Auguste Supper
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Andreas Vogels Herbsthaus

Als Andreas Vogel, der Schuhmacher und Lederhändler, nach langen Jahren in seine Heimat zurückkehrte, hätten ihn viele der Dorfgenossen gerne gefragt, wie er es in der Welt draußen gemacht habe, um zu Geld zu kommen? Denn es gab für sie alle kein schwereres und wichtigeres Lebensrätsel als das, das der heimgekehrte Schuster gelöst zu haben schien.

Aber sie fanden seltsamerweise den Mut nicht, dem Meister auf den Leib zu rücken. Zum ersten hatte er draußen in der Welt seine heimatliche Mundart verlernt. Wenigstens tat er so, sobald man ihm allzu kameradschaftlich kam. Wenn er wollte, konnte er schon noch reden wie die andern. Zum zweiten war er unwirsch, kurzangebunden, wenig umgänglich und leicht grob und jäh, als sei ihm in der Fremde mit dem Geldbeutel auch die Galle angeschwollen. Und dabei erinnerte man sich, daß er früher, ehe er in die weite Welt ging, ein lustiger, gutmütiger, ja allzu leichter Kerl gewesen war, der das kleine Erbe seiner frühverstorbenen Eltern, bis auf einen elenden Acker am Waldsaum draußen, gesund verbraucht hatte mit guten Freunden. Auf diesen ihm verbliebenen Acker, der 67 eigentlich mehr ein Stück Ödland war, wollte der heimgekehrte Schuster ein Häuslein bauen.

Es gab ein Verwundern im Dorf, ein Spotten und Lachen. Meinte denn der Schuhmacher, man baue Häuser wie die Mäuse Löcher graben? Dort draußen war kein gebahnter Weg, kein Wasser, keine Nachbarschaft. Es mochte wohl sein, daß die Leute in der Fremde reich wurden; aber gescheit wurden sie offenbar nicht, sonst könnten sie nicht auf so dumme Gedanken kommen.

Am längsten und zähesten wehrte sich gegen den Plan des Schusters Stefan Rot, der Maurermeister. Ihm, der mit seinen Leuten sein Brot zumeist auswärts verdienen mußte, hätte des Ortsgenossen Baulust zur Freude gereichen können, wenn diese Schrulle mit dem Waldacker nicht gewesen wäre.

In seiner langsamen, eindringlichen Art redete der Maurermeister auf den Bauherrn ein. Aber der blieb bei seinem Entschluß, als sei kein Wörtchen dawider gesagt worden. Stefan Rots dickes, von manchem Frost, manchem Trunk und manchem Ärger gedunsenes Gesicht nahm eine bläuliche Färbung an; aber seine Rede ward darum nicht viel rascher. Wenn es in diesem Mann zu kochen anfing, dann gab es kein zischendes Überschäumen. Es stiegen nur zähe Blasen auf. Dafür blieb die Hitze lang erhalten, und wenn die Oberfläche längst wieder kühl erschien, war unten oft noch Glut.

»Wenn du in drei Teufels Name' in die Einöde 68 baue' willst, so bau'. Aber bis dein Brunne' g'grabe' und dein Weg g'macht ist, geht dir's Geld aus,« trumpfte er auf und spuckte aus.

»Hast du's gezählt?« fragte der Schuhmacher kurz.

Und noch einmal gab es einen Zusammenstoß, als Meister Vogel verlangte, man solle im Herbst noch mit dem Bau beginnen.

Herbsthäuser und Herbstkatzen werden in ihrem ganzen Leben nichts, wetterte der Maurer, und wenn es schneie, ehe ein Haus unter Dach sei, dann sei kein Glück darin zu hoffen.

Der Schuhmacher, der sein Leben lang mit zähem Rindleder hantiert und gehandelt hatte, war so undurchlässig und hart geworden, daß ihm keine Rede durchs Fell ging.

Er verzog kaum den bartlosen Mund, als er den Maurermeister schelten hörte, und mit einem kurzen Lachen prophezeite er, es werde ein milder und schneeloser Winter kommen, in dem es ein leichtes sei, den Bau zu fördern. Freilich, meinte er, sei es für die Maurer ein hartes Ding, das ganze Jahr hindurch auf dem Handwerk zu arbeiten, denn sie seien aus der Sippe der Hamster und der Dachse, die über den Winter im Fett schlafen.

Stefan Rot schaute mit den kleinen geröteten Augen bös auf den Sprecher. Gab aber keine weitere Antwort mehr. –

Naßkalt und windig war der Tag, an dem man den ersten Spatenstich tat. Im lehmigen Stoppelfeld huschten scheue Mäuse vor den Füßen der 69 Männer. Unfern seufzte der Wald, und die Wolken zogen unruhig über die Berge.

Die Maurer maßen, spannten ihre Schnüre, fingen zu graben an und stritten sich. Ohne Hast waren sie beim Werk und der Rauch ihrer Pfeifen wirbelte ihnen um die Nasen.

Nur einer, der Christian, rauchte nicht.

Er war alt, buckelig, hinfällig. Man fütterte ihn durch im Dorf und ließ ihn dafür die Achsel an jeden Karren stemmen, der gerade zu schieben war. So kam es, daß er an diesem Bau arbeitete, obgleich er kein Maurer war. Er hatte kein Handwerk gelernt, darum erwartete man von ihm, daß er jedes könne. Einst hatte er überall seinen Mann gestellt. Auch die weite Welt hatte er gesehen. Aber die Generation, die ihn als einen tüchtigen Kerl gekannt hatte, die lag unter dem Rasen.

Den Heutigen war er ein Brotesser, ein Mitläufer und ein klein wenig ein Narr. Denn manchmal redete er mit sich selber und mit denen, die längst nicht mehr da waren.

Dieser Christian fand es in der Ordnung, daß er nun, da er alt und verbraucht war, auf die Seite geschoben wurde. Es war keine Bitterkeit in ihm. Das selbstverständliche Hinnehmen des Laufs der Dinge, das die vernunftlose Kreatur mit der höchsten Weisheit gemein hat, es trug auch den wackligen Alten durch die Klippen seines verebbenden Lebens.

Meister Vogel, der Bauherr, schritt auf seinem 70 Acker, den die Maurer aufzuwühlen begannen, hin und her.

Die scharfe, lange Nase ward dabei im schneidenden Herbstwind kälteblau; aber der Mann wich nicht.

Stefan Rot und seine Leute machten Grimassen hinter ihm her. Glaubte der Schuster wohl, daß es ohne ihn nicht gehe?

Oder argwöhnte er, man trage einen Kubikmeter seiner elenden Erde fort, wenn er nicht aufpasse?

Oder meinte er gar, man werde sich etwa in hellen Schweiß schaffen, dieweil er zuschaue?

Es war ein stummes, verdrossenes Arbeiten da draußen.

Viel Händespucken, viel Ausschnaufen, viel Sichbesinnen.

Dazwischenhinein ein kurzer, gereizter Streit.

Wie eine scharfangezogene Bremse auf der Ebene den Wagen hemmt, daß er in keinen wirklich flotten und ausgiebigen Gang kommen kann, so wirkte die beständige Gegenwart des Bauherrn auf den Maurermeister und seine Leute.

Es gingen ein paar Tage, und man sah nicht recht, was eigentlich geschafft war. Bald gruben sie dort, bald gruben sie da, bald war die Mannschaft vollzählig, bald fehlten einige. Es kam kein Zug in das Ganze. Rauher und stürmischer wurden die Tage und kürzer dazu, so daß wenig Hoffnung war, das Haus unter Dach zu bringen, ehe der Schnee kam. 71

Der Schuhmacher schaute immer finsterer drein, und mehr als einmal entlud sich sein angehäufter Grimm in deutlichen Worten über die Säumigen. Wie ein Hagelwetter war's, wenn er losbrach. Die Maurer standen dann erstaunt, stützten sich auf Schaufel und Hauenstiele und nahmen die Pfeifen aus den Zähnen. Ihre blauen Schürzen flatterten im Wind, und das dürre Laub, das der Waldsaum herüberschickte, wirbelte schetternd und tanzend um die Erdhaufen, als freue es sich über die Schwierigkeiten, die die Menschen sich gegenseitig machten.

