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5

Die Lichter an Olgas Sarge waren heruntergebrannt. Die Gäste, die so lange in feierlichem Schweigen die Bahre umstanden hatten, fingen an, durcheinander zu wogen und sich nach dem Büfett umzuschauen.

Frau Hellinger, welche die Kondolationen entgegennahm und dabei mit großem Aufwand von Tränen und Weißzeug die Tugenden der Verstorbenen emporhob, erwies sich plötzlich mitten in ihrem Schmerze als eine vorsorgliche und splendide Hausfrau. Die Gäste atmeten erleichtert auf, als die Türen des Speisezimmers sich öffneten und von der strahlenden Tafel her die Braten, die Kompotts und der Heringssalat ihnen lieblich entgegendufteten.

Herr Hellinger senior lobte den Herrn und trank mit einigen bevorzugten Freunden den extrafeinen Rotwein, den er der Feier des Abends gewidmet hatte. Man war sich noch uneins, ob ein harmloses Bostonspiel die allgemeine Trauer beeinträchtigen werde, und beschloß, Abgesandte an die Hausfrau zu senden, damit diese die Erlaubnis gebe.

Es herrschte Leben und Bewegung im Hellingerschen Hause; man hätte glauben können, auf einer Hochzeit zu sein.

Der Physikus, der spät in diese fröhliche Gesellschaft hineinschneite, sah sich voll Sorge nach Robert um. Er war nirgends zu entdecken.

Alsdann nahm er sich einen der Gäste beiseite und forschte ihn aus. Ja, er war dagewesen, hatte mit seltsam scheuen Augen in die Runde geschaut und war schweigend zur Seite gewichen, wenn man ihm die Hand entgegenstreckte. Aber schon nach wenigen Minuten hatte man sein Verschwinden bemerkt.

Der Physikus ging in den Hausflur und spähte unter der Garderobe der Gäste nach Roberts Mantel. Er lag noch da.

Mit der Ungeniertheit eines alten Hausfreundes begab er sich sodann auf die Suche durch die hinteren Räume des Hauses, die still und einsam dalagen, denn die Dienstboten waren beim Servieren beschäftigt.

In einer engen, dunklen Kammer, dort, wo ausgediente Möbel sich aufeinander türmten, fand er ihn, auf einer umgestürzten Holzkiste sitzend, wie er, den Kopf in die Hände vergraben, vor sich hin brütete.

»Robert, mein Junge, was treibst du hier?« rief er ihm entgegen. Der hob langsam den Kopf und sagte: »'s geht wohl hübsch lustig zu – bei euch da vorne?«

Der Physikus legte die Hände auf seine Schultern: »Ich bin in Sorge um dich, mein Junge. Seit drei Tagen gönnst du keinem von uns ein Wort – du bist auf dem Wege zum Verrücktwerden, wenn du es so weiter treibst.«

»Was willst du?« erwiderte Robert mit einem Seufzer, der wie ein Aufschrei aus seiner Brust hervorquoll. »Ich bin ruhig, ganz ruhig,« – dann stützte er den buschigen Kopf aufs neue in seine zwei Hände und wollte in sein Brüten zurücksinken.

Der Alte setzte sich neben ihn und begann auf ihn einzureden. Er vergaß nichts von allem, was man in solchen Fällen zu sagen pflegt, und schenkte noch manch trostvolles Kraftwort eigenster Fabrik obenein.

