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Die Geschichte der Stillen Mühle

Wie lange die »Stille Mühle« ihren Namen schon führen mag, ich weiß es nicht. Solange ich sie kenne, ist sie ein altes, verfallenes Bauwerk, ein greisenhaftes Gerümpel aus langverschollener Zeit.

Abgenagt und obdachlos recken sich ihre zerbröckelnden Wände zum Himmel empor, allen Winden freien Weg gewährend. Zwei große, runde Steine, die einst wacker gearbeitet haben mögen, haben das morsche Holzgestell durchbrochen und sich, dem Drange der eigenen Schwere folgend, tief in den Boden hineingebohrt.

Schief zwischen seinen angefaulten Stützen hängt das große Rad. Die Schaufeln sind abgebrochen, und nur die Speichen starren noch in die Lüfte, gleich erhobenen Armen, die um den Gnadenstoß flehen. Moos und Algen haben alles mit grünen Gewändern bekleidet, und zwischendurch treibt die Kresse ihre krankhaft blassen, aufgedunsenen Blattgebilde. Aus einer halb zusammengebrochenen Rinne fällt leise das Wasser herab, tropft in einschläferndem Takte auf die Speichen nieder und zerstäubt allda, die umgebende Luft mit feinem Sprühnebel erfüllend.

Unter grauem Erlendickicht liegt der Bach verborgen, in mißduftender Faulheit, vollgeschlemmt von Algen und Laichkraut, überwuchert von Tannenwedel und Blumenbinsen; nur in der Mitte sickert noch ein kleines Rinnsal dicken schwarzen Wassers, in dem die hellgrünen Blättchen der Wasserlinse träge dahintreiben.

Aber vor jenen langen Jahren, da floß der Mühlenbach frisch und fröhlich seines Weges dahin, da glänzte am Wehr der schneeweiße Schaum, da hallte bis hin zum Dorf das lustige Klappern der Räder, da fuhren in langen Zügen die Wagen hofan, hofab, und weithin schallte die mächtige Stimme des alten Müllers.

Felshammer hieß er, und wer ihn ansah, der wußte, daß er seinen Namen verdiente. Das war ein Mann! Der hatte das Zeug dazu, Felsen zu sprengen. Freilich, mit Nörgeln und Widerreden durfte man ihm nicht in die Quere kommen, dann wurde er fuchswild, seine Fäuste ballten sich, an den Schläfen schwollen ihm die Adern zu dicken Strähnen, und wenn er gar zu fluchen anhub, dann zitterte männiglich vor ihm, dann flüchteten sich sogar die Hunde in ihre Hütten.

Seine Frau war ein sanftes, stilles, nachgiebiges Geschöpf. Wie hätt's auch anders sein können? Ein härter geartetes Wesen, das sich nur einen Schimmer eigenen Willens hätte wahren wollen, würde er keine vierundzwanzig Stunden neben sich geduldet haben. So aber lebten sie leidlich zusammen, glücklich würde man beinahe sagen können, wenn nur sein fataler Jähzorn nicht gewesen wäre, der beim geringsten Anlaß in hellen Flammen aufloderte und der stillen Frau zu manch tränenreicher Stunde verhalf.

Die meisten Tränen aber weinte sie, als das Unglück mit schwerer Faust auf ihre Kinder niedersank. Drei Sprößlinge, frische, kernige Buben, waren dem Ehebunde entsprungen. Sie hatten helle, blaue Augen, flachsblonde Locken und vor allem »ein Paar vielversprechender Fäuste«, wie der Vater mit Stolz zu sagen pflegte, wenngleich der jüngste, der noch in der Wiege lag, sein eigen Paar bislang nur verwenden konnte, wenn er daran sog.

Die beiden älteren aber, die waren schon Prachtkerle geworden. Wie trotzig sie dreinschauten, wie breitbeinig sie sich aufpflanzten; den Kopf im Nacken, die Hände in den Hosentaschen, als wenn ein jeder sagen wollte: »Ich bin meines Vaters Sohn. Wer wagt's?«

Sie rauften miteinander den ganzen lieben Tag, und der Vater selber war's, der sie zusammenhetzte. Wenn dann die Mutter ängstlich dazwischen trat und sie anflehte, Frieden zu geben, dann wurde sie obendrein noch ausgelacht.