Der Christian duckte sich in solchen Augenblicken irgendwo zusammen und nickte mit dem Kopf. Er fühlte, daß der Schuhmacher wohl Grund zu Zorn und Grobheit hatte. Aber er fühlte auch, daß er in der ganzen Sache nichts ändern könne. Darum schwieg er und ging abseits.

Nur ein Mittel blieb ihm, wenigstens seinen Teil an der allgemeinen Schuld etwas zu verkleinern, und dieses Mittel wandte er mit stiller Zähigkeit an: wenn am Mittag oder am Abend die andern Pause oder Feierabend machten, dann tat er allein noch ein paar Spatenstiche, ein paar Hiebe oder Schaufelwürfe, auf die keiner achtete, die aber ihm das Gewissen entlasteten.

Da kam ein Samstagabend, ein richtiger Sonnabend. Der Tag war klar gewesen, windstill, von scharfumrissener Fernsichtigkeit unter einem harten, dunkelblauen Himmel. Am nahen Waldsaum war das starke Blätterrieseln wie nach 72 Frostnächten, und die Tannen und Fichten in der Tiefe schauten ruhig herüber über den vergilbenden Gürtel, der nicht standhielt, wenn die rechte Not an den Mann ging.

Früher als sonst brach am Sonnabend die Feierstunde an. Es war noch ein Glühen am westlichen Himmel, als die Männer die Kittel über die Arbeitsblusen zogen, ihre Vespersäcke und die steinernen Krüge am Riemen über die Achsel hängten und ohne zurückzusehen von der Baustelle dorfwärts schritten.

Der Christian bekam keinen Gruß von den Genossen. Er entbehrte nichts dabei. Mit der Spitzhaue in der schmutzigen Hand blieb er stehen, bis alle gegangen waren. Sie war zu schwer für seinen Arm, diese Haue, und sie fraß dadurch das bißchen Kraft, das in dem Alten noch wohnte, auf, statt sie zu unterstützen, wie ein ehrliches Werkzeug soll.

Die feuchte, von den stechenden Spaten blankgeschürfte Wand des Grabens, in dem das Männlein stand, glänzte jetzt rötlich von der fernen Himmelshelle. Vielleicht blendete ihn das, daß er nicht so recht sah, wo er hinhackte. Vielleicht auch ging die Haue eigenmächtige Wege. Sie förderte jetzt, da der Christian seine letzten Tageshiebe, seine Sühnehiebe tun wollte, etwas zutage, was nicht ans Licht gehört, was seine Ruhe haben will in dunkler Erde.

Langsam und mühselig bückte sich der Alte danach. Seine Hände zitterten stark, als er es aufhob. 73

Vielleicht hätten bei diesem Fund auch einem stärkeren und jüngeren Mann die Hände gezittert. Einen Schädel, einen gelben, grinsenden Menschenschädel hielt der Greis in den schmutzigen Fingern.

Da gab er einen erschrockenen, knurrenden Ton von sich und ließ die Haue fahren. Dann, als hätte er einen Klumpen Gold gefunden, den keiner sehen sollte, schaute er sich um, scheu und rasch, wie es sonst längst nicht mehr seine Art war. Aber es kam niemand des Wegs, der ihm den Fund hätte streiten können.

Der flammende Himmel, die öde Höhe und der ferne Wald waren stille, treuverschwiegene Zeugen, die um einen gelben Knochen kein Aufhebens machten.

Und das Männlein setzte sich auf den Grabenrand und hielt den Schädel vor sich. Er wußte nicht, was er damit wollte, damit sollte. Er spürte nur, daß man dieses Ding da nicht abseits werfen durfte wie die Erde, die Steine ringsum.

Wie er eine Zeitlang darauf hinstarrte, da kam ihm das Grausen. Die Augenhöhlen schauten zu ihm auf, die lückenlosen Zähne bleckten wie in höhnendem Lachen.

Der Alte zog die Hände zurück, als sei der Schädel glühend. Auf den zusammengepreßten Knien hatte er ihn liegen. Er wagte sich kaum mehr zu rühren. Und immer lachten die Zähne, stierten die Augenhöhlen.

Hätte der Christian jetzt sagen können, was ihm 74 das alte Herz durchschütterte, sein Grausen hätte wohl nachlassen müssen, wie die pressenden Wasser harmlos werden, wenn man ihnen die richtigen Schleusen zieht. Aber es war seine Sache nicht, nach außen abzulenken, was innen durcheinanderwogte. Verzweifelt ward ihm zumute, als seien würgende Hände um seinen Hals gelegt. Und seine Augen konnten von dem fürchterlichen Knochen nicht lassen.

Da scholl ein lauter, greller Häherschrei über das Feld. Mit einem gurgelnden, erstickten Laut, einer zuckenden Bewegung stand das Männlein auf, und der Schädel rollte in den Graben. An die gleiche Stelle rollte er, wo er zuvor gelegen, als wolle er zeigen, daß dort sein Platz sei.

Und der Christian, wie von einem Bann befreit, griff mit zitternder Hast nach der Spitzhaue. Eilends, mit einer Kraft und Behendigkeit, die ihm die Erregung verlieh, begann er, den grausigen Fund wieder zu begraben, tiefer als er zuvor lag. Die Erde stampfte er fest darüber, als wolle er dem Knochen verwehren, je wieder zutage zu treten. Das ging so schnell, so ohne Besinnen, und erst als das Werk vollbracht, verließen den Alten die aufgepeitschten Kräfte, so daß er taumelnd wieder auf den Grabenrand sank.

Die schmierige Kappe, die sonst nie ihren Platz verließ, war ihm entfallen. Barhaupt saß er da, und der Abendwind strich ihm durchs weiße, 75 dünnsträhnige Haar. Ganz verstört schaute er sich um, als wolle er sich überzeugen, daß nun nichts Schreckliches mehr in der Nähe sei.

Drei Raben stolzierten übers Feld, Seite an Seite. Wenn ihre Füße abglitten auf den rauhen Schollen, dann schlugen sie mit den Flügeln oder hackten mit den schwarzen, starken Schnäbeln kurz und zornig in die Erde.

Der Christian, der sonst nie nach den Raben schaute, konnte den Blick nicht von den Vögeln lassen. Es war doch etwas Lebendiges, war nicht das Fürchterliche, Grinsende, Zähnefletschende.

Und wie er da sein Gesicht gegen das Feld und die drei schwarzen Gesellen gerichtet hielt, mag ihm das grelle Himmelslicht zu scharf in die alten Augen gekommen sein. Wie aus dem Boden gewachsen sah er hinter den Raben her ein Wesen schreiten, eine junge Weibsperson in einem zerfransten Rock, blauen Strümpfen und zerrissenen Schuhen. Sie hatte ein weißes, rotgeblümtes Tuch um die Stirne und gegen rückwärts gebunden, so daß von ihrem Haar nichts zu sehen war. Ihr Gesicht war braun von der Sonne, die Augen flackerten dunkel und blank, und auf dem Rücken trug sie einen Pack in Wachsleinwand gehüllt, wie die fahrenden Händlerinnen, die ihre Waren von Haus zu Haus schleppen.

Vornübergeneigt, aber das Gesicht auf den Christian gerichtet, kam sie daher, nicht langsamer und nicht schneller, als die drei stolzierenden Raben. 76 Ein hölzernes Ellenmaß trug sie in der Rechten und gebrauchte es zuweilen wie einen Wanderstab.

Der Alte verwunderte sich, daß die Person ohne Weg und Steg über die Äcker daherkam, und wollte sie um ihr Ziel und ihr Vorhaben fragen. Aber ehe er den Mund auftat, war sie verschwunden, als hätte der Boden sie eingeschluckt, und die Raben flogen auf und strichen krächzend feldein.

Da stand das Männlein auf und rieb sich die Augen und wußte nicht recht, ob ihn ein Traum, eine Einbildung genarrt habe, oder ob es Wirklichkeit gewesen sei, was er da gesehen hatte.