Regungslos saß Robert da – kaum, daß er ein Zeichen der Teilnahme von sich gab. Doch als der Alte kein Ende finden wollte, unterbrach er ihn und sagte: »Laß das, Ohm, das ist Zuckerwerk für kleine Kinder. – Auf die eine Frage, von der Tod und Leben für mich abhängt, kannst auch du mir keine Antwort geben.«

»Welche Frage?«

»Ohm, sieh, ich bin jetzt ruhig – merkwürdig ruhig – kein Fieber, kein Wahnwitz spricht aus mir – und du wirst mir glauben, wenn ich dir sage: ich weiß nicht – wie ich diese Nacht überleben soll!«

»Um Gotteswillen, was hast du vor?«

Robert zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht,« sagte er; »was der Augenblick mir eingibt, wird mir recht sein. Mir tut nur das Wurm leid, das ohne Vater weiterleben soll – vielleicht nehm' ich's mit mir auf die Reise – ich weiß es nicht. Ich weiß nur das eine, daß ich's so nicht weiter treiben kann!«

Der Alte, vor Angst am ganzen Leibe zitternd, überhäufte ihn mit Vorwürfen. Das sei feig, das sei unmännlich und nur eines elenden Schwächlings würdig.

Ruhig hörte ihm Robert zu, dann sagte er: »Du hättest Recht, Ohm, wenn es ihr Tod wäre, der mich an mir und meinem Glücke verzweifeln läßt! Aber, du lieber Gott« – er lachte grell und bitter auf – »den Anspruch auf mein Glück habe ich mir schon lange abgewöhnen können. Was mich anlangt, so würde ich ruhig meine Trauer um sie tragen – ich kenne das ja, hab' ja schon eine in die Grube gesenkt! – und weiter scharren und Geld kratzen, wie ich so lange getan habe und mitten im größten Schmerze getan habe; denn die Zinsen, weißt du, die kümmern sich nicht darum, wie es im Kopfe aussieht und ob die Hand erstarrt in Schmerz und Verzweiflung, die wollen bezahlt sein! Aber das ist es nicht, Ohm, was mir den Kopf so wüst macht – denn mir ist sehr wüst, du kannst es mir glauben; vor meinen Augen sprühen fortwährend Funken, durch meinen Körper zuckt es, und das Blut jagt mir wie Feuer durch die Adern. – Und doch bin ich ganz ruhig dabei und sehe alles weit und breit so klar, als ob ich es mittendurch schauen könnte. Nur das eine kann ich nicht erkennen, das steht wie ein dunkles Gespenst bei Tag und Nacht vor meinen Augen, schattenhaft und fürchterlich, und wenn ich's fassen will, entrinnt es mir, das eine: Warum ist sie gestorben?«

Der Alte fuhr zusammen. Er gedachte des Briefes und des Versprechens, das die Tote darin von ihm gefordert hatte.

Robert fuhr fort: »Da ist eine Stimme, die schreit mir immer in die Ohren – – du bist schuld daran! Das ›Wie‹ weiß ich nicht! – Denn so viel ich auch in meiner Seele herumwühle – ich finde nichts, was ich Übles an ihr getan hätte, – und doch läßt sich die Stimme nicht zum Schweigen bringen. – Ich sage mir: das ist eine fixe Idee – ich sage mir: du quälst dich selber – ein Narr, ein Frevler bist du – Frevler an dir und deinem Kinde – aber es hilft nichts, Ohm! – sie läßt sich nicht zum Schweigen bringen. – Und hat sie am Ende nicht Recht, Ohm? – Wäre Olga ohne mich nicht noch am Leben? – Wäre das nicht geschehen, was am Abend vorher – –«

Zusammenschauernd hielt er inne und bedeckte das Gesicht mit seinen Händen. Ein tränenloses Schluchzen erschütterte den mächtigen Körper. Dann sagte er: »Ohm, ich mag – ich kann nicht daran denken – es benimmt mir die Sinne – mir ist – als müßt' ich alles ringsum zerbrechen und zerschmettern mit meinen Fäusten.«

»Und doch mußt du dich zusammennehmen, mein Junge,« sagte der Alte, »und mir alles der Reihe nach erzählen, denn nur so können wir Licht in das Rätsel bringen.«

Ein Schweigen entstand in dem finsteren Raume. Der Alte sah die Umrisse der massigen Gestalt, die sich schwarz gegen das helle Kammerfenster abhoben – er sah das Arbeiten des Brustkastens, der sich hob und senkte und in dem es keuchte und stöhnte wie in dem Krater eines Vulkans – er fühlte auf der Haut die heißen Wellen des Atems, die ihm aus Roberts Munde entgegenströmten.

