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6

Verzeih mir, Schwester, daß ich deinen verklärten Schatten aus dem Grabe emporrufe! Duld es, wenn ich mich im Andenken dessen, wie sehr du mich liebtest, wie heiß auch mein Herz für dich geschlagen hat, der Schuld zu entsühnen suche, die schwer auf mir lastet und deren Joch ich dennoch weiter schleppen muß bis an meines Lebens Ende! Laß mich noch einmal durchleben, was du an Liebe und Güte mir schenktest, und in Erinnerung, daran die Schauer der Einsamkeit vergessen, die wie der Odem deines Grabes mein Gebein durchfrösteln.

Welch eine Närrin, welch eine Frevlerin war ich, daß ich mich einsam fühlte, solange du auf Erden weiltest! Deine Liebe war ja die Luft, in der ich atmete! Deines Auges Lächeln war der Sonnenschein, der mich belebte, dein tröstendes, mahnendes Wort war wie die Stimme der Gottheit in uns, der wir erbebend lauschen, ohne sie zu verstehen.

Und wie habe ich dir gedankt, Schwester? Fremd bin ich dir geworden – in Not und Qual muß ich deiner gedenken, und Schuldbewußtsein läßt mich erbleichen, wenn das Rauschen des Windes mir deinen Namen ins Ohr raunt. Zwischen uns steht ein Gespenst – gräßlich und fratzenhaft, das Haar von Schlangen umwunden, und streckt die Krallenhände nach mir aus, mich ewig von dir zu trennen.

Wäre es kein Schatten, sondern Fleisch und Blut, wäre, was ich begangen, eine Sünde, ein Verbrechen, ich würde damit ringen, ich würde es niederkämpfen mit der letzten Kraft des erlöschenden Willens oder mich erwürgen lassen von seiner Faust. Aber es ist ungreifbar, es zerfließt in leere Luft – ein Spuk, der mich äfft, ein Dunst, der mich umnebelt und an dessen Gift ich langsam zugrunde gehe.

Ein Wunsch!

Ein Wunsch – mehr ist es nicht!

Ob du ihn erkanntest? Ob er sich in deinem brechenden Auge widerspiegelte? Ob du das Gespenst an deinem Lager stehen sahest, als du Heilige, Gute den letzten Hauch deines Lebens, das nichts als Liebe war, dahinströmen ließest, jenes Gespenst, das Neid und Undankbarkeit erzeugten und das ich – die Unselige – in deine reine Behausung schleppte?

Hätte ich meinen Kinderglauben noch, dem großen, dem gütigen Gotte würde ich die Not meiner Seele anheimgeben – aber ich besitze niemand auf Erden und im Himmel, der Gnade mit mir hätte, niemand als dein verklärtes Bild.

Auch das wendet sich ab. – Es verhüllt sich weinend, wenn jener Dämon vor meine Seele tritt! –

Und doch – war es nicht menschlich, was ich fühlte? – Warum sind wir nicht Lichtgestalten, wunschlos und wie der Äther rein? – Warum sind wir staubgeboren und kleben am Staube und fressen Staub und zerrinnen zu Staub, wenn wir den großen Betrug des Lebens von uns abgeworfen haben? Den großen Betrug meines Lebens – den will ich hier niederschreiben, – den Betrug an mir – an dir – an einem Dritten noch, der rein und gut ist – und der doch alles verschuldete.

*

Ich war ein stilles, einsames Kind.

Wer allezeit von Liebe umgeben ist und nie etwas Andres gekannt hat als Liebe, der lernt oft am leichtesten, sich selbst genug zu sein. Und dennoch lag auch in meinem Herzen ein unerschöpflicher Liebesvorrat. Ich verschwendete ihn an das Getier, hätschelte die Hunde, küßte die Katzen und zerwürgte die Gänse. Eine meiner Leidenschaften war's, im Pferdestall zu spielen; dort sielte ich mich auf der weichen, zarten Streu zwischen den Vorderhufen meiner Lieblingstiere umher, die mir nie etwas zuleide taten; oder ich kletterte auf die Krippe, wo ich stundenlang sitzen und meinen Freunden verliebt in die großen, braunen Augen blicken konnte.

Am besten aber gefiel's mir in der Hundehütte. – Dort fand man mich oft zur Mittagstunde eingeschlafen, und kein leichtes Stück war's, mich wieder herauszuschaffen, denn Nero, der sonst so gut und brav war, zeigte jedem die Zähne, der alsdann in den Bereich seiner Kette kam, selbst dem Hausherrn.

Auch auf das Pflanzenreich erstreckte sich meine zärtliche Neigung. Die Rosenstöcke schienen mir gefangene Prinzessinnen, um deren Los ich bittere Klage führte, die Sonnenblumen waren katholische Priester im Ornat, und die Georginen polnische Mägde in rotem Kopftuch. Die ganze Menschenwelt wußte ich so im Garten um mich zu versammeln und fand das Abbild schöner als das Original, denn es hielt fein stille, wenn ich Schicksal mit ihm spielte.

*

Das Gut, das mein Vater gepachtet hatte, der alte Lehnsitz eines polnischen Magnaten, lag dicht an der preußischen Grenze auf einem Berge, dessen eine Seite sich langsam in einem verwilderten Parke nach kahlen Feldern zu abdachte, während die andre steil zu einem Flüßchen hinuntersank, auf dessen jenseitigem Ufer ein schmutziges, polnisches Grenznest gelegen war.

Wenn man am Rande des Abhanges stand, schaute man hinunter auf die verfallenen Schindeldächer, zwischen deren Ritzen der Rauch hervorquoll, schaute mitten hinein in das elende Treiben der kotigen Gasse, wo die halbnackten Kinder in den Pfützen wühlten, wo die Frauen träge auf den Schwellen kauerten und die Männer in zerrissenem Wantrock mit dem Spaten auf der Schulter zur Schenke zogen.

Wahrhaftig, sie hatte wenig Anmutendes, diese Stadt, und das Gesindel der Grenzkosaken, das auf seinen katzenartigen Gäulen verschlafen hin und her trottete, erhöhte ihre Reize nicht. – Aber dennoch war sie für mein Kinderauge von einem unnennbaren Zauber umflossen, dessen Empfindung mich noch heute überkommt, wenn ich mir ausmale, wie ich gebannt von all' den merkwürdigen Gebilden stundenlang unbeweglich im Grase saß und auf das Gewimmel hinunterstarrte, dessen Figuren nicht größer waren als die Holzpuppen aus meiner Spielzeugschachtel.

Hinunterzugehen war mir verboten, und mich verlangte auch nicht danach, seitdem ich im Gewühle eines Wochenmarktes, zu dem der Vater mich mitgenommen hatte, zwischen zwei Rädern fast erdrückt worden wäre.

Schön war es nur, wenn man von oben her, hoch erhaben über Schmutz und Geschrei, herniederschauen konnte auf diese Ameisenwelt, die so winzig schien, daß man sie wie der liebe Herrgott mit einem Blicke zu beherrschen vermochte, die aber größer und größer wurde und zu unheimlichen Riesenformen anschwoll, je mehr man versuchte, in sie einzudringen.

*

Seltsamerweise habe ich gerade von den Gestalten, die mir mein Leben lang am nächsten standen, aus jener Zeit nur eine dunkle Erinnerung bewahrt. Wohl weil die späteren Eindrücke jene frühesten verwischten.

Mein Vater war ein kleiner, kräftiger Mann, von gedrungener Gestalt, mit kurzgeschorenem, schwarzem Bart und Haupthaar, angetan mit langen, blankgewichsten Stiefeln und einer graugrünen Flausjoppe, der mich anlachte, wenn er mich sah, mir einen freundschaftlichen Klaps auf den Nacken gab oder mich in den Arm kniff und dann wieder verschwunden war. Er hatte immer zu tun, der arme Papa; ich habe ihn, solange er lebte, nicht einen Augenblick ruhen sehen.

Mama war schon damals sehr korpulent, aß fortwährend Süßes und liebte den Nachmittagschlaf; aber auch sie war fleißig vom Morgen bis zum Abend, wenngleich sie sich nur widerwillig von Ort zu Ort schob und es nicht liebte, daß man sich an sie hängte und sie mit Fragen bestürmte.

Mit zur Familie gehörte damals auch der Vetter Robert, der von den preußischen Verwandten herübergeschickt worden war, um bei Papa die Wirtschaft zu erlernen, ein großer Junge, breitschultrig und ducknackig mit blonden Bartzotteln, an denen ich ihn zu zupfen pflegte, wenn er mich auf den Schoß nahm, um mir das ABC vermittels gekrümmter Lakritzenstengel einzutrichtern. Ich glaube, ich bin immer gut Freund mit ihm gewesen, obgleich er mir nicht näher gestanden haben muß als die übrigen Eleven, denn seine Gestalt aus jener Zeit ist mir genau so in Nebel zerflossen wie alle andern.

Nur einer Szene erinnere ich mich genau, wie er an einem Sommerabend Martha bei den blonden Zöpfen ergriffen hatte und lachend und schreiend hinter ihr durch Hof und Haus und Garten rannte.

»Was hast du mit Martha, du Schlingel?« rief Papa ihm entgegen.

»Sie hat mich geärgert,« antwortete er, ohne sie loszulassen, während sie fortwährend schrie.

»Als ich so alt war, wußt' ich besser, wie man sich an einem Mädel zu rächen hat,« sagte lachend Papa, der immer seine kleinen Scherze treiben mußte.

»Nun, wie?« fragte er.

»Ja, wenn du das nicht selber weißt!« erwiderte Papa.

»Man gibt ihr eben 'nen Kuß, Herr Robert,« sagte der alte Gärtner, der eben mit der Gießkanne vorbeiging.

Da seh' ich ihn noch vor Augen, wie er plötzlich blutübergossen dastand, die Zöpfe aus den Händen fahren ließ und nicht wußte, wo er die Blicke lassen sollte. Papa schüttelte sich vor Lachen, und Martha lief eilends von dannen. Als ich an ihrer Tür rüttelte, hatte sie sich eingeschlossen. Erst beim Abendbrottisch kam sie wieder zum Vorschein. Die Haare hingen ihr wirr über die Stirn, und verträumt und verschüchtert schaute sie darunter hervor.

Wenn ich heute das blasse, schmale Duldergesichtchen, das meine Seele ganz erfüllt, mit jenem roten, vollwangigen Schelmenanlitz vergleiche, wie es aus frühester Kinderzeit bisweilen zu mir herüberleuchtet, so fass' ich es kaum, daß beide einem und demselben Wesen zugehören sollen.

Und wie die langen, blonden Zöpfe ihr flatterten! Wie die Augen in frühreifer Hausfrauensorge über die lange Tafel glitten, wo wir alle mitsamt den Eleven und Inspektoren – eine ganze Galerie von hungrigen Mäulern – des Sattwerdens harrten. Und wie lustig jedermann zugriff, wenn sie mit ihrem überredenden Lächeln die Schüsseln herumreichte.

Jetzt erst versteh' ich, welch einen Leidensweg sie durchzumachen hatte, jetzt, da ich mich selber zu dem langen, trostlosen Gange rüste, an dessen Ende ein einsames Grab für mich gegraben ist, trauriger noch als das ihre.

Damals war ich ein Kind und schaute ahnungslos zu ihr empor, die meine Lehrerin wurde, als sie kaum selber den Kinderschuhen entwachsen war.

Es war das die Zeit, in der es mit unserer Wirtschaft bergab zu gehen begann. Papa hatte mit Schulden zu ringen, Mißwachs und Überschwemmung – drei Jahre nacheinander – vernichteten die Hoffnung auf Besserwerden, und höher und höher türmten sich die Sorgen um das Haus.

Im Haushalt wurde gespart, was irgend zu entbehren war, der Verkehr mit den benachbarten Gutsbesitzern wurde eingeschränkt, das Hauspersonal vermindert, selbst die alte Gouvernante, die Martha erzogen hatte und nun ihr Werk an mir vollenden sollte, mußte das Gut verlassen.

Martha, die sieben Jahre älter war als ich und sich gerade rüstete, in ihr erstes langes Kleid hineinzuwachsen, trat an ihre Stelle.

Auf diese Weise konnte ein rein schwesterliches Verhältnis zwischen uns sich nicht entwickeln. Sie war die Schützerin und ich der Pflegling, bis wir dann später die Rollen tauschten.

Ich mochte elf Jahre alt gewesen sein, als es mir zum erstenmal auffiel, daß Martha in Wesen und Aussehen sich seltsam verändert hatte. Wohl hätte ich es schon früher bemerken müssen, denn ich war gewohnt, mit offenen Augen um mich zu schauen, aber im schleichenden Gleichmaß der Tage übersieht man leicht, was Kummer und Zeit zerstörend um uns wirken.

Nun merkte ich auf und sah ihr Antlitz schmäler und schmäler werden, sah, daß die Farben sich mehr und mehr von ihren Wangen wischten und daß die Augen tiefer und tiefer in dunkle Höhlungen zurücktraten. Sie sang auch nicht mehr, und ihr Lachen hatte einen eigentümlich müden, heiseren Klang, der meinem Ohr wehe tat, so daß ich manchmal nahe daran war, ihr zuzurufen: »Lache nicht!«

Zu derselben Zeit begann sie zu kränkeln; sie klagte über Kopfweh und Magenkrämpfe und schleppte sich nur mühsam im Hause umher. Da mußten natürlich auch Mama und Papa auf ihren Zustand aufmerksam werden; sie packten sie in warme Tücher und fuhren trotz ihres Sträubens mit ihr nach Preußen zu einem Arzte. Der zuckte die Achseln und verschrieb Eisenpillen und riet Luftveränderung.

Auch etwas Andres muß er geraten haben, das die Eltern in große Unruhe versetzte, wenigstens Papa, denn Mama ließ sich schon lange nicht mehr aus ihrem Phlegma herausbringen. Wenn Martha mit ihren Schmerzen kämpfend die Lippen einbiß, sah er sie seufzend von der Seite an, schüttelte den Kopf und warf die Tür hinter sich ins Schloß.

Aber so viel sie auch leiden mochte, von ihrer Arbeit wich sie nicht. Soweit ich mich zurückerinnere, ich habe sie auch nicht eine Sekunde müßig gesehen. Schon als Kind stand sie mit dem Vokabelbuch am Herde oder gab auf die Waschküche acht, während sie den deutschen Aufsatz schrieb. Seitdem sie erwachsen war, vereinigte sie die Pflichten meines Unterrichts mit allen den Sorgen, die ein großes Hauswesen der Verwalterin auferlegt. Mama hatte sich ganz auf ihr Altenteil zurückgezogen und ließ sie schalten und walten nach Belieben, wenn nur die Kompotts und sonstige Leckereien ihre Zufriedenheit gewannen.

Ich, die ich vom ganzen Hause maßlos verwöhnt wurde, schämte mich meiner Untätigkeit und versuchte, einen Teil der Sorgen von Marthas Schultern zu nehmen, aber mit milder Abwehr wies sie mich zurück.

»Laß nur, Kind,« sagte sie, mir die Wangen streichelnd, »du bist ja nun einmal die Prinzessin im Hause; magst es auch bleiben.« Das kränkte mich. Alles konnte ich ertragen, nur nicht fortgewiesen zu werden, wenn ich mit übervollem Herzen zu geben kam.

Eines Abends sah ich sie weinen. Ich schlich mich in den Garten hinaus und kämpfte einen harten Kampf. Ich erstickte fast unter der Sehnsucht, zu helfen, aber an sie heranzutreten und die Arme tröstend um ihren Hals zu schlingen, das gewann ich nicht über mich. Als ich im Bette lag, überkam mich die Trostbegier mit neuer Gewalt. Ich stand auf und schlüpfte im Hemde, wie ich war, auf den dunklen Korridor hinaus.

Lange stand ich vor ihrer Tür, bebend vor Frost und vor Bangen, die Klinke in der Hand. Endlich ermannte ich mich und schlich mich leise herein.

Sie kniete vor ihrem Bette, den Kopf in die Kissen gedrückt. Sie schien zu beten.

Ich blieb an der Tür stehen, denn ich wagte nicht, sie zu stören.

Endlich wandte sie sich um und fuhr bei meinem Anblick zusammenzuckend in die Höhe.

»Was willst du?« stammelte sie.

Ich klammerte mich an sie, ich schluchzte, daß es einen Stein erbarmen mußte.

»Kind – um Gotteswillen – was ist dir?« rief sie.

Ich war nicht imstande, ein Wort über die Lippen zu bringen. Sie in ihrer mütterlichen Art ergriff ein großes, wollenes Tuch, wickelte mich hinein und zog mich auf ihren Schoß, wiewohl ich schon damals größer war als sie.

»Nun beichte, mein Herz – was fehlt dir?« fragte sie, mir die Wange streichelnd.

Ich nahm alle meine Kraft zusammen, und mein Gesicht an ihrem Halse verbergend schluchzte ich: »Martha – ich – will – dir helfen.«

Ein langes Schweigen entstand – und als ich mein Gesicht erhob, sah ich ein unsäglich bitteres, kummervolles Lächeln um ihre Mundwinkel spielen. Und dann nahm sie meinen Kopf zwischen ihre Hände, küßte mich auf die Stirn und sagte: »Komm, ich werde dich zu Bett bringen, Kind. Mir fehlt nichts, aber du, – du scheinst mir wie im Fieber zu sein.«

Ich sprang auf: »Pfui, das ist schlecht von dir, Martha,« rief ich, »so lass' ich mich nicht fortschicken. Ich bin nicht krank, und ich bin auch nicht so dumm, daß ich nicht sehen könnte, wie du dich zergrämst und täglich neuen Kummer in dich hineinschluckst. Hast du kein Vertrauen zu mir, so nehm' ich an, daß du nichts von mir wissen willst, und es ist aus zwischen uns.«

Sie faltete erstaunt die Hände und sah mich an. »Was ist in dich gefahren, Kind?« sagte sie. »So kenn' ich dich ja gar nicht.«

Ich kehrte mich ab und nagte trotzig meine Lippen.

»Komm, komm, ich bring' dich zu Bett,« mahnte sie wieder.

»Ich mag nicht – kann allein gehen,« sagte ich.

Da sah sie wohl ein, daß ein klärendes Wort dem Kinde gegönnt werden mußte.

»Sieh, Olga,« sagte sie, mich zu sich niederziehend, »du hast wohl Recht, ich habe manchen Kummer – und wenn du älter wärest und ihn verstehen könntest, so würdest du sicher die erste sein, der ich es anvertraute. Aber erst mußt auch du das Leben kennen lernen –«

»Was kennst du denn mehr vom Leben als ich?« rief ich immer noch trotzend.

Sie lächelte nur. Es gab mir einen Stich durchs Herz, dieses schmerzlich-selige Lächeln. Eine dumpfe, dämmerhafte Ahnung stieg in mir auf, wie man sie angesichts verschlossener Tempelpforten oder ferner palmenumrauschter Inseln wohl empfinden mag. Und Martha fuhr fort: »So lange aber – und das wird lange sein! – muß ich, was mich drückt, schon für mich allein tragen. Hab schönen Dank, Schwester, für deinen guten Willen, – ich würde dich noch einmal so lieb drum haben, wenn das möglich wäre, – und nun geh, schlaf dich aus, – wir haben morgen schwer zu lernen.«

Damit schob sie mich hinaus.

Wie eine Verstoßene stand ich draußen auf dem Flur und starrte die Tür an, die sich so hart hinter mir geschlossen hatte. Dann lehnte ich den Kopf gegen die Wand und weinte leise und bitterlich.

Martha war fortan doppelt gut und zärtlich zu mir, aber ich wollte es nicht sehen. Ich verschloß mich vor ihr, wie sie's vor mir getan hatte, und tiefer und tiefer grub sich das bittere Gefühl in meine Seele, daß die Welt meiner Liebe nicht bedurfte.

Es versteht sich von selbst, daß nicht dieses eine Vorkommnis es war, das bestimmend auf mein Gemüt einwirkte. Ein so junges Ding läßt sich zu rasch von der Flut der neuen Eindrücke davontragen, als daß ein paar solcher Minuten dauernd in ihm nachwirken könnten, und es währte in der Tat nicht lange, so hatte ich jenen Abend vergessen. Aber was ich nicht vergaß, war der Gedanke, daß niemand auf der Erde weile, der willens war, seine Leiden mit mir zu teilen, und daß ich auf mich und meine Bücher angewiesen sei, bis man mich einst für reif erklären würde, am Leben der Lebenden teilzunehmen.

Tiefer und tiefer grub ich mich in die Schätze der Dichter hinein, von denen keiner mich aus seinem Allerheiligsten zurückstieß.

Ich lernte mich mit Tasso elend und erhaben fühlen, ich wußte, was Manfred auf eisigen Alpenfirnen suchte, ich klagte mit Thekla um das irdische Glück, das ich genossen, um Leben und Liebe, die von mir ausgelebt und ausgeliebt worden. Vor allem aber war Iphigenie meine Heldin und mein Ideal.

Mit ihr nahm ich die ganze Poesie des Unverstandenseins in meine junge, einsame Seele auf. Wie sie, als segnende Priestern, in hehrer Wunschlosigkeit über die Erde zu wandeln, schien mir meines Lebens vorgezeichneter Beruf, und hätte ich zu dessen Erfüllung noch jene weißen griechischen Gewänder tragen dürfen, deren edler Faltenfluß zu meiner frühentwickelten Gestalt so prächtig passen mußte, meine Seligkeit wäre vollkommen gewesen.

Nach außen hin war ich in jenen Jahren ein störrisches, hochfahrendes Ding, das mit ungezogenen Antworten um sich warf und es liebte, mitten bei der Mahlzeit vom Tische aufzustehen, wenn irgend etwas ihm nicht paßte.

Trotz alledem – oder vielleicht eben deshalb – wurde ich von allen verhätschelt, und mein Wille, soweit eines Kindes Wille Geltung haben kann, wurde als maßgebend erachtet im ganzen Hause.

Mit fünfzehn Jahren war ich so groß und so stark wie heute, und schon fand sich hie und da ein galanter junger Landwirt, welcher mir sagte, ich sei viel, viel schöner als die andern alle und als Martha insbesondere.

Das empörte mich, denn meine Eitelkeit war noch nicht ausgereift.

Um jene Zeit träumte mir eines Nachts, Martha sei gestorben. Als ich erwachte, waren meine Kissen von Tränen wassernaß. Wie eine Verbrecherin schlich ich an diesem Tage um die Schwester herum. Mir war, als hätte ich eine schwere Schuld gegen sie auf dem Gewissen.

Nach dem Essen hatte sie sich ein wenig auf das Sofa geworfen, denn sie litt wieder einmal an ihrem Kopfweh; und als ich nun in die Stube trat und ihr wachs bleiches Gesichtchen mit geschlossenen Augen über die Sofalehne hängen sah, zuckte ich zusammen wie vom Blitze getroffen.

Mir war, als läge sie wirklich schon als Leiche vor mir.

Ich fiel vor dem Sofa nieder und bedeckte ihr Mund und Stirn mit Küssen. Ganz verklärt schlug sie die Augen auf und starrte mich an, als sähe sie eine Vision; erst mit dem wiederkehrenden Bewußtsein wurde ihr Antlitz ernst und traurig, wie zuvor.

»Nun, nun, Mädchen, was hast du?« sagte sie, »das ist doch sonst nicht deine Art!« Und sanft schob sie mich zurück, die ich wieder einmal mit meinem übervollen Herzen verlassen dastand; doch als ich hinausschlich, kam sie mir nach und flüsterte: »Ich hab' dich sehr lieb, mein Schwesterherz!«

Am Abend desselben Tages gewahrte ich, daß sie in einem fort in sich hineinlächelte. Auch Papa fiel das auf, weil es sonst gar niemals vorkam. Er nahm ihren Kopf zwischen seine beiden Hände und sagte: »Was ist mit dir vorgegangen, Margell? Du blühst ja heut wie eine Blume!« Da wurde sie purpurrot, ich aber ergriff unter dem Tisch heimlich ihre Hand und dachte mir: »Wir wissen schon, was uns so glücklich macht.«

Am folgenden Morgen trat Papa mit einem offenen Briefe in der Hand an den Kaffeetisch.

»Es kommt ein fremder Vogel zu uns ins Nest geflogen,« sagte er lachend, »ratet einmal, wie er heißt!« Und dabei sah er Martha ganz seltsam von der Seite an. Die schien mir noch um einen Schatten blässer geworden, und die Kaffeetasse, die sie in der Hand hielt, klirrte hörbar.

»War der Vogel schon einmal im Neste?« fragte sie langsam und leise und schlug die Augen nicht auf.

»Na, ob er war!« lachte Papa.

»Dann ist es – – – Robert Hellinger,« sagte sie und seufzte tief auf wie nach schwerer Arbeit.

»Alle Wetter, Mädel, kannst du raten!« sagte Papa und drohte ihr mit dem Finger.

Sie aber schwieg und ging mit langsamen, schleppenden Schritten zur Tür hinaus – kam auch an diesem Vormittag nicht wieder zum Vorschein.

Mich für mein Teil ließ der Besuch des Vetters ziemlich kühl. Sein Bild aus jenen Zeiten, wie es mir dunkel vorschwebte, war nicht derartig, daß ein romantischer Kopf von fünfzehn Jahren sich um seinetwillen mit sehnsüchtigen Träumen zu erfüllen Lust gehabt hätte.

Aber Marthas Gebaren war mir aufgefallen.

Am nächsten Tage in der Morgenfrühe hörte ich sie oben in den Fremdenzimmern mit großen Schritten auf und nieder gehen.

Ich folgte ihr, denn ich war neugierig zu erfahren, was sie sich in den sonst immer verschlossenen Räumen zu schaffen mache.

Sie hatte alle Fenster aufgerissen, die Bettbezüge abgenommen, die Gardinen losgelöst und rannte nun mit Holzpantoffeln mitten in dem Wirrwarr von einem Zimmer in das andre. Die Hände hielt sie vors Gesicht gepreßt und lachte dabei mit einem Lachen, das wie Weinen klang, in sich hinein.

Als ich sie fragte: »Was tust du da, Martha?«, zuckte sie zusammen, sah mich ganz wirr an und schien sich erst besinnen zu müssen, wo sie sich befand.

»Du siehst ja, – ich beziehe die Betten,« stammelte sie nach einer Weile.

»Für wen denn?« fragte ich.

»Weißt du denn nicht, daß wir Besuch bekommen?« antwortete sie.

»Du freust dich wohl furchtbar darüber?« fragte ich und zuckte ein wenig die Achseln.

»Warum soll ich mich nicht freuen?« erwiderte sie, »er ist ja unser Vetter.«

»Und sonst nichts?« fragte ich, mit dem Finger drohend, wie ich's gestern an Papa gesehen hatte.

Da wurde sie plötzlich sehr ernst und sah mir mit ihren großen, traurigen Augen so fremd und vorwurfsvoll ins Gesicht, daß ich fühlte, wie mir das Blut heiß in die Wangen schoß. Ich wandte mich ab, und da ich die Erhabene nicht länger spielen konnte, schlich ich zur Tür hinaus.

Von diesem Augenblick an gab mir der Vetter Robert viel zu denken. Es schien mir klar, daß die beiden sich liebten, und gepackt von dem geheimnisvollen Schauer, mit dem der Gedanke an das große Unbekannte Halbkinder meines Alters erfüllt, begann ich mir auszumalen, wie eine solche Liebe sich wohl gestaltet haben möchte. Ich lief durch die verwilderten Büsche des Parkes und sagte mir: »Hier sind sie heimlich gelustwandelt,« ich schlüpfte in die dämmrigen Lauben und sagte mir: »Hier haben sie im Mondschein sich Stelldichein gegeben,« ich sank auf die feuchte Rasenbank und sagte mir: »Hier haben sie mitsammen gekost.« – – –

Der ganze Garten, Haus und Hof und alles, was ich kannte von Anbeginn meines Lebens, erglänzte mir plötzlich in neuem Lichte. Wie ein Purpurschein lag es darüber gebreitet. – Ein wundersames Leben schien darin erwacht.