Ächzend schlüpfte er in seinen Kittel, der auf einem Haufen roter Backsteine lag, und als er einsam heimwärtstrottete, war ihm zumute, als sei er durch das Erlebnis, das er gehabt, noch viel weiter weggekommen von den andern im Dorf, die keine solchen Dinge sahen und keine Schädel fanden, dieweil sie noch jung waren und fest im Leben und in der Arbeit standen und ganz anderes zu sorgen und zu überdenken hatten.

* * *

In der Woche darauf, am Dienstag, als der bürgerliche Sonntag und der blaue Montag die Leute des Stefan Rot zu neuen Taten gestärkt hatte, trieb sich der Christian auf der Baustelle herum wie der Verbrecher am Tatort.

Nicht ruhig und gleichmütig wie sonst führte er da die Haue, wo der Meister ihn hingestellt hatte; 77 er kam immer wieder gegen die Ecke herüber, die sein Geheimnis barg, und er wartete mit ängstlicher Spannung auf den Augenblick, da zum zweitenmal eine Haue den grausigen Knochen ans Tageslicht fördern würde.

Ja, so stark war die Wirkung seines Erlebens, daß er, der sonst nie wagte, den jüngeren Genossen ein Wort in ihre Arbeit dreinzureden, daß er seinen alten Zollstab herauszog und dem Manne, der an der verfänglichen Stelle grub, eifrig beweisen wollte, daß genug Erde herausgeschafft sei.

Alle lachten. Wenn ein Kind ihnen hätte Belehrungen geben wollen, es wäre ihnen nicht drolliger und lächerlicher vorgekommen, als das Bemühen des Alten.

Aber plötzlich verstummte das Lachen. Wie Geier um ein Aas standen die Männer um den Knochen her, den ihr Kamerad im Graben mit einem kurzen, erschrockenen Ruf zutage gefördert hatte.

Eine Zeitlang behielten sie noch die Pfeifen im Mund, bis sich die Tragweite der Sache in ihre dickwandigen Herzen langsam hineingefressen hatte. Dann ging ein Gestikulieren, ein erregtes Fragen und Sprechen los.

Und auf einmal hatten sie den Christian in die Mitte genommen. Der stand da in bleichem Entsetzen und starrte den Schädel an, der grinsend und zähnebleckend aus den Erdschollen hervorlugte.

Wie ein Gelähmter war das Männlein. Denen, 78 die ihn umstanden, weiteten sich, ohne daß sie's wußten, die Augen.

Stefan Rot, der Meister, warf als erster die Haue weg und rief heiser: »Ei Sakkerluft – Christian –«

Wie ein Donnerschlag wirkte das. Alle traten sie vor dem Alten zurück, und sie sahen plötzlich Blut an seinem schmutzigen Kittel, Blut an seinen erdfarbenen Händen.

Da machte der Verfemte ein zuckende Bewegung. wie wenn der Gehenkte nach dem Strick greifen will, ehe ihm das letzte bißchen Luft genommen wird.

»Net,« gurgelte er hervor, »net! D' Webershanne.«

Die Webershanne war eine jungen Hausiererin, die vor vielen Jahren mit ihrem Pack Ellenwaren durchs Dorf zu ziehen pflegte, und die dann spurlos verschwunden war, als hätte die Erde sie eingeschluckt.

Die Gerichte hatten lange nach ihr gesucht, da man ein Verbrechen vermutete. Aber es hatte sich kein Licht gezeigt in der dunklen Sache. So ward das Mädchen vergessen.

Andreas Vogel, der Bauherr, ging einher wie ein drohendes Wetter. Sein spitzes Gesicht war von einer starken Gelbsucht entstellt, die ihn jäh befallen hatte, als die Hemmnisse an seinem Bau sich auf eine so böse Art häuften.

Zu verwundern war das nicht bei dem leichtaufgebrachten, ohnedies schon giftigen Schuster und 79 Handelsmann. Auch ein Gleichmütigerer wäre durch solches Mißgeschick wahrscheinlich aus dem Gleis geworfen worden.

Das Amt mischte sich ein, und die Verzögerungen waren nicht abzusehen.

Man wühlte aus dem Baugrund die Knochen heraus, die zu jenem Schädel gehörten. Knochen eines jungen, kräftigen Weibes und dabei Stofffetzen und ein Ellenmaß.

Durch sein Verhalten in der Stunde des Schädelfundes und durch den seltsamen Ausruf war der alte Christian in den furchtbaren Mordverdacht rasch und tief eingesunken, wie einer, der auf Moorgrund getreten ist.

Und was Stefan Rot und seine Leute aussagten, das schob dem Männlein kein Brett unter die Füße.

Jeden Mittag und jeden Abend, wenn die andern die Schaufeln und Hauen beiseite stellten, hatte der Christian noch fortgearbeitet. Gerade, als ob er etwas suche, meinte schlau der Stefan. Nie hatte er sich nah bei den Maurern gehalten bis auf den Tag, da man an jene böse Stelle kam. Da drückte er sich her und suchte sogar zu verhüten, daß man weitergrub.

Aber – so klar das alles zusammenhing – es wurde trotzdem bald schon festgestellt, daß der Christian die Webershanne nicht umgebracht haben könne, ganz einfach, weil er zu jener Zeit, da die allbekannte ledige Weibsperson spurlos verschwand, auf ein paar Jahre in Amerika war. 80

Christian selbst hätte das nicht mehr so genau gewußt. Wenigstens machte er gar keinen Versuch, einen Abwesenheitsbeweis zu erbringen. Und als man ihn fragte, warum er angesichts des Schädels sogleich auf die fast vergessene Webershanne verfallen sei, erzählte er stammelnd und mit unruhigem Blick von der Hausiererin, die neben den drei Raben übers Feld geschritten kam, das Ellenmaß als Wanderstecken benützend.

So redet der Altersschwachsinn, dem Erdachtes, Geträumtes und Erlebtes in buntem Fluß sich mischt.

Rasch war das Männlein frei und von allem Verdacht gereinigt.

Andreas Vogels Hausbau ging weiter, in den Spätherbst, in den Winter hinein.

Es ward ein Richtfest gefeiert im Löwen. Vier Zimmerleute waren da und sechs Maurer, dazu noch der Bauherr. Da meinte der Löwenwirt, der gern das Bett bei fünf Zipfeln packte, wenn noch einer dazukäme, dann gingen zwei Dutzend Bratwürste drauf und wäre nichts übrig.

Dem Schuster steckte immer noch die Gelbsucht im Leib. Mit einem giftigen Blick wandte er sich zu dem Wirt, als wolle er bös entgegnen; aber dann stand er schweigend auf und ging davon.

Nach einer kleinen Weile, die die Maurer benutzt hatten, um ihre Meinung über den Bauherrn an den Mann zu bringen, trat er wieder ein und brachte den Christian mit. 81

Ein scheeles Verwundern ging durch die Männer. Seit wann gehörte der da unter die Zünftigen?

Kein Maurer und kein Zimmermann rückte zur Seite, um für den Alten Platz zu machen, der, die Kappe in den Händen, mitten in der Stube stand.

Da nahm der Vogel einen Stuhl und schob ihn neben seinen eigenen, und so mußte der Christian obenan sitzen neben dem Bauherrn.

Des Löwenwirts Bratwürste waren lang und dick und gepfeffert, wie es recht ist. Auch das Bier in den grünen Flaschen war frisch und gut; aber es kam kein Behagen unter den Gästen auf.

Der Gedanke, daß der Christian nicht hergehöre, daß der Vogel, dieser gelbe Giftmichel, ihn zum Tort für die Handwerker obenan gesetzt habe – dieser Gedanke vergällte den Männern den Genuß. Und die vom Amt, die konnten nun sagen was sie wollten – aber daß mit dem Christian und der Webershanne nicht alles sauber war, – das stand fest wie der Kirchturm.

Mag sein, daß ein starker und feuriger Wein allem Kriechenden in der Tiefe der Seele Flügel verleiht, daß es sich in goldene Freiheit schwingt. Das Bier des Löwenwirts aber machte nur, daß der Männer Gedanken sich schwerfällig bäumten und sich zäh ineinanderschlangen und verbissen, wie aufgestöbertes Gewürm. Und der Bauherr, der am mäßigsten von allen trank – sie sagten, der Geiz lasse ihm nicht zu, mehr zu leisten – er warf die Worte hin, wie sie ihm tauglich schienen, 82 um das Gedankengezücht vollends untereinanderzubringen.