»Nimm dich zusammen, mein Junge,« wiederholte er leise.

Robert kämpfte mit einem Entschlusse. Dann reckte er sich wie in neu erwachender Energie und sagte:

»Es ist gut, Ohm; du sollst alles wissen. – – – Seit dem Tage, als sie meine Werbung so stolz und so kühl zurückgewiesen hatte, war ich ihr nicht mehr begegnet. Zwar kam sie nach wie vor auf die Burg, nach dem Kinde und nach der Wirtschaft zu sehen; ich wußte ja nun, es geschah um Marthas, nicht um meinetwillen – aber es war stillschweigende Vereinbarung zwischen uns, daß wir einander aus dem Wege gingen. Sie wählte die Stunden, in denen sie mich draußen in Scheune und Stallung wußte, und ich kehrte nicht früher ins Haus zurück, als bis ich sie im Torweg hatte verschwinden sehen.

Am Dienstag nun mußte ich dringenderweise nach dem Vorwerk hinaus; aber eine halbe Meile hinter der Stadt brach mir auf dem schlechten Wege die Achse. Da ich keinen Kutscher mitgenommen hatte und weit und breit niemand zu sehen war, so setzte ich mich denn selber auf das angeschirrte Pferd und ritt zurück, um Hilfe zu holen. Auf dem Hofe sagte mir der Inspektor, das gnädige Fräulein sei vor einer Weile heimgegangen. – Es fing ja auch schon stark an, dunkel zu werden. – Na, da hat's wohl keine Gefahr, denke ich mir und gehe ins Haus.

Als ich die Tür des Wohnzimmers aufmache, sehe ich in der Dämmerung einen schwarzen Schatten, der eilends hinaushuscht.

Wer mag denn das sein? denk' ich und geh' hinterher.

Im Zimmer des Kindes find' ich – sie, wie sie eben eifrig beschäftigt ist, die Tür nach dem Korridor zu entriegeln, die des Zuges halber, du weißt, immer verschlossen ist. Ich erschrecke und will zurück, aber ich kann nicht, denn die Glieder sind mir wie gelähmt. – Als sie mich sieht, hält sie inne und schlägt – wie von Scham gepackt – die Hände vors Gesicht.

Da, Ohm, überwältigt's mich, daß ich auf sie zustürzen will, aber noch zur rechten Zeit besinn' ich mich, wer sie ist – und wer ich bin.

Ich seh', wie die Hände ihr zittern. –

›Sei mir nicht böse, Olga,‹ sagt' ich stotternd, ›ich hab' dir nichts zuleid tun wollen. Es ist ein Zufall, daß ich hier bin, Ich werde es hinfort so einrichten, daß du mir niemals begegnen sollst.‹

Da läßt sie die Hände sinken und sieht mich an, daß mir heiß und kalt wird vor diesem Blick. So hat mich die Martha niemals angesehen, denk' ich bei mir. – Ich will etwas reden, aber die Worte versagen mir, so verwirrt und beklommen bin ich. Sie hat die hohe Gestalt dicht an die Tür gedrückt, als ob sie dort Schutz suchen wolle vor mir. Ich höre ihr schweres, heißes Atmen. Endlich fass' ich mir ein Herz. ›Olga,‹ sag' ich – ›es war eine Vermessenheit von mir, daß ich es wagte, die Hand nach dir auszustrecken; ich weiß wohl, ich bin deiner nicht wert, – ich bitte dich herzlich, vergiß es, ich werde dich nie daran erinnern.‹

Und in diesem Augenblicke, Ohm – wie soll ich es dir schildern – laß mich eine Sekunde – die Erinnerung – doch, was hilft's – ich werd' stark sein, Ohm, ich werd' mich zusammennehmen – in diesem Augenblicke stürzt sie auf mich zu, umschlingt mich und bedeckt mein Gesicht mit Küssen, und dann plötzlich sinkt sie mit einem Seufzer an mir nieder und bleibt vor meinen Füßen liegen, als hab' sie der Schlag getroffen. Wie im Traume starr' ich auf sie nieder.