Der Armen bangte gar sehr um ihre wilden Jungen, denn sie sah mit Schrecken, daß beide des Vaters Jähzorn geerbt hatten. Schon einmal war sie gerade noch dazugelaufen, als der Fritz, der achtjährige, dem um zwei Jahren älteren Bruder mit einem großen Küchenmesser zu Leibe rückte, und ein halbes Jahr später kam richtig der Tag, an dem ihr finsteres Ahnen sich erfüllte.

Die beiden Knaben hatten sich auf dem Hofe gebalgt, und Martin, der ältere, wütend darüber, daß Fritz ihn bezwungen, hatte einen Stein nach ihm geschleudert und ihn so unglücklich am Hinterkopf getroffen, daß er blutend niedersank und augenblicks die Sprache verlor.

Zwar das Blut ließ sich stillen, die Wunde verharschte, aber die Sprache fand sich nicht wieder. Teilnahmlos saß der Knabe da und ließ sich füttern – er war blödsinnig geworden.

Das war ein schwerer Schlag für das Müllerhaus. Die Mutter weinte ganze Nächte hindurch, und auch er, der energische, schaffensfrohe Mann, ging für lange Zeit umher wie ein Träumender.

Den tiefsten Eindruck aber machte die unglückselige Tat auf den Täter selbst. Der trotzige, wildfrohe Knabe war kaum mehr wiederzuerkennen. Sein Übermut war verschwunden, still und in sich gekehrt lebte er dahin, gehorchte der Mutter aufs Wort und ging den Spielen der Schulkameraden aus dem Wege, wo er nur konnte.

Rührend war seine Liebe zu dem unglücklichen Bruder. Wenn er daheim war, wich er nicht mehr von dessen Seite. Mit himmlischer Geduld fand er sich in die vertierten Gewohnheiten des Blödsinnigen hinein, lernte dessen unzusammenhängende Laute verstehen, erfüllte ihm jegliches Begehren und sah lächelnd zu, wenn er ihm sein liebstes Spielzeug zunichte machte.

Der kranke Bruder gewöhnte sich so sehr an seine Gesellschaft, daß er sie nicht mehr entbehren wollte. Wenn Martin in der Schule war, schrie er unaufhörlich, auch hungerte er lieber, als daß er aus eines Andern Hand Speise und Trank genommen hätte.

Drei Jahre führte er dieses elende Dasein, da fing er an zu kränkeln und starb.

Wiewohl sein Tod dem ganzen Hause als Erlösung gelten mußte, so weinte ihm doch jeder heiße Tränen nach, insbesondere war Martin untröstlich. In der ersten Zeit wanderte er alltäglich zum Kirchhof hinaus und mußte oft mit Gewalt vom Grabhügel entfernt werden. Erst allgemach beruhigte er sich, nicht zum mindesten durch den Umgang mit Johannes, dem jüngsten Bruder, auf den er von jetzt ab die überschwengliche Liebe, die er dem Toten geschenkt hatte, übertragen zu wollen schien.

Solange der Kranke lebte, hatte er sich nur wenig mit jenem zu schaffen gemacht, es schien fast, als ob er es für einen Frevel hielte, den geringsten Bruchteil seines Herzens an einen Andern zu verschenken. Nun, da der Tod den Unglücklichen von ihm gerissen hatte, zog ihn ein unwiderstehliches Bedürfnis zu dem Jüngsten hin, als müßte er in der Liebe zu ihm die qualvolle Leere ausfüllen, die der Verlust seines Opfers in ihm zurückgelassen hatte, als müßte er an dem Lebenden sühnen, was er dem Toten angetan.