Einer von den Zimmerleuten, ein junger, kecker Mensch, der in der Welt gewesen war, fing ein breites, schmutziges Lachen an, das irgendeinem schmutzigen Wort den Weg bereiten sollte.

Sie sahen alle schwerfällig nach ihm hin. Ein paar Maurer fuhren sich mit den Handrücken über die fettigen Schnauzbärte und nickten, ehe sie wußten, um was es ging.

»In alte Zeite,« sagte der Zimmermann, »hat mer e' Katz in d' Häuser ei'g'mauert, daß 's Mauerwerk fest werde' soll – rotet e'mol, was manche Leut' jetzt ei'maure' tätet – wenn –«

Wieder lachte er und schaute um sich, das Glas in der sehnigen Faust.

Es kam lang keine Antwort, obgleich jeder sie wußte. Der Christian saß da, in den Händen das leise Zittern, das ihn nie verließ, und in den alten Augen ein vergnügliches, etwas blödes Flimmern, das das längstentwöhnte Bier und das ungewohnt üppige Essen hineingebracht hatten. Ohne Arg, vielleicht auch ohne recht zu hören, schaute er auf den Zimmergesellen und lachte, weil alle lachten.

Da schlug der Bauherr hart auf den Tisch und sagte rauh: »Laß d' Webershanne jetzt e mol aus dein'm Maul du –«

Der Gescholtene setzte sein Glas hart auf den Tisch und fuhr auf: »Han i' d' Webershanne ins Maul g'nomme'? 's ist mir net eig'falle'. 83 An d' Steuerzettel han i denkt und an d' Rechnungen, net an liederliche Weibsleut.« Er lachte laut hinaus über seinen Witz, und die um ihn her lachten auch und hoben die Gläser.

Aber der alte Christian sah auf einmal aus, wie wenn man ihn aus einem frohen Traum aufgeweckt und in harte Wirklichkeit zurückgeführt hätte.

Stefan Rot, vor dessen Platz die leere Bierflasche am öftesten gegen eine volle ausgewechselt wurde, wandte sich an Meister Vogel, der ihm gegenüber saß. »Du,« sagte er, »wenn scho' 's Dutzend hot voll werde' müsse' – hättest jetzt du kein' andere' auftreibe' könne, als den do –!« Er deutete mit der Pfeife auf den Christian und spuckte zwischen den Knien hindurch auf den Stubenboden.

In den kranken, gelben Augen des Bauherrn blitzte es auf. »Gelt,« sagte er grob, »gelt, der Christian g'fällt dir net, weil er net de Schaufelstiel fahre' läßt, wenn d' Glock' de' erste' Schlag tut? Und weil er 's Maurermeisterstück net fertig bringt: zweimol ums Dorf laufe', ohne daß d'r Schurzzipfel wackelt – Net jedem hot d'r Herrgott e' Maurersgenie gebe'. I' ka' zu mein'm Richtfest hole', wen i' will –«

»Sell wär' –« schrien jetzt die Zimmerleute –»wir sitzet au' net nebe' jeden Zuchthäusler, und des mit d'r Webershanne –«

Nun war der Name wieder gefallen. Ein wüster Tumult, ein Grölen, ein Auf-den-Tisch-hauen ging 84 los, keiner wußte wie und warum. Der Christian stand auf und warf dabei seinen Stuhl um. Er bückte sich danach. Der ungewohnte Trunk machte ihn taumeln. Er fiel. Sie schlugen auf ihn, schlugen aufeinander ein.

Der Löwenwirt kam, um Ordnung zu schaffen. Er war ein starker, besonnener Mann und einer solchen Sache wohl gewachsen. Aber wenn er auch die scheltenden, schreienden Männer auseinander brachte, so wollte es ihm doch nicht gelingen, den Christian auf die Beine zu bringen.

Der lag da, blutete am Kopf und wollte sich nicht rühren. Aber er lebte. Die Trunkenen umher wurden allgemach wieder nüchtern. So hatten sie's nicht gewollt. Es kam wie Scham über sie, daß sie, die kräftigen Männer, den alten, zittrigen Kerl da sollten zusammengehauen haben. Und jeder stellte sich jetzt das Zeugnis aus, daß er keinen Schlag gegen ihn geführt habe.

Erst griffen die Zimmerleute nach ihren Schlapphüten, dann nahmen die Maurer die Kappen vom Nagel. Und Andreas Vogels Richtfest löschte aus wie Funken in der Pfütze.

* * *

Schneelos und warm gingen die Winterwochen. In Andreas Vogels Häuslein arbeiteten die Gipser, die Schreiner wie mitten im Sommer. Und täglich war der Bauherr draußen und besah sich den Fortschritt. Seinen sandigen Acker zäunte er ein mit 85 stacheligen Drähten. Die Handwerksleute lachten und sagten, das sei, damit keiner ihm die dürren Distelköpfe vom letzten Sommer davontrage.

Aber Vogel sah ihr Lachen nicht oder wollte es nicht sehen. Immer wieder schritt er sein Gelände ab, als wollte er es messen, und wenn tief im Südwesten die Sonne hinunterging, dann stand er und schaute, und sein gelbes Gesicht sah dann oft aus wie das einer hageren Rothaut; ganz hart, fremd und seltsam. Wenn er aber ins Dorf zurückkam, der Vogel, dann ging er fast täglich zum Christian, der seit jenem bösen Richtfest krank in seiner ärmlichen Kammer lag.

Kein Mensch hätte geglaubt, daß der Schuster so wäre. Daß er soviel tun könnte für einen Nebenmenschen. War er doch, seit er wieder im Land war, nur auf seinen Nutzen ausgewesen und verschlossen und eigensinnig, daß fast kein Auskommen mit ihm war. Aber um den Alten nahm er sich an wie um einen Bruder. Da war kein Schreien nach der Polizei und nach dem Spital. Und wo kein Kläger ist, da ist kein Richter. Weil die Sache bei seinem Richtfest geschehen sei, sagte der Vogel, müsse er sie auch in Ordnung bringen. Und es war kein Mensch im Dorf, der etwas gegen solche Lösung einzuwenden gehabt hätte. Am wenigsten der Schulze, der ein Bruder war vom mannhaften Löwenwirt.

An Lichtmeß lud man des Schusters spärlichen Hausrat auf einen Pritschenwagen und fuhr damit 86 dem neuen Häuslein am Waldsaum zu. Es gab viel Köpfeschütteln und viel dunkles Prophezeien, weil man das mitten im Winter tue. Aber die Gänseblümchen, die scheu aus den schneefreien Wiesen guckten, die Kätzchen, die wollköpfig aus den Weidenruten brachen, der lauwarme Wind, der über die Felder daherkam, sie alle schienen einig mit des Schuhmachers trotzigem Vorhaben.

Andreas Vogel zündete den neuen, blanken, eisernen Ofen an in seiner Stube, stellte seine Habseligkeiten an Ort und Stelle, bezahlte dem Fuhrknecht den ausbedungenen Lohn und machte seine Haustüre zu in fast triumphierender Eile.

Da war er nun allein in seinem Haus, sein eigener Herr auf eigenem Grund.

Inmitten der hellgetünchten Stube stand er, drehte langsam den Kopf nach allen Ecken, als müsse er sich erst zurechtfinden und wischte dann den Schweiß vom Gesicht.

Ein hartes und hastiges Arbeiten war es gewesen, jetzt eilte es nicht mehr.

Er griff nach einem der Stühle, die in der Stube herumstanden, und setzte sich. Und als er eine kleine Zeit saß, nahm er den Stuhl, trug ihn ein wenig vom Fleck und setzte sich dort.

Von den kleinen, unverhangenen Fenstern lief das Wasser.

Kein ruhiges Rieseln war's. Ein schubweises, sprunghaftes Vorwärtshasten und wieder Stocken. 87 Andreas Vogel sah eine Weile zu. Seine Augen, in denen immer noch das krankhafte Gelb abgelagert war, blickten hart und starr.