›Es ist nicht wahr!‹ ruft's in mir, ›es ist Wahnsinn – wie zu einer Gottheit wollt'st du zu ihr aufschauen – und nun wirft sie sich fort an einen, der ihrer nicht wert ist.‹

Ich scheute mich fast, sie zu berühren; aber aufheben mußt' ich sie doch; und wie ich sie in meinen Armen halte, da fängt sie so bitterlich zu schluchzen an, als wolle sie sich die Seele aus dem Leibe weinen.

›Olga, warum weinst du?‹ sag' ich, ›es ist ja nun alles gut,‹ – aber auch ich Riesenkerl weine los wie ein kleines Kind.

›Vergib mir, Robert!‹ hör' ich ihre Stimme an meinem Ohre, ›ich habe dich schwer gekränkt, aber wird's nie – nie wieder tun.‹

›Und wirst mich lieb haben fortan?‹ frag' ich – denn ich kann es noch immer nicht fassen.

›O, du – du,‹ sagt sie, ›ich liebe dich ja, wie nichts je auf der Welt!‹ und verbirgt das Gesicht an meinem Halse.

Ohm, nun hör aber weiter!

Wie ich den dunklen Lockenkopf so ergebungsvoll auf meiner Schulter ruhen sehe, da steigt mir die Frage auf: Ist das dieselbe Olga, die vor acht Tagen bleich und stolz sich von mir wandte, als ich bescheiden und demütig um ihr Jawort bat?

Ich sage ihr also: ›Olga,‹ sag' ich, ›wie hast du mich so quälen können? Bin ich denn ein andrer geworden in dieser kurzen Zeit?‹ Da seh' ich sie bleich werden wie der Kalk an der Wand und hör' ihre Stimme an meinem Ohr: ›Frag mich nicht, um Jesu willen, frag mich nicht!‹

In mir erwacht die Angst, daß ich sie morgen vielleicht verlieren könne – wie ich sie heut gewonnen habe.

›Olga,‹ sag' ich, ›bist du so wankelmütig in deinen Entschlüssen, wer gibt mir die Bürgschaft – –?«

Ich stocke – denn in ihrem Gesichte liegt etwas, das mir Schweigen gebietet. Sie reißt sich von mir los und wirft sich in den Sessel.

›Da du es wissen willst,‹ – sagt sie und starrt dabei mit finsteren Brauen vor sich auf die Erde – ›ich bin kleinmütig gewesen – ich habe an deiner Liebe gezweifelt und hab' geglaubt, du würdest es mich fühlen lassen, daß ich arm in die Ehe käme –‹

Und dabei brennt ihr die Lüge wie ein Mal auf der Stirn.

›Olga,‹ schrei' ich auf, ›das hättest du von mir gedacht? – Erinnerst du dich‹ – – das, woran ich sie erinnerte, war eine Nacht auf dem Gute ihres Vaters, als ich um Martha werben kam und traurig mit einem Korbe abzuziehen gedachte, denn Martha wollte sich und ihr Glück zum Opfer bringen, damit ich eine andre nähme. Da war sie – Olga – mitten in der Nacht zu mir gekommen und hatte mir blindem Tor die Augen geöffnet und Worte zu mir gesprochen, Worte voll Verachtung des Mammons, die mir wie ein Triumphlied der Liebe in die Ohren klangen. Die sagt' ich ihr her; denn unvergeßlich stand jedes davon in meiner Seele geschrieben. ›Damals also dachtest du so kühn und so großherzig, als du für Martha sprachst,‹ rief ich ihr zu – ›und jetzt – da es dir selber gilt‹ – ich sah ihr ins Gesicht, Ohm, das versuchte zu lächeln und lächelte immerfort; aber dieses Lächeln wurde zu Stein, und mitten darin schloß sie die Augen und sank ohnmächtig hin wie ein Klotz.