Johannes war dazumal ein schmuckes Bürschchen von fünf Jahren, das den Hemdenzipfel schon in Ordnung zu halten verstand und auf dem nächsten Jahrmarkt das erste Paar Stiefel bekommen sollte. Von der rauhen, trotzigen Gemütsart des Vaters schien nichts auf ihn übergegangen zu sein, viel eher artete er nach der sanften, stillen Mutter, an die er sich als Nesthäkchen schmiegte und deren Abgott er geworden war. Aber nicht der ihre allein, im ganzen Hause wurde er verwöhnt und verhätschelt, und wer ihn sah, der mußte ihn lieb haben. Sein langes, lichtblondes Haar glänzte wie goldgesponnen, und in den treuherzigen Augen lag eine Welt von Gutheit und Liebe.

Mit Inbrunst schloß er sich nun an den Bruder an, der ihn so lange vernachlässigt hatte; doch ließ der Unterschied der Lebensalter – sie waren fast neun Jahre auseinander – ein rein brüderliches Verhältnis zwischen ihnen nicht aufkommen. Martin stand bereits am Ausgange der Knabenjahre; in seiner ernsten, sinnenden Miene, seiner gemessenen, frühreifen Rede lag viel von dem Wesen eines Erwachsenen. Auch sollte er schon im nächsten Jahre werktätig ins Leben treten. Da war es nur natürlich, daß sich in seinen Verkehr mit dem jüngsten Bruder ein väterlicher Ton hineinmischte, und wenngleich er sich nicht schämte, dessen kindliche Spiele zu teilen, und sich von ihm gar oft als geduldiges Pferd mit »Hott« und »Hüh« über Hof und Felder jagen ließ, so lag doch auch hierin mehr von dem lächelnden Gewährenlassen des nachsichtigen Pädagogen als von der unbefangenen Lust des überlegenen Spielkameraden.

Der anschmiegsame, liebebedürftige Knabe gab sich dem großen Bruder mit ganzer Seele zu eigen. Er sah in ihm eine unumschränkte Obergewalt, mehr vielleicht als in Vater und Mutter, die seinem kindlichen Fühlen ferner standen; und als gar die Schulzeit begann und Martin sich als ein allzeit geduldiger Lehrmeister erwies, der überall mit Rat und Tat nachzuhelfen wußte, wo die Schule zu viel verlangte, da kannte die Verehrung des Jüngeren für den Älteren keine Grenzen mehr.

Der alte Felshammer war der einzige, der an der Innigkeit dieses Verhältnisses keine rechte Freude fand. Sie waren ihm zu süß, sie leckten sich zu viel, sie hätten sich lieber »katzbalgen« sollen, »damit man doch sieht, daß man sein eigen Fleisch und Blut vor sich hat«.

Um so glücklicher aber war die stille Mutter. Ihr Morgen- und Abendgebet war, daß Gott ihre Söhne beschütze und in Martin die Flamme des Zornes nie wieder erwachen lasse. Und ihr Flehen schien Erhörung zu finden. Nur noch ein einzig Mal wurde sie durch einen Wutanfall ihres Sohnes bis ins tiefste Innere erschreckt.

Johannes – damals neun Jahre alt – hatte mit einer Peitsche bei den fremden Fuhrwerken gespielt, die, um Mehl abzuholen, auf dem Hofe standen. Da war eines der Pferde scheu geworden, und der Kutscher, ein roher Trunkenbold, hatte dem Knaben die Peitsche aus der Hand gerissen und ihm einen Striemen über Kopf und Nacken gezogen.

In demselben Augenblick sprang Martin, bebend wie ein Tiger, mit geschwollenen Stirnadern und geballten Fäusten aus der Mühle, ergriff den Täter an der Kehle und würgte ihn, so daß er schon ganz blau war. Da warf sich mit lautem Aufkreischen die Mutter dazwischen. »Denk an Fritz!« schrie sie, die Hand erhebend, in wahnsinniger Angst – und der Wütende ließ wie gelähmt die Arme sinken, taumelte zurück und fiel auf der Schwelle der Mühle weinend zusammen.

Seitdem schien der Jähzorn gänzlich in ihm getötet, und sogar als er selber einmal auf der Landstraße beschimpft und tätlich angegriffen wurde, ließ er das Messer, womit die Landleute jener Gegend sonst gar bald bei der Hand sind, bedachtsam in seiner Tasche.

