war es, als ob der Mann sich vor einer Untreue fürchte, als ob er mit doppelter Inbrunst alles Vergangene in sich hochhalten, alles das, was er seither als das Beste in sich empfunden hatte, hervorsuchen wolle.

Der Schreitende war jetzt auf kaum merklich ansteigendem Pfad zur Höhe eines Hügels gekommen, über dessen Scheitel die Grenze seines Besitztums, eines kleinen Hofgutes, lief. 8

Von hier aus sah man über die Heide und kümmerliches Oedland hinweg die Felder und Gebäude, die in einer flachen, weiten Mulde freundlich eingebettet lagen.

Ein paar Monate war es her, daß er sich hier angekauft hatte. Wie Spreu im Wind war der Reichtum seiner Eltern im Hexenkessel der bösen Jahre dahingeschwunden, und Jörg Balder fand sich nicht nur aus dem geliebten Beruf hinausgestoßen, sondern auch nahezu um sein Vermögen gebracht.

Der Rest reichte noch hin, um den Hof zu kaufen, der in tiefer Weltabgeschiedenheit dort unten lag, ein sehr bescheidener Besitz, der seinen Mann nur notdürftig ernährte.

Als sei es sein gewohnter Weg, bog jetzt der Schreitende in die Heide ein und strebte einem mächtigen Baumstumpf zu, der wie ein Hochsitz zwischen blühender Erika aufragte.

Hier hatte er in den letzten Monden an jedem schönen Sonntagmorgen gesessen. Hier war seine Kirche, hier sein heimlicher Gottesdienst. Wenn die grünen Hügelwellen, die stillen Waldstreifen, die braunen Bänder frischgepflügter Aecker zu ihm hergrüßten, dann hörte er wie aus unbegreiflicher Tiefe heraus einen Zuspruch, 9 der alles Bittere scheuchen und ihn mit neuer Spannkraft füllen wollte.

Zuerst hatte er von da oben aus noch Entfernungen abgeschätzt, Geschütze aufgestellt, Deckungen gesucht. Dann aber waren diese Stimmen stiller, diese Schatten blässer geworden. Er fing an, suchenden Blickes die Grenzen seiner Felder festzustellen, das schlechte Dach seiner Scheune umzudecken, das kahle Wohnhaus mit rankendem Grün zu umkleiden, den dürftigen Garten zu vergrößern, zu verschönern und einzuhegen. Auch heute wurde sein Blick hell, als er von dem sonnenwarmen Sitz ins Land hinaussah. Die Wespenschar bitterer Gedanken ließ ab von ihm.

Ueber die nächste Hügelwelle kam Glockenläuten. Dort lag ein kleiner Weiler, der keinen eigenen Pfarrer, aber ein uraltes Kirchlein besaß. Spätere Geschlechter hatten dem graubemoosten Bau einen nadelspitzen Turm aufgeflickt, der jetzt wie ein Wahr- und Wegzeichen über der stillen, in ihrem Auf und Ab von Tal und Hügel gleichförmigen Gegend stand.

Der Lauschende blickte hinüber nach der Turmspitze. Er stellte sich vor, wie hinter dem Hügel nun die kleine Gemeinde, unter der er manchen und manche schon kannte, aus den paar engen Gassen auftauchte, um in 10 dem efeuumsponnenen Heiligtum, darin ihre Vorfahren seit Jahrhunderten gebetet, sich Kraft und Trost zu holen für ihren rauhen, kümmerlichen Werktag und für ihres Lebens Leid.

Wie er so eingesponnen in diese Gedanken und Bilder saß, tauchte unvermerkt ein anderes Kirchlein vor seinem Geiste auf. Es war auch grau vor Alter und grün von Efeu. Ganz bekannt und vertraut stand es vor ihm da, grüßend, einladend in seiner stillen Heimeligkeit.

Er mußte sich zusammenraffen, sich besinnen, was es mit diesem zweiten Kirchlein war. Ach ja, drüben im Westen irgendwo – hieß der verlorene Erdenwinkel nicht Longette? – stand das kleine, alte Gotteshaus halbzerstört inmitten zerstörter Gassen auf niedrigem Hügel.

Damals erklang Orgelspiel darin so leise, so süß und fromm, als sitze die heilige Cäcilia selbst vor den Tasten. Er trat hinein, um ein wenig zu lauschen. Da sah er einen stattlichen Kriegsmann auf der Orgelbank sitzen. Sein Gesicht war bleich, sein Haar angegraut, der Hinterkopf von einer Binde umwickelt. Als er den Lauscher im Kirchlein erblickte, brach er sein Spiel jäh ab, als schäme er sich, daß er sein Herz gezeigt. Es war ein Herz voll Heimweh. 11

Wo mochte der Mann jetzt weilen? War er genesen von seiner Wunde und von seinem Heimweh?

Plötzlich sah der Sitzende etwas, was er am Sonntagmorgen hier außen auf der Heide noch nie gesehen: einen Menschen. Zwar war es nur ein kleiner, der den Namen vielleicht erst halb verdiente; aber sein Erscheinen erregte Aufsehen bei dem Einsamen auf dem Baumstumpf. Ein Büblein von etwa vier oder fünf Jahren krabbelte unfern im Heidekraut. Der nahe Wald mochte es ausgespuckt haben; es sah aus wie ein Wichtel, Gesicht und Hände dunkel von Brombeersaft, der Kittel bös verschmiert. Jetzt schien es selbstvergessen auf etwas Lebendiges Jagd zu machen, vielleicht auf eine Eidechse, eine Blindschleiche, denn es hob die Augen nicht vom Boden.

Näher kam das Kerlchen, und nun stand es erschrocken still, riß die Augen auf und rief gegen den Waldsaum hinüber: »Es sitzt schon einer da!«

Aus den Worten, aus Stimme und Gebärden des Rufenden klang so tiefe Enttäuschung, so schwerer Vorwurf, daß dem Manne auf dem Baumstumpf das Gewissen schlug. Aber dann machte er sich klar, daß er auf eigenem Grund und Boden saß und daß die Rechte des kleinen Herumstreichers nicht besser sein 12 konnten als die seinen.

Er schaute nach dem Waldsaum und erwartete dort den oder die Spießgesellen des Kerlchens heraustreten zu sehen. Aber er gewahrte eine weiße Frauengestalt, die wie zögernd unter den Bäumen stand und Ausschau hielt.

Merkwürdig kam ihm das vor. Fast wie ein Spuk. Die Weiber in der Gegend, die paar Mädchen, trugen keine weißen Kleider. Es hätte ihnen auch schlecht genug gestanden.

Ein Unbehagen überkam den Sitzenden. Da ragte etwas herein aus der Welt, die er hinter sich gelassen hatte, die er vergessen wollte. Ein tiefer Trotz drückte ihn auf seinen Platz nieder. Er hatte nicht nötig, auszuweichen, nicht nötig, Zugeständnisse zu machen.

So wandte er den Kopf ab und wieder der Hügelwelle zu, hinter der die Nadel des überschlanken Kirchturms aufragte. Angestrengt, als sei da ganz Neues zu entdecken, schaute er hinüber und ertappte sich doch darauf, daß er horchte, was am nahen Waldsaum weiter vor sich ging.

Aber es blieb merkwürdig still. Und als er endlich wieder hinschaute, da war keine Frauengestalt mehr da und auch kein verschmiertes Büblein. Er hätte meinen 13 können, alles sei nur eine Augentäuschung, eine Luftspiegelung, sei nur Gespenstertrug gewesen, wenn nicht seine Nüchternheit sich gegen dergleichen gewehrt hätte.

*

Es zogen warme, sonnige Herbsttage und ‑wochen herauf. Jeden Morgen lag jener Glanz, jene Klarheit über der Erde, die nur die späte Sonne so schenken kann. Auf den abgeernteten Aeckern war des Flimmerns und Leuchtens kein Ende, die stille, entlegene Welt war voll köstlicher Schönheit und seltsam grenzenloser Weite.

Wenn Jörg Balder mit seinen zwei jungen Gäulen draußen neben der Heide sein eigenes Land pflügte, wenn seine Hände fest um den Pflugsterz lagen und seine Augen die gerade Linie für die Furche suchten, wenn er die Krähen vertraulich neben sich stolzieren sah und den kräftig-herben Wind bis auf die Haut spürte, dann wuchs neue Lebensfreude, neuer Mut in ihm empor.

Drüben, näher am Hof, waren die beiden Knechte mit dem Abernten des Rübenackers beschäftigt. Man sah ihre gebückten Gestalten zwischen dem satten Grün, man hörte ihre Stimmen in der klaren, stillen Luft.

Das war wohl Märte, der Jüngere, der jetzt sprach. Er stammte aus der Gegend, und jede Hügelwelle, 14 jedes Wäldchen, jeder Sumpf, jedes Tal ringsum war ihm vertraut. Bald von jeder Stätte wußte er eine Geschichte, und fast immer lief es auf etwas Abenteuerliches oder Spukhaftes hinaus. Das fiel seinem Herrn jetzt ein, und es war ihm, als sei das ganz in der Ordnung.

Hier, in der tiefen Weltabgeschiedenheit, wo kein Menschengetriebe jedes erst halbgestorbene Gestern schon unter einem brutalen Heute begrub, hielt sich alles Vergangene wie der Rauch über der Asche, wenn kein Wind ihn verjagt. So konnte der Märte wohl zu seinen Geschichten kommen, ohne ein Aufschneider zu sein, dem zu lauschen die Mühe und die Zeit nicht lohnt.

Jörg Balder hielt sich unter seinen Dienstleuten, wie er sich einst unter seinen Soldaten gehalten hatte: Ohne daß er davon redete, wußte er, daß er der Herr war, und so wußten es auch die andern und verhielten sich danach. Die Knechte waren gleich weit entfernt von Frechheit wie von Schüchternheit, und ihr Eigenes trat ruhig an den Tag.

Die beiden Männer waren, wie ihr Herr, »draußen« gewesen. Bis nach Palästina hatte es den redseligen Märte, bis nach Finnland den schweigsamen Frieder verschlagen. 15

Oben am Acker, wo er nach dem Wenden eine Zeitlang zu halten pflegte, damit die eifrigen Gäule verschnaufen sollten, tat der Herr einen guten Pfiff hinüber zum Rübenacker. Die Zwei richteten sich auf und schauten her. Auf einen Zuruf kam Märte über das Feld.

Sein Herr sah ihm entgegen, wie er einherstapfte, ein stämmiger, untersetzter Bursche mit derben Zügen und borstigem Haar. Die mißfarbene Hose hielt ein roter Gürtel fest, und das buntgestreifte Hemd stand über der Brust offen.

»Was hast du nur wieder alles zu erzählen?« fragte lachend der Herr den Näherkommenden. »Es läuft dir ja wie ein Bach.«

Auch der Knecht lachte. Aber dann wurden sein Gesicht, seine Stimme ärgerlich. In seiner breiten Mundart kam's: »Der Frieder glaubt net, daß um die Zeit 's Fräule' geht.«

»Welches Fräulein? Wohin soll sie gehen?«

Der Knecht schaute drein, als käme ihm diese Frage seines Herrn wie eine große Torheit vor. »'s Fräule – 's Fräule vom Brombeerwäldle. D' Osanna heißt mer se.«

Jetzt erst kam dem Herrn die Erleuchtung, daß es 16 sich um eines der gespenstigen Wesen handelte, mit denen Märte seine Heimat bevölkerte, und daß dieses »Gehen« das spukhafte Inerscheinungtreten solcher Wesen bedeutete.

Er wollte schon den Mund auftun zu gutmütigem Spott, da fiel ihm jene weiße Frauengestalt am Saume des Brombeerwäldchens ein.

»Was ist's mit ihr?« fragte er unwillkürlich und machte sich am Gaulsgeschirr zu schaffen.

Der Knecht rieb sich die Erde von den Händen. »Die – die – e guete ischt's; aber verschrecke tut se ein' halt. En Schatz häb' se g'hätt, der sei fort in Krieg und nemme komme. Sie hot ins Kloster g'wöllt. Sellmols ischt no e Kloster g'we in Niederspring, wo jetzt die Spinnerei ischt. Aber ihr Vater hot se net gange lau und hot se 'zwunge, daß se en andere g'nomme hot. E Edelmann ischt ihr Vater g'wä, und Schulde hot er g'hätt wie e Graf. In der Brautnacht ischt se aus em Fenschter g'sprunge, und seither muß se goischtere –«

»Ja, geht sie denn am hellen Tag?« fragte mit einem halben Lächeln der Herr.

»Am glockehelle Mittag. Die Guete ganget älle am Tag.« 17

Jörg Balder warf dem Knecht die Stränge zu. »Ich rief dich, damit du die Gäule heimnehmen sollst. Ich muß noch vor Tisch hinüber nach Klingenmühle zum Anwalt.«

Klingenmühle hieß der nahe Weiler mit dem alten Kirchlein. Von einer Sägemühle, die in benachbarter Waldklinge stand, kam wohl der Name.