Es kostete Mühe genug, sie wieder ins Leben zu rufen, denn ich mochte niemand zur Hilfe herbeiholen. Wohl eine Viertelstunde lag sie da – nicht viel anders, wie sie jetzt daliegt – dann öffnete sie die Augen und schaute mir lange schweigend ins Gesicht – so schmerzensvoll, so müde und so trostlos, daß mir angst und bange um sie war. Und darauf faltete sie die Hände und sagte leise und flehend zu mir empor: ›Laß mir Zeit, Robert; ich habe meine Kraft überschätzt, ich muß mich erst daran gewöhnen.‹

Nun war ich aber so voll von meinem jungen Glück und so übermütig darin, daß ich glaubte, ich könne auch sie mit Gewalt zum Glücke zwingen. ›Wenn wir uns lieb haben, Olga,‹ rief ich, ›und die Selige sagt Ja und Amen dazu, so möcht' ich doch den sehen, der was dawider haben wollte! Drum sei froh und mutig, Kind!‹ Aber froh und mutig war sie nicht. Und jetzt erst – da sie tot ist – hab' ich mir klar gemacht, wie jammervoll und gebrochen sie in dem Polster lag, sie, die sonst so stolz und streng mit sich und den andern umzugehen pflegte. Es war, als habe ein ungeheures Leid den innersten Nerv des Lebens mittendurchgeschnitten. Das ist mir jetzt alles klar, doch damals sah ich nicht – wollt' ich nicht sehen. Und weiter sprach ich auf sie ein, tröstend, wie ich meinte. Sie hörte mir zu – sagte aber nichts – nur manchmal nickte sie mit dem Kopfe und lächelte unsagbar traurig und müde.

Ich schob das alles auf die Gewalt des Augenblicks und auf den Kummer der letzten Jahre, der noch einmal um so mächtiger in ihrer Seele aufstehen mußte, als ein neues Glück auch für sie hereinbrach, ihn zu verdrängen.

›Und unser erster Gang,‹ sagte ich, ›Olga, soll auf den Kirchhof sein. Wenn wir an Marthas Grabe gestanden haben, wird uns der Widerstand der Mutter und die Mißgunst der ganzen Welt nichts mehr zu kümmern brauchen.‹

Da ließ sie die Hände vom Gesichte sinken, sah mich mit großen, verängstigten Augen an und fragte ganz tonlos: ›Auf den Kirchhof willst du mit mir?‹

›Ja, mit dir,‹ erwiderte ich, ›und jetzt gleich, wenn's dir recht ist.‹

Da ging es wie ein Schauer durch ihren Körper, und in einem seltsam heiseren Ton sagte sie: ›Gedulde dich bis morgen – morgen tu' ich, was du willst.‹

›Ja, mein liebes, gutes Kind,‹ sagt' ich da, ›jag dir bis morgen die Grillen aus dem Kopf und denk daran, sie zürnt uns nicht. Wir werden sie ja nicht vergessen! – Und muß nicht der gemeinsame Schmerz um sie uns um so enger verbinden fürs ganze Leben? Ihr Bild wird immer um uns sein, und glaubst du nicht auch, daß sie unseren Bund von ganzem Herzen segnen würde, wenn sie vom Himmel zu uns herabschauen könnte? Hat sie uns nicht als Vermächtnis das Kind gelassen, damit wir gemeinsam darüber wachen und es keiner Fremden überantworten?‹

Da warf sie sich vor dem Bettchen nieder, in dem das kleine Geschöpf selig vor sich hin dröselte, und preßte das Gesicht gegen sein Köpfchen.