*

Die Jahre vergingen. Nicht lange, nachdem Martin das mündige Alter erreicht hatte, schloß der Müller die Augen. Seine Frau folgte ihm bald. Sie hatte sich nach seinem Tode nicht wieder erholt und siechte still und klaglos dahin. Es war, als ob sie ohne die Scheltworte, die sie dreiundzwanzig Jahre lang alltäglich von ihrem Manne hatte hinnehmen müssen, nicht leben könnte.

Die beiden Brüder hausten nun allein auf der verwaisten Mühle. Was wunder, daß sie sich noch enger aneinanderschlossen und daß einer in dem andern aufzugehen suchte!

Und doch waren sie ebenso verschieden an Leib wie an Seele. Martin, eine vierschrötige, kurznackige Gestalt, schob sich linkisch und wortkarg zwischen fremden Menschen herum. Buschige, tiefgesenkte Augenbrauen verdüsterten sein Gesicht, und die Worte entrangen sich so schwer und stoßweise seinem Munde, als sei ihm das Reden an sich schon eine Qual. – Wäre der treue, innerliche Blick seines Auges, wäre das gutmütige, fast kindliche Lächeln nicht gewesen, das bisweilen über seine breiten, derbgeschnittenen Züge hinflog, man hätte ihn für einen harten, haßerfüllten Menschen halten mögen.

Wie ganz anders Johannes! Frei leuchtete sein Auge in die Welt hinaus, um seinen Mund lachten Torheit und Schelmerei, über seine schlanke, schmiegsame Gestalt hatte die Jugend ihren ganzen Zauber ausgegossen. Die Mädel sahen das sämtlich ein, sie guckten eifrig hinter ihm her, und manch verlegenes Erröten, manch wärmerer Händedruck sagte ihm: »Dir könnt' ich gut sein.«

Johannes machte sich nicht viel daraus. Er war noch nicht »liebereif«, und eher als auf dem Tanzboden tummelte er sich auf der Kegelbahn, eher als neben Mieze und Gretel saß er neben seinem schweigsamen Bruder auf dem Schleusengeländer.

Die beiden hatten sich in einer stillen, feierlichen Abendstunde das Versprechen gegeben, sich nie voneinander zu trennen und keinem Dritten zu erlauben, daß er in Liebe oder Haß zwischen sie trete.

Aber sie hatten die Rechnung ohne die königliche Ersatzkommission gemacht. Es kam die Zeit, daß Johannes militärpflichtig wurde. Er mußte weit, weit fort nach Berlin zu den Garde-Ulanen. Das war ein hartes Stück für die beiden. Martin trug seinen Kummer still für sich, wie es seine Art war, aber der lebhafte Johannes gebärdete sich schier trostlos, so daß beim Abschied seine Kumpane ihn weidlich hänselten.

Aber sein Schmerz war nicht von langer Dauer. – Die Strapazen der Rekrutenzeit, das neue, bunte Treiben der Residenz ließen ihm keine Zeit, seinen Träumen nachzujagen, und nur manchmal, wenn er in stillen Dämmerstunden auf seiner Pritsche lag, dann kam die Sehnsucht mächtig über ihn, die heimatliche Mühle leuchtete durch die Dunkelheit wie das verlorene Paradies, und das Klappern der Räder wurde zum Sphärengesang. Klang aber vom Hof her der Appell, dann war der Spuk vorbei.

Schlimmer erging es Martin auf dem Mühlenhof, wo er mutterseelenallein geblieben war, denn die Mühlenknappen und der alte David, das Erbstück vom seligen Vater her, waren als Gesellschaft nicht zu rechnen. Freunde hatte er nie besessen, weder im Dorfe noch anderswo. Johannes ersetzte sie ihm alle. – In stillem Brüten schlich er nun umher, immer grüblerischer wurden seine Gedanken, und schließlich umnachtete die Schwermut ihn so weit, daß das Gespenst seines Opfers ihn wieder zu verfolgen begann. Er war vernünftig genug, einzusehen, daß er nicht so weiter leben könne, und suchte mit Gewalt Zerstreuung, ging Sonntags auf den Tanzplatz und machte Besuche in den benachbarten Dörfern, vornehmlich um das Handwerk zu grüßen. Freilich, was sich daraus entspann ... Kurz und gut, eines schönen Tages, zu Beginn seines zweiten Dienstjahres, erhielt Johannes von seinem Bruder einen Brief. Der lautete folgendermaßen:

»Mein Lieber Junge!