So sehr hatte ich mich in diese Phantasien vergraben, daß ich schließlich glaubte, ich selbst hätte diese Liebe durchlebt. Als ich Martha wiedersah, wagte ich nicht, den Blick zu ihr zu erheben, als berge ich das Geheimnis in meinem Busen und sie sei die, welche es nicht erraten dürfe.

Als ich mir aber am andern Morgen genau überlegte, daß Martha das alles leibhaftig erlebt haben sollte, was ich ja nur träumte, da ward mir ganz bange um sie, und aus einem dunklen Winkel heraus betrachtete ich sie unverwandt mit scheuen, prüfenden Blicken wie ein Wesen aus fremder Welt.

Ich gewahrte wohl, wie sie sich alle fünf Minuten draußen auf der Veranda zu schaffen machte, von wo aus man zum Hoftor hinüberschauen konnte, aber heute hütete ich mich, naseweise Fragen an sie zu richten. Wie eine Vertraute, eine Mitschuldige erschien ich mir jetzt.

Es war ein wunderschöner, klarer Septembertag. Über Flur und Wald hingen rötliche Schleier, Silberfäden wankten schweigend durch die Luft, der Fluß trug eine Decke von Dampf, und still war's weit und breit wie in der Kirche. Ich ging in den Wald, denn ich konnte an Einsamkeit nicht genug bekommen, um mich satt zu träumen. In dem Birkengezweig raschelten schon falbe Blätter, und das Farnkraut ließ die Arme hängen wie ein verwundetes Menschenkind, das sich noch mühsam aufrecht erhält.

Ich wurde sehr traurig. »Das wird nun ein großes Sterben werden,« sagte ich; »wer doch da mitsterben dürfte!«

Und dann fiel mir ein, was ich an Spott über die sentimentalen Herbstgefühle gehört und gelesen hatte. »Pfui, wie häßlich!« dachte ich. »Aber mich sollen sie nicht verspotten, ich werde mich schon zu verstecken wissen, mit dem, was ich fühle. Es geht keinen was an, was ich fühle. Und meinetwegen sollen sie mich für kalt und herzlos halten, wenn ich mir nur bewußt bin, daß dieses Herz heiß und liebeverlangend für die Menschheit schlägt.«

Ja, das war ein holder, ein törichter Tag – und ich würde mit Wollust, was mir vom Leben noch bleibt, dahinopfern, wenn er mir noch einmal geschenkt würde.

Und abends, – ich seh' es noch wie heute – die Fenster standen offen, die Ranken des wilden Weins schwankten leise im Windhauch, und aus der Ferne drang ein Stampfen von Rossen, ein Klirren von Lanzen und Säbeln an mein Ohr. – Sehen konnte ich nichts, denn die Finsternis verschlang alles, aber ich wußte, daß es eine Rotte Kosaken war, die den Grenzgraben abritt.

Und dann schloß ich die Augen und träumte, dort komme eine Ritterschar angesprengt – vorn ein Königssohn, blond und schön, auf milchweißem Zelter. Ich aber bin das Burgfräulein und sitze im Turmgemach des alten Schlosses, und der Ruf meiner Schönheit ist weithin gedrungen über alle Lande, so daß der Königssohn sich aufgemacht hat, umgeben von einer auserlesenen Schar von Reisigen, mich aufzusuchen und von dem alten Rittersmanne, meinem Vater, zum Weibe zu begehren.

Und dabei fiel mir Martha ein – und ob sie nicht als ältere den Vorrang habe. Aber die liebt ja ihren Robert, tröstete ich mich, die braucht keinen Prinzen.

Und dann malte ich mir aus, was ich den Meinen alles schenken würde, wenn ich den Thron bestiegen hätte: Martha ein wunderschönes Geschmeide, Papa einen eisernen Kasten voll Gold und Mama eine Schachtel mit Ananaskonfekt.

Das Lanzengeklirr erstarb in der Ferne – und mein Traum war aus.

*

Am andern Tage kam er.

Als der Wagen, der ihn brachte, zum Hoftor hereinrollte, stand Martha gerade am Herde. Ich lief zu ihr und flüsterte ihr strahlend ins Ohr: »Martha, ich glaub', er ist da.« Aber sie belehrte mich sofort, daß ich ihre Vertraute nicht war. Sie sah mich eine Weile starr an und fragte dann wie geistesabwesend: »Wen meinst du?«

»Wen sonst als den Vetter?«

»Warum sagst du mir das so leise?« fragte sie. Und als ich darauf die Achsel zucke, nahm sie den Schaumlöffel, den sie hatte sinken lassen, und rührte weiter.

»Ist das deine ganze Freude, Martha?« fragte ich zurück, indem ich verächtlich die Lippen schützte.

Sie aber schob mich mit der linken Hand beiseite und sagte heftiger, als es ihre Art war: »Kind, ich bitte dich, geh!«

Und so ist es gekommen, daß ich den Vetter Robert statt ihrer empfing.

Als ich auf die Veranda hinaustrat, stieg er gerade vom Wagen.

»Er sieht nicht viel besser aus als Papa,« das war mein erster Gedanke. Ein großer, riesenstarker Mann von breiter Brust und breiten Schultern, das Gesicht gebräunt, mit kleinen blauen Augen darin, und umrahmt von einem struppigen, blonden Barte, so einem Barte, wie die alten Landsknechte ihn trugen.

»Nur das Sturmband fehlt!« dachte ich bei mir.

Er kam die Stufen herangesprungen und lachte mich an. »Ei, guten Morgen, Martha!« rief er.

Und dann plötzlich stutzte er, maß mich von Kopf bis zu Fuße und blieb wie versteinert mitten auf der Treppe stehen.

»Martha heiß' ich nicht, aber Olga!« meinte ich ein wenig kleinlaut.

»Na, drum auch!« rief er sich schüttelnd, trat zu mir heran und bot mir eine rote, zerarbeitete Hand, die ganz mit Schwielen und Rissen bedeckt war.

»Welch ein ungeschliffener Mensch!« dachte ich in meinem Sinne. Und als wir ins Zimmer getreten waren, besah er mich wieder und sagte: »Du warst noch ein ganz kleines Ding, Olga, als ich hier wegging; nun kommt's mir wie ein Wunder vor, daß du der Martha so gleichen sollst!«

»Ich der Martha gleichen?« dachte ich; »wann hätte ich der Martha wohl geglichen?«

»Aber nein,« fuhr er fort, »so groß war sie nicht, und ihr Haar war heller, und sie stand auch nicht so stolz da und – und – machte nicht so ernste Augen.«

»Ach, du lieber Gott,« dachte ich, »sieh du nur erst in Marthas Augen hinein.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Küchentür ganz, ganz langsam, und durch den handbreiten Spalt drückte sie sich herein. Sie hatte die weiße Schürze nicht abgelegt. Ihr Gesicht war ebenso weiß wie diese Schürze, und ihre Lippen zitterten.

»Sei willkommen, Robert!« sagte sie leise hinter seinem Rücken, denn er hatte sich nach mir hingewandt.

Beim ersten Ton der Stimme drehte er sich blitzschnell um, und dann standen sie wohl eine Minute lang einander gegenüber, ohne sich zu rühren, ohne einen Laut von sich zu geben.

Ich bebte. Zwei Tage lang hatte ich auf diesen Moment gelauert, und nun blieb er so kläglich hinter meinen Erwartungen zurück.

Darauf näherten sie sich langsam einander und küßten sich. Auch dieser Kuß gefiel mir nicht. Mich hätte er nicht anders küssen können; »nur hat er's eben nicht getan,« fügte ich hinzu.

Und dann schwiegen sie wieder still. Mir klopfte das Herz so ungestüm, daß ich beide Hände auf den Busen pressen mußte.

Endlich sagte Martha: »Willst du nicht Platz nehmen, Robert?«

Er nickte und warf sich in eine Sofaecke, daß alle Fugen krachten. Und immer wieder sah er sie an, dann nach einer langen Weile meinte er: »Du hast dich sehr verändert, Martha!«

Mir war, als hätte er mir einen Backenstreich gegeben.

Ein unsäglich schmerzliches Lächeln spielte um Marthas Lippen.

»Ja, ich mag mich wohl verändert haben,« sagte sie dann.

Wiederum Schweigen. Es schien, als brauche er lange Zeit, bis er für einen Gedanken Worte fand.

»Warum hab' ich nie erfahren, daß du kränkelst?« begann er endlich von neuem.

»Das weiß ich nicht,« erwiderte sie mit einer bitteren Freundlichkeit.

»Konntest du es mir nicht schreiben?«

»Schreiben wir uns denn?« fragte sie zurück.

Er rückte ärgerlich am Tischfuße. »Aber wenn es einem nicht gut geht – so – so –«; er wußte nicht weiter.

Ich kniff die Fäuste zusammen. Ich hätte so gern statt seiner vollendet.

»Laß nur,« sagte Martha; »schließlich weiß man es selber am wenigsten, wenn's einem nicht gut geht.«

»Ich denke, man selber sollte es am ehesten wissen,« erwiderte er.

»Und wenn man es nicht für wert hält, darauf zu achten?« Diesmal sprach sie ohne Bitterkeit, bescheiden und still, wie sie immer gesprochen hat, und dennoch schnitt mir jedes Wort durch die Seele.

»Oh, Martha, warum hast du mich von dir gestoßen?« rief es in mir.

Und darauf brach sie in ein kurzes Lachen aus und fragte, wie's daheim ginge, und was Onkel und Tante machten.

»Zuerst möchte ich wissen, was mein Onkel und meine Tante machen,« sagte er und sah sich in den Winkeln um.

Ich war so froh, die beklommene Stimmung weichen zu sehen, daß ich bei seiner drolligen Suche in ein lautes Lachen ausbrach.

Beide maßen mich überrascht, als ob sie sich jetzt erst auf meine Gegenwart besännen.

»Und was sagst du zu unserem Kinde?« fragte Martha, mich mütterlich bei der Hand fassend, »gefällt es dir?«

»Jetzt schon besser,« sagte er, mich musternd, »vorhin war sie mir zu steif.«

»Ich konnte dir doch nicht gleich an den Hals fliegen,« erwiderte ich.

»Warum nicht?« fragte er schmunzelnd; »meinst du, es ist da nicht Platz für dich?«

»Nein,« sagte ich, damit er gleich wisse, wie man mich hier zu nehmen habe, »es ist da nicht der Platz für mich.«

Ganz verblüfft sah er mich an und meinte dann, den Kopf wiegend: »Donner ja, die Kleine ist schneidig.«

Ich wollte etwas erwidern, aber da trat Papa herein.

Bei Tisch ließ ich die beiden nicht aus den Augen, doch war nichts Verdächtiges an ihnen wahrzunehmen. Kaum daß ihre Blicke sich kreuzten.

»Nachher, wenn die Eltern schlafen,« dachte ich mir, »werden sie wohl zu entwischen suchen.« Aber ich irrte mich. Sie blieben ruhig im Wohnzimmer und machten nicht einmal Miene, mich zu entfernen. Er saß rauchend in einer Sofaecke, sie fünf Schritte entfernt, mit einem Stickzeug am Fenster.

»Vielleicht sind sie zu schüchtern,« dachte ich, »und warten, bis die Gelegenheit von selber kommt.« Ich merkte mir ein paar Zeichen und schlüpfte hinaus. Dann hockte ich mit pochendem Herzen eine halbe Stunde lang auf meinem Zimmer und zählte die Minuten, bis ich wiederkehren durfte.

»Jetzt wird er zu ihr treten,« sagte ich mir, »wird ihre Hände ergreifen und wird ihr lange ins Auge schauen. ›Liebst du mich noch?‹ wird er dann fragen, und sie, erglühend, mit tränenfeuchtem Blicke, wird ihm an die Brust sinken.«

Ich schloß die Augen und seufzte. In meinen Schläfen hämmerte es, ich fühlte mehr und mehr, wie meine Phantasien mich berauschten, und dann malte ich mir weiter aus, wie er vor ihr auf die Knie fallen und mit verzehrendem Blick glühende Schwüre der Liebe und Treue stammeln würde.

Ich wußte alles auswendig, was er ihr in diesem Augenblick sagte, und, was sie erwiderte, nicht minder. Ich hätte ihnen beiden soufflieren können.

Als die halbe Stunde vorüber war, ging ich mit mir zu Rate, ob ich ihnen noch ein paar Augenblicke gönnen solle. Ich war nun ihr Schicksal, und als solches schüttete ich lächelnd meine Gnade über sie.

»Mögen sie den Kelch der Wonne bis zur Neige leeren!« sagte ich und beschloß, noch einen Gang durch den Garten zu machen. Aber die Neugier überwältigte mich, so daß ich auf halbem Wege wieder umkehrte.

Leise schlich ich mich zur Tür, aber kaum fand ich den Mut, auf die Klinke zu drücken. Der Gedanke an das, was ich sehen würde, schnürte mir fast die Kehle zusammen.

Und was sah ich nun doch?

In seiner Sofaecke saß er nach wie vor und hatte seine Zigarre bis zu einem winzigen Stümpfchen heruntergeraucht; aber in ihrem Stickzeug fand sich eine Blume, die vorhin noch nicht dagewesen.

»Warum zuckst du so verächtlich die Achseln?« fragte Martha, und Robert fügte hinzu: »Mir scheint's, ich habe nicht des gnädigen Fräuleins Billigung.«

»Für all mein Wohlwollen also noch Hohn!« dachte ich und ging hinaus, die Tür heftig hinter mir ins Schloß werfend.

In selbiger Nacht habe ich törichtes Ding bis gegen Morgen wach gelegen und mir ausgemalt, wie ich, Olga Bremer, an Stelle der beiden gehandelt haben würde. Bald war ich Robert, bald Martha; ich fühlte, ich sprach, ich handelte für sie, und durch die Stille meiner Schlafkammer hallte das leidenschaftliche Geflüster heißer, weltverachtender Liebe.

Da mir die Sachen zu einfach lagen, dichtete ich eine Fülle von Schwierigkeiten hinzu, Weigerung der Eltern, nächtliche Zusammenkünfte am Grenzgraben, Überraschung durch die Kosaken, Gefangensetzung, väterlichen Fluch, Flucht und endlich gemeinsamen Tod in den Wellen; denn nur durch diesen schien eine wahre Liebe mir würdig besiegelt und abgeschlossen zu sein.

Als ich morgens aufstand, brauste mir der Kopf, und vor meinen Augen tanzten gelbe und grüne Sonnen.

Martha schlug um meines Aussehens willen die Hände zusammen, und Robert, der wieder einmal in einer Sofaecke saß und wieder einmal Rauchwolken um sich verbreitete, meinte: »Hast du die Nacht über geweint oder getanzt?«

»Getanzt,« erwiderte ich, »auf dem Brocken – mit andern Hexen.«

»Es ist doch aus der Kleinen kein vernünftiges Wort herauszukriegen,« sagte er kopfschüttelnd.

»Wie man in den Wald hineinruft –« erwiderte ich.

»Oh, ich bin ja schon mäuschenstill,« meinte er lachend, »sonst bekomm' ich zum frühen Morgen schon ein Gericht Schandfleck, wie ich's mein Lebtag nicht gegessen hab'.«

Martha sah mich vorwurfsvoll an, ich aber rannte in den Park hinaus, wo er am dunkelsten war, und verbarg mein brennendes Gesicht in dem kühlen Blätterschwall.

Das Weinen war mir nahe.

»Das also ist mein Schicksal,« klagte ich, »verkannt zu werden von aller Welt, einsam und verachtet dazustehen mit meinem liebeglühenden Herzen, ungesucht im Winkel zu verwelken, während alles ringsum sich aneinanderschließt und in heißem Kusse seine Sehnsucht stillt.«

Ja, so sehr hatte ich mich in Marthas Liebe hineingeträumt, daß ich schließlich mich für die Heldin gehalten. Da konnte die Ernüchterung freilich nicht ausbleiben.

Und wenn die beiden wenigstens im weiteren sich hätten angelegen sein lassen, dem Fluge meiner Phantasie zu folgen! Aber je länger Robert in unserem Hause weilte, je mehr ich Marthas Verkehr mit ihm beobachtete, desto mehr lernte ich einsehen, daß jedes Interesse an ihnen nutzlos verschwendet war.

Sie – eine nüchterne, schüchterne, von allen Fatalitäten des Alltagslebens abhängige Hausfrauenseele.

Er – ein schwerfälliger, dumpfer, jeder Leidenschaft unfähiger Wirtschaftsmensch.

In diesem Stile philosophierte ich, solange das bittere Gefühl, unbeachtet und überflüssig zu sein, meine Seele ganz erfüllte. Da kam ein Ereignis, das mich nicht allein versöhnlicher stimmte, sondern auch mein Urteil über den fremden Vetter in andre Bahnen lenkte.

*

Es war am vierten Tage seines Besuches, als er unversehens auf mich zutrat und zu mir sagte: »Kleine, ich habe eine Bitte an dich. Kommst du mit mir ausreiten?«

»Viel Ehre,« erwiderte ich.

»Nein, du mußt nicht wieder so anfangen,« sagte er, ärgerlich lachend. »Wollen einmal versuchen, für eine halbe Stunde gute Kameraden zu sein. Topp?«

Seine Treuherzigkeit gefiel mir. Ich schlug ein.

Als wir zum Hoftor hinausritten, stand Martha am Küchenfenster und winkte uns mit ihrer weißen Schürze.

»Siehst du, Martha,« dachte ich in meinem Sinn, »so würde ich mit ihm in die weite Welt hinausreiten, wenn ich seine Geliebte wäre.«

Ich hatte eben noch unklare Begriffe von dem, was eine »Geliebte« ist, und zögerte nicht, Martha diese Würde zuzusprechen.

»Er reitet gut,« dachte ich dann weiter, »mein Königssohn würde es nicht besser können.«

Und dann ertappte ich mich darauf, wie ich mich stolz und freudig im Sattel zurückwarf, beherrscht von einem ungewissen Wohlgefühle, das mir prickelnd durch alle Nerven ging.

Er sprach nichts, nur manchmal wandte er sich zur Seite und nickte mir freundschaftlich zu, als halte er es für gut, unseren Pakt alle fünf Minuten aufs neue sicherzustellen. Es war unnütze Sorge, denn nichts lag mir ferner, als ihn zu brechen.

Als wir eine halbe Stunde in scharfem Trab geritten waren, zügelte er seinen Braunen und sagte: »Nun, Kleine?«

»Was beliebt, Großer?«

»Wollen wir umkehren?«

»O nein.« Ich war durchaus nicht willens, das, was mich mit so großer Genugtuung erfüllte, leichten Spiels aus der Hand zu geben.

»Also zum Illowoer Walde,« sagte er, auf die bläuliche Mauer hinweisend, welche die Ferne des Horizonts begrenzte.

Ich nickte und gab meinem Tier die Peitsche, so daß es sich hoch aufbäumte und in wilden Sätzen weiterjagte.

»Für ein fünfzehnjähriges Fräulein alle Achtung,« hörte ich seine Stimme hinter mir.

»Bitte, sechzehn!« rief ich, mich halb nach ihm umwendend. »Übrigens, wirfst du mir noch einmal meine Jugend vor, so ist unsere Kameradschaft zu Ende.«

»Um Gottes willen!« lachte er, und dann ritten wir schweigend weiter.

Der Wald von Illowo wird von einem kleinen Flüßchen durchschnitten, dessen steile Ufer so dicht beieinander stehen, daß das Erlengezweig auf beiden Seiten sich ineinander verschlingt und über dem düsteren Wasserspiegel eine hochgewölbte grüne Halle bildet, die bei jeglicher Windung in einer dichten Blätterwand ihr Ende findet, um hinter ihr sich von neuem aufzubauen.

Dort unten, dicht am Rande des Wassers, kannte ich schon von Kindheit her manches verschwiegene Plätzchen, wo ich lesend oder vor mich hinträumend oft stundenlang gesessen hatte, derweilen mein Pferd friedlich oben im Walde weidete.

Als wir nun langsam zwischen den Stämmen daherritten, wandelte die Lust mich an, ihm eines meiner Heiligtümer zu zeigen.

»Ich will absteigen,« rief ich ihm zu, »hilf mir aus dem Sattel.«

Er sprang vom Pferde und tat, wie ich geheißen.

»Was hast du vor?« fragte er dann.

»Du wirst schon sehen,« sagte ich; »vorerst laß die Tiere laufen.«

»Das fehlte gerade,« lachte er, »du scheinst mir auch die Hasen zu greifen, wenn du ihnen Salz auf den Zagel streust.« Und er machte Miene, die Zügel an einen Stamm zu binden.

»Laß los,« befahl ich, und da er nicht gehorchte, gab ich den Tieren einen Peitschenhieb, so daß sie, ehe er daran gedacht hatte, die Zügel fester zu fassen, schon frei im Walde umhergaloppierten.

»Was nun?« sagte er und steckte die Hände in die Taschen; »meinst du, sie werden sich einfangen lassen?«

»Von dir nicht!« lachte ich, denn ich war meiner Lieblinge sicher.

Und als sie auf einen leisen Pfiff aus meinem Munde beide aus der Ferne herbeigestürmt kamen und mit den Nüstern zärtlich an meinem Halse herumschnoberten, eine Liebkosung erwartend, da schwellte sich mein Herz vor Stolz, daß es Geschöpfe auf Erden gab, wenn auch unvernünftige, die meiner Macht sich beugten und mir in Liebe untertan waren. Triumphierend schaute ich zu ihm auf, als müsse er nun wissen, wer ich sei und was ich von der Welt verlange.

Aber ich merkte wohl, daß ich ihm noch immer nicht imponierte. »Brav, Kleine!« sagte er, weiter nichts, klopfte mich väterlich auf die Schultern und warf sich dann nachlässig ins Gras. – Die Sonnenstrahlen, die durch die Zweige brachen, glitzerten in seinem Barte. Wie ein ruhender Recke erschien er mir, gleich denen, welche die Nordlandssagen schildern.

Doch als ich mich bei seinem Anschauen gerade in meine Romantik vertiefen wollte, fing er ganz fürchterlich zu gähnen an, so daß ich schnell und unsanft in die Prosa zurückfiel.

»Aber hier bleiben wir nicht, Herr Vetter!«

»Sei nicht töricht, Kleine,« sagte er, die Augen schließend, »mach wie ich, wir wollen schlafen.«

Da faßte mich ein fröhlicher Mut, daß ich zu ihm trat und ihn tüchtig am Kragen rüttelte.

Er griff nach meinem Kleide, aber ich wich ihm aus, so daß er auf die Beine sprang und mich erhaschen wollte.

Da ging ich ihm ruhig entgegen und sagte: »So, nun komm.« Und dann führte ich ihn mitten durch dichtes Dorngestrüpp den steilen Abhang hinunter, an dessen Fuße das tiefe Wasser wie ein schwarzer Spiegel ruhte. Dort unten hatten breitblättrige Winden und Schlingpflanzen über einem vorspringenden Steinblock eine natürliche Laube gebildet, in der man selbst am hellen Mittag wie im Dunkeln saß.

Dorthin führte ich ihn.

»Alle Wetter, hier ist's schön, Kleine,« sagte er und streckte sich behaglich auf dem Steine aus, so daß seine Füße zum Wasser niederhingen. »Komm, placier dich neben mich  ...wir haben beide Raum.«

Ich tat ihm den Willen, setzte mich aber so, daß ich auf ihn niederschauen konnte.

Er tat, als ob er schliefe, und blinzelte zuweilen aus halbgeschlossenen Lidern zu mir empor.

Da kam mir plötzlich der Gedanke: »Wenn du nun Martha wärest, was tätest du?« und darüber erschrak ich so sehr, daß mir das Blut ganz siedend heiß zum Gesicht emporschoß.

»Bist du schreckhaft, Kleine?« fragte er.

Ich schüttelte den Kopf.

»So komm her!«

»Ich bin ja bei dir.«

»Stell dich vor mich hin.«

Ich tat's. Meine Füße berührten fast den platten Rand des Steines.

Plötzlich richtete er sich auf, umfaßte blitzschnell meine Taille, und in demselben Augenblicke fühlte ich mich über denn Wasser frei in der Luft schweben.

Ich sah ihn an und lachte.

»Du, du,« sagte er, »die Sache ist durchaus nicht scherzhaft. Wenn ich dich fallen lasse –«

»Ertrink' ich – also laß mich fallen.«

»Nein, zuerst sollst du mir ein Geständnis machen.«

»Welches?«

»Warum du mich nicht leiden kannst.«

Ich atmete tief auf. Zu gleicher Zeit fühlte ich, daß meine Sohlen von der Oberfläche des Wassers schon benetzt wurden. Weiter durfte er mich nicht sinken lassen. Ein köstliches Gefühl der Ohnmacht überkam mich.

»Ich kann dich leiden,« sagte ich.

»Warum gibst du mir dann so häßliche Antworten?«

»Weil ich ein ungezogenes Ding bin.«

»Das läßt sich hören,« lachte er und hob mich mit raschem Schwunge empor wie eine Feder, so daß ich wieder auf den Stein zu stehen kam. »So, nun setz dich hin, wir wollen vernünftig reden.« Dann faßte er meine Hand und fuhr fort: »Sieh, ich bin ein einfacher Mensch, habe viel gearbeitet und wenig an meinen Witz gedacht. Du mit deinem raschen Köpfchen machst mich schon immer auf Anhieb tot; daher hab' ich geradezu Angst bekommen, mit dir zu reden. Ich weiß, du meinst es nicht böse, denn unser Blut hat nichts von Bösartigkeit an sich; aber immerhin, es schickt sich nicht. Ich bin fast zwölf Jahre älter als du, und du beinahe noch ein Kind. – Hab' ich Recht?«

»Du hast Recht,« sagte ich kleinlaut und wunderte mich im stillen, wo denn mein Trotz geblieben war.

»Warum also tatst du's?«

»Weil ich dir gefallen wollte,« sagte ich und atmete tief.

Er sah mir erstaunt in die Augen.

»Weil ich dir zeigen wollte, daß ich kein dummes Ding bin, daß ich den Kopf auf dem rechten Fleck habe, daß ich –« ich hielt inne und schämte mich.

Er kaute seinen Bart und schaute nachdenklich vor sich hin.

»Sieh, sieh,« sagte er, »da war ich ja auf dem besten Wege, dich von der falschen Seite zu fassen. Wie gut, daß ich der Martha Rat gefolgt bin!«

»Der Martha?« fuhr ich fort. »Was hat sie dir geraten?«

»,Nimm sie dir einmal beiseite,' hat sie gesagt, ›und sprich dich aus mit ihr. Wen sie nicht liebt, den haßt sie, und es täte mir weh, wenn sie dich nicht lieb gewänne.‹«

»Das hat sie gesagt?« fragte ich, und die Tränen traten mir in die Augen. »Oh, du gutes, du goldenes Schwesterherz!«

»Ja, das hat sie gesagt und noch viel mehr, um dein Wesen zu erklären und zu entschuldigen. Und weil ich Martha lieb habe – –«

»Hast du?« fiel ich ihm ins Wort, gierig, mehr zu erfahren.

»Ja – sehr lieb,« erwiderte er nachdenklich und schaute vor sich ins Wasser nieder.

Das Herz klopfte mir so heftig, daß ich kaum Atem zu holen vermochte. Also er, er zog mich ins Vertrauen, er machte eine Bundesgenossin aus mir. Ich hätte ihm auf der Stelle um den Hals fallen mögen, so dankbar fühlte ich mich ihm.

»Und weiß sie's denn?« forschte ich.

»Sie wird's wohl wissen,« meinte er, »so was verbirgt sich nicht –«

»Was? – Du hast's ihr also – nicht – gesagt?« stammelte ich.