Der Knecht schirrte die Gäule aus. Geschickt und flink tat er die Griffe.

»Do kann sie Ihne g'rad' begegne«, sagte er trocken.

»Nun, wenn sie eine Gute ist, habe ich sie ja nicht zu fürchten.«

»Hü!« rief der Knecht den Gäulen zu. Dann drehte er doch den Kopf. »Fürchte net, aber laufe lasse!«

*

Jörg Balder schritt über die Heide, an seinem sonntäglichen Sitz vorüber. Ehe er in den kleinen Wald eintrat, sah er an sich hinunter. Dann mußte er lachen. Fürchtete er vielleicht, daß das Mittagsgespenst Anstoß nehmen könnte an seinem derben Arbeitsgewand, an den erdigen Stiefeln? Er zog die schlichte Halsbinde zurecht und schaute sich rundum. Heute war nichts Weißes zu entdecken. Weiter unten am Waldsaum nur suchte eine weibliche Gestalt etwas am Boden. Wohl Pilze, späte Beeren, Kräuter – was ging es ihn an! 18

Aber vielleicht ging es ihn doch an! Dort war sein Grund und Boden, und die von Klingenmühle durften wohl wissen, daß er, der neue Herr vom Hof, seine Augen offen hatte, dann ließen sie vielleicht nächstes Jahr das Kartoffelstehlen, das sie heuer schwunghaft betrieben hatten.

Er bog von seinem Weg ab und pirschte sich an die Gestalt heran. Sie achtete seiner nicht, fuhr emsig fort, etwas zu suchen oder zu pflücken.

Plötzlich schrie wieder ein Fasan. So nah, so frech, daß der Jäger in Hans Balder sich umblicken und Ausschau halten mußte nach dem Vogel, der wohl zu den Dieben gehören mochte, die ihm im Sommer den Weizenschlag verwüstet hatten.

Als der Mann nachher den Kopf wieder drehte, war die gebückte Frauengestalt verschwunden, wie von der Erde oder dem Wald eingeschluckt. Er traute seinen Augen nicht. Langsam ging er näher, horchte, suchte. Er kam zum Platz, wo sie gewesen war. Zwischen niederem Heidekraut und kümmerlichem Gras wuchs da ein zierliches Blümchen, das dem Mann mit leisem Spott entgegenzulachen schien. Er kannte es nicht; aber ihm wollte fast scheinen, es kenne ihn, so keck vertraulich schimmerte es zu ihm auf. 19

Das Krautwerk ringsum war von Menschenfüßen zertreten. Aber wer vermochte zu sagen, wessen Spuren das waren? Sie konnten von Kindern stammen und brauchten nicht der Beweis zu sein, daß die Entschwundene nicht Märtes »Fräule« war.

Der suchende Mann ertappte sich darauf, daß er wünschte, daß er hoffte, die große Rätselhaftigkeit der Sache möchte sich nicht in irgendeine kleine Alltäglichkeit auflösen. Es war ihm, als bekomme die enge Welt, in die er nun hineingestellt war, einen ganz weiten Hintergrund durch das Unerklärliche. Er spürte: für den Märte und seinesgleichen waren diese Dinge – mochten sie nun Aberglauben sein oder nicht – ein unbewußter, nicht begriffener Reichtum, der die unsägliche Enge und Armut des Lebens ausschmückte, wie die Blumen vor den Fenstern die armseligen Häuslein.

Schon wollte er weitergehen, da sah er im Heidekraut etwas Weißes liegen. Er hob es auf. Es war ein kleines Tuch ohne Zeichen oder Namen. Nur ein paar der unbekannten Blümchen fielen heraus. Er nahm sie auf und steckte Tuch und Blumen zu sich. Diese Dinge wenigstens deuteten nicht auf ein Gespenst. Fast war's ihm leid. 20

*

In Klingenmühle verhandelte er mit dem Anwalt, einem steinalten, gebückten Mann, der aber sein Amt noch in sicheren Händen hielt und sich der andrängenden neuen Zeit in ruhiger Gelassenheit gewachsen fühlte, wie es ein Junger wohl nicht so gekonnt hätte.

Als der Besucher sein Geschäftliches zur Zufriedenheit beider Teile erledigt hatte, zog er noch das gefundene Tuch mit den Blütenzweigchen heraus.

Aber der Alte schüttelte auf seine Frage den Kopf und meinte, die von Klingenmühle hätten nicht so seine Tüchlein zu verlieren. Auch sei es für die Erwachsenen zu klein und für die Kinder zu sauber. Das müsse schon irgendwie aus der Fremde stammen. In Klingenmühle lege man so etwas Feines höchstens den Toten aufs Gesicht.

Die Blümlein – der Anwalt drehte das halbwelke Sträußchen in den verkrümmten Fingern – ja, die kenne er wohl. Augentrost sei ihr Name, und diejenigen gehen sie suchen, die schon allzuviel geweint oder sonst ein Uebel an den Augen haben.

Da steckte Jörg Balder seinen Fund wieder ein und ging heimwärts. Und auf dem einsamen Weg, in der Lautlosigkeit des glänzenden Mittags, war es ihm, als stehe überall ganz dicht hinter aller Sichtbarkeit 21 ein Unsichtbares, als sei die tiefe Stille angefüllt von unhörbarem Leben und Treiben. So merkwürdig, so stark drang das auf ihn ein, daß er plötzlich ins Leere hinein sagte: »Osanna!«

Dann mußte er lachen. Märte, du kannst zufrieden sein. Nicht jeder Erzähler kann solche Wirkung buchen.

*

Das Wohnhaus des Hofgutes Allenstätt lag den Ställen und der stattlichen Scheune gegenüber eingebettet in eine flache, warme Mulde, in der auch im Herbst und Winter die Sonne gern verweilte.

Das plumpe Haus war dereinst mit wenig Aufwand an Geld und Kunst erbaut worden; aber es war geräumig und erfüllte seinen Zweck. Durch den weiten Hof führte ein steingeplatteter Weg zur Haustür. Man trat in einen weißgetünchten Flur, an dem rechts die große Küche lag. Ein verräucherter Kaminschoß hing hier noch über dem gemauerten Herd. Neben der Küche war die weite Eßstube, in die von Süden und Osten durch eine ganze Reihe kleiner Fenster das Licht brach.

Der hellen, vielfenstrigen Stube gegenüber führte eine steile Treppe zum ersten und einzigen Wohnstock empor. Hier lagen die Kammern der Mägde und eine Anzahl 22 überraschend großer Räume, die man herrschaftlich hätte nennen können, wenn ihre Ausstattung und ihr Zustand nicht so dürftig und herabgekommen gewesen wäre. Diese Räume füllte Jörg Balder mit den ihm verbliebenen Resten des elterlichen Haushalts.

Die schweren, alten Möbel standen wie verwundert über ihr Schicksal in den ungepflegten Stuben. Gute Bilder hingen an schlechten Wänden, kostbare Teppiche deckten wurmstichige Dielen, seine Vorhänge verhüllten klapperige Fenster. Der Mann spürte mit schmerzhafter Deutlichkeit, daß diese Räume ein Mißklang waren, der alle anderen Mißklänge seines Lebens immer wieder wachrief. Darum war er selten hier oben. Er hielt sich zu seinen Leuten, arbeitete mit ihnen und hielt Feierabend mit ihnen. Sein Bauerntum sollte keine Maskerade sein, es durfte keinen Schwächling, keinen Halben an ihm finden. Er hätte es lächerlich gefunden, auf so kleinem Hof den großen Herrn zu spielen.

Vielleicht tat er, um diesem Lächerlichen zu entgehen, nach der andern Seite hin etwas zuviel. Es war so schwer, immer das rechte Maß, die rechte Grenze zu finden. So empfand er es oft als einen Mißgriff, daß er angefangen hatte, mit seinen Leuten an einem Tisch zu essen. Tief schweigsam ging es da zu, die 23 großen, dampfenden Schüsseln schienen allein das Wort führen zu dürfen. Machte der Herr den Versuch zu einem Tischgespräch, so schauten ihn die Knechte, die Mägde verwundert, ja vorwurfsvoll an, als hegten sie den Verdacht, er wolle sie nur abhalten, sich satt zu essen. Zuerst waren ihm diese stummen, stumpfsinnigen Mahlzeiten eine Qual gewesen. Wie nichts sonst führten sie ihm das Veränderte seines Lebens, die Kargheit, die Herbigkeit, auf die er zurückgeworfen war, vor Augen. Aber nach und nach gewöhnte er sich daran. Ja, wenn er ehrlich sein wollte: er fand es jetzt angenehm, daß die Leute schwiegen und ihn schweigen ließen.

Heute nun zog der Herr während des Essens ein weißes Tuch aus der Tasche, hielt es hoch und fragte, ob das jemand verloren habe.

Wo es gelegen sei? fragte keck die jüngste Magd.

Aber die Haushälterin, die neben dem Herrn saß und das Tüchlein befühlte, sagte kurz: »Dir g'hörts net.«

Ein leises träges Lachen lief um den Tisch. Alle hielten diese Jungmagd für nicht ganz ehrlich. Der Fund hätte ihr passen mögen; man gönnte ihr die Abfuhr. 24

Aber die Kecke gab sich nicht geschlagen. Ihre Augen blitzten die Lachenden an. »Drum ischt eine dort drauße umenanderg'schliche, wie wenn sie ebbes suche tät« – sie machte eine unbestimmte Bewegung mit der Hand.

»Wie hot se ausg'sehe?« fragte aufreizenden Tones der Märte und sah die Jungmagd spöttisch an.

Trotzig schwieg sie erst. Dann sagte sie gegen den Herrn hin, als hätte der und nicht der Knecht gefragt: »E Schöne! Groß, mit emme helle G'sicht. E blau's Kleid hat se ang'hätt.«

»No ändert sich's Wetter,« warf Märte hin, und man wußte nicht, war es Ernst oder Spott, »wenn d' Osanna blau ischt, kommt Rege.« Es war, als ob Märte ein Stichwort gegeben hätte. Der sonst so schweigsame Kreis redete durcheinander, und alles ging um Osanna.

Schweigend und lächelnd hörte der Herr zu. Es war ihm, als zeigten die Verschlossenen, Zurückhaltenden zum erstenmal ihre Seelen, die er durch kein angeschnittenes Gespräch aus ihnen hatte hervorlocken können. Plötzlich sagte er in ihre Reden hinein: »Ich sah sie schon zweimal.« Es wurde still. Alle schauten ihn an, als seien sie erschrocken über die Bestätigung 25 ihrer eigenen Geschichten.

Märte faßte sich zuerst. Er nickte mit dem Kopf und tat wie ein Eingeweihter. »Wenn Sie se zum drittemol sehet,« belehrte er, »no müsset Sie se froge, was sie will.«

Der Herr lachte. »Rietest du nicht, ich solle sie laufen lassen?«

Alle schauten drein, als sei da eine schwere Frage angeschnitten. Nur Märte war seiner Sache sicher. »'s erst Mol wohl, und 's zweite Mol au' no'. Aber beim dritte Mol muß mer froge. Do will se sicher ebbes.«

»Was kann sie von mir wollen?«

»Erlöst wird se halt sei wölle,« antwortete da der bedächtige Frieder, der seither geschwiege hatte, »drobe in Finnland, in Miltenäs in mein'm Quartier –«

»Ach was,« fiel der eifersüchtige Märte ein, »des ischt in der ganze Welt so, daß eine erlöst sei will. Wenn i' verzähle wölt von Gaza –«

»Ja, was soll ich aber dabei tun?« unterbrach der Herr, um den Eifrigen bei der Stange zu halten.

Die Jungmagd rief vom Tischende herauf: »Mitgehe müsset Se, wo se hegeht.«

Ein strafender Blick des Märte traf sie. »Zähl' du 26 deine Tüchle, ob dir keins fehlt,« rief er anzüglich hinunter. Und dann zum Herrn: »Des ka kei Mensch vorher wisse. Sie wird Ihne scho sage, was sie will und was nötig ischt. Bloß kei Angscht zeige. Und wenn Sie meinet, der Teufel selber komm' – bloß kei' Angscht!«

Der Herr lachte. »Glaubst du, daß es schlimmer werden kann als einen Tag lang Trommelfeuer?«

Der Knecht veränderte keine Miene. »'s ka werde wie zwei Tag, wie drei Tag. Die Tote send oft stärker als die Lebendige.«

Nun waren sie alle still und schauten auf die Teller. Erst der Haushälterin Zuspruch, tüchtig zu essen, brachte sie wieder ins Gleichgewicht.

*

Die weiße, gute Landstraße, die nicht weit vom Hof Allenstätt vorüberging, lag still und leer unter verhangenem Himmel. Sie führte über sanfte Hügelwellen und durch kleine Föhrenwälder ins Weite hinaus, und der einsame Reiter, der vom Hof her auf sie einbog, spürte jenes Lockende, das jeder Weg in die Ferne an sich hat.