Ich muß es Dir doch einmal schreiben, wenn Du auch böse auf mich sein wirst. Ich habe es in der Einsamkeit nicht mehr aushalten können und beschlossen, in den Stand der Ehe zu treten. Sie heißt Gertrud Berling und ist die Tochter eines Windmüllers aus Lehnort, zwei Meilen von uns. Sie ist noch sehr jung, und ich habe sie sehr lieb. In sechs Wochen wird Hochzeit sein. Wenn Du kannst, nimm Urlaub dazu. Lieber Bruder, ich bitte Dich, daß Du mir nicht böse seist. Du weißt ja, daß Du auf der Mühle stets eine Heimat haben wirst, ob eine Frau darin ist oder nicht. Unser väterliches Erbe gehört ja sowieso uns beiden gemeinsam. Sie läßt Dich grüßen. Ihr seid einmal auf einem Schützenfest zusammengewesen, und Du hast ihr sehr gut gefallen, aber Du hast Dich gar nicht um sie gekümmert, und das hat sie Dir fürchterlich übel genommen, läßt sie Dir sagen. Lebe wohl!

Dein treuer Bruder.«

Johannes war ein verwöhntes Menschenkind. Ihm erschien Martins Verlobung als Verrat an der brüderlichen Liebe. Ihm war zumute, als hätte der Bruder ihn hintergangen, ihn schmählich um die ihm gebührenden Rechte gebracht. Auf dem Herrscherplatz, den er bis dahin selber eingenommen hatte, sollte nun eine Fremde sich breit machen, von deren Gnad' und Barmherzigkeit seine Stellung auf dem Hofe abhängig sein würde.

Auch die vertrauliche Annäherung der Windmüllerstochter beruhigte und versöhnte ihn nicht. Als die Zeit der Hochzeit gekommen war, nahm er keinen Urlaub, sondern ließ nur durch Franz Maas, seinen alten Schulkameraden, der jetzt gerade vom Militär loskam, seine Grüße und Glückwünsche bestellen.

Ein halbes Jahr später wurde er selber frei.

Was nun, Johannes? Eigensinnig, wie wir sind, gehen wir beileibe nicht heim, sondern versuchen unser Glück erst in der Fremde, wandern rechts und links, talauf, talab, laufen uns stacks die Hörner ab, und als wir vier Wochen später zur Erkenntnis gekommen sind, daß es trotz der Windmüllerstochter auf der Felshammermühle noch tausendmal schöner sei als anderswo in der Welt, da schlagen wir frohgemut den Weg nach der Heimat ein.

An einem sonnigen Maitage ist der Johannes in Marienfelde eingezogen.

Franz Maas, der sich im vorigen Herbste als ehrsamer Bäckermeister aufgetan hat, steht breitbeinig vor seiner Werkstatt und sieht vergnüglich zu, wie die blecherne Bretzel über der Tür sich im sanften Mittagswinde schaukelt, da kommt ein Ulan mit Sing und Sang die Dorfstraße entlang gezogen, hat die Feldmütze schief im Genick und läßt die Sporen aneinander klirren. Das tapfere Reservistenherz schlägt ihm höher unter der weißen Bäckerschürze, er nimmt die Pfeife aus dem Mund und legt die Hand über die Augen.

»Der Johannes, wahrhaftig, der Johannes!«

»Holla, alter Kamerad!« Und da liegen sie einander in den Armen.

»Woher so spät im Jahre? Hast nachdienen müssen?«

»Pfui doch!«

Dann geht's an ein Fragen und Beichten. Der Rittmeister, der Wachtmeister, der Knapphans, die blonde Bäckern, genannt die »Schrippenlene«, im Laden rechts von der Kaserne, kurz und gut, es wird niemand vergessen.

»Und du? – Haben sie dich erkannt im Dorf?« fragt der Franz, seinen unersättlichen Wissensdurst auf heimatlichen Boden führend.