Er schüttelte traurig den Kopf.

Ich war aus allen meinen Himmeln gefallen. Die Lauben unseres Gartens hatten also niemals zwei Verliebten Schutz gewährt, der Mond, der durch die Zweige leuchtete, war niemals Zeuge verschwiegener Küsse geworden. Und als eitel blauer Dunst erwiesen sich all' meine Phantasien. – Doch mitten in meiner Enttäuschung erfaßte mich ein tiefes Mitleiden mit diesem Riesen, der hilflos wie ein Knabe neben mir kauerte. »Wahrlich,« so schwur ich mir zu, »er soll sich nicht umsonst mir anvertraut haben!«

»Warum hast du denn geschwiegen?« forschte ich weiter.

Er schaute ein wenig mißtrauisch auf meine grüne Jugend hin und begann dann mit einem tiefen Atemholen: »Sieh mal, in jener Zeit, da war ich ein dummer Junge und fand zum Reden die Courage nicht. Man ist in seinen Flegeljahren schon so überselig, wenn man nur einen verstohlenen Händedruck erwischen kann, daß man glaubt, selbst die Ehe werde einem an Wonne nicht mehr zu bieten haben. Doch – das verstehst du wirklich nicht.«

»Wer weiß?« erwiderte ich in meiner Unschuld, »ich hab' schon viel davon gelesen.«

»Kurz und gut,« fuhr er fort, »damals war ich beinahe so dumm wie du augenblicklich. Und jetzt – sieh mal, wenn ich jetzt zu ihr rede, dann bindet mich jedes Wort mit eisernen Banden bis in alle Ewigkeit.«

»Und willst du dich nicht binden?« fragte ich verwundert.

»Ich darf nicht,« rief er, »ich darf nicht, ich weiß nicht, ob ich sie glücklich machen kann.«

»Ja freilich, wenn du das nicht weißt!« sagte ich, verächtlich die Lippen schürzend, und in meinem Herzen folgerte ich weiter: »Dann liebt er sie auch nicht.«

Er aber fuhr mit funkelnden Augen in die Höhe: »Versteh mich recht, Kleine,« rief er, »wenn's von mir abhinge, ich wollte mein Lebtag nichts weiter, als sie auf meinen Armen tragen, damit ihr Fuß an keinen Stein stoße. Aber – o dieses Elend – dieses Elend!« – Und er wühlte in seinen Haaren, daß mir ganz bange vor ihm ward. Niemals hätte ich's für möglich gehalten, daß dieser stille, bedächtige Mensch sich so leidenschaftlich gebärden könnte.

»Vertrau mir, Robert,« sagte ich, die Hand auf seine Achsel legend; »ich bin nur ein dummes Ding, aber es erleichtert dein Herz.«

»Ich kann nicht,« stöhnte er, »ich kann nicht!«

»Warum nicht?«

»Weil es kränkend wäre – auch für dich. Nur so viel will ich dir sagen: Martha ist ein zartes, weiches, rührsames Geschöpf; sie würde der Flut von Sorge und Mißgeschick, die dort über sie hereinbrechen muß, niemals standhalten können. Sie würde zusammenknicken wie ein schwächlicher Kornhalm beim ersten Anprall des Sturmes. Und was hab' ich dann von ihr, wenn ich sie ein paar Jahre nach der Hochzeit auf den Kirchhof tragen muß?«

Ein kalter Schauder überläuft mich, da ich bedenke, wie jenes ahnungsvolle Wort sich so furchtbar erfüllen mußte; doch in jenem Augenblicke warnte mich nichts, ich verspürte nur das dringende Verlangen, dieser mir viel zu prosaischen Liebschaft eine möglichst romantische Wendung zu geben. Leider war vorderhand nicht viel zu tun. Ich nahm also wenigstens eine altkluge Miene an und suchte in meinem Gedächtnis einige von den Phrasen zusammen, welche würdige Sibyllen und Beichtväter unglücklichen Liebesleuten als Wegzehrung mitzugeben pflegen.

Und er, dieses große Kind, sog die törichten Trostworte gierig wie ein Verdurstender in sich hinein.

»Aber wird sie auch Geduld haben?« fragte er und machte Miene, wieder aufs neue mutlos zu werden.

»Sie wird! Verlaß dich darauf,« rief ich voll Eifer; »hat sie so lange gewartet, wird sie noch ein oder zwei Jahre warten können. Du wirst sehen, wie gerne sie sich fügt.«

»Und wenn es auch später nichts würde?« warf er ein, »wenn ich ihre Hoffnung getäuscht, wenn ich ihr Herz am Narrenseil herumgeführt hätte? Nein, ich rede nicht! Man soll mir die Zunge aus dem Munde reißen. Ich rede nicht!«

»Wenn du nicht reden wolltest, warum bist du dann gekommen?« fragte ich. Weiß Gott, wie mir törichtem Mädel dieser zweischneidige Gedanke durch den Kopf gefahren war. Ich fühlte dunkel, daß ich eine Grausamkeit beging, als ich ihm Worte lieh, aber – nun war es zu spät.

Ich sah, wie sein Gesicht erblaßte, ich fühlte, wie sein Atem heiß und keuchend aufschwoll und sich mit einem Seufzer über mich ergoß.

»Ich bin ein ehrlicher Mensch, Olga,« murmelte er zwischen den Zähnen; »du mußt mich nicht quälen. – Aber da du gefragt hast, sollst du auch Antwort haben. Ich bin gekommen, weil ich das Leben nicht mehr ertragen konnte ohne sie, weil ich mir in ihrem Anblick Trost und Kraft holen wollte für künftige, traurige Zeit, und weil – weil ich im Innern immer die stille Hoffnung hegte, die Sachen möchten hier anders stehen und es würde angehen, daß sie mit mir käme.«

»Und es geht nicht an?«

»Nein! – Frage nicht, warum. Laß dir genug sein, wenn ich sage: nein.«

Dann plötzlich neigte er sich zu mir nieder, ergriff meine beiden Hände und sagte so recht aus tiefster Seele heraus: »Sieh, Olga, aus unserer Kameradschaft ist nun mehr geworden, als wir beide vor einer Stunde ahnen konnten. Wirst du nun auch treulich zu mir stehen und mir helfen, soviel in deinen Kräften steht?«

»Ich werde,« sagte ich, und mir wurde sehr feierlich dabei zumute.

»Ich weiß, du bist kein Kind mehr,« fuhr er fort, »du bist ein kluges und starkes Mädchen und weichst nicht von dem, was du dir vornimmst. Wirst du Wache halten über ihr, daß sie nicht verzagt, wenn ich jetzt auch schweigend wieder davongehe? Wirst du?«

»Ich werde!« wiederholte ich.

»Und wirst du mir bisweilen schreiben, wie's ihr geht? Ob sie sich wohl fühlt, ob sie guten Mut hat? Wirst du?«

»Ich werde,« sagte ich zum drittenmal.

»So komm, gib mir einen Kuß und laß uns gute Freunde sein, jetzt und immerdar.«

Und er küßte mich auf den Mund. – – –

Fünf Minuten später saßen wir auf den Pferden und ritten eilends dem Heimatshofe zu; denn es fing bereits an, dunkel zu werden.

»Ihr seid lange geblieben,« sagte Martha, die mit ihrer weißen Schürze in der Veranda stand und uns von weitem entgegenlächelte. Als ich sie sah, wurde mir zumute, als könnte ich nicht genug der Zärtlichkeit finden, sie über die Schwester auszugießen. Ich eilte auf sie zu und küßte sie stürmisch; doch schon in demselben Augenblicke tat's mir leid, denn mir war, als ob ich damit seinen Kuß von meinen Lippen wische.

Beklommen ließ ich von ihr ab und schlich davon.

Beim Abendtische hing ich immerfort an seinen Augen, denn ich glaubte, er müsse mir unser geheimes Einverständnis durch ein Zeichen zu erkennen geben. Aber er dachte nicht daran. Nur beim Gesegnete-Mahlzeit-sagen preßte er meine Hand in einer ganz eigentümlichen Art, wie er bisher noch nie getan hatte.

Ich freute mich, als ob ich ein großes Geschenk bekommen hatte.

An diesem Abend konnte ich die Zeit kaum erwarten, bis ich mich zu Bette gelegt und das Licht ausgelöscht haben würde; alsdann pflegte ich wohl eine Stunde lang träumend vor mich ins Dunkle zu starren. Ich hatte es in meiner Gewalt, zu wachen, solange ich wollte, und einzuschlafen, sobald es mir Zeit schien. Ich brauchte dann nur meine Nase in die Kissen zu stecken und war hinüber. Heute dehnte ich mich mit einem Wohlgefühle in den Betten, wie ich's noch nie im Leben gekannt hatte. Mir war, als hätten alle Wünsche meines Lebens sich erfüllt. Die Wangen brannten mir, und auf den Lippen ruhte noch fühlbar als ein leiser, prickelnder Hauch der Kuß, der erste Kuß, mit dem ein Mann – Papa natürlich zählte nicht – mich je geküßt hatte.

Und wenn er im Grunde genommen auch einer andern gegolten hatte, was tat das mir? Ich war ja noch so jung, für mich allein durfte ich auf so was noch keinen Anspruch machen.

Darauf verfiel ich aufs neue meinem Lieblingsgedanken, was ich wohl tun würde, wenn ich an Marthas Stelle wäre. So brauchte ich die Phantasien, die sich heute als eitel Hirngespinst erwiesen hatten, nicht zu zerreißen, sondern durfte sie in Ruhe weiterspinnen, und ich spann daran im Wachen wie im Träumen bis zum hellen Morgen.

Zwei Tage später fuhr er ab. Wenige Stunden, bevor er Abschied nahm, hatte er mit Martha im Garten eine lange Unterredung.

Ohne Neid sah ich sie beide verschwinden, und es gewährte mir ein unnennbares Vergnügen, an der Pforte Wache zu halten, damit keiner sie überrasche.

Als sie wieder zum Vorschein kamen, schwiegen sie beide und schauten dabei ernst und traurig vor sich nieder.

Nein, erklärt hatte er sich nicht, das sah ich auf den ersten Blick, aber von der Zukunft hatte er gesprochen und wohl manch ein Wörtlein bescheidener Hoffnung dazwischen gestreut.

Bevor er den Wagen bestieg, traf es sich, daß er für wenige Augenblicke mit mir allein blieb. Da nahm er mich bei der Hand und flüsterte mir zu: »Du verrätst kein Sterbenswort; ich kann mich drauf verlassen?«

Ich nickte eifrig.

»Und du schreibst mir bald?«

»Gewiß.«

»Wohin soll ich die Antwort schicken?«

Ich erschrak. Daran hatte ich nicht im entferntesten gedacht. Aber da der Augenblick drängte, nannte ich aufs Geratewohl den Namen eines alten Kämmerers, der mir stets vor allen andern zugetan gewesen war.

*

Die Zeit verging. In alter Weise wickelte ein Tag nach dem andern sich ab. Und doch wie neu, wie eigenartig hatte die Welt sich nun für mich gestaltet!

Ich brauchte die Liebe nicht mehr aus Büchern zu studieren und in die Ferne nach ihr auszuschauen; sie war leibhaftig in mein eigenes Dasein getreten. Rings um mich ließ sie ihre süßen Rätsel spielen, und ich – o Wonne! – ich spielte mit. Bis über den Kopf hin war ich in die Intrige verstrickt, die meiner Schwester Glück begründen sollte.

Es war wie ein Wunder anzuschauen, wie sie nach jenem Besuche Roberts wieder auflebte und aufs neue Kraft und Farbe und Gesundheit gewann. Wie ein stärkendes Bad hatten jene wenigen Tage des Zusammenlebens auf sie gewirkt, und mehr als das wohl der Wunderborn der Hoffnung, aus dem sie einen langen und verstohlenen Zug getan hatte.

Freilich, der sonnige Frohmut von damals kam ihr nicht wieder, der schien unwiederbringlich von jenen sieben Jahren des Harrens fortgerafft; kein Gesang, kein Lachen quoll mehr von ihren Lippen, aber über ihre Züge lag ein weicher, warmer Schimmer gebreitet, als ob von der Seele ein Leuchten ausginge, das sie verklärte. Auch schleppte sie sich nicht mit langen, müden Schritten im Hause umher, und wer sich ihr näherte, fand ein freundliches Lächeln.

Und da ihr Glück sich in Liebe ausströmen mußte, so schmiegte sie sich auch enger an mich und versuchte an meinem stillen und einsamen Denken Anteil zu gewinnen. Ich liebte sie um so inniger dafür, ich betete um so öfter Gottes Segen auf sie herab, aber mein Vertrauen gab ich ihr nicht.

Ehe sie mir nicht aus freien Stücken ihr Herz auftat, konnte ich und wollte ich ihr nicht gestehen, wie tief ich schon hineingeschaut hatte.

Manchmal ertappte ich mich, wie ich mit einem – wenn ich sagen darf – mütterlichen Gefühle zu ihr hinübersah, denn seit ich mit Robert in eifrigem Briefwechsel stand, bildete ich mir ja ein, daß ich es wäre, die ihr Glück in Händen hielte.

Meine Eitelkeit machte aus mir einen guten Genius in weißem Kleide, der einen Palmzweig trug und dessen Lächeln Segen spendete. Und währenddessen zählte ich die Tage, bis ein Brief von Robert kam, und rannte mit glühenden Backen umher, wenn ich ihn endlich auf dem Herzen trug.

Diese Briefe waren mir so sehr zur Notwendigkeit geworden, daß ich mir kaum vorstellen konnte, wie ich jemals ohne sie würde leben können. Unter dem Vorwande, von Martha zu erzählen, verstand ich gar fein, ihm die Sorgen aus dem Herzen zu plaudern – kindisch und töricht, wie die Männer es an uns lieben, damit sie sich uns überlegen fühlen können, auch ernst und altklug bisweilen, wie mir gerade ums Herz war. Er ließ sich mein Geschwätz in allen seinen Tonarten gern gefallen, wie man sich wohl das Piepsen eines Singvogels gefallen läßt, und mehr verlangte ich nicht. Ich war ihm ja so dankbar, daß er mich, den dummen Backfisch, der noch das Zimmer verlassen mußte, wenn die Erwachsenen ernste Sachen zu besprechen hatten, an seiner großen, ernsten Liebe Anteil nehmen ließ. – All meine Würde, all mein Selbstbewußtsein beruhte ja auf dieser Schützerrolle.

Und so erwuchs ich mit und an dieser Liebe, von der für mich nie und nimmer ein Brosamen vom Tische fallen durfte.

– – – – – – – – – – – – – – – – – –

Als der nächste Herbst herankam, bemerkte ich, daß Martha eine seltsame Unruhe an den Tag legte. Sie lief mit aufgeregten Schritten in ihrem Zimmer umher, lag halbe Nächte hindurch im offenen Fenster, sprach laut und bewegte die Arme, wenn sie sich allein glaubte, und erschrak heftig, wenn sie sich ertappt sah.

Ich berichtete Robert getreulich, was ich sah, und fügte die Frage hinzu, ob er vielleicht sein Kommen für diese Zeit in Aussicht gestellt habe, denn Marthas ganzer Zustand schien mir durch krankhaft überspannte Erwartung hervorgerufen.

Ich hatte Ursache, mit der Menschenkenntnis meiner siebzehn Jahre zufrieden zu sein; meine Beobachtungen stimmten.

Tief zerknirscht schrieb er mir, er habe allerdings beim Scheiden die Hoffnung ausgesprochen, im nächsten Herbst mit fröhlichem Gesicht wiederkehren zu können; aber er habe sich betrogen, er sitze tiefer in Sorgen und Schulden als je zuvor, er arbeite wie ein Knecht und sehe doch nirgends einen Hoffnungsschimmer.

»So erlöse sie von der Qual des Wartens,« schrieb ich ihm zurück, »und berichte den Eltern schonend, wie's um dich steht.«

Er tat's. Schon zwei Tage später brachte Papa verdrießlich den Brief getragen, den ich wegen meines kindlichen Unverstandes – nicht lesen durfte.

Auf Marthas Gemüt übte er eine Wirkung, die mich erschreckte und erschütterte. Wie mit einem Schlage weggewischt war die Erregung der letzten Wochen. An ihre Stelle trat wieder jene trostlose Erschlaffung, die sie in den Zeiten vor Roberts Kommen schon einmal in einen Schatten verwandelt hatte, wiederum magerte sie ab, wiederum zogen sich tiefe blaue Ränder um ihre Augen wiederum ging ein Duft von. Baldriantropfen aus ihrem Munde, während sie sich gar oft in Schmerzen wand. Neu hinzugekommen war die ewige Lust zum Weinen, die sich beim geringsten Anlaß in Tränenströmen Luft machte.

Diesmal ließ Papa keinen Arzt holen. Er konnte die Diagnose selber stellen. Auch Mama litt mit der Ärmsten, soweit ihr Phlegma es zuließ, und dieses ließ nicht zu, daß sie sich aus ihrem Ofenwinkel rührte, um der kranken Tochter Hilfe zu bringen.

Was mich betraf, so fand ich jetzt zum erstenmal Gelegenheit, den Meinen zu zeigen, daß ich kein Kind mehr war und daß mein Wille auch in ernsten Sachen Geltung beanspruchte.

Ich nahm die Last des Hauswesens auf meine Schultern, und wiewohl sie alle lächelten und widersprachen, wiewohl Martha mir ein Mal über das andre erklärte, sie werde es niemals dulden, daß ich, die Jüngere, sie verdränge, war ich in vierzehn Tagen doch so weit, daß die ganze Wirtschaft nach meiner Pfeife tanzte.

Jene Zeiten waren die einzigen, in denen Martha und ich jemals bös aneinander gerieten; aber allgemach mußte sie einsehen, daß, was ich tat, nur ihr zuliebe geschah, und schließlich war sie die erste, die mir Dank wußte. Auch sonst lernte sie sich mir in manchem fügen; doch suchte sie meinen Einfluß vor sich selber zu vertuschen, indem sie meinte, Kindern müsse man den Willen tun.

Im Verkehr mit Robert lernte ich jetzt zum erstenmal, daß man aus Liebe lügen könne. Ich verschwieg ihm die traurige Wirkung seines Briefes, ja, ich errötete nicht, als ich ihm schrieb, daß alles zum besten gehe. Ich handelte so, weil ich mit überlegte, daß die Wahrheit ihn in tausend neue Sorgen und Kümmernisse stürzen werde, die ihn gänzlich niederdrücken mußten, weil er zu helfen ohnmächtig war. Aber bitter schwer wurde es mir nun, den leichten Plauderton beizubehalten, und gar oft erstarrte ein Scherz mir in der Feder.

Und trüber und trüber wurde es ringsum. Papa ließ den Kopf hängen, weil Mißwachs seine besten Aussichten zerstört hatte, Mama murrte, weil niemand kam, sie zu zerstreuen, und Martha welkte mehr und mehr dahin.

Ein Weihnachtsfest kam heran, so düster, wie unser liebes Heim noch keines gesehen hatte.

Rings um den brennenden Weihnachtsbaum, den ich diesmal statt Marthas geputzt und angezündet hatte, standen wir und wußten nicht, was wir vor lauter Beklommenheit des Herzens zueinander reden sollten. Und weil's keiner tat, so mußte ich den Mund zum Lachen verziehen und die Falten von den Stirnen zu verscheuchen suchen. Doch ich fand gar wenig Anklang, und schließlich gaben wir uns die Hand zur »Guten Nacht«, um jeder auf sein Zimmer zu gehen, weil wir doch nichts miteinander anzufangen wußten.

Als ich zu Martha kam, die still in einem Winkel saß und den erlöschenden Kerzen nachstarrte, zuckte mir etwas schmerzhaft durch die Brust, als ob ich ein Unrecht an ihr beginge, das ich wieder gut zu machen hätte. Aber ich wußte nicht, welches dieses Unrecht sein könnte.

Sie küßte mich auf die Stirn und sagte: »Gott erhalte dir dein tapferes Herz, mein Kind; ich danke dir für jeden Scherz, den du dir heute abgezwungen hast.«

Ich aber wußte nichts zu erwidern, denn jenes Schuldbewußtsein, das sich nicht fassen ließ, nagte mir an der Seele.

Als ich in meinem Zimmer mit mir allein war, dachte ich in meinem Sinne: »So, nun wirst du Weihnacht feiern.« Ich nahm Roberts Briefe aus dem Schubfach, wo ich sie wohlverborgen hielt, und beschloß, daran zu lesen bis in die Nacht hinein.

Der Sturm rüttelte an den Fensterläden, Schneegewölk stäubte mit leisem Rascheln gegen die Scheiben, und über mir leuchtete friedlich die grünumschleierte Hängelampe.

Da, wie ich das Päcklein Briefe behaglich vor mir ausbreitete, hörte ich neben mir aus Marthas Schlafzimmer einen dumpfen Fall und darauf ein unbestimmtes Getön, das mir wie Beten und Schluchzen klang.

»So feiert sie Weihnacht,« sagte ich, unwillkürlich die Hände faltend, und wieder gab's mir einen Stich durch die Brust, als ob ich trügerisch und herzlos gegen die Schwester verführe.

Und ich grübelte aufs neue, bis ich mir klar geworden war, daß allein die Briefe Schuld daran trugen.

»Schreib' und schweig' ich nicht zu ihrem Besten?« fragte ich mich; aber mein Gewissen ließ sich nicht bestechen, es erwiderte: »Nein.« Wie Flammen schlug's mir ins Gesicht, denn ich erkannte, mit welcher Lust mein eigenes Herz an diesen Briefen hing.

Was gäbe sie wohl um eines dieser Blätter? dachte ich weiter, sie, die am Ende gar an seine Liebe nicht mehr glaubt, die mit den Ängsten ringt, daß er nur deshalb nicht gekommen sei, weil er sich von ihrem Herzen loszuringen gedenke.

»Und du hörst ihr Schluchzen?« sprach es ferner in mir, »du läßt sie in ihrer Qual und wärmst dich derweilen an dem Bewußtsein, mit ihm ein Geheimnis zu haben, mit ihm, der ihr allein gehört?«

Ich schlug die Hände vors Gesicht; so mächtig überwältigte mich die Scham, daß ich mich vor dem Lichte fürchtete, das auf mich niederschien.

»Gib ihr die Briefe!« rief es dann plötzlich, und es rief so laut und vernehmlich, daß ich glaubte, der Sturm habe mir die Worte ins Ohr geschrien.

Da kämpfte ich einen schweren Kampf; doch jedesmal, wenn mein guter Wille zurückwich, bedrängt von der Furcht, das Wort zu brechen, das ich ihm gegeben hatte, bedrängt von dem Wunsche, auch ferner mit ihm in geheimem Verkehr zu bleiben, dann tönte ihr Schluchzen und Beten lauter zu mir herein und wirbelte mir die Sinne durcheinander, so daß ich glaubte, ans Ende der Welt fliehen zu müssen, um es nicht mehr zu hören.

Und endlich war ich mit mir im reinen. Ich packte die Briefe fein säuberlich zu einem Häufchen zusammen, umwand sie mit seidenem Bande und machte mich daran, sie zu ihr hinüberzutragen.

»Das soll dein Weihnachtsgeschenk sein!« sagte ich, denn mir fiel ein, daß ich ihr diesmal nichts hatte sticken oder häkeln können, wie's sonst zwischen uns Sitte gewesen. Und weil der, welcher schenkt, seinem Beginnen gern ein Theatermäntelchen umhängt, um das übervolle Herz damit zu verhüllen, so beschloß ich, vorher noch ein wenig Komödie mit ihr zu spielen.

Ich schlich mich, halb angekleidet wie ich war, in die Wohnstube hinunter, wo unter dem Weihnachtsbaume unsere Geschenke lagen, tastete im Dunkeln nach ihrem Teller, suchte zusammen, was daneben lag, und legte obenauf das Päckchen der Briefe.

So beladen kam ich an ihre Tür und pochte.

Ich hörte ein Rascheln, wie wenn man sich vom Boden emporrafft, und nach einer langen Weile – sie mochte sich wohl erst die Augen getrocknet haben – klang ihre Stimme an der Tür, wer da sei und was man von ihr wolle.

»Ich bin's, Martha,« sagte ich, »ich bring' dir – deinen Teller – du hast ihn unten stehen lassen.«

»Nimm ihn mit dir aufs Zimmer, ich hol' ihn mir morgen,« erwiderte sie, bemüht, das Schluchzen in ihrer Stimme zu verbergen.

»Aber es ist noch etwas hinzugekommen,« sagte ich, und auch meine Worte erstickten die Tränen fast.

»So gib's mir morgen,« erwiderte sie, »ich bin schon ausgezogen.«

»Aber es ist von mir,« sagte ich.

Und weil sie trotz ihres Elends in der Güte ihres Herzens mich nicht kränken wollte, so öffnete sie mir.

Ich stürzte auf sie zu und weinte an ihrem Halse, während ich dabei den Teller krampfhaft in der Linken hielt.

»Was hast du nur, Kind?« fragte sie und streichelte mich. »Vorhin schienst du die einzig Lustige, und jetzt –«

Ich ermannte mich, führte sie unter das Licht und wies auf den Teller. Sie erkannte die Handschrift auf den ersten Blick, wurde weiß wie der Kalk an der Wand und starrte mich wie entgeistert aus ihren rotgeweinten Augen an.

»Nimm nur, nimm!« sagte ich.

Ihre Hand streckte sich aus, aber sie zuckte zurück, wie vor glühendem Eisen.

»Sieh, Martha!« sagte ich, mit dem Wunsche, mich für ihr Schweigen zu rächen und zu gleicher Zeit ein wenig groß zu tun, »du hast kein Vertrauen zu mir gehabt, du hast mich für zu kindisch gehalten, aber ich habe alles durchschaut, und während du dich grämtest, habe ich gehandelt.«

Noch immer starrte sie mich ohne Fassung und Verständnis an.

»Du glaubst, er kümmere sich nicht mehr um dich,« fuhr ich fort; »währenddessen habe ich ihm regelmäßig über dein Treiben und Befinden Rapport erstatten müssen. Jede Woche –«

Sie taumelte zurück, griff sich mit beiden Händen nach dem Kopfe, und dann plötzlich fuhr es wie ein Schauer durch ihren Körper, – sie trat vor mich hin, ergriff meine beiden Hände, und mit eigentümlich heiserer Stimme sagte sie: »Sieh mir ins Auge, Olga! Wer von euch beiden hat den ersten Brief geschrieben?«

»Ich,« sagte ich verwundert, denn ich wußte noch nicht, wo sie hinauswollte.

»Und du hast – du hast ihm verraten, wie's um mich steht? – Du hast – mich – angeboten – Olga?«

»Wie kommst du darauf?« sagte ich. »Er selbst hat mir alles gestanden, als er hier war. – Oh, er kannte mich besser als du,« fügte ich hinzu, da ich mir diesen kleinen Trumpf nicht entgehen lassen wollte, »er schämte sich nicht, mir zu vertrauen.«

»Gott sei Dank!« murmelte sie mit einem tiefen Seufzer und faltete die Hände.

»Aber nun komm, Martha,« sagte ich, sie zum Tische führend, »nun wollen wir Weihnacht feiern.«

Und dann lasen wir die Briefe zusammen, einen nach dem andern, und aus einem wie dem andern strahlte durch die schlichten, ungelenken Worte hell sein treues, goldenes Herz und gab einen warmen Schein, daß es uns leichter und fröhlicher wurde in unseren schwerbedrückten Seelen, daß wir lachten und weinten, eine an der andern Wange gelehnt, und uns die Hände schier zerpreßten, als wollten wir uns gegenseitig den Druck zu kosten geben, den seine warme, rote Faust zu spenden pflegte.