Dann stand er auf und wischte mit dem roten Baumwollsacktuch hastig über die schwitzenden Scheiben.

Und er setzte sich nicht mehr. Das Tuch in der Hand, stand er eine Weile müd oder lässig mit vorgeneigtem Kopf. Dann ließ er das Sacktuch fallen und fing an, unter seinen Habseligkeiten zu hantieren. Der neue Ofen krachte, und es krachte im feuchten Gebälk. Andreas Vogel lachte ein paarmal, und einmal fluchte er laut. Vom fernen Westen her leuchtete gelbe Helle durch die Fenster. Dann ward es grau draußen auf dem öden Feld und drinnen in der unordentlichen Stube. Ein Knistern, Knacken, Rieseln war allenthalben, als sei die Dämmerung ein lebendes, graues Ungetüm, das seine ungefügen Glieder unhörbar recke und in der feuchten Schwüle wachse und schwelle.

Da trat der Meister ans Fenster und riß es auf und lauschte.

Aber draußen war alles still. Viel stiller als in der Dorfgasse, in der er seither gewohnt, und wo um diese Zeit die Weiber die Fensterläden zugeschlagen, die Hunde sich zugebellt hatten.

Zum zweitenmal ward er da seines Alleinseins gewahr. Aber wie er jetzt das Fenster schloß, da tat er es nicht ganz so hastig und trotzig, wie er 88 die Haustüre hinter dem wegfahrenden Knecht geschlossen hatte.

Im Zwielicht schüttelte er sein Bett zurecht, das nicht weit vom Ofen stand, und er sprach dabei mit sich selbst, erst laut und dann leiser und leiser.

* * *

Andreas Vogel hat im Frühjahr den Christian zu sich hinausgenommen in sein Häuslein. Der Alte war zusammengeflickt; aber für neu konnte er nicht mehr gelten. Sein Kopf war verwirrt, und an Stelle seiner früheren, schweigsamen, kraftlosen Arbeitsamkeit war seit dem Richtfest eine geschwätzige Unruhe getreten, die ihn an keiner Arbeit ließ. Weil sie aber im Dorf der Ansicht waren, daß, wer nicht arbeite auch nicht zu essen brauche, ging es dem Christian knapp und schlecht. Hatte man ihn schon lange nicht mehr hoch eingeschätzt, so galt er jetzt als eine Last, und der Vogel machte vielleicht zum erstenmal in seinem Leben etwas allen im Dorf zu Dank, als er das Männlein in die leere Kammer neben seiner Stube hinausholte.

Wenn man den Meister fragte, was er mit dem Hausgenossen anzufangen gedenke – denn es mußte doch irgendeinen Zweck haben, wenn man einen Menschen, der einen nichts anging, aufnahm – dann gab er zur Antwort: »Meine Goldstücke muß er mir blank putzen und meine Kupons abschneiden.«

Mit einem Grinsen sagte es der Schuster, und 89 die Fragenden wußten nie so recht, wieviel Wahrheit unter die Fopperei gemischt sei. Denn daß der Meister ein reicherer Mann war, als man seither angenommen hatte, das erhellte schon daraus, daß er, seit er vors Dorf hinausgezogen war, den Lederhandel ganz und das Schusterhandwerk beinahe an den Nagel gehängt hatte.

Ein nasses und kaltes Frühjahr folgte dem schlechten Winter.

Man sah den Vogel und seinen Hausgenossen Steine aus dem ärmlichen Acker lesen und zu Haufen schichten.

Wenn die Männer vom Dorf mit rauchenden Dungwagen vorüberfuhren, riefen sie irgendein kurzes, meist spottendes Wort nach den zweien.

Die Weiber aber mit den geschulterten Gabeln und Rechen blieben zuweilen stehen und suchten ein Gespräch anzuknüpfen. Denn es war ihnen eine Sache von Wichtigkeit, wie die einschichtigen Männer mit ihrem Haushalt zurechtkämen.

»Vogel,« riet eine Kecke, »du muß heirate! 's Alter hättest jo. Und e' Haus ohne Weib ist wie e' Reche' ohne Stiel.«

»Und dein Geschwätz ist wie ein Stiel ohne Rechen,« gab gleichgültig der Angerufene zurück, die Mundart wie eine Vertraulichkeit verschmähend.

Da kam eine zweite der Kecken zu Hilfe. »Was schwätz'st au' lang! Do am Wald ist d' Webershanne um de' Weg, die wird dene zwei scho' haushalte'.« 90

Der Schuhmacher hatte sich eben nach einem Stein gebückt. Er hielt ihn in der Hand, als er sich jäh aufrichtete. Er holte aus und warf den Stein hart über den Köpfen der aufkreischenden Weiber hin.

Da gingen sie scheltend von dannen.

* * *

Andreas Vogel und sein Hausgenosse gingen ernstlich daran, die dürre Ärmlichkeit rings um das Häuslein in einen Garten umzuwandeln. Schlecht sah der Schuhmacher aus, wenn auch das Gelb des Gesichtes wieder verschwunden war. Stefan Rot sagte, in einem Herbst- oder gar Winterhaus sollte man nur solche wohnen lassen, die ohnedies geköpft gehörten. Denn um den Kragen gehe es da jedem.

Der Schuster lachte, als er davon hörte, und der meinte, um den Maurermeister sei es schade, daß der sich die Gurgel abtrinke, denn der höre das Gras wachsen und die Mücken husten.

Der alte Christian tat was er konnte in Meister Vogels Zukunftsgarten. Nur eine Spitzhaue nahm er ums Leben nicht in die Hand. Dicht bei dem Schuhmacher hielt er sich immer, als fürchte er sich, allein auf diesem Grund und Boden zu arbeiten.

Meister Vogel sah sich um, als ob jemand in der weiten Einöde lauschen könne, und dann fragte er leise: »Also Christian, auf Ehr und Seligkeit, du hast se g'sehe' an sellem Obed?« 91

Auch der Alte drehte jetzt den grauen Kopf ganz scheu und verstört.

Die Furchen der Äcker sah er wieder klaffen wie dazumal, da die drei Raben unsicher und flügelschlagend darüber hergestiegen waren.

Er nickte und heftete die hilflosen Augen auf den Frager. »Jawohl und drei Krabbe (Raben) dabei und –«

»Wie hot se denn ausg'sehe' –?«

»Ausg'sehe'? Du host se doch kennt! Sauber, jung, e' fest's Mensch –«

»I' mein': hot se g'lacht oder was –?«

In die blöden Äuglein des Christian kam ein nachsinnender Ausdruck.

»G'lacht? – I' wüßt's net. Sie ist daherkomme wie sonst au'.«

Der Schuhmacher packte seinen Schaufelstiel fester. Trockenem Leder glich sein ausgemergeltes Gesicht, tief eingesunken lagen die Augen.

Er atmete schwer auf, wie einer, der sich zu hartem Werk anschickt und fragte, ohne den Alten anzusehen: »Christian, b'sinn dich – hot se nix g'schwätzt? Hot se net g'sagt, wer – –?«

Er stockte und wartete, als hoffe er, das Männlein werde auf die halbe Frage eine ganze Antwort geben.

Aber der stand blöd und scheu und rührte sich nicht.

Da gab ihm der Schuhmacher einen Stoß, daß er taumelte. 92

»B'sinn dich,« stieß er wild hervor, und sein verhärtetes Gesicht war plötzlich ganz aufgewühlt von Leidenschaften, wie verbranntes Ödland, das der Pflug aufriß, »b'sinn dich, ob se net g'sagt hot, wer se verwürgt hot –!«

Zitternd, mit entsetzten Augen stand der Alte. »Verwürgt?« stammelte er in ratloser Angst, »verwürgt –?« Es klang, als ob ihm selbst eine würgende Faust an der Kehle liege.

Da fing auf einmal der Schuhmacher laut zu lachen an, »Christian,« sagte er, »hole den Zwiebelsamen, in der Küche liegt er.«

Und sie säten Zwiebeln und steckten Rettichkerne.