»Kein' Seel',« lacht der Johannes und dreht wohlgefällig den jungen Reiterschnauzbart, der sich in zwei dreisten Spitzen zum Himmel hebt.

»Und daheim?«

Johannes macht ein ernstes Gesicht und reicht ihm die Hand zum Abschied.

»Ja so, du bist erst auf dem Wege dahin? Da bubbert's dir wohl drinnen?« Und er gibt ihm einen prüfenden Klaps auf die Brust.

Johannes lacht kurz auf und unterdrückt dann einen Seufzer, wie einer, der seiner Erregung mit Gewalt Meister werden will.

Franz legt ihm die Hand auf die Schulter und sagt: »Eine Schwägerin wirst du finden – eine Schwägerin – potztausend!« Dabei schnalzt er mit der Zunge und drückt die Augen ein.

In Johannes erwacht der alte Trotz, der alte Ingrimm. Er zuckt geringschätzig die Achseln, reicht dem Freunde die Hand und geht sporenklirrend von dannen.

Noch drei Minuten Weges – dann ist das Dorf zu Ende. – Dort die Kirche! – Ist ein Stück baufälliger geworden, das alte Geschöpf.

Aber die schwarzen Lärchenbäume rauschen noch dieselben lieben Melodien, die sie am Tage der Konfirmation glückverheißend ihm in die Ohren sangen. – Links das Gasthaus, alle Wetter! hat eine neue massive Einfahrt bekommen, und vor dem Fenster stehen ungeheure Likörflaschen, mit knallroten und arsenikgrünen Flüssigkeiten gefüllt. Hat Fortschritte gemacht, der Kronenwirt!

Jener Seitenweg – der führt zum Fluß hinunter. Und dort die Mühle, das Ziel seiner Träume. Wie zutraulich schimmert das alte Strohdach über die Erlenbüsche herüber, wie schneeweiß blühen die Kirschen im Garten, wie klappern die Räder so fröhlich: »Willkommen, willkommen!« Wie rauscht aus der Ferne segnend das alte, liebe grünbemooste Wehr!

Er schiebt die Ulanenmütze noch um einen Grad verwegener in den Nacken zurück und nimmt eine resolute Haltung an, denn er will mit Gewalt der Rührung Herr werden.

Die Felder, die sich rechts und links vom Wege ausbreiten, die gehören alle zur Mühle. Rechts Winterroggen wie gewöhnlich – aber links, wo sonst Kartoffeln gepflanzt wurden, da ist jetzt Gartenland, da stehen Salatstauden und Bohnenstecklinge steif in Reih' und Glied.

Zwischen den langgestreckten Rabatten, etwa fünf Schritte hinter dem Zaune, arbeitet, emsig sich bückend, eine schlanke, üppige Mädchengestalt. – Wer mag das sein? Ob sie zur Mühle gehört? – Eine neue Magd vielleicht! – Doch nein, dafür sieht sie zu schmuck, zu sauber aus, dafür ist das Schuhwerk zu fein, die Schürze zu zierlich, ist das weiße Tuch, das so malerisch um ihren Kopf geschlungen ist, von allzu zartem Linnen. Wenn sie nur das Gesicht nicht so ganz verschatten wollte!

Nun guckt sie auf! – Alle Wetter, – ein süßes Mädel! Wie die runden Wangen ihr glühen, wie die dunkeln Augen leuchten, wie die vollen Lippen sich so küßlich aufeinander wölben!

Da sie ihn erblickt, läßt sie ihre Hacke sinken und starrt ihn an.

»Guten Tag!« sagt er und rückt etwas verlegen an seiner Mütze. »Wissen Sie nicht, ob der Müller zu Haus ist?«

»Ja, zu Haus ist er,« sagt sie und starrt ihn weiter an.

Was sie nur von dir will? denkt er, mit seiner Schüchternheit kämpfend, – und da er von Berlin her Grund hat, sich für einen kleinen Schwerenöter zu halten, so gilt es ihm jetzt als Ehrenpunkt, dicht an den Zaun heranzutreten und womöglich mit dem Mädel anzubandeln.