Und dann plötzlich – es war an einer Stelle, wo er so recht eindringlich auf mich einsprach, ja Sorge um sie zu tragen und sie zu hegen und zu hüten um seinetwillen, – da überwältigte sie das Glück, und – ich schäme mich es niederzuschreiben – sie fiel vor mir auf die Knie und drückte ihre Lippen auf meine Hand.

Aber wiewohl ich sehr erschrak, so fühlte ich doch nichts mehr von jenem Stechen und Nagen, in dem vorher unter dem Weihnachtsbaum meine Brust sich zusammengeschnürt hatte; ich wußte, meine Schuld war getilgt, und aus freiem, leichtem Herzen schwor ich mir, nun wahrhaft wie ein Schutzengel über der Schwester zu wachen, die um so viel schwächer und führungsbedürftiger war als ich, das dumme und unreife Kind.

Und sie fühlte dies auch; denn ohne zu widerstreben, gab sie, die mich bisher als Kind behandelt hatte, sich meiner Leitung hin.

Endlich hatte ich erreicht, was mein Herz begehrte. Ich besaß ein menschliches Wesen, das ich verwöhnen und verhätscheln konnte, ganz nach meinem Belieben, und all die Zärtlichkeit, die so lange untätig in meinem Inneren verschlossen gewesen, schüttete ich nun, da jede Schranke zwischen uns gefallen war, über die Schwester aus.

Vater und Mutter wunderten sich nicht wenig über die neuerwachte Innigkeit unseres Verhältnisses, das gerade in letzter Zeit viel zu wünschen übrig gelassen hatte, und selbst Martha konnte sich kaum daran gewöhnen. Sie betrachtete mich alle Tage mit neuer Verwunderung und sagte oft: »Wie hab' ich ahnen können, daß so viel Liebe in dir steckt!«

Und hätte sie erst gewußt, welches Opfer es mich gekostet hatte, mein Geheimnis daran zu geben, sie würde meine Liebe noch höher taxiert haben.

Ja, ich hatte es wohl geahnt: von dem Augenblick an, da Martha die Briefe in Händen gehalten, war das Glück des Einverständnisses mit Robert für mich dahin.

Wie ein Fremder stand er mir jetzt gegenüber. Wenn ich mich niedersetzte, ihm zu schreiben, erschien ich mir als eine bloße Maschine, die andrer Gedanken zu kopieren hat. Und oftmals gab ich einen Brief, sowie ich ihn aus des Kämmerers Händen erhalten hatte, ungelesen an Martha weiter.

Manchmal wurmte es mich, daß ich sein Vertrauen so arg mißbraucht hatte, denn er ahnte ja nichts von Marthas Mitwissenschaft; aber wenn ich sie ansah, ihr aufblühendes Lächeln, die stille, träumerische Glückseligkeit, die ihren Augen entstrahlte, so tröstete ich mein Gewissen, daß ich ein Unrecht unmöglich begangen haben könnte.

Bis jetzt war ich nur an ihm Verräter geworden, bald sollte ich auch Martha verraten haben.

Im Fluge vergingen Winter und Frühling, und es kam die Zeit, daß die Garben sich in den Scheuern zu häufen begannen.

Sobald die Ernte vorüber war, wollte er kommen; doch wäre bis dahin, schrieb er, noch manch schweres Stück zu überwinden.

*

Eines Tages erschien Papa mit scheinbar gleichgültiger Miene bei uns in der Küche, ging eine Weite schnuppernd zwischen den Kesseln umher und klatschte dabei mit der Reitpeitsche gegen die langen Schäfte seiner Wasserstiefel.

»Du bist ja heute Töpfchengucker geworden, Papa,« sagte ich.

Er lachte kurz auf und meinte: »Ja, ich bin Töpfchengucker geworden.« Und als er noch eine Weile wortlos hin und her gerannt war, blieb er plötzlich vor Martha stehen und sagte: »Wenn du gerade Zeit hättest, mein Kind, könntest du wohl für einen Augenblick in die Stube kommen. Mama und ich haben mit dir zu reden.«

»Ei, sieh, sieh,« sagte ich, »also darum die lange Vorbereitung. Kann ich auch dabei sein?«

»Nein,« erwiderte er, »du bleibst in der Küche.«

Martha warf mir einen langen Blick zu, band ihre Schürze ab und ging mit ihm nach dem Wohnzimmer.

Eine Weile blieb's drinnen stille – rings um mich zischte der Dampf und brodelten die Töpfe, auch machte eine Magd mit Messerscheuern großes Geräusch, aber all den Lärm durchdrang plötzlich ein kurzer, gellender Schrei, der nur aus Marthas Munde kommen konnte.

Zitternd horchte ich auf, und in demselben Augenblick kam Papa mit dem Rufe: »Wasser!« in die Küche gestürzt.

Ich eilte an ihm vorüber und fand die Schwester, mit dem Kopfe in Mamas Schoß, ohnmächtig auf dem Boden liegen.

»Was habt ihr mit Martha gemacht?« schrie ich, mich neben ihr auf die Knie werfend.

Niemand antwortete mir. Mama, ratlos wie ein Kind, rang die Hände, und Papa kaute seinen Schnurrbart, die Tränen zu verbeißen, wie es schien.

Da, wie ich mich zu der Ärmsten niederbeugte, sah ich einen blaugesprenkelten Briefbogen neben ihr auf der Erde liegen, den ich schleunigst und ohne daß jemand es merkte, an mich nahm.

Rasch tat ich dann, was das Dringendste war: ich rief die Schwester ins Bewußtsein zurück und geleitete sie, während sie mit stieren Augen um sich schaute, zu ihrem Zimmer hinauf.

Dort legte ich sie über ihr Bett. Sie starrte zur Decke empor und verlangte von Zeit zu Zeit zu trinken. Ihr Geist schien noch gar nicht wieder erwacht zu sein.

Ich aber zog heimlich den Brief aus der Tasche und las, was ich hier wörtlich wiedergebe; denn ich habe dieses Denkmal der Mutter- und Schwesterliebe sorglich aufbewahrt:

Mein geliebter Bruder! Vielteure Schwägerin!

Eine für mich sehr traurige Veranlassung zwingt mich, heute an Euch zu schreiben. Ihr seid, das weiß ich wohl, davon überzeugt, wie sehr ich Euch liebe und wie sehr mein Herz danach verlangt, mit Euch und Euren Kindern in der denkbar innigsten Verbindung zu stehen. Ich habe Euch, so lange ich lebe, nur Gutes und Liebes erwiesen und das gleiche von Euch empfangen. In dieser Liebe richte ich nun heute eine Bitte an Euch, die das angstgequälte Mutterherz mir eingibt.

Heute ist mein Sohn Robert zu uns gekommen und hat mir und meinem Manne erklärt, daß er willens sei, bei Euch um die Hand Eurer Tochter Martha anzuhalten, und zu gleicher Zeit um unsere Einwilligung gebeten, deren er sowohl als guter Sohn wie als guter Wirtschafter nicht entraten kann, weil er leidet noch vielfach auf unsere Hilfe angewiesen ist.

Ich wäre ihm, hätte ich dem Zuge meines Herzens folgen können, mit Freudentränen um den Hals gestürzt, aber leider mußte ich für Gatten und Sohn – die beide Kinder sind – den Kopf oben behalten und war gezwungen, ihm zu sagen, daß hieraus durchaus nichts werden könne.

Mein lieber Bruder, ich will Dir keine Vorwürfe machen, daß Du das Deinige im Laufe der Jahre nicht hast beieinanderhalten können. Fern sei es von mir, mich in Sachen zu mischen, die mich nichts angehen; aber wie diese Sachen nun einmal stehen, ist Euer Gut mit Schulden belastet und Eure Töchter haben außer einer – wie ich gern glaube – reichlichen Aussteuer keinen Heller Mitgift zu erwarten.

Anderseits aber ist das Gut meines Sohnes Robert gleichfalls so sehr verschuldet durch die Auszahlungen, die er uns und seinen Geschwistern hat leisten müssen, und die Hypotheken, die wir noch darauf stehen haben und von deren Zinsen wir und unsere übrigen Kinder leben müssen, daß die Verbindung mit einem armen Mädchen ihm geradezu zum Verderben gereichen müßte.

Ich sehe davon ab, daß Eure Tochter Martha ein schwächliches und kränkliches Wesen sein soll, wie ich aus Euren Briefen ersehe, und mir darum durchaus untauglich erscheint, die Sorgen dieser großen Wirtschaft freudigen Mutes auf sich zu nehmen und meinen Sohn Robert glücklich zu machen; der Gedanke, daß sie mit leeren Händen in sein Haus gezogen kommen würde, ist schon allein ausschlaggebend für mich und genügt mir zu der Überzeugung, daß sie unglücklich werden und ihn unglücklich machen muß.

Wenn Eure Tochter Martha meinen Sohn Robert wahrhaft liebt, so wird es ihr nicht schwer werden, im Interesse seines Glückes einer Verbindung mit ihm zu entsagen, für den Fall nämlich, daß er den Mut besitzen sollte, trotz des Verbotes seiner Eltern um sie anzuhalten, obwohl ich einen solchen kindlichen Ungehorsam nicht von ihm erwarte und überhaupt nicht fassen kann.

Von Eurer brüderlichen und schwesterlichen Liebe, meine teuren Verwandten, bin ich überzeugt, daß Ihr gemeinsam mit mir dieser schädlichen und unnatürlichen Verbindung für jetzt und immerdar Eure Einwilligung versagen werdet.

In treuer Liebe
Eure

Johanna Hellinger.

PS. Wie ist die Ernte bei Euch ausgefallen? Winterroggen ist bei uns gut, aber die Kartoffeln kranken sehr.

*

Die Wut über dieses gemeine und gleisnerische Geschreibsel packte mich so, daß ich laut auflachend den Bogen zwischen meinen Füßen zerknitterte.

Erst Marthas leises Stöhnen, der mein Gelächter wehe getan haben mochte, brachte mich wieder zur Besinnung.

Da lag sie nun, hilflos hingestreckt, wie zerschmettert von dem Schlage, der ihre Kraft zu erhöhtem Widerstande hätte stählen müssen. Und wie ich auf sie niedeschaute, gequält von dem Bewußtsein, zu tatenlosem Zuschauen verdammt zu sein, da rang sich aus meiner Seele wieder einmal jener Seufzer aus vergangener Zeit: »Oh, wärest du – sie.« Aber, welch neuen Inhalt barg er nun! Was damals Torheit und Kinderei gewesen war, hatte sich in Ernst und Opfermut und Kraftbewußtsein verwandelt.

Und ich beschloß zu handeln, solange es noch irgend Zeit war. Zuerst wollte ich vor die Eltern treten, wollte ihnen sagen, was ich getan, und daß ich schon lange in alles eingeweiht gewesen, um dann zum Schlusse von ihnen zu fordern, daß mir endlich die Stellung im Rate der Familie angewiesen werde, die mir trotz meiner Jugend gebühre.

Aber ich verwarf diesen Gedanken aufs neue. Sobald ich mich an den Beschlüssen der Meinigen beteiligte, war es meine Pflicht, dem nicht zuwider zu handeln, was sie für gut befanden, und nur wenn ich scheinbar den Kopf in den Sand steckte, konnte ich nach eigenem Plane und eigenem Ermessen zum Heile der armen Schwester tätig sein.

Ich sah sehr bald, wie die Sachen standen. Ein jeder hatte dem Briefe entnommen, was seiner Natur am nächsten lag.

Papa, ganz durchdrungen von dem Stolze des armen Mannes, hätte es fortan für eine Schande gehalten, sein Kind in eine Familie hineinzugeben, wo es mit scheelen Augen angesehen wurde. Mama wiederum hatte sich von den eingestreuten Liebesbezeugungen rühren lassen und fand, daß das Vertrauen der Schwägerin nicht getäuscht werden dürfe.

Und die Schwester?

In derselben Nacht, als ich an ihrem Bette wachte, fühlte ich, wie ihre heiße Hand sich auf die meinige legte und wie sie mit ihrem schwachen Arm mich leise an sich heranzog.

»Ich habe mit dir zu reden, Olga,« flüsterte sie und sah dabei mit ihren traurigen Augen noch immer zur Decke empor.

»Wollen wir's nicht bis morgen lassen?« mahnte ich.

»Nein,« sagte sie, »sonst geschieht inzwischen, was nicht geschehen darf. – Von jetzt an ist es aus zwischen ihm und mir.«

»Da kennst du ihn schlecht,« sagte ich.

»Aber mich kenn' ich,« sagte sie; »ich brech' es ab.«

»Martha!« rief ich entsetzt.

»Ich weiß wohl,« sagte sie, »ich werde daran sterben, aber was tut's? An mir ist nicht viel gelegen. Es ist besser so, als daß ich ihn unglücklich mache.«

»Du redst im Fieber, Martha,« rief ich, »denn für so dumm halt' ich dich doch nicht, daß du dich von dem Wisch der alten Hexe ködern lassen solltest.«

»Ich fühl's nur zu sehr, daß sie die Wahrheit spricht,« sagte sie. Ein kalter Schauer durchlief mich, als ich hörte, wie sie diese trost- und hoffnungslosen Worte ganz ruhig und gelassen vor sich hin sprach, als wär's ein Exempel aus dem Einmaleins. »Red mir nicht dawider,« fuhr sie fort, »nicht seit heute weiß ich das, – ich hab' etwas Ähnliches schon immer gefühlt, und von Rechts wegen hätt' ich auch heute nicht zu erschrecken brauchen; aber es nimmt einen doch mit, wenn man so plötzlich schwarz auf weiß als Verdammungsurteil vor sich sieht, was man bis dahin kaum einmal gewagt hat seinem eigenen Gewissen zu gestehen.«

So beredt ich irgend konnte, sprach ich auf sie ein, ich warf die Tante in den schwärzesten Abgrund der Hölle und bewies ihr haarklein, daß sie dazu geboren sei, der gute Engel in Roberts Hause zu werden. Aber es half nichts, ihr Glaube an sich selbst war nicht wieder zu beleben; zu schwer hatte der Schlag sie getroffen.

Und schließlich stellte sie an mich das Verlangen, ihm keinen Brief mehr zu schreiben und für alle Zeit den Verkehr mit ihm abzubrechen.

Ich erschrak in tiefster Seele, um meinethalb vielleicht nicht weniger als um ihretwillen, ich weigerte mich auch mit aller Energie; aber sie bestand auf ihrem Willen, und da sie sogar drohte, den Briefwechsel den Eltern zu verraten, so mußte ich schließlich einwilligen, ob ich wollte oder nicht.

*

Trübe Tage kamen. Martha schlich umher gleich einem Gespenste. Papa ritt wie ein Wilder durch die Waldungen, blieb bei Tische aus und gab keinem von uns ein gutes Wort. Mama, die, gute, dicke Mama, saß strickend in ihrem Winkel und wischte sich von Zeit zu Zeit die Tränen aus den Augen, wobei sie ängstlich um sich schaute, ob es auch niemand bemerke. – Ja, es war eine traurige Zelt!

Zwei dringende Briefe von Robert waren angekommen. Er sei in schwerer Sorge, ich möchte umgehend Nachricht senden. Ich sagte Martha nichts davon, aber ich hielt mein Versprechen.

Acht Tage waren vergangen, da bemerkte ich, daß die Eltern über die Antwort berieten, die sie der Tante senden wollten. Papa hatte die Absicht, um jeden Verdacht einer Heiratserschleichung von der Schwelle zu weisen, sich durch ein Versprechen endgültig zu binden, und Mama sagte »ja«, wie sie zu allem ja sagte, was nicht Gelee und Konfekte betraf.

An demselben Tage erklärte sich Martha außerstande, das Bett zu verlassen. Sie habe keine Schmerzen, aber die Glieder wollten sie nicht tragen.

So sah ich das Unheil dunkler und dunkler heraufziehen. Ich durfte nicht länger zögern.

»Komm! Löse dein Wort ein, eh's zu spät ist.« Diese Worte schrieb ich an ihn. Und um ganz sicher zu gehen, lief ich selber zur Stadt hinunter und übergab den Brief dem Postillon, der sich soeben zur Abfahrt nach Preußen rüstete.

In dem Augenblicke, als das Kuvert meinen Händen entwich, gab's mir einen Stich durchs Herz, als hätte ich damit meine Seele fremden Gewalten überantwortet.

Dreimal wollte ich umkehren, den Brief zurückzufordern, aber als ich Ernst machte, war der Postillon bereits in weiter Ferne.

Und als ich die Anhöhe hinanklomm, die zum Schlosse führt, verbarg ich mich im Gebüsch und weinte bitterlich.

Von derselben Stunde an bemächtigte sich eine Unruhe meiner, wie ich sie noch nie im Leben verspürt hatte. Mir war, als brenne das Fieber mir im Gebein. Ruhelos lief ich die Nächte hindurch in meinem Zimmer umher, tagsüber stand ich auf dem Ausguck, und jeder heranrollende Wagen trieb mir das Blut zum Herzen zurück.

Den Meinen gab ich verkehrte Antworten, und die Mägde in der Küche fingen an, bedenklich die Köpfe zu schütteln. Eine Braut, die ihren Bräutigam erwartet, kann sich nicht närrischer gebärden.

Dieses Treiben dauerte vier Tage lang, und ein Glück war's, daß jeder der Meinen so ganz mit sich selber beschäftigt war, sonst hätten Verdacht und Examen nicht ausbleiben können.

Diesmal empfing ich ihn nicht. Als ich seine Gestalt auf dem fremden vierspännigen Wagen erkannte, der kotbespritzt zum Hoftor hereinbrauste, da lief ich zur Bodenkammer hinauf und verbarg mich im hintersten Winkel. Vor meinen Augen tanzte ein Reigen von blutroten Wolken.

Ich hörte unten Türen auf und zu schlagen, hörte eilende Schritte die Treppen auf und nieder poltern, hörte von den Stimmen der Mägde meinen Namen rufen – ich rührte mich nicht.

Und als es still geworden war, schlich ich mich auf der dunklen Hintertreppe vorsichtig zum Parke hinunter, in dessen wildester Wildnis ich mich niederkauerte. Ein seltsames Gefühl von Bitterkeit und Scham wühlte in meinem Innern. Mir war, als müßte ich mich auf und davon machen, nur um jenem Augenpaar nicht mehr zu begegnen, dem ich doch so sehnsüchtig entgegengeharrt hatte.

Und dann malte ich mir aus, was in diesen Augenblicken im Hause drinnen wohl vor sich ging. Papa wird ein wenig ratlos gewesen sein bei seinem Anblick, denn der böse Brief lag ihm sicherlich noch in den Gliedern; er wird sich auch ein wenig gesperrt haben, wie er ihn seine Werbung vorbringen hörte; aber da ist Martha erschienen – wie schnell wird sie zu Kräften gekommen sein, die arme Kranke, die noch vor wenigen Minuten todmüde auf dem Sofa gelegen hat! Wie schnell wird sie alles vergessen, was die Jahre an Kummer und Gram ihr gebracht haben! – Und jetzt werden sie sich in den Armen liegen und meiner nicht gedenken.

Und dann plötzlich erwachte ein düsterer Trotz in mir. »Warum verkriechst du dich?« rief eine Stimme mir zu. »Hast du deine Schuldigkeit nicht getan? Ist nicht alles dein Werk?«

Mit jähem Ruck richtete ich mich auf, strich mir die wirren Haare aus der Stirn, und festen Schrittes, mit zusammengebissenen Zähnen, ging ich dem Hause zu.

Kein Jubel schallte mir entgegen. Alles war still – wie ausgestorben alles.

In der Eßstube fand ich Mama allein. Sie hatte die Hände gefaltet und stieß schwere Seufzer aus, während ihr dicke Tränen bis auf das weiße Doppelkinn herniederrollten.

»Das macht die Rührung,« dachte ich bei mir und setzte mich ihr gegenüber.

»Wo steckst du nur, Olga?« sagte sie, diesmal ganz gemächlich ihre Augen trocknend. »Du mußt ein paar junge Hühner zum Abendbrot schlachten lassen, auch der gute Mosel muß kalt gestellt werden. Der Vetter Robert ist gekommen.«

»Ach,« sagte ich sehr gelassen, »wo ist er denn?«

»Er spricht mit Papa in dessen Kabinett.«

»Und wo ist Martha?« fragte ich lächelnd.

Sie warf mir einen mißbilligenden Blick zu ob meiner Superklugheit und sagte dann: »Sie ist auch drin.«

»Da kann ich ja gleich gratulieren gehen,« meinte ich.

»Naseweises Ding,« sagte sie. Aber ehe ich meinen Entschluß ausführen konnte, öffnete sich die Tür des Nebenzimmers, und herein trat langsam, so langsam, als käme er von einem Sarge, Robert, Vetter Robert mit aschfahlem Gesicht und hellen Schweißtropfen auf der Stirn. Ich fühlte, wie bei seinem Anblick auch mir das Blut aus dem Gesichte wich. Eine unheilvolle Ahnung stieg in mir auf.

»Wo ist Martha?« rief ich, auf ihn zueilend.

»Ich weiß nicht.« Er sprach, als wollte er an jedem Wort ersticken. Nicht einmal die Hand reichte er mir.

Und dann kam auch Papa hinter ihm drein. Mama war aufgestanden, und alle drei standen da und schüttelten sich schweigend die Hände wie bei einem Begräbnis.

»Wo ist Martha?« rief ich noch einmal.

»Geh nach ihr sehen,« sagte Papa; »sie wird dich brauchen.« Ich stürmte hinaus, die Treppe hinan nach ihrem Zimmer. Es war verschlossen.

»Martha, mach auf! Ich bin's.« Nichts rührte sich.

Ich bat, ich bettelte, ich versprach, alles wieder gut zu machen, ich überschüttete sie mit Kosenamen – auch das blieb vergebens. Nichts ließ sich hören, als von Zeit zu Zeit ein Atemzug, der wie ein Keuchen aus halberstickter Kehle klang.

Da packte mich ein Zorn, daß man mich überall zurückstieß.

»Die Begräbnismahlzeit zu bereiten, werd' ich wohl gut genug sein,« sagte ich auflachend, lief zu den Mägden und ließ sechs Küchlein schlachten, stand auch ruhig dabei, während das Blut den armen kleinen Geschöpfen aus der Gurgel spritzte.

Das eine, ein junges Hähnchen, schlug ganz erbärmlich mit den Flügeln und krähte vor lauter Todesangst, indem es der Magd die Sporen gegen die Finger stieß.

»Selbst so ein armes, schwaches Tier wehrt sich, wenn man es morden will,« dachte ich bei mir, »aber mein Fräulein Schwester küßt in Demut die Hand, die das Messer gegen sie führt.«

Der Tod dieser unschuldigen Wesen war beinahe noch lustig zu nennen im Vergleich zu dem Zweck, dem er diente. Kein Henkersmahl kann kläglicher verlaufen. Alle fünf Minuten fing einer plötzlich zu reden an und redete alsdann, wie wenn er bezahlt bekäme. Die andern nickten verständnisvoll, aber ich sah es wohl: wer da hörte, wußte nicht, was er hörte, und wer sprach, wußte nicht, was er sprach. Martha war nicht erschienen.

Als wir uns trennen wollten, ein jeder um auf sein Zimmer zu gehen, ergriff mich Robert bei beiden Händen und zog mich in einen Winkel. »Hab Dank, Olga,« sagte er, während seine Lippen ihm zuckten, »daß du so treu zu mir gehalten hast. Jetzt wollen wir hinter unsere Briefe einen großen Gedankenstrich machen.«

»Um Gottes willen, Robert,« stammelte ich, »wie ist das nur gekommen?«

Er zuckte die Achseln. »Ich hab' sie wohl zu lange warten lassen,« sagte er dann, »sie ist meiner müde geworden.«

Ich wollte aufschreien: »Das ist nicht wahr – das ist nicht wahr!« aber hinter uns stand der Vater und berichtete ihm, daß nach seinem Wunsch das Fuhrwerk um Tagesanbruch bereit sein werde.

»So soll ich dich gar nicht mehr sehen?« rief ich erschrocken.

Er schüttelte den Kopf. »Laß uns nur gleich Abschied nehmen,« sagte er und preßte meine Hand.

In mir rief es, daß er so nicht scheiden dürfe, daß ich ihn sprechen müsse um jeden Preis. Aber ich schluckte tapfer hinunter, was mir die Kehle zuschnürte.

Und so gaben wir uns noch einmal die Hand und gingen auseinander.

Ich hatte noch in der Wirtschaft zu tun, und während ich den Kaffee herausgab und Mehl und Speck für die Morgensuppe abmaß, hörte ich es unaufhörlich in meine Ohren hallen: »Du mußt ihn sprechen.«

Als ich dann mit dem Lichte in der Hand nach meinem Zimmer ging, machte ich einen Umweg an seiner Tür vorbei, denn ich hoffte, ihm vielleicht auf dem Korridor zu begegnen, aber der war leer, und die Tür war verschlossen. Nur seine Schritte drinnen hallten dröhnend durch das Haus.

In Marthas Zimmer war es totenstill. Ich legte das Ohr ans Schlüsselloch: nichts ließ sich hören. Sie hätte ebensogut gestorben oder geflohen sein können.

Mich packte die Angst, ich kniete vor dem Schlüsselloche nieder, bat und bettelte und drohte schließlich, die Eltern zu rufen, wenn sie auch ferner kein Lebenszeichen von sich geben würde.

Da ließ sie sich schließlich denn herbei, mir zu erwidern. Ich hörte eine Stimme: »Schone wich, Kind, heut' nur schone mich!« Und diese Stimme klang so verändert, als ob ich sie nie vernommen hätte.

Ich ging nun meiner Wege, aber in mir wuchs die Angst, daß er abreisen könnte mit Groll und Enttäuschung im Herzen, ohne ein Wort der Verständigung, ohne die Größe von Marthas Liebe auch nur geahnt zu haben.

Die helle Fieberglut stieg mir zum Kopfe empor, und jeder Pulsschlag in meinen Adern rief mir zu: »Du mußt ihn sprechen – mußt ihn sprechen!«

Ich entkleidete mich zur Hälfte und warf mich über das Sofa. – Die Uhr schlug elf – sie schlug halb zwölf. Noch hallten seine Schritte durch das Haus. Aber je später es wurde, desto höher stieg die Unmöglichkeit, meinen Vorsatz auszuführen.

Wenn eine Magd mich belauschte – mich in das Zimmer eines Gastes schleichen sah! Das Blut stockte mir in den Adern bei diesem Gedanken.

Die Uhr schlug zwölf. Ich öffnete das Fenster und schaute in die Welt hinaus. Alles schien eingeschlafen, selbst aus Roberts und Marthas Zimmern schimmerte kein Licht. Beide vergruben sie Gram und Schmerz in den Schoß der Finsternis.

Mit dem Nachtwind, der sich an den Fensterflügeln brach, schwirrte es mir ins Ohr: »Du mußt – du mußt!«

Und wie eine leise, süße Melodie koste und schmeichelte es dazwischen: »So wirst du ihn noch einmal sehen – wirst seine Hand in der deinen fühlen, – wirst seine Stimme hören – sein Lachen vielleicht gar; willst du ihm doch Glück bringen – das Glück seines Lebens!«

Mit jähem Entschlusse schlug ich den Fensterflügel zu, warf meinen Schlafrock über, nahm die Pantoffeln in die Hand und schlich mich in den finsteren Korridor hinaus.

Oh, wie das Herz mir klopfte, wie das Blut in meinen Schläfen brannte! Ich taumelte – ich mußte mich an den Wänden festhalten.

Nun stand ich vor seiner Tür. Noch immer machten seine Schritte die Dielen erzittern. Aber das dumpfe Dröhnen war verschwunden. Gewiß hatte er sich der Stiefel entledigt.

Klopfen darfst du nicht! schoß es mir durch den Kopf, das würde Martha nicht entgehen.

Meine Hand umspannte die Klinke. Ich erschauerte.