So lag sie lange da, und ich ließ sie gewähren.

Als sie sich erhob, war sie wieder so steinern ruhig, wie wir sie sonst immer kannten. Sie reichte mir die Hand und sagte: ›Geh, mein Freund, laß mich allein.‹ Und ich folgte ihr, denn ich wollte ihr in allem zu Willen sein; auch umarmen tat ich sie nicht.

Eine Viertelstunde später sah ich sie über den Hof gehen. Ich wartete am Fenster; aber sie blickte sich nicht mehr um.

Am andern Vormittag – na, du weißt ja, Ohm, wie ich sie da fand. Und in diesem Augenblicke ist's wie ein Blitzstrahl auf mich herabgefahren. Ohm, alt und grau könnt' ich werden – der Augenblick wird mir jede Freude nehmen, und jedes Lachen auf meinem Gesichte wird erstarren um seinetwillen. Aber leben könnt' ich doch wenigstens. Könnte dieses armselige Dasein weiterschleppen, damit dem Kinde sein bescheidener Glücksanteil nicht vorenthalten bleibe. Nur das eine müßt' ich wissen, von dem einen fürchterlichen Wahn müßt' ich befreit sein, sonst geht's nicht – geht's beim besten Willen nicht. Sonst verfaule ich bei lebendigem Leib. – – – Es muß einer kommen – und wär's von jenseits des Grabes – und muß mir sagen, warum sie gestorben ist!«

Wiederum wurde es still in der finsteren Kammer. Nichts war zu hören als die Atemstöße der beiden Männer und das Rascheln einer Ratte, die Roberts Erzählung mit der eintönig hohlen Musik ihres Nagens begleitet hatte.

Der Alte rang schwer mit sich. Sollte er auch das Geheimnis ihres Lebens verräterisch preisgeben, wie er bereits das Geheimnis ihres Todes verraten hatte? Aber galt es hier nicht eine Wohltat zu tun? Galt es nicht, den, welchen sie über alles geliebt hatte, von den Qualen zu befreien, in denen – sei es ein Irrwahn, sei es geheimes Schuldbewußtsein – ihn gefangen hielt? Ein Wunder, eine göttliche Sendung schien es, daß so der Mund, der auf ewig verstummt schien, sich noch einmal öffnen durfte, dem Geliebten den Frieden zu bringen.

Der Alte atmete tief auf. Er hatte seinen Entschluß gefaßt. »Und wenn sie darauf bedacht gewesen wäre, Robert,« sagte er, »dir übers Grab hinaus Rede zu stehen?«

Robert stieß einen Schrei aus und umfaßte seine Handgelenke.

»Was willst du damit sagen, Ohm?«

»Hättest du dich nicht wie ein Maulwurf in deinen Schmerz hineingewühlt und vor jedem Menschengesichte Reißaus genommen, so wüßtest du lange schon, was sich die Spatzen auf den Dächern erzählen, nämlich daß ich am Morgen ihres Todes einen Brief von ihr erhielt – –«

»Du – Ohm – von ihr –?«

»O – Junge, du zerbrichst mir ja die Knochen im Leibe. So hör mich doch erst ruhig an –« und er erzählte ihm, was in dem Briefe gestanden hatte.

Robert war aufgesprungen und wühlte sich in den Haaren. Seine Augen, die auf den Alten niederstarrten, glühten durch die Finsternis.

»Und das Heft – gib's her – wo hast du's?!«

Der Alte berichtete ihm, wie groß die Gefahr sei, in der Olgas Geheimnis schwebe, und in welcher Angst er selber darum gelebt habe.

»Wart, ich hol's,« rief Robert und wollte zur Tür hinaus.