»Nun, immer fleißig?« fragt er, um doch etwas zu fragen, und vergreift sich in seiner Not an den Enden seines Schnurrbarts. Ulan, nimm dich zusammen!

»Ja, immer fleißig!« spricht sie gedankenlos nach, indem sie ihm unverwandt ins Gesicht starrt, und plötzlich die Hand erhebend und die fünf Finger spreizend, als wolle sie mit allen zugleich nach ihm hinweisen, sagt sie mit hellem Auflachen: »Aber Sie sind ja der Johannes!«

»Ja, de- der b- bin ich,« stammelt er verblüfft. »Und Sie?«

»Ich bin seine Frau!«

»W- was? – Sie – seine – Martins ...?«

»Hm!« Und sie nickt ihm mit angenommener Würde zu, während der Schelm ihr aus den Augen bricht. »Aber Sie sehen doch aus wie ein junges Mädel!«

»Ist auch gar nicht lang' her, daß ich eins war!« lacht sie.

Sie stehen zu beiden Seiten des Zaunes und gucken einander an. Sie, sich besinnend, wischt sich die erdigen Hände umständlich an ihrer Schürze ab und reicht sie ihm beide zwischen den Latten des Zaunes hindurch.

»Willkommen auch, Schwager!«

Er schlägt in die dargebotenen Hände ein, aber schweigt. »Wollen Sie mir etwa böse sein, Schwager?« sagt sie und guckt lachend von unten zu ihm auf.

Er fühlt sich ganz waffenlos ihr gegenüber und kann nicht anders als befangen widerlachen und sagen: »Ach, sind Sie drollig!«

»Ich? drollig? – Nie! – Gehen Sie nur auf dem Weg weiter; ich lauf' derweilen schnell durch den Garten und hol' den Martin.«

Und sie schickt sich an, vorauszulaufen, dann bleibt sie plötzlich stehen, schiebt ein lockres Brett bei Seite und sagt: »Warten Sie, ich komm' zu Ihnen 'rüber.« Und ehe er noch Zeit gewonnen hat, ihr helfend die Hand zu reichen, ist sie, behend wie eine Katze, zwischen den Latten des Zaunes durchgeschlüpft.

»So, da bin ich,« sagt sie, ihr Kleid glatt streichend, und läßt das geknotete Tuch über den Nacken hinabgleiten, so daß das wirre, braune Gekräusel, das ihr Stirn und Hals umschattet, lustig im Winde zu flattern beginnt.

Eine Weile gehen sie stumm nebeneinander her. Sie schaut zu Boden und lächelt, als sei auch in ihr die Befangenheit erwacht.

Die Rede kommt nicht wieder in Fluß, bis sie das große Tor durchschritten haben.

Johannes blickt um sich und stößt einen Laut der Verwunderung aus. Er will seinen Augen nicht trauen. Alles ringsum verändert, alles verschönt. – Der runde Hofplatz, früher bei Regenwetter eine ungeheure Schmutzlache, zu sonniger Zeit ein Staubwolkenmeer, liegt sauber mit Rasen belegt gleich einer blumigen Wiese da, die Türen des Speichers und der Stallungen erglänzen in freundlichem Rot und tragen weißgemalte Nummern. Die Mitte des Platzes krönt ein künstlicher Taubenschlag, wie ein Schweizerhäuschen anzuschauen, und vor dem Wohnhaus steht eine neuerrichtete Veranda, um deren blinkende Glasfenster und zierliche Holzschnitzereien ein jugendlicher Rankenwald seine vielversprechenden Sprößlinge schlingt.

Als eine Stätte neugeschaffenen Friedens liegt der Mühlenhof vor seinen alles umschlingenden Blicken. Er faltet bewegt die Hände und fragt: »Wer hat das gemacht?«

Sie senkt das Auge und schweigt.

»Sie?« fragt er verwundert.

»Ich hab' nur geholfen,« antwortet sie bescheiden.

»Aber Sie gaben doch den Anstoß?«

Sie lächelt. Dieses Lächeln läßt sie älter erscheinen und gießt über ihr kindliches Antlitz für einen Moment den Schimmer frauenhafter Anmut.