Wie ich die Tür geöffnet habe, weiß ich nicht. Mir war, als hätte es ein andrer für mich getan.

Vor mir die Schattenlinien seiner mächtigen Gestalt –

Ein leiser Aufschrei aus seinem Munde – ein Sprung auf mich los. – Dann fühlte ich meine beiden Hände umklammert – fühlte einen heißen Atem gegen meine Stirn wehen. – –

Im ersten Augenblick mag ihm wohl der wahnsinnige Gedanke durch das Hirn gezuckt sein, daß Martha sich in so ungestümer Weise auf ihre alte Liebe besonnen habe, im nächsten schon hatte er mich erkannt.

»Um Gottes willen, Kind,« rief er, »was ist in dich gefahren? Was treibt dich zu mir? Hat dich auch niemand gesehen, sag, – hat dich niemand gesehen?«

Ich schüttelte den Kopf. Er hält dich doch noch für sehr dumm, dachte ich bei mir und atmete tief auf, denn ich fühlte die Schrecken des Wagnisses aus meiner Seele weichen.

Er ließ mich los und eilte, Licht zu machen. Ich tastete mich nach dem Sofa hin und sank in eine Ecke.

Das Licht der Kerze flammte auf; es blendete mich. Ich kehrte mich der Wand zu und bedeckte das Gesicht.

Ein Gefühl der Schwäche, eine Sehnsucht, mich anzuschmiegen, war über mich gekommen. Ich war so froh, bei ihm zu sein, daß ich alles übrige vergaß.

»Olga, liebes, gutes Kind,« mahnte er, »sprich doch, was willst du von mir?«

Ich sah zu ihm auf. Ich sah sein braunes, ernstes Gesicht, in das der Kummer dieses Tages tiefe Furchen hineingegraben hatte, und versank in stilles Anschauen.

»Was willst du? Bringst du mir Nachricht von Martha?«

»Ja, richtig; Martha!« Ich raffte mich auf. Fort mit dem weichen Sich-gehen-lassen! In meinen Gliedern fühlte ich wieder die starre Kraft, auf die ich so stolz war. »Höre, Robert,« sagte ich, »du wirst in der Morgenfrühe noch nicht abreisen.«

»Warum sollte ich nicht?« sagte er, die Zähne zusammenbeißend.

»Ich will es nicht!«

»Dein Wille in Ehren, liebes Kind!« erwiderte er mit einem bitteren Lachen, »aber an meinem Entschlusse ändert er nichts.«

»So willst du Martha für immer verlieren?«

Ich fühlte mich jetzt wieder so stark und freudig in meiner Schützerrolle, daß ich den Kampf mit der ganzen Welt aufgenommen hätte, um die beiden zusammenzubringen. Ich törichtes, ahnungsloses Ding!

»Hab' ich sie nicht schon verloren?« erwiderte er und starrte vor sich hin.

»Was hat sie dir heute gesagt?«

»Wozu das wiederholen! Sie sprach sehr klug und sehr gesetzt, so klug und gesetzt, wie man nur sprechen kann, wenn man einen nicht mehr liebt.«

»Und das glaubst du wirklich?« fragte ich.

»Muß ich denn nicht? – Und schließlich, was kommt's auch darauf an? Selbst wenn sie mir einen Rest ihrer Neigung noch bewahrt hat, so tat sie gut, bei dieser Gelegenheit ganz gründlich damit aufzuräumen; es ist besser so – für sie, wie für mich. Ich hab' ihr nichts zu bieten, kein Glück, keine Freude, nicht einmal ein läppisches Vergnügen, nur Arbeit und Not und Sorge – jahraus, jahrein. Und dazu eine Schwiegermutter, die sie anfeindet, die es sie bitter fühlen lassen würde, daß sie mir leeren Händen gekommen ist.«

Ich fühlte, wie mir das Blut ins Gesicht strömte. Ich schämte mich, aber nicht für Martha oder mich – denn ich war ja ebenso arm wie sie –; nein, für ihn, daß er so von seiner eigenen Mutter sprechen mußte.

»Und nun sag selbst, Mädchen!« fuhr er fort. »Tut sie bei solchen Aussichten nicht besser, geborgen im warmen Nest zu bleiben und mich laufen zu lassen, da ich ihr doch nichts als Unglück bringen könnte?«

Er wühlte sich in den Haaren und lief dabei in der Stube umher wie gehetzt.

»Robert,« sagte ich, »du betrügst dich selber.«

Er blieb stehen, sah mich an und lachte auf: »Was willst du eigentlich? Soll ich etwa verlangen, daß mir die Absage noch schwarz auf weiß bestätigt wird, eh' ich mich auf die Sohlen mache?«

»Robert,« fuhr ich fort, ohne mich beirren zu lassen, »sag mir aufrichtig, liebst du sie?«

»Kind,« erwiderte er, »wenn ich sie nicht liebte, wär' ich dann hier?«

Die mächtigen Arme ausgebreitet, stand er vor mir. – Mir war, als müsse ich zwischen ihnen zermalmt werden, wenn sie sich wieder schlössen, – vor meinen Augen flimmerte es. – Tiefer drückte ich mich in meine Ecke.

Und dabei kam mir zu Sinn, was ich mir ausgemalt hatte jetzt und jahrelang vorher, wie ich ihn lieben würde, wenn ich Martha wäre, und wie ich dann von ihm geliebt werden wollte.

»Sieh, Robert,« sagte ich, »ich bin alles in allem ein dummes Ding. Aber was Liebe ist, das weiß ich doch, und nicht bloß von den Dichtern her, in mir selber hab' ich es gefühlt schon lange Zeit.«

»Liebst du denn jemand?« fragte er.

Ich wurde rot und schüttelte den Kopf.

»Wie kannst du es sonst in dir fühlen?« fuhr er fort.

»Es ist mir vom Himmel gefallen,« erwiderte ich, den Blick zu Boden senkend, »aber ich würde anders lieben wie ihr beide. Ich würde nicht kleinmütig sein, ich würde mich nicht von dannen schleichen, wie du es tust, und sagen: ›Es ist besser so!‹ Zwingen würde ich sie mit der Glut meiner Seele, erobern würde ich sie mit der Kraft meiner Arme – an meine Brust würd' ich sie reißen und sie forttragen mit mir, gleichgültig wohin! – In die Nacht, in die Wüste hinaus, wenn keine Sonne über uns scheinen und kein Haus uns Obdach geben wollte. Verhungern würd' ich mit ihr an der Landstraße, ehe ich der Welt ein gutes Wort gönnte, der Welt, die mich von ihr trennen will. So, Robert, würd' ich tun, wenn ich du wäre; und wenn ich sie wäre, würd' ich mich lachend an deinen Hals werfen und würde dir sagen: ›Komm, ich will betteln gehen für dich, wenn du kein Brot hast; meinen Schoß will ich dir als Lager geben, wenn du kein Bett hast; deine Wunden will ich dir baden mit meinen Tränen – tausend Tode will ich erdulden für dich und Gott dem Herrn danken, daß ich es darf.‹ Siehst du. Robert, so denk' ich mir die Liebe – und nicht zusammengebacken aus der Angst vor Schwiegermüttern und unbezahlten Zinsen.«

Ich hatte mich in Hitze geredet. Ich fühlte, wie mir die Backen flammten, und dann plötzlich überwältigte mich die Scham, daß ich so mein Innerstes vor ihm bloßgelegt hatte. Ich drückte meine Hände vors Gesicht und rang mit den Tränen.

Als ich wieder aufzusehen wagte, stand er vor mir mit blitzenden Augen und starrte mich an.

»Kind,« sagte er, »wo in aller Welt hast du das her? Das klang ja wie das Hohelied.«

Ich biß die Zähne zusammen und schwieg. Ich wußte ja selbst nicht, wo ich's her hatte.

Er aber setzte sich neben mich und ergriff meine beiden Hände.

»Olga.« fuhr er fort, »was du da sprachst, war nicht gerade sehr praktisch gedacht, aber schön und wahrhaft war es, und es hat mich bis in die tiefste Seele ergriffen. Mir schien's, als hört' ich eine Stimme aus einer andern Welt, und ich schäme mich fast, daß ich zaghaft und feige gewesen bin. Aber selbst, wenn ich mich aufraffte und dächte wie du: was hülfe das alles, ha sie mich nicht mehr mag?«

»Sie dich nicht mögen?« rief ich, »sie wird dran sterben, Robert, wenn du sie verläßt!«

»Olga!«

Ich sah, wie die freudige Angst sein Gesicht überstrahlte, und es wurde mir zumute dabei, als ob eine fremde Faust mir nach der Kehle griffe; aber ich wollte mich nicht irre machen lassen, und all meinen Trotz zusammenraffend fuhr ich fort: »Ich weiß, Robert, du wirst mich verachten, wenn du erfährst, was ich dir jetzt sagen will; aber es muß sein, damit du einsiehst, daß du nicht fahren darfst. Ich habe falsches Spiel mit dir getrieben, Robert, ich habe dein Vertrauen getäuscht.«

Und mit stockendem Atem, die Worte aus der Kehle herauswürgend, erzählte ich ihm, was ich mit seinen Briefen getan hatte.

Noch war ich lange nicht fertig, da fühlte ich mich plötzlich von seinen Armen ergriffen und an sich gerissen.

»Olga, das ist wahr?« rief er ganz außer sich vor Freude, »kannst du mir schwören, daß es die Wahrheit ist?«

Ich nickte bejahend, denn der Schreck, der mich wohlig durchrieselte, hatte mir die Sprache geraubt.

»Das vergelte dir Gott, mein kluges, tapferes Kind,« rief er und drückte mich an seine Brust, daß der Atem mir stillstand in seligem Bangen. Ich ließ den Kopf auf seine Schulter sinken und schloß die Augen. Und dann fühlte ich zusammenzuckend seinen Mund auf meinen Lippen. Mir war, als hätte eine Flamme mich berührt. Und wieder und wieder küßte er mich. Ganz sinnlos war er in seiner dankbaren Freude.

Ich aber dachte bei mir: Oh, möchte dieser Augenblick doch nie ein Ende nehmen! Und Schauer auf Schauer jagte mir durch die Glieder, ganz schlaff hing ich in seinen Armen. Nur einmal zuckte es mir durch den Kopf: »Ob du ihn wohl wieder küssen darfst?« Aber ich wagte es nicht.

Wie lange er mich so gehalten hat, weiß ich nicht, ich fühlte nur plötzlich, daß mein Kopf schwer gegen die Kante des Sofas fiel. Da erwachte ich von dem Schmerze wie aus einem tiefen, tiefen Traum.

Regungslos lag ich da und rang nach Atem.

Er sah es und rief erschrocken: »Du wirst ja ganz blaß, Kind; hast du dir weh getan?«

Ich nickte und meinte, es sei nichts, es werde bald vorübergehen. Oh, ich wußte wohl, daß es nicht vorübergehen würde, daß es sich eingraben würde mit Flammenlettern in meine Sinne und in mein Herz, daß ich an der Glut dieses Augenblicks mich erwärmen würde in mancher langen, kalten Winternacht, an der Glut, die nur der Widerschein der Liebe zu einer andern war.

Ich wußte das alles, und mir war, als sollte ich ersticken unter der Last dieses Bewußtseins, aber ich raffte mich auf, denn ich hatte wohl gelernt, meinen Leib im Bann zu halten.

»Robert,« sagte ich, »ich will dir einen Rat geben, und dann laß mich gehen, denn ich bin müde!«

»Sprich, sprich!« rief er, »ich tue blindlings, was du willst.«

Und wie ich ihn ansah, mußte ich laut aufseufzen in Weh und Seligkeit, denn mir kam der Gedanke: »Er hat dich im Arm gehalten.« Am liebsten hätte ich mich mit geschlossenen Augen in die Sofaecke zurücksinken lassen und noch ein wenig die Ohnmächtige gespielt, aber ich raffte mich zusammen und sagte: »Wie ich mir denke, wird Martha diese Nacht kein Auge schließen, sondern aufpassen, wann du von dannen fährst. Sie wird dir nachsehen wollen; da aber ihr Zimmer nach dem Garten hin liegt, so wird sie entweder in deines oder das danebenliegende hinübergehen. Wenn du unten auf der Treppe bist, so warte ein wenig, und dann tu so, als hättest du etwas vergessen, und dann – und dann –«

Ich konnte nicht weiter, denn in mir schluchzte und jubelte es übermächtig: »Er hat dich im Arm gehalten.«

Ich fürchtete, meiner Erregung nicht länger Herrin zu bleiben. Ohne ein Wort des Abschieds wandte ich mich um und wollte rasch entfliehen.

Als ich die Tür öffnete, da sah ich – Martha vor mir.

Sie stand da, barfuß, halb bekleidet, war totenbleich und zitterte. Sie konnte sich nicht rühren; die Kräfte versagten ihr wohl.

Und in demselben Augenblick hörte ich hinter mir einen Jubelschrei, sah ihn an mir vorüberstürzen und die Wankende in seinen Armen auffangen.

»Gott sei Dank, jetzt hab' ich dich!« Das war das letzte, was ich noch vernahm; dann floh ich in mein Zimmer, als wären die Furien hinter mir her, verschloß und verriegelte alles und weinte, weinte bitterlich.

*

Über die Zeiten, die nun folgten, mit ihren zermalmenden Schicksalsschlägen, mit ihrem schleichenden Leide, will ich eilenden Schrittes hinweggehen – in ihnen hab' ich mich ausgereift und bin zum Weibe geworden.

Acht Monate nach jener Nacht brachte man Papa auf einer Wagenleiter ins Haus getragen. Er war vom Pferde gestürzt und hatte schwere innere Verletzungen davongetragen. Drei Tage später starb er. In dem Jammer, der jetzt über das Haus hereinstürmte, war ich die einzige, die den Kopf oben behielt. Martha knickte kraftlos zusammen, und Mama – oh, die arme, liebe Mama! Sie hatte so viele Jahre hindurch breit und geruhig mit ihrem Strickstrumpf in dem Ofenwinkel gesessen und Fruchtbonbons dazu gekaut, daß sie es nicht fassen wollte und konnte, es müsse nun anders werden. Sie sprach kein Wort, sie vergoß kaum eine Träne; aber innerlich fraß die Wunde um sich, und hätte auch die Lungenentzündung, die vier Wochen später über sie hereinbrach, sie verschont, der Kummer würde ihr doch das Herz gebrochen haben.

So, nun lagen die beiden auf dem Kirchhof – und wir zwei Waisen standen hilflos auf dem verödeten Hofe und warteten auf die Stunde, da man uns hinunterjagen würde. Ich für meinen Teil kannte ja meinen Weg, ich wußte, daß mir die Zukunft nichts als das harte Brot der Dienstbarkeit zu bieten haben würde; ich zagte nicht und haderte nicht mit meinem Schicksal. Ich besaß ja Kraft und Stolz genug, auch in der Fremde mir selbst zu leben, aber für Martha, die des Trostes und der Liebe weniger entraten konnte denn je, für Martha zitterte ich.

Ihre Heirat lag noch immer in weitem Felde. Robert durfte sie nicht mehr lange harren lassen, sonst konnte sie leicht von ihrer Trübsal aufgezehrt werden und eines Morgens schweigend verlöschen wie ein Lämpchen, dessen Öl verbraucht ist.

Ich täuschte mich nicht in ihm. Zu den Begräbnissen hatte er nicht kommen können – aber sein tröstliches Wort war zu allen Zeiten dagewesen und hatte Martha über die schwersten Stunden hinweggeholfen. – Auch für mich fiel von Zeit zu Zeit ein Brocken ab, und ich griff gierig danach, wie eine Verhungernde.

Eines Tages war er selber da. »Jetzt komm' ich, dich heimzuholen,« rief er Martha entgegen. Sie sank ihm an die Brust und weinte sich dort satt. Die Glückliche! – Ich aber schlich mich in die dunkelste Laube und dachte darüber nach, ob auch meinem Herzen jemals ein Heim bereitet sein werde, zu dem es sich flüchten könne in Stunden der Not und in Stunden des Glückes. – Ich fühlte wohl, das waren eitle Träume, denn der einzige Platz in der Welt – – – genug, ein Trotz erwachte in mir, eine Bitterkeit, so mächtig, so mein ganzes Wesen vergällend, daß ich rauh und finster den Armen der Meinen entfloh und in einsamem Schmerze erstarrte.

Ich sollte mit ihnen kommen, sollte das Nestchen Glück, das annoch für sie übrig war, mit ihnen teilen und mir an dem Herde meines Schwagers eine dauernde Heimstätte gründen, aber scheu und trotzig wies ich sein Anerbieten zurück.

Vergebens suchten sie beide das Rätsel meines Gebarens zu enthüllen, und Martha, die sich grämte, daß von ihrem Glücke für mich nichts abfallen sollte, kam zur Nachtzeit oft an mein Bett geschlichen und weinte an meinem Halse. Dann schämte ich mich meines harten Sinnes, redete ihr liebevoll zu wie einem Kinde und ließ sie nicht eher von mir, als bis ein Lächeln der Hoffnung durch ihren Kummer brach.

Acht Tage lang arbeitete Robert schwer in Haus und Hof, unsere Habseligkeiten zu ordnen und an den Mann zu bringen. Nur wenig blieb für uns zurück – wir brauchten ja auch nichts.

Und dann fand in aller Stille die Trauung statt. Ich und der alte Oberinspektor, wir waren die Zeugen, und statt des Hochzeitsmahles gingen wir auf den Kirchhof hinaus und nahmen Abschied von den frischen Gräbern, deren gelben Sand der Efeu mit spärlichen Ranken zu umschlingen begann.

Ich hatte mich während der letzten Wochen in aller Stille nach einer passenden Stellung umgesehen. Verschiedene Anerbietungen waren mir gemacht worden; ich brauchte nur zu wählen. Und als Robert mit hochgezogenen Stirnfalten sich vor mich hinstellte und in die sorgende Frage ausbrach: »Was soll nun aus dir werden, Kind?« da eröffnete ich ihm mit ruhigem Lächeln meine Zukunftspläne, so daß er bewundernd die Hände zusammenschlug und ausrief: »Wahrhaftig! Dich beneid' ich, du weißt deinen Weg zu machen.«

Und auch Martha beneidete mich, das sah ich wohl an den traurigen Blicken, die sie auf mich und Robert heftete. Sie hätte all meine ungebrochene Jugendkraft für sich zurückgewünscht, um sie für ihn auf den Opferaltar zu legen. Ich küßte sie und sprach ihr Mut zu, und der flehende Blick, mit dem sie zu ihm aufschaute, sagte: »Ich geb' dir alles, was ich bin; nur verzeih mir, daß es nicht mehr ist.«

Am nächsten Morgen fuhren wir ab; das junge Paar in die neue Heimat – ich in die Fremde.

*

Von den nächsten drei Jahren will ich gänzlich schweigen. Was ich in ihnen an Kränkungen und Demütigungen erlitt, hat sich mit unauslöschlichen Zügen in meine Seele eingeätzt; es hat meinen Sinn vollends verhärtet und mich kalt und argwöhnisch gemacht allen lebenden Menschenwesen gegenüber. Ich habe gelernt, ihren Haß zu verachten – und ihre Liebe noch mehr. Ich habe gelernt, zu lächeln, wenn der Schmerz mit ehernen Pranken in meiner Seele wühlte – ich habe gelernt, die Stirn hoch zu tragen, wenn ich sie vor Scham im Staube hätte vergraben mögen.

Die bleierne Schwere öder, liebeleerer Tage, die Zentnerlast der Finsternis in schlaflosen Nächten, den eklen Mißton lüsternen Geschmeichels und das endlose herzbeklemmende Schweigen fremder Eifersucht, alles hab' ich kennen gelernt.

Wahrlich, ein hartes Stück Brot, das ich in der Fremde aß, und oft genug habe ich es mit meinen Tränen erweicht!

Der einzige Trost, die einzige Freude, die mir geblieben, waren Marthas Briefe. Sie schrieb mir oft, in manchen Zeiten täglich sogar, und meistens befand sich ein Postskriptum in Roberts krausen, ungelenken Zügen. Oh, wie ich mich darüberher stürzte! Wie ich die Worte verschlang! – So lebte ich ihr ganzes Leben mit ihnen durch. Heiter war es nicht – beileibe nicht! – Aber es war doch Leben! Oft schlugen die Wogen der Trübsal über ihnen zusammen; dann waren sie beide, der starke Robert und die schwache Martha, halt- und hilflos wie zwei Kinder, dann mußte ich dazwischenkommen und ihnen Rat und Erhebung bringen.

Schließlich war ich mit ihrem Heimwesen so bekannt geworden, daß ich jeden ihrer Diener, jeden ihrer Freunde und Bekannten nach Aussehen und Stimme hätte erkennen können. Tante Hellinger haßte ich mit meinem glühendsten Hasse – den alten Physikus liebte ich mit meiner glühendsten Liebe, das gleichgültige Spießbürgervolk, das so hämisch dreinzuschauen wußte und so genau den Fortgang des Verfalles auf Roberts Gute an seinen Fingern berechnete, strafte ich mit meiner eisigsten Verachtung. »Oh, wär' ich an ihrer Stelle,« so knirschte ich oft zwischen zusammengebissenen Zähnen, wenn Martha mir die kleinen Leiden ihres geselligen Verkehrs klagend schilderte, »wie wollte ich ihnen die Wege weisen den kalten, hochmütigen Krämern, wie sollten sie vor mir im Staube kriechen, von meinem Spott und Hohne gebändigt!«

Aber auch ihre kleinen Freuden durchlebte ich mit ihr. Ich sah sie schalten und walten als Herrin in Haus und Hof, sah das Häuflein des gutwilligen Gesindes um sie herum und hätte noch milder, noch hilfreicher sein mögen, als sie es war, der Engel in Menschengestalt. Ich sah sie über ihr Nähzeug gebeugt auf dem sonnigen Balkone sitzen – ich sah sie Mittagsruhe halten unter den breitästigen Linden des Gartens – ich sah sie träumerisch hinausstarren in das Flockengewirbel, wenn draußen seine dröhnende Stimme über den Hofraum hallte und drinnen die Kaffeemaschine traulich summte – auf seinen Eintritt wartend.

So lebte ich mit ihnen, während meine Tage sich einsam und freudlos aneinanderreihten wie die ehernen Glieder einer endlosen Kette.

Im dritten Jahre war es, da gestand Martha mir, daß Roberts sehnlicher Wunsch und das stille Gebet ihrer Nächte sich erfüllen wolle – daß sie sich Mutter fühle. Doch gleichzeitig wuchs ihre Angst, ihr schwacher, hinfälliger Leib werde der schweren Katastrophe, die ihr bevorstand, nicht gewachsen sein. Ich hoffte und bangte mit ihr, und mehr vielleicht als sie, denn die Einsamkeit und die Entfernung verzerrten die Bilder meiner Phantasie. In mancher Nacht erwachte ich in Tränen gebadet, denn im Traume hatte ich sie schon als Leiche vor mir gesehen. Eine Erinnerung aus meinen frühesten Mädchenjahren kam mir zu Sinn, wie ich sie eines Tages starr und bleich gleich einer Gestorbenen auf dem Sofa gefunden hatte. Dieses Bild wich nicht aus meinem Kopfe. Je näher der entscheidende Termin herankam, desto mehr verzehrte ich mich in Sorge. Ich begann körperlich unter den Wahnbildern meines Hirnes zu leiden, und die fremden Menschen, unter denen ich weilte, – ich will sie nicht bei Namen nennen, denn sie sind auf diesen Blättern eines Namens nicht wert – wurden vollends zu Schemen für mich.

Die letzten Briefe Marthas lauteten stolz und hoffnungsfroh. Ihre Angst schien geschwunden, sie schwelgte bereits in den Wonnen, die die nahende Mutterschaft ihr versprach.

Dann folgten drei Tage, in denen ich ohne Nachricht blieb, drei Tage voll Angst und Qual, und dann endlich kam die Depesche meines Schwagers: »Martha, von einem Knaben glücklich entbunden, verlangt nach Dir. Komm rasch.«

Die Depesche in der Hand, eilte ich zu meiner Herrin und bat um den nötigen Urlaub. Er wurde mir verweigert. Ich – in jäh auf steigendem Zorne – warf ihr meine Kündigung an den Kopf und verlangte augenblicklich die Freiheit. Man suchte Ausflüchte, ich könne jetzt nicht entbehrt werden, ich müsse mindestens erst Rechnung legen und eine formelle Übergabe der Wirtschaft zustande bringen; kurz und gut, unter niederträchtigen Vorwänden hielt man mich zwei Tage lang hin, als wollte man der Dienerin, die sich stets so stolz erwiesen, die ganze Schmach ihrer demütigen Stellung noch einmal zu kosten geben.

Dann kam eine Nacht voll dumpfer Betäubung mitten in dem sinnverwirrenden Lärm eines Eisenbahnwagens, ein Morgen in fröstelnder Erwartung, unter Koffern und Hutschachteln in einem öden Wartesalon verbracht, dessen Biergeruch mir ekel zu Sinnen stieg. Dann fernere sechs Stunden, eingekeilt zwischen einem Handlungsreisenden und einem polnischen Juden, in den heißen Polstern eines Postwagens, und endlich – endlich tauchten in der rötlichen Glut des klaren Herbstabends die Türme des Städtchens vor meinen Blicken auf, an dessen Mauern das Liebste, das einzig Liebe, was ich auf der Welt besaß, sein Nest gebaut hatte.

Die Sonne war im Untergehen, als ich dem Postwagen entstieg, zwischen dessen Rädern welke Blätter in kleinen Tromben umherwirbelten.

Hochklopfenden Herzens spähte ich um mich. Ich glaubte Roberts Reckengestalt mir entgegenschreiten zu sehen; aber nur ein paar Gaffer standen da und glotzten die fremde Erscheinung an. Ich fragte den Postschaffner nach dem Wege, und im übrigen auf Marthas Schilderung bauend begab ich mich einsam auf die Suche.

Vor den niedrigen Ladentüren standen schwatzende Gruppen, und Spaziergänger schlenderten mir gemächlich entgegen. Bei meinem Nahen machten sie halt, mich anstarrend wie einen Wundervogel, und war ich vorüber, so ging leises Flüstern und Kichern hinter mir her. Ein Grauen wandelte mich an vor dieser Spießbürgermisere.

Erst als ich das Stadttor mit turmartigem Gemäuer vor mir emporragen sah, wurde mir leichter zu Sinn. Ich kannte es ganz genau. Die »Höllenpforte« pflegte Martha es in ihren Briefen zu nennen, denn da hindurch mußte sie, wenn eine Einladung der Schwiegermutter sie in die Stadt rief.

Als ich die dunkle Wölbung durchschritt, sah ich plötzlich vor dem Torbogen, wie von einem schwarzen Rahmen umgeben, »die Burg« vor meinen Blicken.

Kaum tausend Schritte lag sie von mir entfernt. Die weißen Mauern des Herrenhauses leuchteten über welligem Buschwerk empor, von den Strahlen der Abendsonne purpurn umflutet. Die zinkgedeckten Dächer glitzerten, als glitte eine Kaskade schäumenden Wassers an ihnen herab. Aus den Fenstern schienen die Flammen zu schlagen, und wie ein Baldachin von schwarzwirbelndem Rauche wölbte sich eine Sturmwolke über dem First.

Ich preßte die Hände auf das Herz; sein Schlag wollte mir fast die Brust zersprengen, so sehr überwältigte mich der Anblick. Für eine Sekunde war mir zumute, als müßte ich auf der Stelle umkehren und spornstreichs von hinnen laufen, ohne Rast und Ruh', bis mich die Ferne in ihren Schutz genommen. All meine Sorge um Martha war verschlungen von dieser rätselhaften Angst, die mir die Kehle fast zusammenschnürte. Ich schalt mich töricht und feige, und meine ganze Kraft zusammenraffend schritt ich die Landstraße entlang, in deren Wagenfurchen versiegende Pfützen spiegelnd erglänzten. Durch die Pappelkronen über mir ging ein heiseres Rauschen, es begleitete mich, bis ich das Hoftor erreicht hatte. Gerade als ich hindurchschritt, verschwand der letzte Sonnenstrahl hinter den Mauern der Burg, und das Dunkel der mächtigen Lindenbäume, die sich vom Parke her über den Weg hinneigten, umfing mich so plötzlich, daß ich es Nacht geworden glaubte.