* * *

Die Ähren auf den Äckern blühten. Jenes unscheinbare Blühen, das fast keiner sieht. Und manche, die es sehen, begreifen es nicht, wissen es nicht, daß es ein Blühen ist. Die aber, die es wissen und begreifen, meinen, es sei ihnen ein Geheimnis gezeigt, so feierlich und still und verschwiegen ist dieses Blühen.

Und wenn die Äcker blühen, geht der Wind. Es wäre ein fauler Knecht Gottes, wenn er um diese Zeit schliefe. Tag und Nacht hat er den Wunderstaub, darin das Brot der Menschen schlummert, an seinen Ort zu tragen.

Andreas Vogel und der alte Christian achteten nicht viel auf diese Dinge. Aber sie hörten manche Nacht das Sausen um ihr einsames Häuslein, 93 und der Alte hörte auch oft den Schuhmacher im Dunkeln sprechen, als sei da jemand; aber er verstand nie, um was die Rede ging.

Wenn der Wald ächzte und die Nachtvögel sich ihre Liebe und ihren Haß zuschrien, dann war es mit dem Schlafen nicht viel.

Und einmal, als der abnehmende Mond im Osten hing, als ziehe ihn seine eigene Schwere gegen den Wald hin, da fiel es dem unruhigen Männlein ein, daß er sein gewaschenes Hemd draußen am Gartenzaun hängen habe, und daß es der Wind möchte davontragen.

Da stand er auf und schlüpfte in seine Hosen und tat ganz leise die Kammertüre auf, damit er den Schuster nicht wecke.

Aber in der Stube schien der Mond auf ein leeres, zerwühltes Bett und auf die ganze Unordnung, wie sie vom Abend vorher noch dalag.

Der Christian wunderte sich nicht. Er war zu stumpf, um darüber nachzudenken. Kopfnickend ging er aus der Türe und aus dem Haus, sein Hemd zu holen.

Da löste sich ein Schatten von der Hauswand. Der Schuhmacher trat dem Alten in den Weg. »Du – spürst du mir nach –?«

Das Männlein zitterte stärker, als er sonst schon tat. »Mei' Hemd,« sagte er, »mei' Hemd am Garte'zaun –«

Da wandte sich der Schuhmacher ab und schritt 94 am Haus hin. Der andere ging gegen den Zaun. Aber er fand sein Hemd nicht.

Diebeshände oder der zerrende Wind mochten es vom Draht gerissen haben.

Da fing er das leise, kindische Wimmern an, das die ganz Hilflosen jedem Leid gegenüberstellen, und er schritt am Zaun auf und ab.

Auf einmal stand der Schuster neben ihm. »Komm, sagte er, »d'r Wind hot's fort – suche' mer's.«

Sie riegelten das niedere Pförtchen auf und schritten gegen den Wald hin. Des Alten Blicke hingen am Boden, als sei solch ein windvertragenes Hemd ein verlorener Heller, der in einer Ritze liegen könne. Der Schuhmacher aber schaute fast starr gegen den Wald, wie wenn ein verflogener Vogel zu haschen wäre.

Und als sie dorthin kamen, wo Haselbüsche und die Sträucher der Pfaffenhütchen als die vorgeschobensten Posten in dunklen Gruppen ins Feld traten, da sagte der Schuhmacher halblaut: »Do, Christian, do –«

Der Alte drehte den Kopf. »Wo denn?«

»Siehst nix?« fragte der andere zurück und lachte ein kurzes, hohnvolles Lachen, als sei es ihm eine Lust, das Männlein zu foppen.

»Daß Gott erbarm'!« sagte der Christian plötzlich und deckte die Augen mit dem Arm, wie Kinder tun, wenn sie jählings Gefahr oder etwas Schreckliches erblicken.

Da blieb der Schuhmacher stehen. Das 95 Mondlicht lag auf seinem Gesicht und ließ den Ausdruck ungläubigen, starren Entsetzens sehen, der auf den hageren Zügen sich malte.

»Was denn, Christian, was denn?« stammelte er und rüttelte an dem Arm, der des Männleins Gesicht fast zudeckte.

»Host's denn net g'sehe' –?« murmelte der zitternd und verstört.

Der Schuhmacher gab keine Antwort und fragte nicht mehr.

Der Wind raschelte im Buschwerk, und in den Wipfeln des Hochwalds war das schwere, tiefe Rauschen wie von fernen Wassern, die über ein Wehr strömen.

Stumm, reglos, scheu standen die zwei. Nicht, als seien sie gekommen, um etwas zu suchen, sondern als versteckten sie sich, um nicht gefunden zu werden.

Dann gingen sie über das Ödland und den Ackerweg zurück, einer hart hinter dem andern.

* * *

Stefan Rot trank. Aber das hinderte nicht, daß er ein Mann von viel Erfahrung war. Er vertraute dem Löwenwirt, an den ihn mehr Bande fesselten, als beiden Teilen eigentlich lieb war, daß er seine Rechnung begleichen werde, sobald der Schuhmacher Vogel die Restsumme, die er ihm noch schulde, bezahlt habe.

Und daß das bald der Fall sei, dafür werde er, der Stefan Rot, schon sorgen. Einem gesunden 96 Menschen, wie ihm etwa, könne man schon stunden. Wenn aber einer gezeichnet sei wie der Vogel, dann müsse man dazutun, daß man zu seinem Sach komme. Sonst habe man nachher nur Scherereien mit den Erben.

Der Löwenwirt ließ sich vertrösten. Auf Stefan Rots Gesundheit und auf seine Geschicklichkeit im Geldeintreiben war im allgemeinen Verlaß. Nur diesmal kam eine Kleinigkeit dazwischen. Indem der Maurermeister im Rausch von einer Leiter fiel und das Genick brach.

Auf diese Weise kam der Löwenwirt dem Schuhmacher näher.

Ein Zwischenglied war aus der Kette gebrochen. Und von dem nähergerückten Standort aus sah nun auch der Wirt, was der Maurermeister immer gesehen hatte: daß Andreas Vogel abnahm wie der Tag um Martini.

Mit seinem Bruder, dem Schulzen, sprach er darüber. Und der mag's gelegentlich dem Pfarrer gesagt haben. Vielleicht hat der es auch selbst gesehen, oder haben die Weiber, die, ihrer Sache sicher, unbeirrt harrten, bis die Männerwirtschaft da draußen ein böses Ende nähme, vielleicht haben sie es durchs Dorf und ins Pfarrhaus getragen, daß es mit Andreas Vogel schlecht stehe. Wie das Leiden Christi sähe er aus.

Etliche gab es, die fanden an dem Schuster nichts Besonderes. Sie meinten, der sei nie anders gewesen, habe nie anders ausgesehen. 97

Aber auch diese fingen jetzt an, wenn sie Streu holen gingen oder nach ihrem fast schnittreifen Hafer sahen, nach dem Häuslein zu blicken, nach diesem verpönten Herbst- und Winterhaus, das seinem Besitzer grausam das Leben aussaugen sollte.

Der Schuhmacher spürte, wie sie alle nach ihm herschnüffelten.

Unleidlich war ihm das, er wand, er drehte sich darunter und kam doch nur fester und enger in das klebrige Netz.

Als ihn der Pfarrer besuchte, stieg ihm stärker als je die Galle ins Blut. Die hastige Rede überschlug sich fast in seinem Mund, als er den Mann Gottes fragte, wer ihn hergeschickt habe?

Der Pfarrer war ein alter Mann und von jener trefflichen Härte, die des Lebens klingende Hammerschläge bei Guten zuwegbringen.

Aber als er nach nicht gar langer Zeit von Andreas Vogel schied und den einsamen Weg gegen das Dorf wanderte, da lag es doch wie grimmige Empörung auf seinem faltigen Gesicht. »Kerl,« murmelte er, »ich wünsch' dir's nicht; aber ich meine, du rufst mich bald einmal.«

Und dann traf sich's, daß der junge Zimmergeselle in der braunen Samthose und mit dem Schlapphut an Vogels Haus vorüberging. Derselbe, der damals beim Richtfest von der eingemauerten Katze gesprochen hatte.

Der Schuhmacher stand in seinem Garten und 98 ließ sich die Sonne auf den Rücken brennen, denn er hatte ein Reißen im Genick, daß ihm's schwer wurde, den Kopf zu wenden.