Der Alte hielt ihn zurück. »Deine Mutter hat den Schlüssel – nimm dich in acht, daß sie nicht Argwohn schöpft.«

»Die Tür ist halb zerbrochen, ich breche sie ganz ein.«

»Man wird dich unten hören.«

»Man amüsiert sich viel zu gut!« erwiderte Robert und lachte grell auf. »Komm, wir gehen zusammen.«

Und durch eine Hintertür, den dunklen Korridor entlang, die knarrende Treppe empor, schlichen die beiden Männer wie zwei Diebe, welche gekommen sind, die Gelegenheit der Feier sich zunutze zu machen.

Das Öffnen der Tür gelang noch leichter, als sie gehofft hatten. Wie von selber wich die lockere Haspe des Schlosses aus ihren Fugen.

Erschüttert blieben beide an der Tür stehen, als das dunkle Zimmer, das von dem Sternenscheine der klaren Nacht leise durchdämmert war, vor ihren Blicken sich ausbreitete. Alle Spuren des Todes waren beseitigt – nur das leere Bettgestell, dessen Pfosten dunkel an der grauen Wand emporragten, zeigte an, daß die Bewohnerin sich ein andres Bett erwählt hatte. Noch durchduftete ein Hauch von ihren Kleidern – ein leiser Wohlgeruch von ihrer Seife den Raum. Selbst die Handtücher, an denen sie sich getrocknet hatte, hingen noch, in phantastischer Weiße schimmernd, neben dem schwarzen Kachelofen.

Robert, unfähig, sich aufrecht zu halten, ließ sich in einen Stuhl sinken, und in langen, gierigen Zügen, die einem Schluchzen glichen, atmete er den Duft des Zimmers in sich hinein. Es war, als wolle er so die letzte Spur ihres Lebens in sich aufsaugen.

Ein kurzer, greller Lichtschein durchzuckte das Gemach, tanzte an den Wänden entlang, irrte mit gelbem Geflacker über den Schreibtisch und ließ den weiß umschleierten Toilettenständer wie ein zusammengekauertes Gespenst aus dem Dunkel emportauchen.

Der Alte hatte ein Streichholz angezündet und tastete damit nach der kleinen, grünumschirmten Lampe hin, die Olgas schlummerlose Nächte erhellt hatte. Sie stand auf dem Nachttische, auf derselben Stelle, wo Olga sie ausgelöscht hatte, um in die ewige Nacht hinunterzutauchen. Der gläserne Behälter war noch fast ganz mit Petroleum gefüllt. Sie hatte Eile gehabt, zur Ruhe zu kommen.

Sorgsam hob er die Glocke herunter und setzte den Docht in Brand. Mit friedlichem Zwielichtschein durchleuchtete die verschleierte Flamme den schweigenden Raum.

Dann trat er zu dem Bücherbrett, dessen vergoldete Bände in krausem Geflimmer sich aneinander reihten. Seine Hand tastete eine kurze Weile an der Wand entlang und zog dann ein blaues, zusammengerolltes Etwas ans Licht.

»Wir haben's, Robert!« rief er triumphierend – »komm fort!«

Der schüttelte stumm den Kopf.

Der Alte drängte von neuem; da sagte jener: »Hier wollen wir lesen, Ohm – hier – wo sie es geschrieben hat.«

»Und wenn man uns überrascht?« rief der Alte erschrocken.

Robert zuckte die Achseln und deutete auf den Boden. In der Stille, die entstand, drang dumpfes Stimmengewirr, vermischt mit einem wohlgemäßigten Gelächter, nicht lauter, als es sich für ein anständiges Trauerhaus geziemt, an ihr Ohr.

Der Alte gab sich zufrieden; dann rückten sie ihre Stühle leise in den Lichtkreis der Lampe – nichts war hinfort zu hören als das Rauschen des Winterwindes, der durch die entlaubten Lindenwipfel fegte, und die eintönig heisere Stimme des Vorlesers, den von Zeit zu Zeit der dumpf anschwellende und in Geflüster verklingende Chor der Trauergesellschaft begleitete.


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