Verfallenes Gemäuer, von halbverwelktem Schöllkraut überwuchert, ragte rechts und links aus krausem Dorngestrüpp empor, die Reste der einstigen Burg, auf deren Trümmern der Gutshof errichtet war. Ein Hauch wie von Tod und Verwesung lag darüber hingebreitet.

Ich ließ einen furchtsamen Blick über den weiten Hofraum hingleiten, den die Abenddämmerung in bläuliche Schleier zu hüllen begann. Bei jedem Geräusche fuhr ich zusammen. Mir war, als müßte Roberts gewaltige Stimme mir ein Willkommen entgegenrufen. Der Hof war leer, das Schweigen der Feierstunde ruhte auf ihm. Nur von einer der Stalltüren drang der eigentümlich zischende, klingende Ton einer Sense, die geschärft wird, zu mir herüber. Ein Geruch von frisch gemähtem Heu erfüllte die Luft mit seinen eigentümlich süßen, prickelnden Düften.

Langsam und scheu wie ein Eindringling schlich ich am Gartengitter entlang zu dem Herrenhause hin, das mit seinen granitnen Pfosten, seinen grauen Erkern und Giebeln düster und drohend auf mich niederschaute. Hie und da war der Stuck zerbröckelt, und die schwärzlichen Mauersteine schauten darunter hervor. Es war, als hätte die Zeit wie eine lange Krankheit den ehrwürdigen Leib mit Wunden bedeckt.

Die Haustür stand offen. Eine weite, dunkle Halle nahm mich auf, aus der ein eigentümlicher Geruch von frischem Kalk und feuchten Pilzen mir entgegenströmte. – Durch buntglasige, spinnenüberzogene Luken, die wie leuchtende Nester dicht unter der Decke saßen, fiel ein mattes Dämmerlicht in den Raum herab, kaum genügend, die mächtigen Schränke, die an den Wänden entlang standen, aus dem Dunkel herauszuheben. – Ein hellerer Streif fiel auf eine breite, ausgehöhlte Treppe, deren Stufen auf steinernen Pilastern ruhten. Hochgewölbte eichene Türen führten zu den inneren Räumen, doch wagte ich nicht, an eine derselben heranzutreten. Wie Kerkerpforten erschienen sie mir. Noch stand ich da, beklommen nach einem Wege suchend, da wurde die Haustür aufgerissen, und durch den hellen Spalt jagten zwei große, gelbgetigerte Doggen auf mich los.

Ich stieß einen Schrei aus. Die Ungeheuer sprangen an mit empor, beschnoberten meine Kleider und jagten dann mit heulendem Gebelle zur Tür zurück.

»Wer da?« rief eine Stimme, deren dumpf dröhnenden Laut ich im Wachen und Träumen so oft zu hören gewähnt hatte. Der Spalt verdunkelte sich. – Da stand er.

Vor meinen Augen wallten rötliche Nebel. Mir war, als wären meine Füße an den Boden gewurzelt. Schwer aufatmend lehnte ich mich gegen den Treppenpfeiler.

»Wer da, zum Henker?« rief er noch einmal, indem er vergebens versuchte, mit seinen Augen das Dunkel zu durchdringen.

Ich nahm all meinen Trotz zusammen. Ruhig und stolz, wie ich vor Jahren von ihm Abschied genommen hatte, wollte ich ihm heute entgegentreten. Was brauchte er zu wissen, wieviel ich inzwischen gelitten!

»Olga – wahrhaftig – Olga – du?« Der unterdrückte Jubel, der seine Worte durchdrang, ließ ein warmes Wohlgefühl durch meine Adern strömen. Mir war für einen Augenblick, als müßte ich mich an seine Brust werfen, mich dort auszuweinen – aber ich wahrte meine Haltung.

»Habt ihr mich nicht erwartet?« fragte ich, ihm steif die Hand entgegenstreckend.

»O doch – natürlich – seit zwei Tagen warten wir stündlich auf dich – das heißt, wir glaubten schon –« – – Er hatte meine Hand mit zwei Fäusten umspannt und versuchte, mir ins Gesicht zu sehen. Eine eigentümliche Mischung von Herzlichkeit und Verlegenheit lag in seinem Wesen. Es schien, als suche er vergebens, die altvertraute Freundin in mir wiederzufinden.

»Wie geht es Martha?« fragte ich.

»Du wirst ja sehen,« erwiderte er; »ich versteh' mich nicht darauf. Mir erscheint sie so schwach und so zerbrechlich, daß ich mir sage: es ist ein Wunder, wenn sie's übersteht. Aber der Physikus sagt, es gehe ihr gut, und der muß es ja wohl wissen.«

»Und das Kind?« fragte ich weiter.

Ein leises innerliches Lachen scholl durch die Dämmerung zu mir nieder. »Das Kind – hm – das Kind –« und statt zu vollenden, gab er den Hunden einen Fußstoß, die schnurstracks zum Hause hinausstürmten.

»Komm,« sagte er dann, »ich will dich führen.«

Wir stiegen die Treppe hinan, schweigend, ohne uns anzusehen.

»Du bist ihm fremd geworden!« dachte ich bei mir, und ein Bangen stieg in mir auf, als wäre ein langgehegtes Glück mir verloren gegangen.

»Wart einen Augenblick,« sagte er, auf eine der nächsten Türen deutend, »ich möcht' ihr ein Wort zur Vorbereitung sagen; die Freude kann ihr sonst schaden!«

Im nächsten Augenblick stand ich allein in einem dunkeln, hochgewölbten Gange, an dessen fernem Ende der Schein des verlöschenden Tages in dunkel glühenden Flammen erglänzte und einen langen Lichtstreifen über die spiegelnden Fliesen des Fußbodens warf. Unbestimmbare Töne wie das Singen einer Kinderstimme zogen an meinem Ohr vorbei, wenn der Luftzug sich in den Wölbungen verfing.

Ein leiser Freudenschrei, der durch die Tür zu mir herausdrang, ließ mich emporfahren. Heiß strömte mir das Blut zum Herzen – mir war, als müßte ich unter seinem Schwall ersticken – da öffnete sich die Tür, Roberts Faust griff nach mir in das Dunkel hinaus; ganz betäubt ließ ich mich fortziehen und fand mich erst wieder, als ich schluchzend an einem Bett kniete, das Gesicht in die Kissen vergraben, während eine feuchte, heiße Hand mir liebkosend über den Scheitel strich.

Ein Heimatsgefühl, weich und warm, wie ich es seit Jahren nicht mehr gekannt hatte, umschmeichelte mir die Sinne. Ich fürchtete mich, die Augen zu erheben, denn ich glaubte, es müsse mir damit verloren gehen.

Wie der Segen Gottes lag die Hand auf meinem Haupte. Unendliche Dankbarkeit strömte mir durch die Brust. Ich griff nach der Hand und preßte lange und innig meine Lippen darauf. »Was machst du da, Schwester – was machst du?« hörte ich ihre müde, leise umflorte Stimme.

Ich richtete mich auf. Da lag sie vor mir – bleich und schmalwangig, mit dunklen Augenhöhlen, in denen Tränen erglänzten. Wie eine Schneeflocke lag sie da, so zart und weiß; blaue, aufquellende Adern zogen sich über den hageren Hals dahin, und auf der Stirn, die weißlich leuchtete wie von einem inneren Lichte, schimmerten Schweißtropfen.

Sie war gealtert und abgezehrt, seitdem ich sie nicht gesehen hatte, und nicht nur erst die Krisen der Geburt schienen zerstörend auf sie gewirkt zu haben. Aber das Lächeln war das alte geblieben, das liebe, tröstliche, segenspendende Lächeln, mit dem sie jedem half, mochte sie selbst auch gänzlich hilflos sein.

»Und jetzt gehst du nicht mehr fort,« sagte sie, mich anschauend, als ob sie sich an mir nicht sattsehen könne, »bleibst bei uns – für alle Zeit. – Versprich es mir – versprich es mir in dieser Stunde!«

Ich schwieg. Das Glück war über mich gekommen, brennend, wie ein Feuer vom Himmel. – Es quälte mich, es tat mir weh.

»Hilf mir doch sie bitten, Robert!« begann sie vom neuem.

Ich fuhr zusammen. Ihn hatte ich ganz und gar vergessen, und nun wirkte seine Gegenwart wie ein Vorwurf auf mich ein.

»Laßt mir Bedenkzeit – bis morgen,« sagte ich, mich aufrichtend. In mir regte sich eine dumpfe Ahnung, daß meines Bleibens an dieser Stätte nicht lange sein werde. Das Glück wäre zu groß gewesen für mich, die Unselige, die das Schicksal unbarmherzig in die Fremde wies.

Ich sah es Martha an, daß sie meine Empfindungen schonen wollte. »Also bis morgen,« sagte sie leise und drückte mir die Hand, »und morgen wirst du einsehen, wie nötig du uns bist und daß wir närrisch wären, wenn wir dich wieder von uns ließen – nicht wahr, Robert?«

»Gewiß – ganz gewiß!« sagte er und brach dabei in ein Lachen aus, das mir seltsam beklommen schien. Er fühlte sich offenbar nicht behaglich in unser beider Gegenwart. – Und bald darauf griff er nach seiner Mütze und machte Miene, stillschweigend von dannen zu gehen.

»Willst du ihr nicht unser Kind zeigen?« flüsterte Martha, und ein Lächeln namenloser Glückseligkeit glitt über ihr abgezehrtes Gesicht.

»Komm,« sagte er, »es schläft im Nebenzimmer.«

Er ging mir voran. Mit Mühe schob er seine ungeschlachte Gestalt durch die halbgeöffnete Tür.

Vom Abendlicht rötlich umstrahlt, stand dort die Wiege. Aus den Kissen guckte ein kupferfarbenes Köpfchen hervor, kaum größer als ein Apfel. Die runzligen Augenlider waren geschlossen, in dem Mäulchen steckte eine der beiden kleinen Fäuste, die Finger wie von einem Krampfe zusammengezogen.

Mein Blick glitt verstohlen von dem Kinde zu seinem Vater. Er hatte die Hände gefaltet. Andächtig schaute er auf das kleine Menschenwesen hernieder. Ein ungewisses Lächeln, halb freudig, halb verlegen, spielte um seinen Mund.

Jetzt erst war ich imstande, ihn mit Ruhe zu betrachten. Der purpurne Abendschein lag grell auf seinem Angesicht und ließ die Furchen und Runzeln, die sich im Laufe der drei jüngsten Jahre dort eingegraben hatten, scharf und unvermittelt hervortreten. Schatten dumpfer Sorge lagerten auf seiner Stirn, die Augen hatten ihren Glanz verloren, und um die Mundwinkel ging ein Zucken, das mir von dumpfer Ergebung und ohnmächtigem Trotze zu reden schien.

Ein unendliches Mitleid wallte in mir auf. – Mir war, als müßte ich seine Hände ergreifen und ihm sagen: »Vertraue mir – ich habe Kraft; laß mich teilnehmen an deinem Kummer.« – Als er nun aufschaute, erschrak ich, daß er meinen Blick bemerkt haben könne, ich kniete rasch vor der Wiege nieder und drückte die Lippen auf das kleine Gesichtchen, das unter meiner Berührung, wie im Schmerz, zusammenzuckte.

Aufstehend sah ich, daß er das Zimmer verlassen hatte. – – –

In angstvoller Erwartung leuchtete Marthas Auge mir entgegen. Sie wollte ihr Kind bewundert wissen. »Ist es nicht schön?« flüsterte sie und hob die schwachen Arme zu mir empor.

Und als ihr Mutterherz von Stolz gesättigt war, hieß sie mich neben sich auf dem Kissen Platz nehmen und schmiegte ihren Kopf an meine Knie, so daß er fast auf meinen Schoß zu liegen kam.

»Oh, wie ist das kühl!« murmelte sie, schloß die Augen und atmete wie im Schlafe tief und ruhig. – Ich wischte ihr mit meinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

Sie nickte dankbar und sagte: »Ein wenig matt bin ich noch, die Glieder sind mir wie zerschlagen; aber ich hoffe, morgen werde ich aufstehen und nach der Wirtschaft sehen können.«

»Um Gotteswillen, was fällt dir ein?« rief ich entsetzt.

Sie seufzte. »Ich muß – ich muß. Es läßt mich nicht ruhen.«

»Was läßt dich nicht ruhen?«

Sie antwortete nicht, und dann mit einem Male fing sie bitterlich zu weinen an.

Ich beruhigte sie, ich küßte ihr die Tränen von Wimpern und Wangen und flehte sie an, mir ihr Herz auszuschütten. »Bist du nicht glücklich? Ist er nicht gut zu dir?«

»Er ist gut zu mir, wie Gottes Gnade, aber – glücklich bin ich nicht – elend bin ich, Schwester, so elend, wie ich's dir gar nicht sagen kann.«

»Und warum in aller Welt?«

»Ich habe Angst!«

»Wovor?«

»Daß ich ihn – unglücklich mache, daß ich nicht die Rechte für ihn bin.«

Eine plötzliche Eiseskälte durchrieselte mich. Sie schien von ihrem Leibe auf den meinen überzustrahlen.

»Sieh, auch du fühlst es!« flüsterte sie und sah mit großen, verängstigten Augen zu mir auf.

»Du bist närrisch,« sagte ich und zwang mich, aufzulachen, aber das Frösteln wich nicht aus meinen Gliedern. Ein dunkles Empfinden sagte mir, daß sie wohl Recht haben mochte. Aber nun galt es Trost zu bringen!

»Wie hast du nur so dummer Selbstquälerei Raum geben können?« rief ich. »Sagt dir denn nicht sein Wesen Tag und Nacht, wie sehr du im Irrtum bist?«

»Ich weiß, was ich weiß,« erwiderte sie leise, mit jenem Trotze des Duldens, wie er Schwachen als Waffe gegeben ist. »Und was ich dir da sage, stammt nicht von heute – die Angst ist Jahre alt, ich hatte sie schon im Herzen sitzen, ehe ich noch mit ihm verlobt war, und ich wußte wohl, was ich tat, als ich ihm damals einen Korb gab – aus lauter Liebe!«

»Martha, Martha!« rief ich vorwurfsvoll, »mir scheint, du hast mir viel verschwiegen!«

»Ich hab' dir ja damals alles gesagt,« erwiderte sie. »Du wolltest mir bloß nicht glauben, wolltest mich mit Gewalt glücklich machen, und später – wozu sollt' ich reden? Auf dem Papiere klingt ja alles anders, als es gemeint ist; du hättest am Ende einen Vorwurf für ihn oder gar für dich selber herausgelesen, und solch ein Mißverständnis durft' ich doch nicht aufkommen lassen. Mein Unglück fing schon mit dem ersten Tage an, als wir hier ankamen. Ich sah, wie er sich mit der Mutter entzweite, und in mir rief es: du trägst die Schuld daran. Ich sah, wie er dumpfer und trauriger wurde von Tag zu Tag, und immer wieder sagt' ich mir in meinem Herzen: du trägst die Schuld daran. Nachts über lag ich wach an seiner Seite und marterte mich ab mit dem Gedanken: warum bist du so trist und so trübe und verstehst nichts, als dich weinend anzuschmiegen an ihn und doppelt zu leiden, wenn du ihn leiden siehst? Warum hast du nicht gelernt, ihm singend an den Hals zu fliegen, sobald er hereinkommt, und ihm mit einem Lachen die Falten von der Stirn zu küssen? Und noch mehr. Warum bist du nicht stolz und stark und klug und kannst nicht zu ihm sagen: Flüchte zu mir, wenn's dir bang ums Herz ist, bei mir sollst du neue Kraft schöpfen, und ich will dafür sorgen, daß du nicht strauchelst. – So würdest du getan haben, Schwester – nein – widersprich mir nicht; – oft genug stellte ich mir vor, wie du dagestanden hättest mit deiner hohen Gestalt, und hättest die Arme nach ihm ausgebreitet, damit er sich drin bergen könne, wie in einem Hafen, in den die Stürme sich nicht hineinwagen. – – – Aber sieh mich an« – und sie warf einen kläglichen Blick auf ihre zarte, dürftige Gestalt, deren hagere Umrisse sich unter der Bettdecke abzeichneten – »würd' es nicht lächerlich klingen, wenn ich so was sagen wollte? – Ich, die ich fast ertrinke in seinen Armen, so klein und so schwächlich bin ich, ich bin nur dazu da, Schutz zu empfangen; Schutz zu geben ist meine Sache nicht  ...Siehst du, das hab' ich mir alles bedacht in den langen, dunklen Nächten und bin immer mutloser geworden. Und am Morgen hab' ich mich zu einem Lachen gezwungen und hab' so eine Art von munterem, sorglosem Vögelchen darstellen wollen, denn diese Rolle, dacht' ich mir, paßt am besten für dich und wird ihm am ehesten gefallen; aber Gesang und Lachen sind mir in der Kehle stecken geblieben, und er hat's mir wohl auch angesehen, denn er hat mitleidig dazu gelächelt, daß ich mich dann doppelt schämen mußte.«

Erschöpft hielt sie inne und verbarg das Antlitz in meinen Kleidern, dann fuhr sie fort: »Und da's so nicht ging, sucht' ich ihn wenigstens auf andre Weise schadlos zu halten. – Du weißt, ich hab's mir mein Lebtag sauer werden lassen, aber so schwer gearbeitet wie in diesen drei Jahren hab' ich noch nie in meinem Leben. – Und wenn ich ermatten wollte, wenn die Knie mir schon' zusammenknickten, dann stieß mich der Gedanke vorwärts: Zeig, daß du ihm wenigstens zu etwas nütze bist, laß ihm nie zum Bewußtsein kommen, wie wenig er eigentlich an dir besitzt .... Aber was hilft das alles! Mein Mühen nutzt ja nichts. – Es geht ja doch alles drunter und drüber, sobald ich nur den Rücken wende. Immerwährend muß ich zittern, daß ihm mein Wirtschaften eines Tages nicht mehr genüge.«

So klagte die Ärmste, und mir wurde angst und bange von all dem Jammer.

»Hör, ich hab' eine Bitte an dich,« bat sie zum Schluß und umklammerte meine Hände, »such ihn doch auszuforschen, ob er mit mir – mit mir zufrieden ist, und dann erzähl's mir wieder.«

Ich zog sie an mich, ich überschüttete sie mit Kosenamen und suchte ihr Angst und Sorge aus dem Sinn zu schmeicheln. Mit Inbrunst sog sie jedes meiner Worte in sich hinein, ihre aufglänzenden Blicke hingen gebannt an meinen Lippen, und von Zeit zu Zeit entrang sich ein mattes Seufzen ihrer Brust.

»Oh, hätt' ich dich immer bei mir gehabt!« rief sie, meine Hände streichelnd. Aber dann schien ein neuer Gedanke sie wieder mutlos zu machen. – Ich drang in sie, aber sie wollte nicht mit der Sprache heraus, und endlich kam's stockend und stammelnd zum Vorschein:

»Du wirst alles tausendmal besser machen als ich – du wirst ihm zeigen, was er hätte haben können, und was er hat. An dir erst wird er erkennen, welch ein jammervolles Geschöpf ich bin.«

Ich erschrak; dann sah ich ein: der Traum, eine Heimat zu besitzen, war schon zu Ende geträumt. Wie durfte ich an dieser Stätte weilen, wenn die eigene Schwester sich um meinetwillen in eifersüchtigem Harme verzehrte?

Sie fühlte wohl, daß sie mir wehe getan hatte; die mageren Arme zu meinem Halse emporreckend, sagte sie: »Du mußt mich nicht mißverstehen, Olga; – was ich fühle, ist nicht Eifersucht; ich bin so wenig eifersüchtig, daß ich keinen sehnlicheren Wunsch kenne, als ihr beide möchtet euch nach meinem Tode finden und –«

»Nach deinem Tode!« rief ich entsetzt. »Martha, du frevelst an dir!«

Sie lächelte in wehmütiger Ergebung.

»Das weiß ich besser als du,« sagte sie. »Meine Lebenskraft ist längst gebrochen. Schon das lange Warten damals hat mich zunichte gemacht. Nun dacht' ich freilich, es werde bei der Geburt alles hübsch zu Ende sein, und darum hat es mich auch so sehr nach dir verlangt, denn ich wollte erst alles zwischen euch ins reine bringen. Aber wie's nun auch kommen mag, über kurz oder lang werde ich doch daran glauben müssen, und vorher will ich sicher sein, daß ich ihn und das Kind in guten Händen lasse.«

Ich schauderte zusammen, und dann kam ein plötzliches Ermatten über mich. Mir war, als müßte ich mich vor dem Bette niederwerfen und weinen, weinen – mir die Seele aus dem Leibe weinen.

Da drang aus dem Nebenzimmer das Schreien des Kleinen, das erwacht war und nach seiner Amme verlangte. Ich atmete tief auf und besann mich auf mich selbst und die Pflicht, die mir oblag.

»Hörst du, Martha?« rief ich; »du willst verzweifeln, und dir hat der Himmel das größte Glück geschenkt, das einem Weibe werden kann? An deinem Kind wirst du dich neu erheben, sein junges Leben wird auch dem deinen neue Kräfte bringen.«

Ihr Auge leuchtete auf, dann sank sie zurück und schloß lächelnd die Lider. Das Gefühl der Mutterschaft war das einzige, was ihrer Hoffnung Flügel geben konnte.

Noch einmal öffnete sie den Mund und murmelte etwas. Ich beugte mich zu ihr nieder und fragte: »Was hast du, Schwester?«

»Ich möchte gern etwas nütze sein auf der Welt,« sagte sie mit einem Seufzer, und über diesem Gedanken schlief sie ein. – –

Es war stockfinster geworden, als Robert leise ins Zimmer trat. In jähem Erschrecken fuhr ich auf. Ein Gefühl packte mich, als müßte ich mich verkriechen und vor ihm fliehen bis ans Ende der Welt: »Er soll dich nicht finden, er wird dich nicht finden!« schrie es in mir.

Er näherte sich dem Bette, horchte eine Weile auf Marthas ruhiges Atmen und sagte dann leise: »Komm, Olga! Du bist ermüdet, iß etwas, und dann geh auch du zur Ruhe.«

Ich wollte widersprechen, denn mir bangte vor dem Zusammensein mit ihm, aber um die schlafende Schwester nicht zu wecken, folgte ich schweigend.

Das Eßzimmer war ein weiter, weißgestrichener Raum, mit altertümlichen Geräten vollgestellt, die wie schwarze, zusammengekrümmte Riesen an den Wänden Wache hielten. Unter der Hängelampe stand ein runder Tisch mit zwei Gedecken.

»Ich habe die Wirtschaftsleute vorher abtafeln lassen,« sagte Robert, sich nach mir umwendend, »denn ich wollte dich nicht mit den fremden Gesichtern plagen.« Damit warf er sich schwer in einen Sessel, stützte das Kinn in die Hand und starrte vor sich in das Salzfaß nieder.

»Du ißt ja nicht!« sagte er nach einer Weile. Ich schüttelte den Kopf. Ich wäre nicht imstande gewesen, einen Bissen hinunterzuwürgen, wiewohl der Hunger mir arg zu schaffen machte. Sein Anblick lähmte mich geradezu.

Wiederum Schweigen.

»Wie findest du sie?« fragte er endlich.

»Ich weiß nicht« sagte ich, mich mit Gewalt zum Reden zwingend, »soll ich mich freuen, oder soll ich besorgt sein!«

»Warum besorgt?« fragte er rasch, und in seinem Auge flackerte eine ungewisse Angst.

»Sie quält sich selbst –«

Ein Blick raschen Einverständnisses flog zu mir herüber, ein Blick, der da sagte: Weißt du das auch schon? Dann hob er die Faust, reckte sich und seufzte. Das buschige Haar war ihm in die Stirn herabgesunken. Tiefer gruben sich die Falten der Verbitterung um seine Mundwinkel.

Ich erschrak – erschrak über mich selbst. Was ich da gesagt hatte, klang es nicht wie eine Anklage gegen Martha, forderte es ihn nicht zur Anklage heraus?

»Sie liebt dich viel zu sehr,« erwiderte ich, die Zähne zusammenbeißend. Ich wußte, daß es ihn verwunden würde, und ich wollte es.

Er stutzte und sah mich eine Weile groß und offen an, dann nickte er etliche Male vor sich hin und sagte: »Du hast Recht mit deinem Vorwurf, sie liebt mich viel zu sehr.«

Da hätte ich ihn schon wieder um Verzeihung bitten mögen. Wahrhaftig, der verdiente meine Bosheit nicht! Dessen Seele war rein und klar wie das Sonnenlicht, nur in meinem Innern hauste die Finsternis.

Mir war, als müßte ich ersticken unter verhaltenen Tränen.

Ich sah, daß ich mich nicht länger halten konnte, und erhob mich rasch.

»Gute Nacht, Robert,« sagte ich, ohne ihm die Hand zu reichen, »ich bin überwacht, muß zu Bett – laß nur – ein Dienstbote wird mir den Weg zeigen. Laß – sag' ich.« Ich schrie die letzten Worte wie im Zorn heraus, so daß er betreten innehielt.

In der Kühle des halbdunkeln Korridors begann ich mich ruhiger zu fühlen. Eine Weile ging ich tiefatmend auf und ab, dann holte ich mir ein Mädchen, das mich führen konnte.

»Die gnädige Frau hat in dem Zimmer noch alles selber zurecht gemacht und befohlen, daß keiner daran rühren soll – auch ein Brief für das Fräulein ist da.«

Als ich allein war, hielt ich Umschau. Die gute, die liebe Schwester! Meine leisesten Wünsche, meine kleinsten Gewohnheiten von ehemals hatte sie treu in Erinnerung behalten und alles bedacht, um mir mein Heim so lieb und lauschig wie denkbar zu gestalten. Da fehlte nichts, woran in jenen Jahren mein Herz gehangen hatte. Über dem Bett hing ein rotblumiger Vorhang, genau wie der, in dessen Falten verborgen ich meinen ersten Mädchentraum geträumt, auf dem Fensterbrett standen Geranien und Alpenveilchen, wie ich sie stets gepflegt, an den Wänden hingen dieselben Bilder, auf denen beim Erwachen mein Auge einst geruht, und auf den Etageren standen dieselben Bücher, aus denen meine Seele die erste Liebesnahrung gezogen hatte.

Iphigenie, die in jenen klaren Tagen meine Lieblingsdichtung gewesen war, lag aufgeschlagen auf dem Tische. Oh, gütiger Himmel! Wie lange schon hatte ich nicht darin gelesen, wie lange schon war ich scheu daran vorübergegangen, weil die ruhige Hoheit der heiligen Priesterin meiner Seele wehe tat!

Zwischen den Blättern steckte der Brief, von dem das Mädchen mir gesprochen hatte. Ein weiches Ahnen, ein Ahnen von neuer, unverdienter Liebe überkam mich, als ich die Hülle auseinanderriß. Und ich las:

 

»Herzliebe Schwester!

Wenn Du diesen Raum betrittst, werde ich Dir keinen Willkommen sagen können. Ich liege dann krank, und vielleicht gar ist mein Mund schon für immer geschlossen. Du findest hier alles, wie Du's daheim gewohnt warst. – Es lag schon lange für Dich bereitet – es wartete alles auf Dich. Ob Schmerz oder Freude Dich hier empfängt, leg Dich in Frieden zur Ruhe und schlafe ein mit dem Bewußtsein, daß Du in Deine Heimat eingekehrt bist. Suche Robert lieb zu gewinnen, wie er Dich lieb haben wird. Dann muß noch alles gut werden, mag Gott mich bei Euch lassen oder zu sich nehmen.