Er sann darüber nach, was er mit dem Roßtäuscher, 27 zu dem er unterwegs war, verhandeln wollte; aber manchmal ertappte er sich darauf, daß seine Gedanken, seine Blicke in die große Einsamkeit zur Seite des Weges hineinwanderten, als erwarteten sie etwas. Einmal lachte er laut über sich selbst. Und dann war ihm, als bleibe dieses Lachen wie Pfeifenrauch hinter ihm. Er schaute zurück.

Jäh verhielt er den Gaul. Dort die Gestalt, die die Straße überquerte!

Duckte sie sich? War's eine Bucklige?

So rasch es der schwerfällige Gaul vermochte, wandte der Reiter und preschte zurück. Die Funken stoben aus der steinharten Straße. Laut, mit klingendem Ton, rief der Mann: »Osanna!«

Und richtig: die Gestalt stand. Stand drüben am Waldsaum. Eine Bucklige war's nicht. Schlank und hoch, im blauen Kleid, sah sie dem Reiter entgegen. Der Gaul wollte zurückweichen, wollte steigen, als sein Herr ihm zumutete, über den Graben neben der Straße zu setzen. Aber dann gehorchte er doch

Dicht vor einem bleichen oder bleichgewordenen Mädchen sprang Jörg Balder ab ins feuchte Heidekraut, und er sah in zwei kühle Augen, die halb erschrocken, halb zurückweisend blickten, in ein schönes, nicht mehr 28 allzujunges Gesicht, auf dem Verwunderung lag und vielleicht Hochmut. Das Gewand war das einer Bäuerin.

Eine Weile war es ganz still, denn auch des Gaules schwere Hufe machten im Moos und Heidekraut kein Geräusch mehr.

Dann fragte das Mädchen, den Mann vom Kopf bis zu den Füßen musternd: »Warum riefen Sie mich, woher kennen Sie meinen Namen?«

In Jörg Balder regte sich ein Uebermut, den er langst mit seiner Jugend in sich gestorben wähnte. »Märte, mein Knecht, hat ihn mir gesagt« entgegnete er ohne Zaudern, »er befahl mir, Ihnen zu gehorchen, was Sie auch von mir verlangten.«

Sie trat etwas zurück. Das Erstaunen, der Hochmut auf ihrem Gesicht wurden deutlicher. Ein leises Rot ging langsam empor und verjüngte sie. »Was soll's?« fragte sie kühl, »ich kenne Sie nicht und kenne Ihren Knecht nicht.« Und plötzlich stand seltsam deutlich in ihren Augen die Angst geschrieben, als sei ihr der Gedanke aufgetaucht, einem Betrunkenen oder einem Verrückten gegenüberzustehen.

Der Mann fühlte, daß er den Spaß nicht zu weit treiben dürfe. Ringsum war kein Mensch; es mochte 29 einem einsamen Mädchen wohl ungemütlich sein, so angesprochen zu werden. Und doch: die Leichtigkeit, die Helle, die wie ein Jugendglanz in ihm war, wollte sich nicht so rasch zurückdrängen, zurückverwandeln lassen in die Schwerfälligkeit des nüchternen Alltags. Er verbeugte sich: »Ich bin der Hofbauer von Allenstätt, Jörg Balder, gewesener Artilleriehauptmann. Mein Knecht Märte erzählte mir, daß hier herum das Mittagsgespenst gehe, die Osanna. Wenn ich ihr zum drittenmal begegne, müsse ich sie ansprechen, sie nach ihren Wünschen fragen. – Heute ist's das drittemal, oder täusche ich mich?«

Sie schaute ihn an. Die Kühle in ihrem Gesicht wich einem Aufblitzen von Schelmerei, von frohem Uebermut. Aber wie er gekommen, verflog der Strahl wieder; nur ein müdes Lächeln blieb.

»Meinen Namen kennen Sie,« sagte sie nicht unfreundlich und doch so, als schiebe sie den Fremden von sich, »meine Wünsche pflege ich nicht schon beim ersten Begegnen auszusprechen. Das heißt,« verbesserte sie sich, »es ist ja wohl, wie Sie sagen, ein drittes Begegnen; da darf ich Sie vielleicht bitten, mir mein Tuch wiederzugeben, das Sie beim zweiten gefunden haben.« 30

Er lachte. »Was geschieht eigentlich, wenn man die Wünsche der Osanna nicht erfüllt oder nicht erfüllen kann?« erkundigte er sich vorsichtig.

Wieder glitt flüchtige Schelmerei über ihr Gesicht. »Kann man sie nicht erfüllen, so kommt man ungerupft davon; fehlt es aber am guten Willen, so zwingt einen die stärkere Macht, und man kann Schaden dabei nehmen.«

»So glauben Sie, daß mehr Mut dazu gehört, die Wünsche zu überhören, als sie zu erfüllen?«

Ueber das schöne Mädchen senkte sich wieder die Kühle. »Sie fragen mich mehr, als ich weiß. Bin ich auch die Namensschwester des Gespenstes, so kenne ich doch seine Gepflogenheiten nicht und kann nicht sagen, wie es sich im einzelnen Fall verhält.«

Der Mann hatte Mühe, eine leise Enttäuschung niederzuzwingen, daß das Abenteuer so rasch und nüchtern sollte zu Ende gehen. Noch einmal machte er einen Versuch, es fortzuspinnen.

»Da wußte mein Knecht Märte mehr. Er sagte, die Osanna wolle erlöst sein, und sie werde mir sagen, was nötig sei. Ich solle nur keine Angst zeigen.«

Das schöne Mädchen schaute den lächelnden Mann mit einem seltsamen Blick an. Etwas Mißtrauisches, 31 Aufgeschrecktes war darin, als argwöhne sie, hinter seinen Worten möchte ein tieferer Sinn liegen. Sie reckte sich, als ob sie etwas von sich abstreifen wollte. Ein leises Spottlächeln kräuselte ihren Mund. »Das alles sagte er doch nur in bezug auf das Gespenst. Habe ich etwas Gespenstisches an mir?«

Er umfaßte sie mit einem prüfenden, doch nicht unbescheidenen Blick. Tastend meinte er: »Sie sehen aus, als ob Sie in einer Verkleidung gingen.«

Sie strich leise an ihrem derben, ländlichen Kleid hinunter. Dann lachte sie auf. »Soll ich Ihnen sagen, wie Sie aussehen?«

Es durchzuckte den Mann wie eine Empfindlichkeit, die er selbst nicht recht begriff. Mit der Haselgerte, die er statt der Reitpeitsche trug, schlug er an die schmutzigen Stiefelschäfte. »Hoffentlich sehe ich aus wie einer, der sich von einer hundsföttischen Zeit nicht an die Wand drücken läßt«, sagte er fast herausfordernd.

Ihr Blick war plötzlich warm. Sie schritt an den Gaul heran, tätschelte ihm den Kopf. »Wie Parzifal sehen Sie aus, den seine Mutter schlecht beritten und in schlechtem Kleid in die Welt schickt und der nun ein Abenteuer, ein Erleben sucht um jeden Preis.«

Es blieb eine Weile still. Dann sagte der Mann: 32 »War's nicht bei Parzifal ein Narrenkleid, und die Begegnenden machten sich über ihn lustig? Ein Bauernkittel ist immerhin ein ander Ding.«

Ein Rot glitt über das Mädchengesicht. »Nun ja,« sagte sie gewollt leicht, »Sie wissen doch, daß jeder Vergleich hinkt.«

Er lachte. »Ja, der eine mehr, der andere weniger. Bei dem Ihrigen hapert's überall. Ich reite nicht nach Abenteuern, sondern zu Markus Maier, dem Pferdehändler, um diesen schweren Gaul gegen einen leichtern einzutauschen. Daß ich unterwegs der Osanna begegnete,« – er verneigte sich leicht – »das war nicht von mir gesucht«

Sie schritten jetzt langsam der Straße zu. Des Mädchens kühle Scheu schien überwunden. Sie ging neben dem Gaul, als müßte das so sein, und der Reiter zögerte immer noch, aufzusitzen.

»Wie kommen Sie eigentlich zu Ihrem schönen und seltenen Namen?« fragte der Mann jetzt ohne Zudringlichkeit.

Sie blickte in die Ferne. »Er hat meinem Vater gefallen. Mein Vater stammte aus der Gegend, und hierherum liegt der Name in der Luft. Ihr Märte weiß das ja.« Es war ein dunkler Ton in des 33 Mädchens Stimme, wie ferne Traurigkeit.

»Ihnen selbst gefällt er wohl nicht?« fragte unwillkürlich der Mann. Statt einer Antwort sagte sie: »Kennen Sie die Geschichte der Osanna?«

»So, wie mein Märte sie erzählte, ist sie nicht erquicklich.«

Das Mädchen schüttelte den Kopf: »Nein, nicht erquicklich.«

Das Nebelgebrau in der Luft verdichtete sich jetzt zu zartem Regengeriesel. Auf den dunklen, reichen Haaren des Mädchens lag es wie graue Perlen.

»Sie sind ohne Schirm ausgegangen?« fragte der Mann.

Sie lächelte nur. Sie spürte, wie seine Neugier ihr immer näher rückte, und sie hatte keine Lust, ihm entgegenzukommen.

»Sie wohnen hoffentlich nicht allzu entfernt?« Es klang besorgt, oder sollte so klingen, und doch schwang das Wissenwollen mit, das sie lächeln machte. Sie legte den Finger an die Lippen. »Man darf nicht fragen, wenn man mit Osanna geht.«

»Sagten Sie nicht selbst, daß für die lebendige Osanna andere Regeln gelten als für das Gespenst?«

Sie schien nicht zu hören. Nach einer Weile hob sie 34 den Kopf. »Sie haben also mein Tuch nicht? Ich sah Sie doch damals von weitem gegen die Stelle kommen, wo ich's liegen ließ. Heute lag's nicht mehr dort.«

»Ist es so wertvoll?« fragte er ausweichend.

»Das nicht; aber man weiß nicht gern sein Eigentum in fremden Händen.«

»Macht Ihnen das so viel aus?«

Mit einem unbestimmten Ausdruck sah sie ihn an: »Erzählte Ihnen Ihr Märte nie, daß man da Zauberei treiben kann? Wenn es eine Hexe oder ein Hexenmeister gefunden hat, ist man ausgeliefert.«

»Rettungslos?« fragte er mit klingendem Lachen.

Sie wischte sich den Regen aus dem Gesicht. »Das nicht. Aber es geht hart auf hart.«

»So habe ich's immer geliebt«, sagte er kurz, und sein Lachen schwand. Schweigend schritten sie dahin. Das Regengeriesel wurde stärker. Die Weite hatte nichts Lockendes mehr. Grau, eintönig, öd lag die verhangene Gegend.

»Wollen Sie nicht aufsteigen, um rascher ans Ziel zu kommen?« fragte leise das Mädchen.

Er schüttelte den Kopf. »Mir entgeht mein Ziel nicht. Soll ich Sie allein daherum Ihr Wesen treiben lassen?« 35

Wieder schwiegen sie. Das unhörbare Fragen, das heimliche Betasten ging von einem zum anderen.

Plötzlich stand, wie aus dem Boden gewachsen, das kleine Büblein von damals an der Straßenseite. Auch heute sah er aus wie ein Wichtel, braun und verschmiert. Ein unglücklicher, bekümmerter Ausdruck lag auf dem Gesicht, über das der Regen oder vielleicht auch die Tränen liefen.

Jäh blieb das Mädchen stehen. »Jörglein,« rief sie erschrocken, »bist du mir nachgelaufen?«

Der Kleine heulte jetzt los, wie Kinder tun, die bemitleidet werden. Man verstand sein schluchzendes Gestammel nicht. Sie nahm ihn an der Hand. »Komm heim zur Mutter.«

Der Mann stand vor neuen Rätseln. Konnten die zwei Geschwister sein? Sie sahen sich nicht ähnlich. Das Kind hatte das Derbe der Bauernsprößlinge, über dem Mädchen lag etwas Fremdes, Feines, das nicht nur aus ihrer Sprache klang. »Jörg, also wie ich, heißt Ihr Brüderlein?« fragte er tastend.

Sie lachte. »Jörg heißen hier herum eine Menge Brüderlein. Der heilige Georg war einmal der Schutzpatron der Gegend.«

Eme Ungeduld wallte in ihm auf, weil sie ihm immer 36 entschlüpfte. »Also Jörg und Osanna gehören hier herum zusammen? Deshalb mußten wir uns wohl treffen?« sagte er kecker, als er seither geredet.

»Im Gegenteil,« gab sie kühl und härter abweisend zurück, »vor einem Jörg ist damals Osanna aus dem Fenster gesprungen.«

Die Straße machte jetzt eine scharfe Kehre. Rechts tauchte eine dichte Hecke auf, hinter der die Wipfel von Obstbäumen ragten. Ein kleines, rotes Backsteinhaus wurde sichtbar, mit einem Brunnen davor, um den ein paar Gänse schnatterten.