Hart am Zaun ging der Zimmerer vorbei, und er lachte, als er den Schuster so eingeduckt stehen sah.

Der blickte auf. Der stechende Schmerz blitzte über sein Gesicht.

Wie ein entzweigebissener Fluch kam's über seine Lippen.

Da blieb der Geselle am Zaun stehen. »Ihr hänt, scheint's, de' Teufel Buckelranze' trage', weil Euer G'nick so steif ist?« fragte er lachend.

»Jede Nacht trag' i' den,« gab der Schuster zurück, »weißt du kei' Mittele dagege'? Zimmerleut' sind jo mit dem Herrgott verwandt, die wisset älles und no' meh' –« Mit unbewegter Miene sprach er und schaute den am Zaun an.

Der schob den Schlapphut zurück, daß man die Haarlocke sah, die auf der verschwitzten Stirne klebte. Etwas Keckes, ja Freches lag auf dem von der Hitze roten und gedunsenen Gesicht.

»Wie sieht Euer Teufel aus?« fragte er lachend, »ist's e' Mannsbild oder e' Weibsbild? Des muß i' wisse', wenn i' helfe' soll.«

Der Schuster stand steil aufrecht, als habe er sein schmerzendes Genick vergessen.

»E' Weibsbild ist's,« sagte er hart, »e' fest's, jung's, sauber's –«

Der Zimmergeselle lachte sein schmutziges Lachen: 99 »Nimm se,« fauchte er, wie man einen Hund hetzt, »nimm se!«

»Sie will me net!« stieß zwischen den Zähnen der andere hervor.

»No zwing' se!« stachelte der Zimmermann.

Da ballte der Schuster beide Fäuste und schüttelte sie gegen den Zaun hin. »Lieber verwürge' läßt sich die!« zischte er mit verzerrtem Gesicht.

»No verwürg' se!« schrie lachend und frech der Geselle.

Da ließ Andreas Vogel die Hände sinken und lachte auch und wandte dem andern den Rücken. Was er dabei murmelte, war nicht zu verstehen.

* * *

Der Wind ging über das Stoppelfeld. Ganz nieder am Boden strich er hin, und er fuhr den grauen Mäusen ins Fell, wenn sie die letzten zerstreuten Körner, die die ärmsten Ährenleserinnen hatten liegen lassen, emsig in ihre Löcher schafften. Die Wegwarten schüttelte er, die harrend und hoffend den ganzen Sommer hindurch geblüht hatten, und die es auch jetzt noch nicht lassen konnten, zu glauben, daß ihr stilles, blaues Dasein einen Sinn habe und eine Notwendigkeit sei. In heftiger Ungeduld zerrte der Wind an ihren Stengeln. Es reizte ihn auf, daß in dieser unendlichen Dürftigkeit, in diesem öden Geranke soviel zäher, starker, unausrottbarer Glaube wohnen sollte.

Der alte Christian fürchtete den Wind. Er 100 machte ihn unruhig und erregt, wie er Kinder unruhig macht, die im Wind vielleicht noch eine Stimme hören aus dem Lande der Ungeborenen, aus dem sie kamen, und das sie vergessen müssen.

An die warme Südwand des Häuschens drückte sich der Alte, wo Kapuziner die frostverbrühten Ranken über die Erde breiteten.

Er sah die reifen, abgefallenen Samen in Menge umherliegen und fing an, sie mit den zitternden Händen aufzusammeln.

Auf einmal stand der Schuster neben ihm und fragte rauh: »Kerle, was suchst?«

Mit erschrockenen Augen richtete sich das Männlein auf. »Do –« sagte er und zeigte eine Handvoll Samen her.

Der Schuhmacher sagte nichts. Wie wenn er sich auf etwas besinne, mit einem Gedanken ringe, eine Unentschlossenheit niederkämpfen wolle, so stand er da.

Dann ging er und kam mit einer Haue wieder.

»Christian,« sagte er mit einem harten, fast brutalen Ausdruck im Gesicht, »jetzt frog' i' dich auf's G'wisse': wo host du das g'funde, domols –«

Das Männlein lehnte sich an die warme Hauswand.

»Was soll's?« wimmerte er, »was soll's?«

»E' End' will i' mache',« murmelte der Schuster, »es ist kei' Geleb' so; des hält mer net aus. I' will grabe'. Es muß no' e' Knoche' im Bode' stecke'. Sie gibt kei' Ruh Tag und Nacht. 101

»Laß se, laß se!« bat verstört und weinerlich der Alte, »es tut net gut! Sie kommt wieder über d' Äcker her in ihre verrissene' Schuh' –«

»I' mach' ihr e' Paar neue,« entgegnete der Schuster und schwang die Haue mitten unter den Kapuzinern, und die dürren, runden Samen kollerten in die Erde.

Eine Zeitlang schaute der Alte zu, reglos, wie an den Boden genagelt. Dann kam der Wind um die Ecke, den er so fürchtete. Da schauerte er zusammen und ging.

* * *

Der Löwenwirt war der erste, der es merkte, daß Andreas Vogel nicht mehr richtig im Kopf war. Er hatte ihn ein paarmal besucht, weil ihn etliche starke Fäden zu dem Schuldner des trinkbaren Maurermeisters zogen.

Da war es jedesmal ein merkwürdiger Empfang gewesen.

Einmal hatte der Schuster in seinem Garten gegraben, als wolle er das ganze Fundament seines Häuschens bloßlegen.

Und auf des Besuchers Frage, was er da mache, kam die Antwort: »I' han do e'mol en Schatz vergrabe', den such' i' wieder.«

Ein zweites Mal saß er auf dem Schemel und nähte an einem Paar feiner Frauenschuhe. Als der Löwenwirt, in der Absicht, ein harmloses Gespräch zu beginnen, hinwarf, ob er da seiner 102 künftigen Braut die Hochzeitsschuhe mache? da gab der Meister zur Antwort: »Verrote' host's! I' bin versproche' mit der Webershanne. E' saubers Weibsbild muß au' saubere Schuh han, daß sie net älleweil in Lumpe' über d' Stopple mueß –«

Man weiß, daß das Wohnen in einem Haus, in dem das Wasser von den Wänden läuft, schon manchem einen üblen Treff gegeben hat, auch wenn er von Haus aus ein festerer Kerl war als der dürre Schuster. Warum sollte das Übel da nicht auch einmal im Kopf zum Ausbruch kommen?

Der Löwenwirt lag seinem Bruder in den Ohren, daß da von Amts wegen eingeschritten gehöre. Aber der Schulze meinte, allzugroße Ängstlichkeit sei nicht am Platz; der Löwenwirt möge sich beruhigen. Auch ein Narr zahle oft noch pünktlich seine Schulden und seine Steuern.

So taten die Brüder weiter nichts in der Sache.

Während sich die im Dorf um den Schuster, um seine Zahlungs- und Zurechnungsfähigkeit ernstlich sorgten, ging draußen in dem einsamen Häuslein ein längst nicht mehr beachtetes Leben seinem unbeachteten Ende zu.

Hätte er Schulden gehabt, der Christian – vielleicht wäre ihm mehr Teilnahme zugeflogen. Wenn einer sein Lebtag alles bezahlt, dann sind keine Häkchen an ihm, in denen die andern hängen bleiben.

Merkwürdigerweise hatte nie ein Mensch gedacht, daß auch dem Christian die Nässe des verruchten Herbsthauses schaden könne. 103

Und auf einmal hatte es der Alte auf der Lunge, keuchte, hustete, fieberte und legte sich in seine Kammer.

Der Schuhmacher wußte sich nicht recht zu stellen zu dieser neuen Sache. Dazu, daß er krank werde, hatte er sich den Christian nicht herausgeholt. Ratlos und ungeduldig steckte er den Kopf wieder und wieder durch die Kammertüre. Aber das Männlein sagte nichts und wollte nichts. Wenn einer auf eigene Faust gelebt hat, wird es ihm schwer, von seiner Art zu lassen. Kann er es irgend machen, so stirbt er auch auf eigene Faust.

Der Christian hätte das auch getan, wenn eine einzige Sache nicht gewesen wäre, eine Sache, die nicht einschlafen konnte.