Deine Schwester Martha.«

 

Es war nichts Neues, was sie mir da sagte, und doch packte der rührend schlichte Beweis ihrer Liebe mich so gewaltig, daß ich im ersten Augenblick nur die eine Empfindung hatte, an ihr Bett zu stürzen und ihr zu gestehen, welch einer Unwürdigen sie in Herz und Haus Obdach gewährte.

Ich zweifelte ja nicht mehr: die unselige Leidenschaft, die ich mitsamt den Wurzeln aus meiner Seele ausgerissen wähnte, sie war aufs neue üppig ins Kraut geschossen. Die Wunden, die längst vernarbten, hatten bei seinem ersten Anblick sich wieder aufgetan. Mir war, als fühlte ich mein warmes Blut in Strömen daraus entfliehen.

Jetzt gab es kein Vertuschen, kein Verhehlen mehr – die holde Dumpfheit aufdämmernder Gefühle, das süße Sich-gehen-lassen in unbewußtem Jugendrausch, sie waren lange überwunden; das nackte, grelle Tageslicht gereifter Erkenntnis, die starren Schranken strenger Selbstzucht waren an ihre Stelle getreten.

Ja, ich liebte ihn, liebte ihn so heiß, so schmerzhaft, wie nur ein Herz, das in der Glut des Hasses und der Leiden gestählt ist, zu lieben vermag. Und nicht von heute, nicht von gestern her! An dieser Liebe war ich ja erwachsen. Ich hatte mich daran emporgerankt in verstohlener Herzensgier. Aus ihr hatte mein Wesen seine Kraft gesogen. Mit ihr stand und fiel ich. In ihr lag mein Leben und mein Tod.

Ob er es verdiente, ob er mich verstand, was fragte ich danach! Er sollte es ja auch nie verstehen. Und nicht er, ich war es ja, die sich ein Anrecht auf diese Liebe zu verdienen hatte. Daß ich sie nimmermehr aus meinem Herzen würde bannen können, das wußte ich wohl in dieser Stunde. Es galt, sich ihr zu fügen, wie man dem ewigen Schicksal sich fügt; aber zum Frevel durfte sie nicht werden. – Rein sollte sie wohnen im reinen Herzen.

Und wahrlich, nicht zum Unheil hatte man mich in dieses Haus gerufen! Eine Mission, eine große, heilige Mission wartete meiner. Martha sollte alsbald merken, daß ein segenbringender Hausgeist rings um sie waltete. Bei mir sollte sie lernen, die Liebe, in der sie sich hilflos verzehrte, werktätig zum Heile des Geliebten zu verwenden, bei mir sollte ihr Mut sich neu beleben und ihre Seele neue Kraft empfangen. Wie wollte ich sie stützen und trösten in schweren, haltlosen Stunden, wie wollte ich mich zum Lachen zwingen, wenn Tränenstimmung die Luft verdüsterte, wie wollte ich mit kecken Scherzen die finsteren Stirnen entwölken und sorgsam wachen, daß ein letztes Restchen Sonnenschein stets in den Mauern weile!

Wunschlos sollte mein Leben dahinschwinden, glücklich nur in der Meinen Glücke, verschwiegen, entsagend, treu.

Ich brauchte mich nicht mehr um Iphigeniens Bild herumzuschleichen, denn auch meiner wartete hehr und erhaben das Amt der Priestern. – – –

Unter diesem frommen Gedanken schwand der Aufruhr meiner Seele, mit ihm schlief ich ein.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, fühlte ich mich zufrieden, glücklich beinahe. Eine heilige Ruhe war über mich gekommen, wie ich sie seit undenklichen Zeiten nicht mehr gekannt hatte. – Ich wußte, daß ich fortan auch das Begegnen mit ihm nicht mehr zu scheuen haben würde.

Martha schlief noch. Als ich durch die Türspalte in ihr Zimmer guckte, sah ich sie mit, weit zurückgeworfenem Kopfe in den Kissen liegen und hörte ein schweres, kurzes Atmen.

Beruhigt schlich ich mich von dannen, um auf der Stelle mein Amt als Wirtschafterin anzutreten.

»Sie wird sich nicht mehr zuschanden arbeiten,« sagte ich mir und frohlockte im stillen.

Wohl eine Stunde dauerte der Rundgang, mit welchem ich in aller Form die Herrschaft in meine Hände nahm. Die alte Mamsell zeigte sich willig, und die Dienstboten begegneten mir mit Respekt. Ich würde ihn mir ohnehin alsbald erzwungen haben.

Am Kaffeetische traf ich mit Robert zusammen. Ein kleines Herzklopfen, das mich beim Eintritt überkam, verschwand sofort, als ich mich meines gestrigen Schwures erinnerte. Ruhig, fest in sein Auge schauend, trat ich auf ihn zu und bot ihm die Hand.

»Schläft Martha noch immer?« fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nach dem Arzt geschickt,« sagte er, »sie hat eine schlechte Nacht hinter sich  ...die Erregung des Wiedersehens scheint ihr nicht gut getan zu haben.«

Ich fühlte ein leises Erschrecken; aber mein großer Entschluß hatte mich so sehr mit Frieden und Freude erfüllt, daß ich einer Angst nicht Raum geben mochte.

»Willst du dich selbst bedienen?« fragte ich. »Ich möchte derweilen nach ihr sehen.«

Als ich ihr Zimmer betrat, fand ich sie noch in derselben Stellung liegen, in der ich sie frühmorgens verlassen hatte, und wie ich mich dem Bett näherte, sah ich, das sie mit weit geöffneten Augen zur Decke emporstarrte.

Erschreckend rief ich ihren Namen, da flog ein leises Lächeln über ihr Gesicht, matt wandte sie sich nach meiner Seite hin und schaute mir in die Augen.

»Du fühlst dich nicht wohl, Martha?«

Sie schüttelte müde den Kopf und zog ein wenig die Finger zusammen. Das sollte heißen: Komm, setz dich zu mir!

Und als ich ihren Kopf in meinen Arm genommen hatte, flog plötzlich ein Schauder durch ihre ganze Gestalt. Ihre Zähne klapperten hörbar: »Gib mir eine warme Decke,« flüsterte sie, »mich friert sehr.« – Ich tat, wie sie geheißen, und setzte mich aufs neue neben sie. Sie umklammerte meine Hände, als ob sie sich an ihnen erwärmen wollte. »Hast du gut geschlafen?« fragte sie in dem gleichen heiseren Fisteltone, der mir ganz fremd an ihr war. Ich nickte und fühlte im Innern ein heißes Schamgefühl entbrennen. Was war mein großer, entsagender Entschluß gegen diese Art von hingebender Selbstvergessenheit, die sich im größten wie im kleinsten betätigte und für alles die gleiche Liebe fand? Und ich tat mir noch zugute auf das erhabene Werk meines Herzens, ich hochmütige Egoistin ich!

»Wie hat dir die Einrichtung gefallen?« fragte sie weiter, während ein Glänzen von leiser Schelmerei ihr mildes, trauriges Auge durchbrach.

Statt der Antwort drückte ich einen dankbaren, demütigen Kuß auf ihre Lippen.

»Ja, küsse mich! küsse mich noch einmal!« sagte sie. »Dein Mund ist so schön heiß, er durchwärmt einem Leib und Seele.«

Und wieder schauderte sie fröstelnd zusammen.

Eine Weile später kam Robert herein.

»Mach dich bereit, mein Kind,« sagte er, Marthas Wangen streichelnd, »der Ohm Physikus ist da.«

Dann winkte er mir, und ich folgte ihm hinaus. An der Wiege des Neugeborenen fand ich einen alten Mann mit grauem Stoppelbart, roter Stumpfnase und einem Paar kluger, scharfer Augen, die hinter blinkenden Brillengläsern hervor mich lächelnd fixierten.

»Also das ist sie?« sagte er und reichte mir die Hand. Mir strömte das Blut zum Herzen; auf den ersten Blick sah ich, daß hier jemand war, der als Freund für mich fühlte, dem ich mich rückhaltlos würde anvertrauen können.

»Gott geb', daß Sie zur guten Stunde gekommen sind,« fuhr er fort, »und ob Sie's sind, das wollen wir gleich erfahren. Führe mich zu ihr, Robert; es wird so schlimm nicht sein.«

Ich blieb allein mit der Amme und dem Kinde, das unruhig die Fäustchen hin und her warf.

»Auch an deinem Glück will ich ein Anrecht gewinnen,« dachte ich bei mir und streichelte den runden, blanken Scheitel, auf dem kaum sichtbare, seidenweiche Härchen im Lufthauche zitterten. Gestern hatte ich für das kleine Wesen kaum einen Blick gehabt, heute schwoll mir das Herz bei seinem Anschauen von unendlicher Zärtlichkeit.

»Um so viel reiner und besser bist du geworden seit gestern,« sagte ich zu mir.

Es dauerte lange, beängstigend lange, bis die Tür des Nebenzimmers sich wieder öffnete. Der Physikus war's, der heraustrat – er allein. Er sah grimmig und verbissen aus, seine Backenknochen arbeiteten, als müsse er etwas zwischen ihnen zermalmen.

»Ich hab' ihn weggeschickt,« sagte er, »Ich muß mit Ihnen allein reden.« Dann nahm er mich bei der Hand und führte mich in das Eßzimmer, in dem noch die Kaffeemaschine dampfte.

»Ich habe einen gewaltigen Respekt vor Ihnen, mein Fräulein,« begann er und wischte sich dabei die Schweißtropfen von der Stirn. »Nach allem, was ich von Ihnen gehört habe, sind Sie ein ganzer Kerl und wissen's auszuhalten, wenn Ihnen ein gewisser Pferdehuf tückisch eins versetzt.«

»Ohne Vorrede, wenn's beliebt, Herr Doktor,« sagte ich, fühlend, wie ich erbleichte.

»Gut! Vorreden sind auch meine Sache nicht. Ihre Schwester« – – – und nun stockte er doch.

»Meine Schwester – ist in – Lebensgefahr – Herr Doktor?« Ich hatte mich stark erweisen wollen, aber die Beine wankten unter mir, ich klammerte mich an die Kante des Tisches, um nicht niederzusinken.

»Brav so – Courage – Courage!« murmelte er, die Hand auf meine Schulter legend. »Er ist da, der böse Gast, – das Fieber, – es läßt sich nicht mehr 'rauskomplimentieren.«

Ich biß die Zähne zusammen. Er sollte mich nicht zittern sehen. Ich hatte schon oft genug von der Gefährlichkeit des Kindbettfiebers gehört, wenn ich mir auch keinen Begriff von seinen Schrecken machen konnte.

»Weiß Robert?« Das war das erste, was mir einfiel.

Er zuckte die Achseln und kraute sich im Haar: »Ich fürchtete, er würd' den Kopf verlieren, – ich hab' ihm kaum die Hälfte der Wahrheit gesagt.«

»Und welches ist die ganze Wahrheit?« Hochaufgerichtet sah ich ihm ins Auge.

Er schwieg.

»Wird sie sterben?«

Als er sah, daß ich von vornherein das Fürchterlichste ins Auge faßte, atmete er erleichtert auf. Aber seine Antwort vernahm ich nicht, denn als ich, scheinbar ruhig, die grausigen Worte aussprach, stand mir plötzlich mit unheimlicher Lebendigkeit jenes Bild aus meinen Backfischjahren wieder vor Augen, als ich Martha gleich einer Leiche auf dem Sofa liegend gefunden hatte. – Mir war, als grüben sich die Nägel einer Totenhand in meine Brust, vor meinen Augen stiegen blutige Strahlen auf, ich stieß einen Schrei aus – – – dann war's mir, als riefe eine Stimme mir zu: »Hilf; rette, gib dein eigenes Leben, damit das ihre erhalten bleibe!« Mit jähem Ruck richtete ich mich auf, ich hatte meine Kraft wiedergefunden.

»Herr Doktor,« sagte ich, »wenn sie stirbt, so verliere ich das einzige, was ich auf der Welt besitze, und ich verliere mich mit ihr. Aber solange Sie mich brauchen können, werd' ich nicht mit der Wimper zucken. Darum verschweigen Sie mir nichts. – Gewißheit muß ich haben.«

»Gewißheit, liebes Kind,« erwiderte er, meine Hände erfassend, »Gewißheit wird es keine geben bis zur Genesung oder bis zum letzten Augenblicke. Selbst beim schlimmsten Stande kann noch immer eine Umkehr eintreten, um wieviel mehr jetzt, da die Krankheit noch in ihren ersten Stadien ist?! Freilich, an Lebenskraft hat sie nichts einzusetzen – und das ist das traurigste dabei. Aber vielleicht gelingt es uns, des Übels an seinem Herde Herr zu werden, und dann ist alles gewonnen.«

»Was kann ich dazu tun?« rief ich und streckte ihm die gefalteten Hände entgegen. »Fordern Sie, was Sie wollen! – Selbst wenn ich sie nur mit meinem eigenen Leben retten könnte, hätte ich noch immer viel an ihr gut zu machen.«

Verwundert sah er mich an.

Wie hätte er mich auch verstehen können! – –

*

Und nun steh' ich vor dem schwersten Teile meines Werkes. – Seit acht Tagen schleich' ich mich um diese Blätter herum und wage nicht, die Feder zur Hand zu nehmen. Mich packt das Grauen, wenn ich bedenke, was meiner harrt. –

Und dennoch wird es mir heilsam sein, jene fürchterlichen drei Tage und Nächte aufs neue in mein Gedächtnis zurückzurufen, jetzt gerade, da etwas von einem weicheren, wehmütigeren Empfinden in meinem Herzen Wurzel zu schlagen scheint. – Fort damit! – Fort mit jedem schmeichlerischen Gedanken, der mir von Glück und Frieden spricht – zum Alleinsein und Entsagen bin ich bestimmt, und wenn ich es je vergesse, so soll die Geschichte jener drei Tage mich daran erinnern.

– – – – – – – – – – –

Als ich meinen Stuhl an das Bett der Schwester rückte, um mein Pflegeramt anzutreten, fand ich sie eingeschlafen. Doch war das kein Schlaf, der die Kräfte stärkt und der Genesung den Weg bereitet; wie ein Alp schien er auf ihr zu liegen und mit Gewalt die Lider zuzudrücken. – Die Brust hob und senkte sich, als werde sie von innen aufgetrieben und von außen niedergepreßt. – – Das wachsbleiche, blaugeäderte Gesichtchen lag halb in die Kissen vergraben, und die spärlichen blonden Flechten krochen wie ein Gewürm darüber hin.

Ich bedeckte das Gesicht mit den Händen. Ich konnte den Anblick nicht ertragen. – – –

Die Stunden des Tages vergingen .... Sie schlief und schlief und dachte an kein Erwachen.

Von Zeit zu Zeit hörte ich draußen die leisen Schritte der Mägde vorüberschleichen – sonst alles still und einsam rings umher.

Von Robert keine Spur.

Am Mittag trieb's mich, nach ihm zu fragen. Man hatte ihn morgens in die Felder hinausgehen sehen, seine Hunde hinter ihm her. – Seit Stunden also irrte er draußen im Regen herum.

Die Uhr schlug drei, da trat er herein, von Nässe triefend, das Auge stumpf, die feuchten Haare wirr an die Stirn geklebt. – Er mußte fürchterlich gelitten haben.

Ich wollte mich ihm nähern, wollte ihm ein Wort des Trostes sagen, aber ich wagte es nicht. Der scheue, finstere Blick, den er mir zuwarf, sagte mir deutlich genug: »Was willst du von mir? Laß mich allein mit meinem Schmerz.«

Einen der Bettpfosten umklammernd, stand er da und starrte auf sie nieder, indem er an seinen Lippen kaute. Dann ging er hinaus – schweigend, wie er gekommen war.

Wieder vergingen zwei Stunden in Schweigen und Harren. – Die Karboldämpfe, die vor mir aus der Schüssel aufstiegen, fingen an, mir Kopfschmerzen zu machen. – Ich kühlte die Stirn an den Fensterscheiben und folgte gedankenlos dem Spiel der welken Blätter, die in Tromben bis zum Fenster emporgewirbelt wurden.

Schon fing es an, dunkel zu werden, da hob plötzlich im Korridor draußen das Lamentieren und Schreien einer Weiberstimme an, so laut, daß selbst die Schlafende für einen Augenblick schmerzhaft in die Höhe fuhr.

Der Zorn schlug mir ins Gesicht. Ich wollte hinauseilen, die Ruhestörerin fortzuweisen, aber schon in der geöffneten Tür stieß ich mit ihr zusammen.

Ich erkannte sie auf den ersten Blick – dieses rote, aufgedunsene Gesicht, diese kleinen, tückischen Augen. Wer hätte es anders sein können, als sie, die beste aller Tanten und Mütter?

»Endlich,« rief es in mir, »endlich werd' ich dir Aug' in Auge gegenüberstehen!«

»Also du bist die Olga,« rief sie immer in demselben weinerlich schrillen Tone, der das ganze Haus durchgellte. »Guten Tag, mein liebes Herzchen! – O welch ein Unglück! – Ist es denn wahr? – Ich bin ja ganz außer mir!«

»Ich bitte Sie, liebe Tante,« sagte ich, die Arme ineinanderschlagend, »irgendwo anders außer sich zu sein, am Krankenbette aber Ihre Stimme zu dämpfen.«

Sie stutzte. Den giftgeschwollenen Blick, den sie mir zusandte, werd' ich mein Lebtag nicht vergessen.

Aber nun wußte sie, mit wem sie's zu tun hatte. Sie nahm auch sofort den Fehdehandschuh auf. »Das ist sehr brav, mein Töchterchen,« sagte sie, und ihre Stimme klang plötzlich blechern wie eine Kriegstrompete, »daß du so für meine arme, kranke Tochter besorgt bist, aber du kannst jetzt gehen – du bist unnötig geworden – ich werde selber hier bleiben.«

Warte, du sollst gleich deinen Meister gefunden haben, rief es in mir, und mich in ganzer Höhe aufrichtend, erwiderte ich mit meinem kältesten Lächeln: »Sie irren sich, liebe Tante; meiner Schwester ist jeder fremde Besuch aufs nachdrücklichste verboten. Ich muß Sie also bitten, sich ins Nebenzimmer zurückzuziehen.«

Ihr Gesicht wurde aschfahl, ihre Finger krallten sich zusammen, – ich glaube, sie hätte mich auf der Stelle erwürgen können; aber sie ging, und der gute, schlaffe Oheim, der immer drei Schritt hinter ihr dreingezottelt kam, ging mit ihr.

In hellem Triumphe lachte ich auf.

Was wollt ihr auch, ihr Geldseelen, hier in dem Tempel des Schmerzes! Hinaus mit euch! –

*

Es wurde Nacht. Wie ein Feuer gleich lag der letzte rote Streifen des Abendrots über der Stadt, deren Türme sich schwarz und spitzig in die Glut hineinbohrten. – Lange starrte ich den Flammen nach, bis die Finsternis auch sie in ihrem Schoß begraben hatte.

Die Uhr schlug neun. Da kam der alte Doktor. – Saß lange schweigend auf meinem Stuhle, streichelte mir zum Abschiede die Hand und sagte: »Fortfahren – Karbol – die ganze Nacht!« Auf meinen angstvoll fragenden Blick hatte er nichts als ein ungewisses Achselzucken.

Irgendwoher, zwei, drei Zimmer weiter, hörte ich Roberts Stimme auf den Alten einreden. Das erste Zeichen, daß auch er in der Nähe des Krankenbettes weilte. – »Warum bleibt er nur draußen?« fragte ich mich. – »Scheint es doch beinahe, als sei der Eintritt verboten.«

Die Uhr Schlug zehn. – Einsam alles ringsumher. Das Haus schien zur Ruhe gegangen.

Am Gartengitter rüttelte der Wind. – Es klang, als wolle ein später Gast herein. – Schlich schon der Tod am Hause herum? Zählte er schon die Sandkörner in seinem Glase?

Ein verzweifelter Trotz ergriff mich. Ohne zu wissen, was ich tat, stürzte ich auf die Tür los, gleich als wolle ich mich dem drohenden Dämon in den Weg werfen.

Ich Unselige, die ich nicht ahnte, welch ein andrer Dämon schon vor jenem lauernd auf der Schwelle saß.

Wenige Minuten später trat Robert ein. – Kein Wort, kein Gruß, nur wiederum jener kurze, scheue Blick, der schon einmal wie ein Messerstich auf mich herniedergefahren war.

Mit seinen schweren, wiegenden Schritten ging er an das Bett, ergriff ihre Hand, die heiße, hagere Hand, deren Nägel bläulich schimmerten, und stierte darauf nieder. – Und dann setzte er sich in den dunkelsten Winkel hinter dem Ofen und kauerte dort zwei lange, bange Stunden.

Mit klopfendem Herzen wartete ich, daß er mich anreden werde, aber er schwieg wie bisher.

Bald nach Mitternacht verließ er das Zimmer.

Lange noch hörte ich ihn im Gange draußen auf und nieder gehen, und bei dem dumpf dröhnenden Klange seiner Schritte kam eine andre Nacht mir in den Sinn, da ich nicht minder bebend in Furcht und in Hoffen demselben Dröhnen gelauscht hatte.

Welten lagen dazwischen aufgetürmt, und das junge törichte Ding, das damals, glühend in Hilfsbegier und Opferdrang, in das Dunkel hineingehorcht hatte, schien mir nun ein fremdes, strahlendes Wesen von einem fernen schimmernden Sterne.

Die Schritte tönten leiser. Er war in sein Zimmer zurückgegangen.

»Ob er wohl wiederkehren wird?« fragte ich mich, das Ohr ans Schlüsselloch legend. »Schlafen kann er ja doch nicht.« Und freudig zuckte ich auf, als der Widerhall sich aufs neue verstärkte.

Und dann kam mir zu Sinn: »Was geht's dich an, ob er wiederkehrt oder nicht? Bist du um seinetwillen an dieser Stätte? Liegt nicht hier vor dir dein Glück, dein Leben, dein alles?«

Ich fiel vor dem Bette nieder, und Marthas Hände mit Küssen bedeckend flehte ich sie an, Erbarmen zu haben – ich wolle mit ihr reden – es sprenge mir die Brust, es schnüre mir die Kehle zu – ich müsse ersticken. –Aber sie erwachte nicht. Gekrümmt in ihren Schmerzen lag sie da, ein trauriges Knochenhäuflein. – – Auf ihren Backenknochen glühten kleine Flämmchen. – Ihr Atem keuchte. – Einmal regte sie die Lippen, als ob sie reden wollte, aber das Wort erstarb in einem tonlosen Gurgeln.

Welch fürchterliches Schweigen ringsumher! Die Uhr tickte, von der Wand her am Fenster zog leise klagend der Wind vorbei, und aus dem Innern des Zimmers hallten dumpf die Schritte des Wandernden – sonst alles still.

Und plötzlich war's mir, als hörte ich in dieser Stille das Blut in meinem eigenen Leibe quirlen und kochen. – Ich horchte. – Offenbar, das war mein Blut, das ungestüm durch die Adern jagte. – »Warum fließt es nicht ruhig und guter Sitte gemäß,« fragte ich mich, »wie es mein großer Entschluß verlangt? Ist nicht der Frevel ausgerissen mit allen Wurzeln – ausgebrannt durch tausend läuternde Feuer – steh' ich nicht als Priesterin hier, wunschlos, rein und segenspendend?«

Und wieder horchte ich! – Das sind Halluzinationen, sagte ich mir, aber doch wurde mir bange vor dem Jagen und Rauschen, das sich noch mit jedem Augenblicke zu verstärken schien. Ich sah einen Strom, der mich fortriß mit seinen Wirbeln – einen Strom von Blut. – Ein Felsen ragte daraus hervor mit jähen Zacken. Darauf stand mit flammenden Lettern ein Wort geschrieben, das Wort: Blutschuld – – –

Die Schritte tönten lauter. – Ich sprang auf .... Er kam, setzte sich auf das Kopfkissen, wischte ihr mit der flachen Hand den Schweiß aus der Stirn und ließ ihre Haare durch seine Finger laufen.

Verstohlen sah ich ihn von der Seite an. Kaum, daß ich noch zu atmen wagte. Seine Augen glühten rotunterlaufen in ihren Höhlen. Seine Lippen preßten sich in bittrer Anklage aufeinander! Versteint in schweigendem Schmerze saß er da. Die Begier, mich ihm zu nähern, schüttelte mich wie ein Fieberschauer. Doch wenn ich mich erheben wollte, legte es sich wie zwei eiserne Fäuste auf meine Schultern und drückte mich auf meinen Sitz zurück.

Endlich nannte ich seinen Namen und erschrak, – so fremd, so unheimlich erschien mir der Laut der eigenen Stimme.

Er wandte sich um und starrte mich an.

»Robert,« sagte ich, »warum sprichst du nicht zu mir? Es wird dir leichter werden, wenn du einen andern teilnehmen läßt an dem, was dich bedrückt.«

Da sprang er auf, trat an mich heran und ergriff meine beiden Hände. Heiß und kalt durchrieselte mich die Berührung. Aber ich zwang mich, ihm standzuhalten, und sah ihm fest ins Auge.

»Das ist das erste gute Wort, das du mir gönnst, Olga,« sagte er.

»Wie meinst du das, Robert?« stammelte ich. »Bin ich unfreundlich zu dir gewesen?«

»Unfreundlich nur?« erwiderte er; »wie einen Fremden, einen Eindringling hast du mich behandelt, hast mich vom Bette meines Weibes gescheucht.«

»Da sei Gott vor!« rufe ich und entringe mich ihm, denn ich fühle, daß ich ihm an die Brust sinken will.

Und er fährt fort: »Olga, wenn ich dir jemals Böses tat, – ich weiß nicht, was? aber es muß wohl so sein, sonst wäre dein Blick und dein ganzes Wesen nicht so streng und abweisend zu mir – wenn ich dir Böses tat, Olga – es war nicht meine Schuld – ich hab' es stets nur gut mit dir gemeint – ich hab' – du hättest hier immer wie in der Heimat sein können, hättest dich niemals unter fremden Leuten herumzutreiben brauchen – und hier im Angesichte Marthas, die wir doch beide lieben –«

Warum mußte er mir ihren Namen nennen? In mir flammte wild eine Freude auf, mir war, als wüchsen mir Flügel; da traf mich ihr Name wie ein Peitschenhieb. Ich biß mir die Lippen blutig. Ich wollte ja ruhig sein, wollte den Schutzengel spielen.

»Robert,« sagte ich, »du hast dich schwer in mir geirrt. – Ich hatte nie etwas gegen dich. – Nur scheu und trotzig bin ich geworden in der Fremde. Du mußt Geduld mit mir haben – mußt mir vertrauen – willst du?«

Da brach es wie Sonnenschein aus seinen Augen. »Ich habe dir ja so viel zu danken, Olga,« sagte er; »wie sollt' ich dir nicht auch ferner vertrauen? Sieh, von jenem Tage an, da wir zusammen in den Wald geritten waren, besinnst du dich?« – oh, ob ich mich besann! – »seit jenem Tage habe ich dich wie eine Schwester lieb gehabt, ja mehr als alle meine Schwestern. Und hab' dich gleichzeitig hochgehalten und verehrt wie meinen Schutzgeist. Du bist es ja gewesen – du wirst's auch ferner sein – nicht?«

Ich nickte stumm und preßte beide Hände gegen die Brust, – dann, als er es bemerkte, ließ ich sie sinken, aber ich taumelte drei Schritte weit zurück; ein Wunder war's, daß ich mich aufrecht hielt.