Jörg Balder entsann sich, daß hier, mitten in der Einsamkeit, der einzige Förster des weiten Bezirks wohnte, ein wortkarger, noch junger Mann, von dem er schon Holz gekauft hatte.

Das Mädchen hob deutend die Hand. »Hier wohne ich. Nun wissen Sie das gesuchte Geheimnis.« Mit leisem Spott sagte sie es und sah ihn an.

Er verhielt den Gaul. Seine Augen gingen nach dem einsamen, bescheidenen Haus und dann wieder zu ihr. »Nur das halbe,« sagte er leise, »darf ich nicht das ganze wissen?«

Jetzt drängte sich das Büblein her: »Du, laß me' reite'!« Der Mut schien ihm angesichts des 37 Vaterhauses gewachsen zu sein. Jörg Balder hob den Kleinen in den Sattel. Der Wunsch kam ihm gelegen, weil er sonst keinen Grund gehabt hätte, noch zu verweilen.

»Jörglein, es regnet doch«, warnte das Mädchen.

Der Mann lachte. »Lassen Sie ihn. Die Jörge führen durch, was sie im Sinne haben.« Er brachte den Gaul in schwerfälligen Trab und lief daneben auf der Straße weiter. Im Walde verschwanden die beiden. Unentschlossen, mit verdunkeltem Blick, sah das Mädchen ihnen nach. Erst wandte sie sich wie im Trotz gegen das Haus, dann unruhig zurück auf den Weg. Durfte sie das Jörglein dem fremden Mann überlassen? Wenn das Kind Schaden nahm, war's nicht ihre Schuld? Trug sie nicht die Verantwortung?

Des immer stärker werdenden Regens nicht achtend, lief sie den beiden nach. Im Wald kamen sie ihr entgegen, beide mit lachenden Gesichtern.

Sie trat herzu und nahm den Kleinen trotz seines Widerstandes aus dem Sattel. »Komm heim! Der böse Mann bedenkt nicht, wie naß du wirst.«

Jörg Balder tippte mit der Gerte dem Kind aufs Haar. »Sag' ihr, ob ich bös bin.«

Der Kleine schaute dem Mädchen ernsthaft ins Gesicht. »Du, bös ischt er net. Er will uns bald b'suche.« 38

»Hast du ihn eingeladen?« fragte sie halb lachend, halb ärgerlich. »Mich nicht,« entgegnete rasch der Mann, »nur meinen Gaul. Glauben Sie, daß der den Weg allein finden wird?«

Sie runzelte die Brauen. Aller Scherz schien verflogen. »Das müssen Sie wissen. Ueberdies wollten Sie ihn doch vertauschen.«

Er biß sich auf die Lippen. Eine Einladung war hier nicht zu erhoffen. Wie um sich daran zu ermutigen und zu ermuntern, schaute er ihr derbes, bäuerliches Kleid an. »Vielleicht läßt sich die Osanna bald wieder in Weiß blicken,« sagte er leise, »damit der Regen wieder aufhört und man ihr im Wald und auf der Heide begegnen kann.«

Undurchdringlich wurde ihr Gesicht. »Ich glaube nicht. Das Barometer ist sehr gefallen.«

Ihm schoß das Blut in den Kopf. »Glauben Sie, daß sich Gespenster nach dem Barometer richten?«

»Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, daß es nicht klug ist, sich nach Gespenstern zu richten. Man muß ihnen weit aus dem Wege gehen.«

»Aber wenn man sie doch nicht gesucht hat,« sagte er dringlich, leise, »wenn sie einem einsamen Menschen 39 in menschenferner Einsamkeit begegnen, wenn sie die Alltäglichkeit seines schweren Alltags ein wenig aufhellen, wenn sie etwas zu ihm hertragen, was er unbewußt lange und schmerzlich entbehrt hat?«

Sie schwieg. In dunklem Ernst schauten ihre Augen ihn an. »Es ist immer eine Gefahr dabei,« sagte sie merkwürdig tonlos, »ich würde Ihnen raten, künftig einen Bogen um die Osanna zu machen, wo sie auch auftaucht.«

»Sie meinen um meinetwillen?«

»Ich meine auch um der Osanna willen«, sagte das Mädchen leise. Da grüßte er stumm und stieg auf seinen Gaul.

*

Auf Hof Allenstätt war eingeschafft und das Feld bestellt. Die Arbeit drängte jetzt nicht mehr, und einförmig gingen die Tage.

Die Knechte bastelten in Haus und Hof umher, flickten Zäune und machten Brennholz. Sie waren verdrossener als zur sommerlichen Zeit und stritten gern unter sich und mit den Mägden.

Jörg Balder mußte jetzt auf die Zähne beißen. Das harte, gleichförmige, fast kümmerliche Leben drang wie 40 ein Feind auf ihn ein und versuchte, seinen Mut zu zermürben. Sollte das nun monatelang so weitergehen und jeden Winter sich wiederholen, dieses schleichende Kommen und Gehen einförmiger Tage ohne großen Inhalt, dieses Zusammensein mit Menschen, die von der reichen Fülle des Lebens und der Welt nichts wußten und nichts wollten?

Er holte Bücher hervor, fing zu lesen, zu studieren an. Aber wie Fußangeln lag da vieles versteckt, was die kaum überwundene Bitterkeit wieder aufleben ließ. Beruf und Leben von einst, all das, was ihm einmal wertvoll gewesen war und unentbehrlich geschienen hatte, streckte wieder von fern die Hände nach ihm aus, und er durfte, er konnte sie doch nicht erfassen.

Da ging er hinaus auf die Felder, auf denen es nichts mehr zu tun gab. Die Ruhe, die Weite der vorwinterlichen Welt half ihm, wenn ihm der Atem knapp werden wollte. Die braunen Schollen, unter denen der Same schlief, das Zittern der Gräser im kalten Wind, das Wandern der tiefhängenden Wolken, das Krächzen der Raben klang ihm wie ein Gruß entgegen. Jene wundersame, kraftspendende Vertrautheit mit der Erde, die jeden überkommt, der einmal ehrlich und nicht zur Kurzweil an ihr gearbeitet hat, nahm ihn hin und stillte 41 das Darben, das drohend herdrängte. Am Waldsaum schritt er hin. Wuchs hier wohl immer noch Augentrost? Er bückte sich. Unter Gras und Heidekraut fand er das freundliche Blümchen; doch schien es zu frieren, schien müde zu sein.

»Osanna,« sagte er leise, »Osanna«.

Den Tannensaum musterte sein Blick. Keine weiße und keine dunkle Gestalt trat heraus. Wo mochte sie jetzt sein, jene Spröde, die so ganz Abweisung war?

Er griff nach der Brusttasche. Ihr Tuch trug er noch bei sich; hatte es all die Zeit bei sich getragen. Märte, wie ist's mit dem Zauber? Er zog es heraus, drückte das feine kühle Linnen gegen das Gesicht. So deutlich sah er sie vor sich, groß, schlank, blaß, hochmütig. Und dann doch voll heimlicher Wärme, voll Schlichtheit, voll Fraulichkeit. Zur billigen Sommerfrische mochte sie im entlegenen Försterhaus gewesen sein. Es mußten ja jetzt so viele das wohlfeilste Brot essen, die früher die Fülle gekannt hatten.

Hundertfach ging sein Sinnen, sein Denken zu dem unbekannten Mädchen, und hundertfach verwehrte er sich's. Er hätte seine Leute, er hätte den wortkargen Förster selbst nach ihr fragen, hätte ihre Spur aufnehmen und verfolgen können und tat es doch nicht 42 aus einer tiefen, ihm selbst unbegreiflichen Scheu heraus. Ihr Warnen – oder war's ein Bitten gewesen? – lag ihm im Ohr wie ein Appell, nicht an seinen Mut, an sein Draufgängertum, sondern an seine Ritterlichkeit, die Wünsche achtet.

Aus der kaltgrauen Luft kam der Hungerschrei eines Bussards. Der Mann sah lange dem Vogel zu, der seine Kreise tiefer und tiefer schraubte. »Ist auch für dich die böse Zeit gekommen?« fragte er leise. Plötzlich krachte ein Schuß, und der Bussard taumelte ins Heidekraut. Er schlug noch einmal mit den Flügeln und lag dann still. Der Förster trat aus dem Wald und nahm seine Beute auf.

Jörg Balder fühlte etwas wie Schmerz. Er hätte dem Grünrock Vorwürfe machen mögen. Dann riß er sich zusammen. War er in der Einöde schon so weich, so gefühlvoll geworden? Er spottete seiner selbst und schritt vorwärts, um die Jagdbeute zu betrachten.

Der Förster grüßte. Es lag nicht der Triumph, nicht die Freude des erfolgreichen Schützen auf dem gebräunten Gesicht. Schweigend zeigte er dem andern den Vogel.

»Ein stattlicher Bursch'«, lobte Jörg Balder; aber es kam nicht aus freier Kehle. 43

»Jo,« bestätigte der Förster, »es ischt e' Süd', ihn z' schieße.«

Ueberrascht schaute der andere auf. »Aber warum taten Sie es dann?«

Der Jägersmann rückte die Büchsflinte zurecht. Etwas wie Verlegenheit malte sich auf seinem Gesicht.

»Drum des ischt so,« sagte er auf jene umständliche Art, wie die Einsamen, die Wortkargen oft reden, »wenn 's eins an de' Auge' hot und gar nix will helfe, no ischt e' weng Fleisch von so ein'm« – er hob den Vogel in die Höhe – »oft no 's Einzig'.«

Verständnislos schaute Jörg Balder den Mann an.

»Jo, jo,« murmelte der, »des ischt kei' Aberglaub', des ischt so. Meiner Mueter hat au' nix anders g'holfe'.«

Im Bestreben, sich zurechtzutasten, fragte Jörg Balder: »Haben Sie eine augenkranke Mutter?«

Ein spärliches Lächeln zog übet das braune Gesicht: »Scho' lang' nemme. Seit zehn Johr sieht se wieder, mei' Mueter, so guet, wie bloß die Tote sehet. Der do« – er hob wieder den Vogel ein wenig in die Höhe – »ischt für d' Madam Lohe g'storbe'.«

Der Jäger wandte sich zum Gehen. Er mochte denken, es sei jetzt genug oder zuviel geredet. 44

Aber der andere vertrat ihm noch einmal den Weg. »Madame Lohe, wer ist das? Ich kenne ja hier herum die Leute noch so wenig.«

»Jo,« sagte der Förster, »'s ischt halt jeder für sich. Sie werde – t – au' d' Osanna net kenne' –?«

Jörg Balder fühlte, daß ihm jählings die Stirne heiß wurde. »Die Schlanke, Große?« fragte er ausweichend.

Der andere nickte. »D'r Osanna ihr Mueter ischt d' Madam Lohe. Sie ischt fast blind.« Schon wieder schwieg er.

In Jörg Balder war eine zerrende Ungeduld. Er schob sie auf die Wortkargheit des andern. »Wo wohnen die Damen?« fragte er fast barsch.

Der Jäger schaute ihn verwundert an. »Immer no' obe' drin«, gab er bedächtig zur Antwort. Grüßend hob er die Hand an den Hutrand und schritt in den Wald hinein.

Jörg Balder sah der untersetzten Gestalt nach und wußte nicht recht, sollte er lachen oder sich ärgern. Es war wohl ebenso leicht, Wasser aus einem Felsen zu schlagen als einen ausgiebigen Bericht aus diesem Waldmenschen.

Aber auch das wenige genügte, um den Mann auf 45 seinem stillen Gang zu beschäftigen. Er wußte nun immerhin, daß die Osanna mit einer augenkranken Mutter zusammenlebte, und daß diese Mutter eine Madame Lohe war. »Madam«, so nannten die Leute in der Gegend eine Frau aus den höheren Ständen.

Was aber konnte das »obe' drin« bedeuten? Doch wohl nicht oben drin im Försterhaus? Das rote Backsteinhaus war so klein, so bescheiden, so unendlich einfach und abgelegen, daß der Gedanke, zwei Frauen besseren Standes müßten dauernd da oben hausen, etwas Beengendes hatte. Das war dann nicht mehr Genügsamkeit und Einfachheit, das war Not, war Entbehrung.

In der Nacht nach diesem Gang lärmten im Gutshaus von Allenstätt die Mäuse. Oder was war's nur, das den Herrn nicht schlafen ließ? Immer tauchte das Bild des Mädchens aus der Nacht auf, so daß er es mustern mußte, Zug um Zug. Dieses blasse, klare, weniger durch den Schmelz und Schimmer erster Jugend, als durch seine Reinheit, seine beherrschte Ruhe schöne Gesicht, diese kühlen und dann doch wieder gütigen und leuchtenden Augen waren ihm gar nicht so sehr fremd. Er meinte, sie von irgendwoher zu kennen und wußte doch gewiß, daß er das Mädchen nie gesehen hatte. Sie war für ihn mit etwas Schönem, Fernem 46 verknüpft, nur konnte er nicht darauf kommen, womit. Seine Wohligkeit ging langsam in Schlaf über, in den ihn ein leises, unsagbar schönes und feierliches Orgelspiel hineingeleitete.