Als am dritten Tag Vogel einmal wieder in die Kammer schaute, sagte der Kranke aus seinen Kissen heraus: »Schuhmacher, glaubst, daß er komme' tät?«

»Wer soll komme'?« fragte der Schuhmacher und trat in die Kammer und ans Bett.

Da versuchte der Alte sich aufzurichten. Sein welkes, schmutziges Gesicht bekam einen merkwürdigen Ausdruck von friedlicher Entschiedenheit, von einer reifen, erkämpften Ruhe, die es fast männlich machte. »'em Pfarrer möcht' i' noch e'mol sage', wie des g'we ist, wo i' d' Webershanne g'sehe' han. 's soll kei' Mensch glaube', i' häb g'loge' oder i' sei e' Narr –«

Der Schuhmacher senkte den Kopf. »I' glaub', daß du kei' Narr bist, Christian,« sagte er halblaut, 104 »d' Narre' sind andere Kerle als du. Au' d' Pfarrer sind oft Narre'. Schwätz' du mit mir, wenn du schwätze' mußt –«

Unverwandt schaute der Kranke auf den Sprechenden. Es mochte ihm vorschweben, daß der menschenscheue und nichtumgängliche Schuhmacher ein seltsamer Beichtvater sei. Er lächelte. Ein nachsichtiges Lächeln, wie man es für Kinder und Kindertorheit hat.

»Schwätze',« murmelte er schwach, »ums schwätze' handelt sich's do net. Des arm' Weibsbild muß ihr' Ruh' han. Do soll d'r Pfarrer dahinter.«

Still und grau und schwer war es in der ärmlichen Kammer, als fülle das dunkle Schicksal des Weibes die dämmerigen Ecken und die dumpfe Luft des engen Raumes.

Ein seltsamer Laut kam aus des Schuhmachers Brust.

»Christian,« murmelte er, »meinst, i' könn' ihr net helfe'? Muß 's denn e' Pfaff sei', Christian –?«

Die Augen des Kranken weiteten sich und starrten auf den Frager wie in jähem Schrecken. Aber als er sprechen wollte, ward er von einem Husten geschüttelt, der ihn in graue Bewußtlosigkeit warf.

Reglos, wie auf einen Urteilsspruch harrend, stand der Schuster.

Und der Alte kam wieder zu sich. Die Tore, die aus dem Kerker seines dumpfen, armen 105 Daseins hinausführten, fingen leise an, sich aufzutun, und Licht quoll durch die letzte Dunkelheit.

Freundlich sah er um sich, freundlich und fast schelmisch.

»Vogel,« sagte er mit völlig klarer Stimme, wie er sie nie zuvor gehabt hatte, »Vogel, guck! D' Webershanne kommt in deine neue Schuh' durch de' Garte'. Sie lacht. Sie bringt mei' Hemed. Mei' Hemed, des der Wind forthot. Und jetzt scheint d' Sonn' –«

Ein gelber, fast greller Glanz erfüllte die Kammer und den kahlen Garten, wie ihn die scheidende Sonne malt, wenn sie tief am Horizont noch einmal aus grauem Gewölk tritt.

Wie eine große, fremde Freudigkeit, die sich für eines Augenblickes Länge lächelnd entschleiert, zog die Helle über die einsame Höhe und vor den Männern in der Kammer vorüber.

Den stillen Blick ins Raumlose verloren, lag der Alte. Andreas Vogel aber starrte bleich und stier durchs Kammerfenster auf einen Knäuel, einen Fetzen, der übers Gartenland gewirbelt kam, als stießen unsichtbare Füße ihn vor sich her. Und der Mann sah, daß dieser Knäuel das Hemd des Christian war, das einst der Wind vertragen.

Da streckte er die Hände aus wie zu entsetzter Abwehr und ging davon.

* * *

Der Christian hat es dem Pfarrer nicht mehr erzählen können, wie das war, als an jenem 106 Samstagabend die junge Hausiererin mit dem Pack auf dem Rücken und dem Ellenmaß in der Hand über das unebene, aufgerissene Feld hergeschritten kam. Er hat es nicht mehr erzählen können, wie des Mädchens Rock zerfranst, die Schuhe zerrissen, die junge, kräftige Gestalt vornübergebeugt war. Wie das geblümte Kopftuch die Haare und die Hälfte der sonngebräunten Stirn bedeckte, und wie die drei Raben mit der Hanne dahertorkelten zwischen den Schollen.

Des Alten Mund war stumm geworden vor der Zeit. Ein frohes Lächeln lag um die eingesunkenen Lippen, ein Lächeln, das aus den grauen Bartstoppeln und dem Schmutz des faltigen Gesichtes wie ferne Schönheit und ferne Mannheit herausgrüßte. Also, daß der Pfarrer, wie er da vor dem letzten Lager des Christian stand, wohl spürte, daß aus der unscheinbaren Raupe ein Schmetterling geworden war.

Und Andreas Vogel sah das auch. Er konnte, neben dem Pfarrer stehend, den Blick nicht lassen von dem Toten.

›Warum lächelst du, Christian? Was siehst du? Wen siehst du?‹

Dem Schuhmacher trieb das innerliche Fragen das Blut in den Kopf und die Augen aus den Höhlen. Er schluckte, er hielt an sich; er bot noch einmal all seinen zähen Willen auf. Hätte er wegsehen können, vielleicht wäre er noch immer Herr geworden über sein Inwendiges, über das, 107 was herauswollte wie eine reifgewordene Frucht aus ihrer Hülle.

Aber er brachte seine stieren Augen nicht los von des Christian lächelndem Mund, und da brach denn alles heraus wie ein Schwall und wogte dahin, als sei nirgends ein Ufer, nirgends ein Damm.

Die Jahre sanken nieder wie Gras unter des Schnitters Streich, und da war das Einst da, die Jugend, das Versunkene, das hinter der Zeit der Fremde, hinter dem Zähwerden, dem Sichabquälen lag.

Wie ein Schluchzen kam's aus des zerbrochenen Mannes Mund: »Hanne, Hanne, hättest mi' doch g'nomme'! Hättest d' doch net g'lacht, wo i' g'sagt han, du sollst mi' heirate'. – Auf de' Händ' hätt' i' di' trage'. I' hätt' di' net verwürgt, wenn du net g'lacht hättest. Hätt'st doch net g'lacht!«

Wie ein Wimmern verklang die Rede. Der Pfarrer, der bleich und stumm an dem Bett stand, erzitterte im Innersten.

Kein Wort, keine Frage entrang sich ihm, und seine eigene Seele trat schauernd zurück, um da eine andere Seele allein auf dem Plan zu lassen, mit ihrem ewigen Herrn.

Der Schuhmacher ächzte. Er drehte den fahlen, ausgemergelten Kopf nach dem Pfarrer. Ein starrer, fremder Ausdruck lag auf seinem Gesicht.

In der Sprache, die er in den langen Jahren draußen gelernt hatte, sagte er fast ruhig: »Ich habe sie erwürgt. Am Waldsaum drüben, als der 108 Mond schien. Auf meinem Acker habe ich sie verscharrt. Heiraten habe ich sie wollen. Sie hätte nicht lachen sollen. So, nun wissen Sie's. Sie können es allen sagen. Alle möchten's schon lang gern wissen. Der da auch –« Und er deutete auf den freundlich lächelnden Christian und lachte. Und ging lachend aus der Kammer.

* * *

O Stefan Rot, du erfahrener Mann, aus welcher Tiefe heraus hast du geredet, als du einstens sagtest, in einem Herbsthaus, wie das des Schuhmachers, dürfe keiner wohnen, der nicht ohnedies zum Köpfen bestimmt sei?

In einer Kleinigkeit nur hast du's versehen bei deiner Rede.

Er ist nicht geköpft worden, der hagere Schuster. Am Waldsaum drüben hat er sich erhängt, mitten in einem Haselbusch.

Sein Häuslein ist längst trocken und ausgewohnt.

Die Gemeinde hat es gekauft für ihre paar Ortsarmen.

Der halbblöde Sohn des trinkbaren Stefan Rot ist auch darunter.

 


 


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