Er trat erschrocken auf mich zu. »Ich bin müde,« sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln, »komm, wir wollen uns setzen, die Nacht ist lang.«

So saßen wir uns denn gegenüber zu Fußenden des Bettes, das schmale Gestelle zwischen uns, hatten die Arme auf die Kante gestützt und schauten nach Marthas Antlitz hinüber, auf dem ein krampfiges Zucken hin und her lief. Ihre Augenlider schienen geschlossen, tief fielen die Schatten der Wimpern auf die Wangen; doch wenn man sich niederbeugte, sah man das Weiß der Hornhaut in fahlem Perlmutterglanze aus den dunklen Höhlungen hervorleuchten. Auch er gewahrte es.

»Als ob sie schon gestorben wäre,« murmelte er und barg den Kopf in den Händen.

»Und wenn sie stirbt,« fuhr er fort, »so stirbt sie nicht am Kinde, nicht an diesem elenden Fieber; nur allein an mir, Olga, geht sie zugrunde!«

»Um Gotteswillen, was sprichst du?« rief ich, die Arme gegen ihn ausstreckend.

Er nickte und lächelte bitter.

»Ich hab's ja gesehen, Olga, diese ganzen drei Jahre hindurch; doppelt und dreifach trage ich die Schuld. Erst ließ ich sie hangen und bangen sieben Jahre lang zwischen Hoffen und Verzweifeln, sog ihr so die Kraft aus Leib und Seele – mein Gott, sie hatte ja nicht viel davon – und dann schleppt' ich sie hinein in dieses Elend mit ihrem siechen Körper und ihrem gebrochenen Mute, wo alle ihr feindlich waren, und die, die ihr am nächsten stehen sollten, am feindlichsten. – Und ich selbst! – Ja, wär' ich selber froh und mutig gewesen, hätt' ich sorgen können, daß ihr Fuß an keinen Stein stoße, hätt' ich Sonnenschein über ihr Dasein gebreitet, dann hätte sie vielleicht gedeihen können an meiner Seite. Aber rauh und mürrisch war ich oft, wetterte in Haus und Hof umher und dachte nicht daran, daß jedes laute Wort sie zusammenzucken ließ, daß sie schon erbleichte, wenn ich nur die Stirn in Falten zog. Und sieh diese Handvoll Leben an, wie es daliegt – und mich dazu, den ungeschlachten, grobkörnigen Riesen! – Manchmal in der Nacht, wenn ich erwachte, hab' ich Angst bekommen, daß ich sie vielleicht in meinen Armen erdrücken könnte. Und schließlich hab' ich sie auch erdrückt! – Was ich brauchte, war ein Weib, stark und –«

Erschrocken hielt er inne und warf einen Blick, der beredt um Verzeihung bat, nach Marthas Antlitz hin; ich aber vollendete in Gedanken seine Rede. – – –

Als er das Zimmer verlassen hatte, packte mich ein wildes Freudengefühl. Es rauschte mir durch den Kopf wie ein Sturmwind, es wirbelte mir die Sinne durcheinander. Mein Stolz, mein Trotz, meine Selbstachtung, alles schien in ihm untergehen zu wollen.

Die Luft des Krankenzimmers lag schwül wie ein erstickendes Tuch auf meinem Kopfe. – Das Hirn brannte mir von den Karboldämpfen. Der Atem fing an, mir zu fehlen.

Ich floh nach dem Fenster, und die Stirn gegen die Kanten pressend sog ich die kalte Nachtluft ein, die durch die Ritzen ins Zimmer quoll. – –

Der Morgen brach durch die Gardinen – kalt – grau in Nebeln verschwimmend. – – – Mattdurchleuchtete Wolken wälzten sich am Horizont empor und warfen einen fahlen Schein über die triefenden Bäume, die über Nacht noch kahler geworden schienen.

Welch eine Nacht!

Und wie viele, schlimmer als sie, werden ihr folgen? Was für Phantome, von Finsternis erzeugt, in Grauen geboren, werden in ihrem Schutze vor meine fiebernden Sinne treten?

Fröstelnd schlich ich mich in einen Winkel. Ich hatte Furcht vor mir selber. – – –

Die Stunden des Morgens vergingen, und allgemach wurde es wieder ruhiger in mir. – Die Erinnerung an diese Nacht mit ihrem Fieberrausch und ihren Gewissensqualen verwischte sich. Was ich erlebt und gefühlt hatte, wurde zum Traume. Eine bleierne Mattigkeit überfiel mich, ich schloß die Augen und dachte an nichts.

Und dann kam eine glückselige Stunde. Es war gegen zehn Uhr, da schlug Martha plötzlich ihr treues, blaues Auge groß und freundlich zu mir auf.

Mir war, als hätte Gottes Auge sich voll Mitleiden und Vergebung mir Sünderin zugewandt.

Eine reine, heilige Freude durchströmte mich. Ich sank über den Leib der Schwester hin und verbarg mein Gesicht an ihrem Halse.

Mitten in ihren Schmerzen fing sie zu lächeln an, legte mühsam die Hand auf meinen Scheitel und flüsterte mit ganz leiser Stimme: »Ich hab' euch wohl große Angst gemacht?« Der Hauch ihrer Worte umrauschte mich wie ein friedebringender Gesang, einen Augenblick war's mir, als müßte der Druck von meiner Brust sich lösen, aber zu weinen vermochte ich nicht.

»Wie fühlst du dich?« fragte ich.

»Wohl, ganz wohl!« erwiderte sie, »nur das Bettuch drückt mich so sehr!«

Es war das leichteste, das ich hatte finden können. Ich sagte es ihr; da seufzte sie und meinte, sie sei ein Quälgeist, ich solle Geduld mit ihr haben.

Und dann lag sie wieder ganz still und sah mich fortwährend wie im Traume an. Endlich nickte sie ein paarmal und meinte: »Es ist gut so – ganz gut!«

»Was ist gut?« fragte ich.

Da lächelte sie wieder und schwieg.

Und darauf kamen die Schmerzen von neuem. Sie schüttelte sich und schrammte mit den Zähnen, aber sie stieß nicht einen Klagelaut aus.

»Soll ich nach Robert rufen?« fragte ich; denn mich übermannte die Angst.

Sie nickte. »Und bring auch das Kind,« flüsterte sie.

Ich tat, wie sie geheißen. Sie ließ das kleine Geschöpf neben sich auf das Bett legen und schaute lange darauf nieder. Auch machte sie einen Versuch, es zu küssen, aber sie war zu schwach dazu.

Noch ehe Robert kam, war sie in ihren Schlaf zurückgesunken.

Er warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu und meinte: »Warum hast du mich nicht früher holen lassen?«

»Glaub nur, es ist besser so,« antwortete ich, »dein Anblick würde sie zu sehr erregt haben.«

»Du findest doch immer das rechte,« sagte er und ging hinaus, glücklicherweise ohne die Glut zu bemerken, die mir bei seinem Lobe ins Gesicht schlug.

Nun lag sie wieder bewußtlos da – die Backen rot und die Stirn voll Schweiß. Und dazu das unheimliche Spiel der Lippen! Das klatschte und knallte in einem fort.

Gegen ein Uhr kam der Doktor, maß die Temperatur und konstatierte ein Sinken des Fiebers.

»Das wird noch manchmal auf und nieder klettern,« sagte er – auch auf unsere Freude über das Erwachen ging er nicht ein. »Sprecht nicht mit ihr, wenn sie zu sich kommt,« mahnte er, »und laßt vor allem sie selber nicht sprechen. Sie hat jedes Atom von ihren Kräften nötig.«

Bevor er wegging, fixierte er mich lange mit den Augen und schüttelte bedenklich den Kopf. Ich fühlte, wie mir die Glut des Schuldbewußtseins in die Wangen schoß. Mir war, als müßte er mich durch und durch sehen.– –

Nachmittags hatte ich mir ein Buch aus meinem Zimmer geholt, das erste beste, das ich erfassen konnte, und darin zu lesen versucht; aber die Buchstaben tanzten mir vor den Augen. Wie Fledermäuse schwirrte es mir im Kopfe hin und her.

Es dauerte lange, bis ich auch nur den Titel entzifferte. Ich las »Iphigenie«. Da warf ich, von einem plötzlichen Schreck erfaßt, das Buch weit von mir in eine Ecke, als hätte ich eine glühende Kohle in der Hand gehalten.

Gegen Abend schienen Marthas Schmerzen ärger zu werden. Ein paarmal schrie sie hell auf und wand sich wie im Krampfe.

Während ich bei einem solchen Anfalle um sie beschäftigt war, stand plötzlich die Alte neben mir.

Und wie ich sie ansehe mit ihrem giftigen Blick, mit ihrem einstudierten Händeringen und dem heuchlerischen Herunterziehen der Mundwinkel, da kommt mir mit einem Male der Gedanke: »Da ist eine – die wartet auf Marthas Tod – die wünscht ihn herbei.«

Wie ein roter Schleier legt es sich um meine Augen, ich kralle die Hände zusammen, – viel fehlte nicht, so hatte ich ihr die Schuld ins Gesicht geschleudert.

Und während ich, noch ganz erstarrt bei diesem Gedanken, vor ihr stand, faßte sie mich beim Arme und versuchte, mich kurzweg zur Seite zu schieben, um sich an Marthas Kopfkissen aufzupostieren. – Vielleicht hoffte sie mich durch dieses rücksichtslosere Vorgehen einzuschüchtern.

»Liebe Tante,« sagte ich, ihre Hand von meinem Arme lösend, »ich habe Sie schon einmal darauf aufmerksam gemacht, daß dies mein Platz ist und daß niemand in der Welt ihn mir streitig machen wird. Ich ersuche Sie dringend, Ihre Besuche auf die andern Zimmer einzuschränken.«

»So? Das wollen wir mal sehen, mein Töchterchen,« keifte sie los; »wollen doch mal den Hausherrn fragen, wer hier mehr zu sagen hat, seine alte, gute Mutter oder die hergelaufene polnische Sippe?«

Und weiter keifend zog sie von dannen.

Bebend vor Zorn schritt ich im Zimmer auf und ab. – Daß sich diese schmerzensreiche Mutter so rasch und so gründlich zur Megäre rückverwandeln werde, das hätte ich selber nicht gedacht. – Es fehlte bloß noch, daß sie auch ihren tiefgeheimsten Wünschen Ausdruck lieh.

»Oh, wenn es wahr wäre!« rief ich, und mich schüttelte das Grauen. »Martha in den Tod wünschen! Martha, hörst du? Dich in den Tod wünschen! – Wen hast du je gekränkt? Wem hast du je im Weg gestanden? Wer lebt auf der Welt, der etwas andres als Liebe und Verzeihen von dir erfahren hätte? – – – Wenn es wahr wäre, wenn ein menschliches Wesen so verworfen sein sollte, und dürfte dennoch ungestraft auf dieser Erde wandeln – wahrlich, man müßte verzweifeln an Gott und Schicksal und allem Guten.«

So sprach ich und konnte nicht satt werden, Schmach und Schande auf das Haupt der Alten zu häufen.

Und dann kam mir zum Bewußtsein, in welche unwürdige Wut ich mich hineingeredet hatte.

Aber ich fühlte mich dadurch erleichtert, ich wagte freier aufzuatmen, und als ich die arme mißhandelte Iphigenie im Staube liegen sah, ging ich hin und hob sie auf.

»Was habe ich denn auch verbrochen,« sagte ich mir, »daß ich nötig hätte, mich vor meinem Vorbild zu verkriechen? – Habe ich denn etwas Andres getan, als einem Verzweifelnden Trost zugesprochen? Wurde ein einziges Wort, ein einziger Blick gewechselt, welche die Schwester nicht hätte sehen und hören dürfen? – Was da drinnen brennt und tobt, wen geht's was an, wenn ich es fein für mich behalte?«

So sprach ich zu mir und glaubte mich fast gerechtfertigt, selbst vor dem eigenen Gewissen. Verblendete, die ich war!

– – – – – – – – – – –

Und wieder kam die Dämmerung, wieder flammte die sinkende Sonne über der Stadt und warf ihr rötliches Licht durch die Fenster.

Marthas Gesicht war purpurn übergossen, in ihren Haaren funkelten kleine Lichter, und die Hand, die auf der Decke lag, schien wie von innen durchleuchtet.

Ich zog den Bettschirm enger um sie, damit das Geflimmer sie nicht belästige.

Da sah ich an seiner Wand einen welken Efeukranz hängen, den ich bis dahin nicht bemerkt hatte, einen Kranz wie die, welche ich zu den großen Festen an das Grab der Eltern zu schicken pflegte. Vielleicht stammte er auch dorther. – In diesem Augenblick sah er aus wie aus Flammen geflochten, alles lebte gespensterhaft in ihm. Und als ich genauer hinsah, da war mir gar, als ob er sich in die Runde zu drehen beginne und eine Kaskade von Funken um sich her sprühe – wie ein leibhaftiges Feuerrad.

»Ei, schau, du fängst ja schon an Visionen zu sehen,« sagte ich zu mir und versuchte im Auf- und Niederschreiten neue Kraft zu gewinnen. Aber ich mußte mich an den Stuhllehnen festhalten, so taumelig war mir zumute. Ich rang nach Atem.

Oh, der Karbolgeruch – dieser süßlich – ekelhafte Dunst! Er umwirbelte mir die Sinne, er umnachtete mir die Gedanken, er warf eine Ahnung von Tod und Schrecken um sich her.

Da kam der alte Doktor, sah mir scharf ins Gesicht und befahl mir in seiner väterlich-barschen Weise, ich solle sofort ins Freie gehen, frische Luft zu schöpfen. Er selber werde wachen, bis ich wiederkäme.

Und trotz meines Widerstrebens schob er mich zur Tür hinaus.

Hätte ich geahnt, was meiner wartete, keine Macht der Erde würde mich über die Schwelle gebracht haben!

Nun trat ich tief atmend auf den Hof hinaus. Wie ein kühles Bad umrieselte die Abendluft mein brennendes Gesicht.

Der letzte Schimmer des Tages war im Schwinden, in bläulicher Nebelhülle senkte sich die Herbstnacht zur Erde nieder.

Die beiden Doggen sprangen mir entgegen und jagten dann den Burgruinen zu.

Willenlos folgte ich der Fährte, halb im Schlafe wandelnd, denn der Dunst des Krankenzimmers hatte mit noch immer die Sinne benommen.

Ein Moderdunst von welkenden Kräutern und verwittertem Gestein wehte mir aus dem Gemäuer entgegen. Ein altes Tor wölbte seinen Bogen über mir. Ich trat in das Innere. Schwarz türmten sich die Mauern rings um mich her, und der Nachthimmel schaute mit bläulichem Leuchten darauf nieder.

Da sah ich unweit von mir eine dunkle Gestalt, die ich sofort an ihren Umrissen erkannte, zwischen dem Gerölle kauern.

»Robert!« ruf' ich überrascht.

Er springt auf. »Olga?« ruft er zurück. »Bringst du böse Nachricht?«

»Nicht doch,« sag' ich, »der Ohm Doktor hat mich hinausgeschickt und –«, da ist's mir plötzlich, als weiche der Boden unter meinen Füßen.

»Nimm dich in acht!« hör' ich seine warnende Stimme – aber schon sink' ich, zugleich mit bröckelndem Gestein, wohl eine Mannslänge tief in die Finsternis hinab.

»Um Gotteswillen – rühr dich nicht!« ruft er mir nach, »sonst fällst du noch tiefer.«

Halb betäubt lehn' ich mich gegen die Wandung der Grube. Zu meinen Füßen schimmert ein schmaler Streifen Erde, auf dem ich stehe; dahinter geht es schwarz ins Bodenlose hinab.

Neben mir seh' ich ihn langsam und vorsichtig auf den Stufen einer Treppe, wie es scheint, mir nachsteigen.

»Wo bist du?« ruft er, und gleichzeitig fühl' ich seine Hand, die sich tastend nach mir ausstreckt.

Da stürz' ich auf ihn zu – und klammere mich an seinen Hals. Gleichzeitig fühl' ich mich hoch gehoben und frei an seiner Brust schweben. Mir war, als hätte man mir die Adern geöffnet, als fühlte ich in wohligem Erschlaffen mein warmes Lebensblut über mich dahinfließen.

Sein Atem wehte mir heiß ins Angesicht. Für einen Augenblick war's mir, als hätte er in leisem Kusse meine Stirn berührt. – – –

Dann gingen wir schweigend zum Herrenhause zurück. Ich wich von seiner Seite, so weit ich konnte, aber in meinem Herzen jubelte es: »Er hat mich im Arm gehalten.« – – –

Auf der Schwelle des Krankenzimmers kam der alte Physikus uns entgegen, reichte uns seine beiden Hände und sagte: »Sie hält sich besser, Kinde; als ich erwartet hatte.«

In meinem Herzen jubelte es: »Er hat mich im Arm gehalten.«

– – – – – – – – – – – – – –

Und nun jene Nacht! – Noch steht jegliche Minute wie eine Furie vor mir aufgerichtet und starrt mich mit brennenden Augen an! – Jene Nacht will ich an mir vorüberziehen lassen, wie man Gespenster aus dem Grabe ruft, damit sie durch ihr Zeugnis verjährte Blutschuld neu beleben. – – –

Was ich verbrach? – Nichts. –

Meine Hände sind rein. – Und an dem großen Morgen, wenn unsere Werke abgewogen werden, dürfte ich kühnlich vor den Thron des Höchsten treten und ihm sagen: »Schmücke mich mit deinem weißesten Gewande, befestige das zarteste Schwanenflügelpaar an meinen Schultern und laß mich in der vordersten Reihe sitzen, denn ich habe ein schönes Stimmmaterial, das nur etlicher Übung bedarf, um dem Paradiese Ehre zu machen!«

Aber es gibt Verbrechen, ungetane, unausgesprochene, die wie ein Pesthauch in die Seele dringen und sie vergiften von Grund aus, bis auch der Leib daran zuschanden geht.

Eine Nacht war's, wie fast diese heut. – Der feuchte Herbstwind zog in kurzen Schauern am Hause vorüber und wühlte sich in den halbentlaubten Pappelkronen fest, die sich mit Knistern und Rauschen ineinanderneigten. Kein Stern stand am Himmel; doch ließ ein unbestimmtes Leuchten die schwärzesten Wolkenmassen erkennen, die in Fetzen zerrissen vorüberjagten.

Die Nachtlampe wollte nicht brennen, – ihr flackernder Schimmer rang mit den Schatten, die unaufhörlich über Bett und Wände tanzten. – Der Efeukranz hing schwarz und zackig mir gegenüber, anzuschauen wie eine Dornenkrone.

Es war zehn Uhr etwa, da fing Martha zu phantasieren an.

Sie richtete sich im Bette auf und sagte mit voller, vernehmbarer Stimme: »Ich muß nun wirklich aufstehen – es ist gar zu arg!«

Zuerst schlug mir die Freude hell ins Gesicht, denn ich glaubte, sie sei zur Besinnung gekommen.

»Martha!« Ich sprang auf und faßte ihre Hand.

»Ich habe doch alles parat gelegt – Hemde und Strümpfe und Schuhe, daß es ein Blinder im Schlafe finden kann. – Und Maß braucht ihr auch nicht nehmen zu lassen – – keine Umstände – keine Umstände –« Und dabei starrte sie mich aus verglasten Augen an, als sähe sie ein Gespenst; dann plötzlich stieß sie einen gellenden Schrei aus und rief: »Wälzt mir die Steine vom Leib – sie zerdrücken mich. – Warum habt ihr mich unter Steinen begraben?«

Ich nahm das dünnste Laken, das ich finden konnte, und breitete es statt der Bettdecke über sie, aber auch das brachte ihr keine Linderung. Sie schrie und sprach in einem fort, und dazwischen murmelte sie geschäftig wie eine, die halblaut etwas auswendig lernt.

So verging wohl eine Stunde. Ich saß vor meinem Tische und starrte sie an, denn in mir gärte die Angst, es müsse jeden Augenblick eine neue, noch entsetzlichere Erscheinung auftreten. Von Zeit zu Zeit, wenn sie sich ein wenig beruhigte, fühlte ich meine Glieder schlaff werden, dann schloß ich die Augen und ließ mich zurücksinken, und jedesmal war mir zumute, als ob ich in Roberts Arme sänke. – – Doch hatte ich kaum noch ein dumpfes Gefühl, als ob ich damit etwas Sündliches beginge; die Ermattung war zu groß. – Auch war mir zumute, als sähe ich in meinem Kopfe fortwährend Blasen aufspringen und Rosen sich entfalten, die immer neue Kränze von Blumenblättern hervorwälzten; dann wieder fuhr es mir zischend von einem Ohre zum andern, als hätte man einen Schwefelfaden quer durch den Kopf gelegt und angezündet.

In diesem Zustande nervöser Überreizung, hin und her geworfen zwischen Aufschrecken und Erschlaffen, fand mich Robert, der gegen Mitternacht ins Zimmer trat. Er hatte sich ein wenig übers Bett legen wollen, um dann für den Rest der Nacht gemeinsam mit mir zu wachen; aber Marthas Schreie hatten auch ihn emporgejagt.

Als ich ihn sah, war alle Müdigkeit aus meinen Gliedern fortgewischt; ich fühlte, wie mir ein neuer Blutstrom durch den Körper schoß, und sprang auf, ihm entgegenzutreten.

»Versuch ein wenig zu ruhen,« sagte er, aus müden, verquollenen Augen zu mir niederschauend, »du wirst all' deine Kraft vonnöten haben.«

Ich schüttelte den Kopf und wies auf die Schwester, die eben mit den Händen um sich schlug, als wolle sie in ihrem Wahne mich von seiner Seite reißen.

»Du hast Recht,« fuhr er fort. »Wer sollte wohl zum Schlafen Ruhe haben mit diesem Bilde vor Augen?« Und dann stellte er sich mit gefalteten Händen vor das Bett, neigte sich zu ihr nieder und drückte einen leisen Kuß auf ihre wachsfarbene Stirn.

»So hat er auch mich geküßt!« rief es in mir.

Darauf setzte er sich zu Fußenden auf das Bett, so dicht neben meinen Stuhl, daß der Arm, den er auf die Tischplatte stützte, meine Schulter fast berührte.

Im stumpfen Brüten der Verzweiflung starrte er zu ihr hinüber.

»Komm zu dir, Robert!« flüsterte ich ihm zu, »es kann ja noch alles gut werden.«

Er lachte grell auf. »Was meinst du mit dem gut?« rief er; »daß sie am Leben bleibt und einen siechen Leib, eine zerschmetterte Seele herumschleppt, sich und den andern zur Last? Weißt du denn nicht, daß dies das Entweder – Oder ist, zwischen dem wir zu wählen haben?«

Ein kalter Schauer fuhr mir durch Mark und Bein. Doch dabei war mir, als sähe ich die Wände sich öffnen und eine unbegrenzte leuchtende Ferne vor mir ausgebreitet.

»Wolltest du nicht Priestern sein in diesem Hause?« klang eine mahnende Stimme in mir, aber sie erstarb, von dem Rauschen meines Blutes erstickt.

»Was nutzt das Hadern?« fuhr er fort; »ich hab' mich schon lange darein ergeben, ruhig still zu halten, wenn von oben her ein Schlag nach dem andern auf mich niederfährt. Ein elender, schwachmütiger Geselle bin ich geworden. Hab' mich vom Schicksal binden lassen an Händen und Füßen, und ob ich mich winde, daß mir das Blut aus den Gelenken spritzt, es hilft nichts: ohnmächtig bin ich und bleib' ich und – damit basta! Aber ich mag mich nicht in Wut reden. – Solch eine hilflose Wut ist verächtlicher als heuchlerische Demut.«

Ein Verlangen loderte in mir auf, mich vor ihm niederzuwerfen und ihm zuzurufen: Mache mit mir, was du willst: opfere mich, zertritt mich, laß mich sterben für dich; aber sei mutig und glaube wieder an dein Glück – da plötzlich traf aus Marthas Munde ein Wimmern mein Ohr, so kläglich, so jammervoll, daß ich zusammenfuhr, wie von einem Geißelhieb gezüchtigt.

Ich wollte aufschreien, aber die Angst vor ihm preßte mir die Kehle zusammen – – nur ein Stöhnen entquoll meiner Brust, das ich mit Gewalt verschluckte, als ich gewahrte, wie er mir mit besorgtem Blicke in die Augen sah.

»Kümmere dich nicht um mich!« sagte ich, mich zu einem Lächeln zwingend; »wenn es nur ihr erst besser geht.«

Er verschränkte die Arme über dem Knie und nickte ein paarmal bitter vor sich hin.

Und dann wieder hörte das Wimmern auf. Sie hatte das Kinn auf die Brust herabgesenkt und die Augen halb geschlossen. Fast hätte man sie für schlafend halten können; doch das Murmeln und Schwatzen dauerte fort.

Ganz still wurde es in dem halbdunklen Gemach. Nur der Wind jagte mit leisem Sausen am Fenster vorbei, und zwischen den Balken der Decke raschelten die Mäuse.

Robert hatte den Kopf in die Hände vergraben und horchte auf Marthas unheimliches Reden. Allgemach schien er ruhiger zu werden, seine Atemstöße wurden regelmäßiger und verlangsamten sich, bisweilen neigte sein Kopf sich zur Seite und zuckte im nächsten Augenblicke wieder empor.

Die Schlaftrunkenheit hatte ihn überwältigt.

Ich wollte ihn bewegen, zur Ruhe zu gehen; aber ich fürchtete mich vor dem Laut meiner Stimme, und darum schwieg ich.

Immer häufiger schwankte sein Oberkörper zur Seite, bisweilen streifte sein Haar meine Wange – und tastend suchte er umher, ob er nicht irgendwo eine Stütze fände.

Und dann plötzlich sank seine Stirn auf meine Schulter herab, wo sie ruhen blieb.

Ich zitterte am ganzen Leibe, als wäre mir ein unerhörtes Glück widerfahren. Eine unwiderstehliche Lust wandelte mich an, das buschige Haar zu streicheln, das über mein Gesicht fiel. Dicht an meinen Augen sah ich ein paar Silberfäden schimmern. »Es beginnt also schon grau zu werden,« dachte ich bei mir; »es ist hohe Zeit für ihn, daß er schmeckt, was Glück bedeutet.« Und dann streichelte ich ihn wirklich.

Er seufzte im Schlafe und suchte sich mit dem Kopfe besser zurechtzunesteln.

»Er liegt unbequem,« sagte ich zu mir, »du mußt näher an ihn heranrücken.«

Ich tat es. Seine Schulter lehnte sich gegen die meine, und sein Kopf sank gegen meine Brust.

»Du mußt den Arm um ihn schlingen,« rief es in mir, »sonst findet er seine Ruhe doch nicht.«

Zwei-, dreimal versuchte ich es, und ebenso oft fuhr ich zurück.

Wenn Martha plötzlich erwachte! – Aber ihre Augen sahen ja nichts – ihre Ohren hörten ja nichts.

Und ich tat's. – –

Da packte mich eine wilde Freude; verstohlen preßte ich ihn an mich – und in mir jauchzte es: Oh, wie wollt' ich dich hegen und hüten; wie wollt' ich die bösen Falten von deiner Stirn küssen und die Sorgen aus deiner Seele! Wie würd' ich kämpfen für dich mit meiner jungfräulichen Kraft und nimmer ruhen, bis dein Auge wieder froh und dein Herz voll Sonne! Aber dazu – –

Ich schaute nach Martha hinüber. Ja, sie lebte, lebte noch immer. Ihre Brust hob und senkte sich in raschen, kurzen Stößen. Lebendiger schien sie denn je.

Und plötzlich flammte es vor mir auf, und mir war, als läse ich deutlich drüben an die Wand geschrieben die Worte:

»O möchte sie sterben!«

Ja, das war's, das war's. –O möchte sie sterben! O möchte sie sterben!


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