*

Die große Dreschmaschine ratterte jetzt auf dem Hof. Weithin war ihr Getöse zu hören. Von Klingenmühle herüber kamen die Buben, um dem lustigen Betrieb zuzusehen, den sie von daheim nicht kannten. In dichtem Kreis, die Hände in den Hosentaschen, die Köpfe bald frierend eingezogen, bald neugierig gereckt, umstanden sie das Schauspiel. Nach und nach wurden sie frecher. Mancher tat jetzt einen Handgriff, zuletzt wollten sie alle den Knechten helfen. Und plötzlich war's geschehen: Mit gellendem Geschrei stürzte ein Knirps aus den Stroh- und Staubwolken hervor. Irgendwo, wo nach menschlichen Begriffen kaum eine Möglichkeit dazu vorhanden war, hatte er sich die kleine Hand gequetscht, daß das Blut aus den Nägeln lief.

Sein Geschrei brach jäh ab. Eine Blässe breitete sich über das schmutzige Gesichtlein, das Bürschchen taumelte ins Stroh.

Die Maschine verstummte, der Lärm erschreckter 47 Stimmen brandete auf, Jörg Balder kam über den Hof.

Sein rascher Blick, sein kundiger Griff erkannten bald, daß das Unheil schlimmer aussah, als es war. Die Neugierigen jagte er vom Hof, den Verunglückten trug er ins Haus. Und da erst, als er das Kind auf die Bank neben den warmen Ofen legte, sah er, daß es das Jörglein war, sein Namensbruder aus dem Försterhaus.

Er freute sich und ärgerte sich, daß er sich freute. Der kleine Kerl würde sicher ein paar Tage lang böse Schmerzen haben. Er ließ sich laues Wasser geben und wusch die geschundene Hand. Das Kerlchen kam rasch wieder zu sich; sein jämmerliches Weinen füllte die Stube.

»Willst du wieder reiten?« fragte der Mann.

Einen Augenblick lang war es wie ein Aufleuchten in dem Kindergesicht, dann schlug der Jammer wieder darüber zusammen. – Jörg Balder ließ satteln. Der Gaul war nicht mehr so plump und schwer wie sein Vorgänger.

Die Haushälterin mußte den Buben warm einwickeln und dem Herrn aufs Roß reichen. So sprengten sie davon. 48

Der scharfe Ritt konnte des Kindes Wimmern nicht stillen; aber was in des Mannes Augen stand, war doch nicht eitel Mitleid. Es fiel ihm ein, daß er in den letzten Tagen immer wieder gemessen und berechnet hatte, wieviel Holz man zu einer neuen Verschalung für die Scheunenwand brauchen werde. Jetzt wußte er plötzlich, daß diese Erneuerung noch gar nicht nötig war, und daß er nur nach einem Vorwand gesucht hatte, ins Försterhaus zu gehen. Nun brauchte er diesen Vorwand nicht.

Der Förster stand vor dem Haus, als der Reiter daherkam. Es war eine fast lächerlich einsilbige Sache, wie er den Sachverhalt zur Kenntnis und seinen Sohn in Empfang nahm. »Lausbu' naseweiser«, sagte er halb zärtlich, halb zornig und trug das weinende Kind ins Haus.

Der Reiter hätte das Pferd wenden und heimkehren können. Eine tiefe Enttäuschung und Entrüstung war in ihm.

So beschämt, so ernüchtert saß er auf seinem Gaul im Hof, daß ihm das Schnattern der Gänse am Brunnen wie eine persönliche Beleidigung vorkam.

Dann blickte er an dem Haus in die Höhe. Ueber dem einzigen eigentlichen Wohnstock sah er ein paar 49 kleine Fenster. Hatte sich dort nicht eben der weiße Vorhang bewegt?

Er sprang vom Pferd. Ein Trotz war über ihn gekommen. Er hatte doch nicht nötig, sich wie ein lästiger Bote vor dem Haus abfertigen zu lassen, ohne Dank, ohne ein Wort!

Er band den Gaul an den Brunnen, ging durch die offen gebliebene Tür und die steile, enge Treppe hinauf.

Plötzlich stand er vor Osanna. Sie sah bleich aus, erschreckt. »Was ist geschehen?« fragte sie ohne Gruß, »was ist's mit Jörglein?«

Er biß sich auf die Lippen. War denn er selbst gar keiner Beachtung wert? Gab's kein Willkommen, kein Grußwort für ihn?

»Er hat sich die Finger gequetscht an der Dreschmaschine«, entgegnete er so kurz und kalt, daß er an seiner eigenen Stimme stutzte. Ihr Gesicht entspannte sich. »Doch nicht schlimm?«

»Es ist glimpflich abgegangen.«

Plötzlich lachte sie leise auf. »Das Kerlchen machte wohl Ihnen seinen Besuch, weil Sie ihm keinen machten.«

»Hat er darauf gewartet?«

Sie errötete leicht. »Man soll Kindern nichts versprechen, was man nicht halten will.« 50

Er fuhr sich durchs unbedeckte Haar. »Es war in diesem Falle schwer zu machen, weil immer die Gefahr vorlag, ich könnte der Osanna begegnen. Und Sie selbst haben mich vor ihr gewarnt.«

Die Försterin trat jetzt aus der Tür. Eine jüngere, saubere Frau, auf deren hübschem Gesicht noch der Schrecken lag. Sie stutzte, als sie die beiden zusammen reden sah, wollte sich zurückziehen.

»Wie geht's?« fragte das Mädchen rasch »Hast du ihn zu Bett gebracht?«

Der Mann hörte das Du. Es stellte ihn vor ein neues Rätsel. Verwandtschaft? Freundschaft? Sein Auge glitt heimlich an Osanna entlang. Wie eine Dame sah sie heute aus, das dunkle Kleid von einer vornehmen Einfachheit.

Die Förstersfrau fing jetzt mit Dankesworten an. Sie holte reichlich ein, was ihr schweigsamer Mann versäumt hatte. Jörg Balder lauschte mehr auf den Klang als auf den Sinn dessen, was sie sagte. Sie sprach nicht die Mundart der Gegend; aus Osannas unbekannter Heimat schien sie zu stammen.

Zuletzt bat sie den Mann, doch ins Zimmer zu treten. »Oder,« unterbrach sie sich, »wollte der Herr vielleicht Madam Lohe einen Besuch machen? Sie freut sich 51 immer, sie ist ja so viel allein« –

Es kam so leicht, so flink aus dem Munde der Eifrigen, daß sich die beiden wie überrumpelt fühlten.

Der Mann schaute auf das Mädchen. Ihr Gesicht war wie mit Blut begossen, die Augen hatten dunklen Glanz, als seien Tränen nahe.

Er glaubte zu verstehen. »Heute nicht,« sagte er, »meine Zeit ist sehr gemessen. Aber ich darf vielleicht noch fragen, ob das Bussardfleisch den kranken Augen geholfen hat –?«

Verwundert, erschrocken schaute ihn das Mädchen an. »Woher wissen Sie –«

Es klang nach Unbehagen. So, als sei es ihr peinlich, daß dieser Fremde sich mit ihr und ihrer Mutter beschäftige.

Das verdroß ihn, reizte ihn. »Nun ja,« sagte er, gezwungen lachend, »Sie wissen doch, daß hier herum die Luft voll heimlichen Wissens ist! Zauber über Zauber!«

Die Förstersfrau nahm den Brocken auf. Daß viel Aberglaube da sei, sagte sie, das stimme schon, aber das mit dem Bussardfleisch sei kein Aberglaube. Abends müsse man von diesem Fleisch auf die kranken Augen binden, das ziehe alle Hitze und Krankheit heraus, und 52 auch der Madame Lohe gehe es viel besser, seit sie die Kur mache.

Die beiden hörten zu und hörten nicht. Es war wie Kampfbereitschaft in ihnen, als seien sie aneinandergeraten und wüßten noch nicht, was da werden sollte.

Der Mann ging. Als er sich aufs Pferd schwang, war ihm, als trage er einen Fehdehandschuh mit.

*

Es hatte über Nacht geschneit. Nicht stark; nur so, daß es aussah, als seien die braunen, gefrorenen Aecker mit feinem Zucker bestreut. Ein rauher Wind blies über die Hügel, als wolle er vollends alles Lebendige aus der einsamen Gegend wegfegen, ehe sich das winterliche Leichentuch darauf legte.

Jörg Balder ging an seiner großen Wiese entlang bis hinab, wo in einem Gehölz ein halbversumpfter See unter dünnem, kaltem Nebel lag.

Zur Sommerszeit spielten hier die Libellen zwischen Schilf und Spiräen, jetzt trieb ein Eisvogel sein Wesen da, einer jener wunderschönen, bunten, scheuen Gesellen, die wie funkelnde Juwelen aus der Winteröde blitzen.

Märte hatte den Vogel entdeckt, und er tat sich nicht wenig darauf zugut. Eine Bewandtnis sollte es mit 53 ihm haben; doch sprach er sich nicht aus, und Jörg Balder drängte nicht. Des Knechtes Geschichten hatten den ersten Reiz für den Herrn verloren.

Immerhin hätte er gern den seltenen Gast gesehen. Zum drittenmal schon machte er heute den Weg an den versteckten See. Wie der Jäger auf dem Stand verharrte er reglos und geduldig hinter dem Schilfe des Ufers und ließ seine Augen wandern. Plötzlich sah er drüben am andern Rand Osanna. Den leichten Abhang kam sie herab gegen den See her. Jetzt stand sie still, ihr Blick begann zu suchen.

Unwillkürlich duckte er sich hinter dem Schilf. Und dann ärgerte er sich, daß er sich duckte. War er nicht hier der Herr? Was ging ihn das Mädchen an? Er reckte sich auf, tat ein paar Schritte. Klirrend rauschte das Schilf. Durch den kalten Nebel über dem dunklen Wasser hin blitzte der Vogel und verschwand.

Ein bewundernder oder bedauernder Ruf des Mädchens wurde laut. Sie schaute herüber und wandte sich dann langsam zum Gehen. Auf einmal stand er neben ihr. Seine Stimme klang rauh. »Wie kann ich sie meiden, die Osanna, wenn sie immer wieder meinen Weg kreuzt?« Sein Blick suchte flackernd den ihren. Sie senkte den Kopf. 54

Er sah ihre schönen, reichen Flechten. Es war wie ein Rausch in ihm.

Da blickte sie auf.

Ein Kälteschauer schien durch sie hinzugehen. Mit blassem Mund, aber seltsam beherrscht, murmelte sie: »Soll ich Ihnen die Geschichte von der Osanna erzählen? Muß ich sie erzählen?«

Er gab keine Antwort. Bleich, benommen, stand er neben ihr. Da fuhr sie lauter, sicherer fort: »Die Osanna wohnt mit ihrer Mutter, die sich blindgeweint hat, bei Förster Altmann, dessen Frau in besseren Zeiten Zimmermädchen bei dem reichen Justizrat Lohe war. Osannas Vater ist gefallen. Ihr Bräutigam auch. Der Reichtum ist verloren. Osanna malt Postkarten, näht Kleider, stopft Tiere aus, hilft ihrem früheren Zimmermädchen im Haushalt, pflegt ihre Mutter und das Jörglein; sonst ist sie zu nichts mehr nütze. Genügt Ihnen das? Wird Ihre Neugierde nun nicht länger hinter dem wehrlosen Mädchen her sein?«

Mit einer bitteren Schärfe hatte sie zuletzt gesprochen, mit einer Schärfe, die sie selbst nicht verstand und die ihre Worte für den Mann zu sausenden Hieben machten.

Bleich und zitternd schwieg sie jetzt. Da schlug Jörg Balder die Hacken zusammen und ging. 55

Der Eisvogel flog ihm über den Weg. Es war ihm, als hätte er vor undenklichen Zeiten den Knecht Märte einmal sagen gehört: »Wem er über de' Weg fliegt, dem wird's Herz im Leib zu Eis.«

*

Auf Allenstätt ging die Langeweile um. Wohl gab es Arbeit; aber sie drängte sich nicht herzu, sie wollte gesucht sein. Das lag den Leuten nicht sonderlich. In einem heißen und ernsthaften Kampf mit ihr zu stehen, war ihnen selbstverständlich. Da war ihnen nichts zu schwer, da stellten sie ihren Mann. Aber dies zögernde Geplänkel machte sie unruhig und rauhte alles in ihnen auf.

Die sonst schweigsamen, gelassenen Knechte kamen oft ins Großsprechen. Die Abenteuer ihres bürgerlichen und ihres Soldatenlebens wuchsen sich ins Ungeheuerliche aus, besonders, wenn das Ohr des Herrn nicht in der Nähe war. Märtes Spukgeschichten bekamen immer stärkere Handgreiflichkeit und Anschaulichkeit, zuletzt mehr, als Spukgeschichten ertragen.

Oft liefen ihm seine Zuhörer scheltend aus der Kundschaft, nur die Jungmagd blieb ihm treu. Das rührte das Herz des Erzählers, der den Sommer über für das 56 halbverwilderte Mädchen nicht viel übrig gehabt hatte. Die zwei standen jetzt oft beieinander.

Und der einsilbige, langsame Frieder fand in der ältlichen Haushälterin die Seele, die ihn verstand. Sie griff seiner stillen Unbeholfenheit mit allen guten Dingen unter die Arme, und er leistete ihr dafür ritterlich manchen Dienst, der seiner zähen Manneskraft nicht schwer fiel.

Jörg Balder sah, wie die Dinge liefen. Wie in einer naturgewollten Abwehr gegen alle Schrecken des Winters und der Einsamkeit taten sich die Paare zusammen. Wenn in den langen, dunklen Nächten der Sturm über den weltverlorenen Hof raste, wenn Berge von Schnee Weg und Steg zudeckten und die weißen Massen sich vor den Fenstern der Eßstube auftürmten, wenn nur noch Rabenschwärme sich nach der einsamen Siedelung verirrten und sonst der Weg zu allem Lebendigen verschüttet war – – die beiden Paare wußten allen Schrecknissen zu trotzen, wo vier einzelne unterlegen wären.

Jörg Balder las und schrieb Erinnerungen.

Manches Blatt zerriß er, vor manchem saß er grübelnd, als gebe ihm sein eigenes Leben Rätsel auf.

Nicht nur der Teil, der wie ein rasender Sturm vorübergebraust war, um ihn dann als einen Entwurzelten 57 auf der Strecke zu lassen. Nein, auch das Leben vor dem Krieg hatte jetzt etwas unendlich Fremdes, zu dem er sich nicht mehr zurückfinden konnte. Wie ein Wall hatte sich die Einsamkeit vor das Damals gestellt.

Oder war es nicht die Einsamkeit?

Er schrieb und schrieb, und es kamen Episoden, da er von Frauen zu schreiben hatte. Auch diese Frauen waren ihm jetzt fremd und unverständlich. Er fand keinen Maßstab mehr, der ihnen gerecht ward. Heute konnte sein Maßstab doch nur der sein: Welche versteht mein Du zu werden, wenn der Schnee das Haus begräbt, wenn nur die Raben noch zu einem herfinden, wenn der Sturm über die Dächer heult? – Er legte die Feder weg und stützte den Kopf in die Hand.

Der Märte – der Frieder – er lachte auf. Er beneidete seine Knechte.

Eines Tages geschah das Merkwürdige, daß Märte den Eisvogel tot im Schnee fand.

Er meinte, das Tier sei an dem gefrorenen See verhungert. Sein Herr war der Ansicht, daß Märte im Gedränge der aufgezwungenen Tatenlosigkeit den schönen Vogel irgendwie gefangen und getötet habe. Der Beschuldigte entrüstete sich schwer. Er führte sogar an, daß, wer einen Eisvogel fange, selbst zu Eis werde. 58

»Und was willst du jetzt damit?« fragte unwillig der Herr. Märte blies sich in die blauen Hände.

»Ausbälge laß i den. Des gibt's Christkindle für d' Lene.«

Also in der Kammer der Jungmagd, zwischen gerahmten Postkarten, darauf sich feurige Paare küßten, würde jetzt der Wundervogel stehen?

»Ist dir der Vogel nicht feil?« fragte unwillkürlich der Herr.

Märte grinste. »Des käm' drauf a' –«

»Kauf du der Lene eine warme Jacke um mein Geld und laß mir den Balg! Gilt der Handel?«

»Er gilt«, meinte lachend Märte und ging.

Am Nachmittag brach er im See ein, als er dort gar nichts zu suchen hatte. Klirrend und in Eis gepanzert kam er halbtot heim, und die Mägde hatten Mühe, ihn aufzutauen und wieder zu erwärmen.

So kam der Eisvogel zu seiner Rache; aber lebendig wurde er nicht mehr. Steif, mit aufgesperrtem Schnabel, lag er oben in einem der unbewohnten Zimmer, ein totes Prunkstück unter toter Pracht.

Jörg Balder fragte die Knechte, ob wohl jemand in der Gegend die Kunst des Ausstopfens verstehe. Sie wußten von einem Invaliden, der einmal Kürschner 59 gewesen sei, jetzt aber mit Hunden handle und den Schnaps mehr liebe als alles andere auf der Welt. In Klingenmühle hause er. Von dem Mädchen im Försterhause fiel kein Wort. Niemand schien von ihrem Dasein, niemand von ihrem Tun zu wissen.

Aber wenn Jörg Balder den stillen Wundervogel ansah, stand immer diese Einsame vor ihm da, die in Kälte und Wind und Wetter draußen war, scheu, heimlich, schön, wie so ein geheimnisvoller Eisvogel.

Sie mochte wohl auf ihren Gängen lernen für ihre feine Kunst, mochte das Wesen und Leben der Tiere draußen belauschen, mochte vertraut mit ihnen stehen, als seien sie ihresgleichen.

In seiner schneehellen, stillen, warmen Stube ging der Mann auf und ab. Er rechnete. Es gibt immer zu rechnen, scharf zu rechnen, wenn ein Betrieb mit schmalen Mitteln geführt werden muß. Und wie es beim Rechnen so geht: man kann dahin kommen, wo man sich eine Brücke ins Unbekannte hinein schlagen und ihr vertrauen muß, als stünde sie auf ehernen Pfeilern. Plötzlich hatte der Herr auf Allenstätt herausgerechnet, was einmal die künftige Frau auf Allenstätt mitbringen müsse an notwendiger Mitgift.

Er lächelte, er trat ans Fenster und schrieb mit dem 60 Finger an die beschlagenen Scheiben. Es waren nicht Zahlen, er schrieb: Osanna. Aber dann zerschmolz sein Lächeln.

Am Abend schlug der Wind um. Durch die Mulde kam er herauf mit lauem Atem, und die Dächer fingen an zu triefen. Eine große Sorge wachte in Jörg Balder auf. Er spürte sie als einen richtigen Druck auf dem Herzen. Wenn nun Tauwetter kam – was wurde aus dem Eisvogel?

Die Leute redeten beim Abendessen von der Wassersgefahr, die eine rasche Schneeschmelze für die Bewohner der nächsten Talstadt bringe. Der Herr hörte mit halbem Ohr. Wassersgefahr ist ein sehr übles Ding – aber was wird aus dem Eisvogel?

In seinen hohen, geschmierten Stiefeln ging Jörg Balder in die unruhige Nacht hinaus. Er mußte sich auf der Straße halten; auf den Feldern gab es jetzt kein Durchkommen. Nach der strengen Kälte war es fast warm, überall ein Sickern, Knistern, Rieseln und in der Luft das mächtige Rauschen, als ziehe droben ein Strom durch die Dunkelheit. Es war kein bequemes Ausschreiten auf dem nassen Schnee. Aber der Mann, der da in die einsame Nacht hinausging, liebte den Kampf mit den Widerständen; er fühlte, wie seine Kraft sich 61 daran aufrichtete. Auf diesen Gängen nach dem frühen Abendessen lösten sich ihm quälende Fragen, klärten sich keimende Pläne, tauchten neue Gedanken auf.

Aber die große Schwierigkeit: Was wird aus dem Eisvogel? Die wollte sich nicht lösen.

Kann ein Mann, wenn ihn ein Mädchen mit Worten ins Gesicht geschlagen, wenn sie ihn wie einen Lästigen und Zudringlichen von sich geschoben hat – kann er ihr dann je wieder nahekommen?

Aber Geschäft ist Geschäft. Wenn ein Mädchen das Ausstopfen von Tieren als Broterwerb betreibt, so ist es eine höchst einfache und natürliche Sache, daß man ihr einen toten Eisvogel überschickt.

Aber wenn man ihr diesen toten Eisvogel überschickt und sie sieht, was der Herr von Allenstätt auch gesehen hat: daß das Tier keines natürlichen Todes gestorben ist, dann wird und muß sie unweigerlich von dem Geist auf Allenstätt die allerübelsten Vorstellungen bekommen.

Man müßte ihr dann schon erklären, daß Märte der Verbrecher ist, und welches seine Beweggründe waren. Von der Liebschaft mit der Lene müßte man ihr sprechen und von der grenzenlosen Einsamkeit und Oede, zu der die paar Menschen auf Allenstätt im tiefen Winter verdammt sind, und davon, daß diese Einsamkeit, diese 62 Oede nur erträglich wird, wenn – –

Doch nein. Davon dürfte man wieder nicht reden.

Ob sie wohl noch sehr um den gefallenen Bräutigam trauert? Ob der unverkennbare Schatten, der über ihrem Wesen liegt, von dieser Trauer herrührt, oder ob die Armut, die Veränderung aller Verhältnisse so schwer auf sie drückt? Aber man kann wohl mit mehr Erfolg die Sphinx im Wüstensand um ihr Rätsel fragen, als dieses herbe Mädchen um das seine!

Und dabei nannte sie sich wehrlos! Wer von Stacheln, von Spitzen starrt, wenn man ihm nur nahekommt, der ist doch nicht wehrlos! –

Ein Zorn war in dem Mann. Er griff in die Brusttasche. Das kleine, feine Tuch war noch drinnen. Mädchen, auch wenn ich den Zauber wüßte – ich würde keinen Gebrauch davon machen. Die »Wehrlosen« sind vor mir sicher.

Aber was mit dem Eisvogel werden soll, ist die Frage! –

Ein Licht schimmerte in der Ferne. Dort war schon das Försterhaus. Im Zorn kommt man rasch vorwärts.

Der Mann blieb stehen, schaute nach dem stillen Funken in der Nacht. Dann wandte er den Schritt. War er etwa ein Pennäler, der im Dunkeln ums 63 Haus seiner ersten Liebe schleicht? Ein Ritter Toggenburg, der nach den Fenstern einer spröden Schönen starrt? –

Er ging seinen nassen Pfad zurück. Dicht vor dem Hof, wo der Weg von Klingenmühle her in die Straße einmündet, tauchte eine vermummte Gestalt aus dem Dunkel auf. Er hielt darauf zu. Es war sein Recht, zu wissen, wer sich in Hofesnähe herumtrieb. Die Gestalt nahte. Wie ein goldener Spieß blitzte ihm der Strahl einer kleinen Lampe ins Gesicht und erlosch. Geblendet, in doppeltes Dunkel gestürzt, stand er. – Ein leises Lachen klang auf.

»Osanna«, murmelte der Mann benommen.

Auch das Mädchen stand. »Verzeihung! Ich wußte nicht, wer mir da entgegenkam.« Ihre dunkle Stimme klang gleichmütig; es war keinerlei Bewegung darin zu hören.

Das hatte etwas Aufreizendes. »Bitte,« kam es zurück, »die Wehrlosen haben jedes Recht.« –

Es blieb eine Weile ganz still; nur das Geriesel ringsum war zu hören. Wie Gegner standen die zwei voreinander.

Dann sagte das Mädchen mit einem hörbaren Zögern: »Sie sind gekränkt. Das wollte ich nicht; ich wollte nur 64 klären. Sie sollten wissen, wer Ihnen, ohne es zu wollen, so oft den Weg kreuzt.«

Der Mann lachte. Seine Gereiztheit wich nicht. »Sie taten gut daran. Ich war schon auf dem Weg, zu glauben, es sei der Osanna um mich zu tun. Mein Knecht mit seinen törichten Geschichten trägt die Schuld.«

Wieder das Schweigen, so daß man nur die leisen Stimmen der Nacht vernahm, durch die man, wie einen Nachhall, des Mannes Spott zu hören meinte.

Ganz Ruhe sagte jetzt das Mädchen: »Der Knecht wird das alte Märchen erzählt haben, daß die Osanna erlöst sein wolle. Das reizt jeden ritterlichen Mann, ich kann mir's denken, und ich begreife es. Aber das begreife ich nicht, daß ein Mann nicht ahnt, die Osanna mühe sich selbst um ihre Erlösung, und sie warte nicht auf eine fremde Hilfe.«

»Vielleicht ahnt es ein Mann,« entgegnete nach einer Weile Jörg Balder, und seine Stimme klang plötzlich nicht mehr gereizt, »aber er ahnt auch, daß der Kampf viel härter ist, als die Osanna meint. Vielleicht will er da nur in der Nähe bleiben für alle Fälle, will warten, ob er nicht einmal zum Beistand aufgerufen wird. Ist das nicht denkbar?«

Von der dunklen Gestalt des Mädchens herüber klang 65 es wie ein tiefer Atemzug, fast wie ein Seufzer. »Es ist fast zu schön, als daß es denkbar wäre«, sagte sie leise.

»Darf man fragen, wo Sie in so tiefer Nacht noch herkommen?« fragte mit veränderter Stimme der Mann, und er trat zur Seite, als wolle er sie vorüberlassen.

Sie lachte. »Man darf fragen. Ich komme von Klingenmühle, wo ich den Fuchsbastel im Wirtshaus aufgesucht habe, weil man ihn sonst nirgends und zu keiner Tageszeit sicher treffen kann.« Sie sprach so unbefangen, wie er sie zuvor nie gehört zu haben glaubte.

»Der Fuchsbastel, das ist der Säufer, der Tiere ausstopft?«

»Derselbe! Eine der markantesten Gestalten der Gegend«, entgegnete sie lachend.

»Wie kommt der Mensch zu der Ehre Ihres Besuchs?«

»Aus einer falschen Voraussetzung meinerseits heraus. Ich vermutete, er sei der Lump, der meinen schönen Eisvogel gefangen habe, um ihn dann schlecht ausgestopft zu verkaufen.«

Der Mann war der Dunkelheit dankbar. Er fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Er hätte in diesem Augenblick Märte prügeln mögen. 66

»Und? –« fragte er kurz, verwirrt.

»Ich habe dem Menschen unrecht getan. Er ist nicht der Uebeltäter und weiß nichts von dem schönen Tier. Ich solle achthaben, wer in den nächsten Tagen ins Wasser falle und zu einem Eisklumpen werde, der sei es. Aber nun – Sie sehen –; es taut; der Himmel scheint es einmal wieder mit den Ungerechten zu halten.« Halb lachend, halb bitter sagte sie es. Sie schritt jetzt aus, und der Mann trat neben sie.

»Vielleicht scheint es tatsächlich nur so,« sagte er leise. »Wir sind ja so geneigt, vorschnell zu urteilen. Was hätten Sie übrigens machen können, wenn der Mensch den Vogel wirklich gehabt hätte?«

»Ich hätte ihn ihm abgekauft; denn es war mir ein unerträglicher Gedanke, der verblödete Säufer könne das herrliche Tierchen verschandeln, wie er die Füchse verschandelt, die er jeden Winter ausstopft.«

»Sind Sie schon mehrere Winter in der Gegend?«

»Zwei«, klang es kurz.

Er spürte, wie die Türen zugingen, sobald er persönlicher wurde. »Es ist nicht leicht, hier die harten Winter zu verbringen,« sagte er tastend.

»Man hat seine Arbeit,« gab sie knapp zurück.

Ungeduld. Unwille fraß an ihm. War sie schon 67 wieder in Stacheln gehüllt? »Unsereiner,« sagte er, »aber die Leute, meine Knechte, meine Mägde –«

Sie ließ ihre Laterne über einen dunklen Stein am Wege blitzen. »Die haben ihre Liebschaften, das hilft ihnen über die böse Zeit,« sagte sie abwesend mit einem harten Lächeln.

Er war überrascht von ihrem Ton. Er paßte ihm nicht zu ihrem Bilde. Die ganze Fremdheit, die ihn von ihr fernhielt, kam ihm zum Bewußtsein. Das peitschte seinen Willen auf, ihr endlich näherzukommen, sie besser durchschauen zu können. »Wetten wir, daß ich Ihnen den Eisvogel ins Haus schaffe?« sagte er gewollt leichthin.

Sie blieb stehen. »Also Sie sind der Mörder?« Ihre Stimme klang nach Empörung, nach tiefer Enttäuschung.

Auch er stand. Es fiel ihm schwer, seine Ungeduld zu meistern. »Wie oft werden Sie mir noch begegnen müssen, bis Sie mich besser kennen,« sagte er erbittert.

Da lachte sie entspannt. »Was wollen wir wetten?«

»Sie dürfen vorschlagen.«

»Ich schlage vor: Sie bekommen den ausgestopften Vogel, wenn Sie mir den Balg verschaffen. Gelingt es Ihnen nicht, so« – – sie stockte, sie schien zu überlegen, »so müssen Sie, wenn die Wege wieder 68 gangbar sind, Försters Jörglein, meinen Patensohn, zu einem Spazierritt abholen.«

»Angenommen,« sagte er. »Darf ich Ihnen den Balg selbst bringen? Oder soll ich Ihnen den Vogelmörder senden, daß er vor Ihnen Buße tue?«

Sie schritt aus. Lange kam keine Antwort. Dann sagte sie leis: »Machen Sie das, wie Sie es für richtig halten.«

Er trat neben sie. »Ich denke doch,« flüsterte er, »Sie legen keinen Wert darauf, daß einer vor Ihnen als armer Sünder steht, wenn er nur seiner Herzliebsten zuliebe gesündigt hat, wie mein Knecht.«

Sie gab keine Antwort. »Armer, schöner Vogel,« sagte sie endlich seltsam still. – – – –

Nur eine Nacht lang hatte das Tauwetter gedauert, dann setzte der Frost wieder ein, wenn auch nicht so stark wie zuvor. Zusammengeschmolzen, harsch und hart lag jetzt die Decke über den Feldern, und die Straße war blank wie Eis. Der Gang vom Hof nach dem Försterhaus war ein gelindes Wagnis; auch drängte er nicht, denn der Vogel war so starr wie je.

Die gesprächige Förstersfrau tat die Haustür für den Besucher auf. Sie wunderte sich, daß er nicht Hals und Bein gebrochen habe. Er selbst wunderte sich auch; 69 aber er versicherte, daß der Weg ganz angenehm zu gehen sei und die Luft von einer köstlichen Frische.

Ja, das müsse wohl so sein, stimmte die Frau zu, auch Fräulein Osanna sei schon den ganzen Vormittag draußen, und, soviel sie wisse, wolle sie erst am Abend heimkommen.

Jörg Balder zögerte auf der Treppe. Da redete die Gesprächige freundlich zu, und schon stand er in einem kleinen Zimmer, und eine hochgewachsene Frau mit einer dunklen Brille vor den Augen erhob sich aus einem Stuhl in Fensternähe. Der Mann wußte nicht recht, war es bei den Worten der Försterin in ihm selbst düster geworden, oder war das Zimmer so düster. Dann erkannte sein rascher Blick, daß die Fenster gegen die hohe, auf der Rückseite des Hauses ragende Tanne gingen und von dem großen Baum beschattet wurden.

»Also hier,« fuhr es ihm durch den Kopf, »in dieser grünen Dämmerung verbringt sie ihr Leben, und mir kommt jeder Sonnenstrahl durch die Fenster –.«

Hinter ihm schloß die Försterin die Tür, und eine warme Frauenstimme klang auf. »Ich freue mich, daß Sie gekommen sind. Meine Tochter hat mich vorbereitet. Sie würden einen Eisvogel bringen zum Ausstopfen, 70 sagte sie. Also Sie sind der Nachbar von Allenstätt. Man freut sich in der Einsamkeit an netter Nachbarschaft.«

Sie bot ihm einen Sitz und ließ sich selbst wieder in ihren Stuhl nieder. Vor ihr, auf kleinem Tisch stand ein aufgestelltes Schachspiel, auf dem Weiß angezogen hatte.

Sie sprach mit der ruhigen, freundlichen Sicherheit der gebildeten Frau, nicht zu fremd, nicht zu vertraut, ein wenig mütterlich und immer klug und anregend. Und ganz so sympathisch war auch ihre Erscheinung.

Jörg Balder vergaß seinen heimlichen Unmut, sein ärgerliches Gekränktsein über das Weglaufen der Tochter. Die Güte, die Wärme der Mutter war ihm Entschädigung. Er hatte es lange, endlos lange nicht genossen, das Zusammensein mit einer feinen, lebenskundigen Frau, die das Treiben von Welt und Menschen wie aus sicherer Ferne überschaut und gelassen beurteilt. Seine Mutter war so gewesen; aber die war viele Jahre tot.

Im Verlauf der Unterhaltung nahm die Frau ihre Brille ab. Ein leises Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Ich darf das nicht, wenn Osanna da ist; sie ist eine gestrenge Pflegerin.« Er sah, daß die Tochter äußerlich nicht ihr glich. Er wollte nach der seltsamen Kur 71 fragen, die der Förster ihr verschafft hatte, da sprach sie selbst davon. Sie spottete nicht, und sie erklärte nicht. Sie stellte fest, daß sie Besserung verspüre. »Finden Sie nicht auch,« sagte sie zuletzt, »daß hier in dieser weltfernen Einsamkeit alles anders ist als draußen? Es ist, als ob ganz andere Kräfteströme die Atmosphäre füllten; man fühlt sich anderen Gesetzen unterworfen. Mir will scheinen, als sei das, was bei der Kur meinen Augen gut tut, jene transzendente Scharfäugigkeit selbst, aus der heraus ein Geschöpf wie der Bussard entstanden ist. Ist das seltsamer, ist das abergläubischer gedacht, als wenn ich meine Hoffnungen auf Bleiwasser setze?« Sie lächelte ihn an. »Wenn Sie länger hier sind, werden Sie auch dem genius loci unterliegen und allerlei Dinge glauben, die Sie früher bespöttelten.«

Er lachte. »Das tue ich jetzt schon. An das gute Mittagsgespenst, das hier herum sein Wesen treiben soll, fange ich ernsthaft an zu glauben.«

»Ah,« sagte sie, »an die Osanna! Die hatte es auch meinem Mann angetan. Er war drüben auf der anderen Markung als Pfarrerssohn geboren und beschäftigte sich sein Leben lang mit solchen Dingen. Nach der Osanna ließ er seine Tochter taufen. Hätten wir einen Sohn gehabt, er hätte Jörg heißen müssen, denn auch ein 72 Jörg spukt hier in der Gegend.« Sie deutete jetzt nach einem Bild, das dem Fenster gegenüber an der Wand neben dem Ofen hing. »Er hat immer herumgeraten an dem, was hinter der letzten Tür ist; nun hat er sie längst aufgetan.«

Jörg Balder stand auf, um das Bild anzusehen. Es war zu wenig Licht in dem kleinen Zimmer, als daß er es von seinem Sitz aus hätte betrachten können. Jetzt erst sah er, mit welchem Geschick und Geschmack die Schlichtheit des Raumes zu etwas Besonderem umgeschaffen war. Er trat vor das Bild. Ganz still, wie in tiefer Benommenheit stand er. Läuteten nicht irgendwo Glocken? Nein – noch weiter zurück, Jörg – Kanonendonner – die dumpfen Stimmen der Mörser! Und jetzt Orgelklang! Das kleine grüne Kirchlein von Longette? – Vor seiner eigenen Stimme erschrak er, als er jetzt gegen die Frau hinüber fragte: »Hat er Orgel gespielt –?«

Das Brustbild des hageren, bleichen Feldgrauen mit der Binde um den Kopf, zwischen der die angegrauten Haare hervorquollen, schien zu lächeln. Die halbblinde Frau sagte erstaunt: »Wie kommen Sie darauf?«

»Bitte, sagen Sie: hat er Orgel gespielt?« klang noch einmal dringlich die Frage. 73

»Er war sehr musikalisch. Sein liebstes Instrument war die Orgel.«

Langsam ging der Mann auf seinen Platz zurück. Sein Gesicht war bleich, wie von Erregung. »Liebe gnädige Frau,« sagte er leise, »ich habe Ihren Mann gekannt.«

Als er es gesagt hatte, erschrak er; denn die Frau deckte wie in raschem Schmerz die Hand vor die kranken Augen. Er machte sich innerlich Vorwürfe über seine Unvorsichtigkeit; aber schon sank die Hand wieder, und das Lächeln blühte auf. »Wie schön! Erzählen Sie,« bat sie leise. Da erst kam ihm zum Bewußtsein, daß er eigentlich zuviel gesagt, zu hohe Erwartungen erweckt hatte.

Zögernd, fast schuldbewußt, fing er an, von dem kleinen, halbzerschossenen Kirchlein zu sprechen, um das der Efeu spann, und von dem ihm damals unbekannten Soldaten, der da drinnen spielte, so innig und schön, als sitze die heilige Cäcilie vor den Tasten.

Tieferblaßt, mit einem seltsam starren Gesicht, hörte die Frau zu. Als er geendet hatte, sagte sie mit erstickter Stimme: »Wie gut wär's, wenn man jetzt weinen dürfte! Vielleicht fördert mich der Bussard auch noch so weit, daß ich wieder einmal weinen darf. Wäre Osanna da, sie müßte Ihnen den Brief hervorsuchen, in dem die 74 Geschichte von diesem Kirchlein steht und von einem Artilleriehauptmann, der dem Orgelspiel zuhörte. Acht Tage später war der Spieler tot. Eine verirrte Granate – –«

Jörg Balder hatte ein Gefühl, als würge ihn eine Hand am Hals. Diese erblaßte Frau, die ihre Stimme zur Ruhe zu zwingen vermochte, wo ihm selbst das Herz bebte, die das Weinen niederzuhalten wußte, wo ihm, dem Manne, die Tränen kamen, sie nötigte ihm eine tiefe Ehrfurcht ab. Stumm beugte er sich nieder und küßte ihr die Hand. Ob wohl die Tochter auch von solcher Art war?

Es war lange still. Wie befreit begann dann die Frau: »Sagte ich Ihnen nicht: Die Gegend hier hat es in sich! Das Seltsamste ist hier das Wahrscheinlichste. Wundern Sie sich nie über etwas, was Ihnen auch begegnen mag, – es ist alles in Ordnung, und nur unser kleines Verstehen lahmt beständig hinterher.«

Dem Mann war's, als sei er der Frau viel näher gerückt, als müsse er jetzt nicht mehr den strengen Abstand halten wie zuvor. »War Fräulein Osannas Bräutigam schon tot, oder fiel er erst nachher?« fragte er ohne Aufdringlichkeit.

Es kam lange keine Antwort. So lange, daß der Mann schon fürchtete, nun doch für taktlos gehalten zu werden. 75

Dann sagte die Frau mit einem Kopfschütteln: »Eben riet ich Ihnen, sich über nichts zu wundern, und nun bin ich es, die sich sehr verwundern muß. Hat Ihnen Osanna davon gesprochen? Von ihrem Bräutigam und seinem Tod –?«

Das klang so ungläubig, als könne es auf der Welt nichts Unwahrscheinlicheres geben.

»Fräulein Osanna sagte gelegentlich, daß ihr Bräutigam gefallen sei,« gab der Mann zurück, und er fühlte sich unfrei, weil ihm zum Bewußtsein kam, daß ihm das Mädchen damals das, was sie sagte, nicht vertrauend erzählt, sondern abweisend entgegengeschleudert hatte, wie eine Handvoll Pfeffer dem Einbrecher.

Die schönen, bleichen Hände der Frau, die seither ruhig im Schoß gelegen waren, tasteten erregt über das dunkle Kleid. »Es ist unglaublich, wie mächtig die Toten sind,« kam es von ihren Lippen. »Ehe der Mann fiel, hat ihn meine Tochter nie ihren Bräutigam genannt. Nun zwingt, nun quält sie sich zu dieser Treue. Aber ich glaubte, sie tue das nur vor ihrem eigenen, so besonders herben und strengen Herzen. Daß sie mit Ihnen, mit einem fast Unbekannten davon sprach, überrascht mich aufs äußerste.«

In dem Mann war eine tiefe Beschämung. Er vermochte nichts zu sagen. Er hätte da Dinge erklären 76 müssen, die er sich selbst nicht entwirren konnte: des Mädchens feindseliges Entgleiten, so oft sie seinen Pfad kreuzte, ihr immerwährendes Gewappnetsein.

»Es ist mir lieb, daß Sie es wissen,« sagte nun nachdenklich die Frau, »zwischen Menschen in der Einsamkeit muß immer Klarheit herrschen. Draußen, im Strudel, da treibt man aneinander vorüber und faßt sich kaum ins Auge. Aber hier ist das anders. Alles ist ja hier anders.«

Der Mann drängte sein brennendes Verlangen, mehr von dem Toten zu wissen, hinunter. Sie sprachen jetzt von anderen Dingen. Ein paar Postkarten zeigte ihm die Frau, die Osanna gemalt hatte. Ein lachendes, derbes Kindergesicht war darauf, das ein Kranz jener sprechenden, bescheidenen Blümchen umrahmte, und darunter stand: Augentrost.

»Das Jörglein,« erklärte die Frau, »und Osannas Lieblingsblüten, die mich vor dem Erblinden bewahrt haben.«

In einer seltsamen Ergriffenheit schaute der Mann auf das kleine, feine Kunstwerk.

Die Frau, als lese sie seine Gedanken, sagte ganz leise: »Auf einen so engen Kreis ist jetzt das Leben zusammengeschmolzen, das einmal weit und bunt war. Aber die Tapferen bleiben immer die Herren. Osanna gehört zu den Tapferen. Sie entscheidet von sich aus, was klein 77 und was groß ist. Kann es nichts anderes mehr sein, so sind es Postkarten; sind die Rosen verblüht, so findet sie Augentrost.«

Als der Besucher ging, nahm er die Einladung mit sich, dann und wann zu einem Plauderstündchen, zu einem Schachspiel herüberzukommen. »Denken Sie daran, daß für mich immer Abend ist!« sagte leise die Frau. Es war keine Klage, nur ein Unterstreichen der Einladung, eine Höflichkeit fast, die ihm versicherte, daß sein Kommen eine Freundlichkeit bedeute.

Als der Mann heimwärts schritt, leckte schon wieder ein föhniger Wind an Schnee und Eis. Da fiel ihm ein, daß er den toten Vogel noch bei sich trug. Er kehrte um und gab ihn der Försterin.

*

Jörg Balder ritt aus dem Hof.

Weit hinter Klingenmühle, in einem kleinen Forst, dessen dunkle Ränder den Horizont säumten, hatte er Stämme gekauft, die jetzt gefällt werden sollten. Er mußte nach den Holzmachern sehen.

Es war ein Wintertag mit sichtig klarer Luft und einem stillen Wolkenspiel am weiten Himmel. Der Frühling schien schon vor der Tür zu stehen und zu warten, 78 daß ihm aufgetan werde.

An der Nordseite jedes Hügels, jeder Scholle, in den Hohlwegen und Schluchten, lag noch Schnee. Wie in Angst vor Sonne und Wind hockte er in versteckten Winkeln. Sonst lag das Land in zarten Farben und klaren Linien frei. Der Reiter empfand halb unbewußt die tiefe, stumme Schönheit, ohne daß seine Gedanken sich mit ihr beschäftigt hätten. An Festmeter und Bretter, an Holzfäller und an die Sägemühle glaubte er zu denken, und er war betroffen, als er plötzlich innerlich wieder auf den Namen stieß, der hier herum schwebte: Osanna.

Schatten ging über sein Gesicht. Sie war ihm jetzt nicht mehr der schöne, freundliche Spuk, der irgendwo seinen Weg kreuzen konnte, wo man sich's nicht versah. Bei manchem Besuch, den er der Mutter machte, war die Tochter zugegen gewesen, ein stilles und herbes Menschenwesen. Indes er mit der Mutter, die das Schachspiel vortrefflich meisterte, die Figuren über die Felder schob, saß sie über irgendeine Arbeit gebeugt und tat zumeist, als ob kein Gast anwesend sei. Wenn sie mit ihm sprach, war sie unbefangen, ja, kameradschaftlich; aber gerade dann fühlte er sich meilenfern von ihr.

Er biß sich auf die Lippen. Hatte er sie ganz verlernt, die früher vertraute Kunst, sich ein Mädchen geneigt zu 79 machen? Trug diese Einsame Panzer und Harnisch unter dem Kleid?

Den ausgestopften Eisvogel, den Preis der Wette, hatte sie ihm selbst gebracht, als sei es für sie die ungefährlichste Sache von der Welt, zu ihm ins Haus zu laufen.

Das Blut stieg ihm in die Stirn, wenn er an diese Stunde dachte. Den ganzen Hof und alle Gelasse hatte sie sich zeigen lassen, so daß sogar Knecht und Magd die Augen und hinterher sicherlich auch die Mäuler aufrissen, und sie war unbefangen, unbewegt geblieben, als sei der Mann, der sie führte, ihr Großvater.

In stillem Grimm ritt der Mann dahin. Er spürte die Schönheit ringsum nicht mehr. Das dumpfe Hadern mit dem Mädchen hielt ihn ganz gefangen. Märte, ich werde dich doch noch fragen, wie das zu machen ist mit dem weißen Tüchlein in meiner Tasche! Wie muß ich, wie kann ich ihr Herz dem Toten abgewinnen? Könnte sie nicht wenigstens einmal reden von dem Gefallenen? Aber so oft sie des Vaters gedachte, so gern sie sich immer wieder von jenem Kirchlein, jenem Orgelspiel erzählen ließ – des Bräutigams erwähnte sie mit keiner Silbe. Ja, jede leise Schwenkung seinerseits nach jener Richtung machte sie verstummen. War ihr das Gedächtnis so heilig, so völlig unberührbar? 80

Das Pferd stieg jetzt einen Hügel hinan, auf dem graues Steingetrümmer durcheinanderlag. Langsam nur kam es vorwärts auf schmalem, verwachsenem Pfad. Der Reiter ließ ihm ganz den Willen. Er selbst ging andere Wege.

Plötzlich strauchelte der Gaul. Sein Herr nahm ihn fester und kam zurück aus der Versunkenheit.

Und da: – – Osanna.

Der Reiter sprang ab. Er fuhr sich über die Augen, als glaube er, nicht recht zu sehen.

Aber dort die stille Gestalt auf dem grauen Stein im Brombeergeranke blieb. Sie blickte unbeweglich ins weite Land hinaus.

Da zerrte er den Gaul durchs Gestrüpp. Osanna schaute her. Der Mann fühlte es wie einen Triumph: sie wurde sehr bleich, und ihre Augen blickten ihn an in jäher Angst.

Den Gaul am Halfter, stand er vor ihr. War es sein angehäufter Groll, der auch ihn jetzt bleich machte?

Sie stand langsam auf. Kam ein Gruß über die zitternden Lippen? Warum hatte sie plötzlich die Augen voller Tränen? Sagte sie etwas? Schluchzte sie? –

Der Mann ließ das Halfterband los. Es war ihm eben etwas geschehen, was er nicht begriff. Unter unfaßlichem Zauber war ihm die Binde von den Augen gesunken. 81

Er wußte, daß das Mädchen auf dem grauen Stein nicht die Schönheit der Weite betrachtet, daß sie nur an ihn gedacht hatte, wie er nur an sie! Er wußte, daß ihre Kühle, ihre Gelassenheit, ihre Unbefangenheit der Panzer gewesen war, der ihre heimliche Liebe schützen und verhüllen mußte – ihre Liebe, die ihm gehörte.

Mit einer fast mühseligen Gebärde deutete sie ins Land hinaus: »Ist es heute nicht schön –?«

Er faßte ihr Handgelenk. Spürte er ihres oder des eigenen Blutes Klopfen?

»Osanna, du belügst dich ja!« Hatte er es gesagt, hatte er es nur gedacht? Ueber das bleiche Mädchengesicht rannen die Tränen. Sie schaute ihn nicht an. Sie wollte sich seinem Griff entwinden.

Da riß er sie an sich. Ihr Gesicht lag an seiner Brust. Sie bebte im Weinen. Auch ihm entrang sich ein schluchzender Laut. »Osanna, meine Osanna.«

Er wußte nicht, wie lange er sie hielt. Stürmten Jahre vorüber, schlichen Minuten vorbei?

Als er sie ließ, sank sie langsam vor ihrem Steinsitz auf die Knie und legte den Kopf in die Arme. So kauerte sie wie ein zu Tode erschrecktes und beschämtes Kind, das sich keinen Weg mehr weiß.

Er streichelte ihr reiches Haar. Das Siegergefühl in 82 ihm war wie banger Schmerz. Tiefer beugte er sich zu ihr. »Osanna, laß dich erlösen!« Sie rührte sich nicht.

»Osanna, fürchtest du dich vor einer neuen Liebe?« Die Stimme zitterte ihm.

Sie richtete sich auf. Der Wind spielte mit ihrem Haar. An dem Mann vorüber sah sie in die Ferne. Er stand neben ihr, nahm leise ihre Hand. Sie ließ es geschehen. Ihr bleiches Gesicht blühte auf. Sie fing an zu sprechen.

»Ich habe ihn sehr geliebt. Er war Maler. Mein Lehrer. Im Süden lernten wir uns kennen. Die Zeit war wie ein einziger Rausch. Dann habe ich ihn sehr verachtet. Er zertrat mein Herz –.«

»Es ist unzertreten,« sagte leise und fest der Mann.

Sie zuckte zusammen. »Es kostete mich fast das Leben. Als er spürte, wie ich ihn verachtete, wollte er mich zurückgewinnen. Er gab sich alle Mühe. Ich konnte nicht. Da ging er als Freiwilliger ins Feld. Der Tapfersten einer war er. Nach vier Wochen war er tot. Da hatte er mich wieder, und ich war ihm treu – bis – bis –« ihre Stimme erlosch in Weinen.

Er schlang den Arm um sie. Seine Augen brannten. »Bis ich dich lösen, erlösen durfte, Osanna.«

Hand in Hand, den ledigen Gaul hinter sich, wanderten zwei schweigsame Menschen durch die Einsamkeit. 83

An jenem Waldsaum kamen sie vorüber, wo im Sommer Augentrost wuchs.

»Hier fing der Zauber an,« sagte leise lächelnd der Mann und griff in seine Tasche, um ihr das Tüchlein zu reichen, das er immer bei sich getragen. Er fand es nicht.

Sie lachte auf. Jung, glücklich, schelmisch war ihr Gesicht, strahlend ihre Augen. »Ich wußte ja, daß du es haben mußtest! Als ich dir den Vogel selbst ins Haus trug, hatte ich mir geschworen, es zu finden. Es lag auf deinem Tisch. Ich nahm mein Eigentum, um mich vor dir zu retten.«

Engumschlungen lachten sie wie die Kinder. Dann hielt sie still den Kopf an seiner Brust. »Gestehe: du mußt noch einen stärkeren Zauber kennen!«

»Den stärksten –« sagte er erstickt und streichelte ihr Haar.



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