»Wenn sie das doch erlebt hätte,« sagt er leise und ernster, als es sonst seine Art ist. Er muß der toten Mutter gedenken, die sich so oft über den lästigen Staub beklagt hat und daß es auf dem ganzen Hofe kein einziges Ruheplätzchen gäbe.

»Die Mutter?« fragt sie ihn.

Überrascht blickt er sie an. Daß sie nicht Ihre oder Eure Mutter sagt, gibt ihm ein wohliges Gefühl, wie er es ähnlich im Leben nie empfunden hat. Weich und warm überrieselt es ihn und schmeichelt sich in sein Herz und will nicht wieder von ihm lassen. Es lebt also auf der Welt ein junges, schönes, fremdes Weib, das von seiner Mutter wie von der ihrigen spricht, als wäre sie seine Schwester, die Schwester, die er sich in Dummenjungenjahren so oft ersehnt hat, wenn sein Blick voll heimlicher Bewunderung an fremden Mädchengestalten hing.

Und nun wiederholt sie leise ihre Frage.

»Ja, die Mutter,« antwortet er und schaut ihr dankbar ins Auge.

Eine Sekunde lang erträgt sie seinen Blick, dann senkt sie die Lider und sagt ein wenig verwirrt: »Wo nur der Martin sein mag?«

»In der Mühle doch wohl!«

»Jawohl, in der Mühle – natürlich!« erwidert sie lebhaft, »ich hol' ihn.« Und huscht von dannen.

Alles fliegt und flattert an ihr: die Röcke, die Schürzenbänder, das Halstuch im Nacken, das wirre, widerspenstige Braunhaar.

Eine Weile steht er da wie gebannt und schaut ihr nach, dann schüttelt er lachend den Kopf und geht zur Veranda. Dort fällt ihm ein zierlicher Nähtisch ins Auge mit einem runden, strohgeflochtenen Handarbeitskörbchen darauf. Über dessen Rand hängt eine angefangene Stickerei, ein langer, weißer Streifen, mit Blumen und Blättern gemustert, wie ihn Frauen in ihre Wäsche einzusetzen pflegen. Halb gedankenlos nimmt er die Leinwand in die Hand und verfolgt die künstlichen Nadelstiche, bis die lachende Stimme der Schwägerin an sein Ohr dringt. Rasch wie ein ertappter Sünder läßt er das Stickzeug fallen – da biegt sie auch schon um die Ecke des Giebels, und die weißgepuderte, vierschrötige Gestalt, die sie hinter sich herzieht und die sich mit täppischen Gebärden der kleinen zerrenden Fäuste zu erwehren sucht, dichte Wolken weißen Staubes um sich her verbreitend, das ist, wahrlich, das ist – – –

»Martin, alter Martin!« Und er springt zur Laube hinaus, um ihm an den Hals zu fliegen.

Die linkischen Glieder erstarren – die buschigen Brauen ziehen sich empor – das gutmütig stille Lächeln versteinert – und nun – mit einem Ruck stürzt er dem wiedergewonnenen Liebling entgegen.

Wortlos halten die beiden Brüder einander umschlungen. Dann nach einer Weile nimmt Martin den Kopf des Heimgekehrten zwischen seine beiden Hände und blickt ihm lange und stumm in die lachenden Augen.

Darauf setzt er sich auf die Bank der Veranda, stützt die Ellbogen auf die Knie und schaut vor sich nieder.

»Warum sinnst du so nach, Martin?« fragt Johannes, die Hand auf des Bruders Schulter legend.

»He – warum soll ich nicht nachsinnen?« entgegnet er mit dem dumpfen Grunzen, das von altersher all seine spärlichen Reden begleitet. »He – du Schlingel! Böse hast du sein wollen – du, du?« Dann springt er auf und faßt seine Frau bei der Hand. »Sieh ihn dir an, Trude! Hat böse sein wollen, der dumme Junge. – Komm her, Junge! He – das ist sie – sieh sie dir an, ordentlich – he! Der hast du böse sein wollen!«

Wiederum läßt er sich schwerfällig auf die Bank niederfallen, so daß eine neue Wolke weißen Staubes von dem Sitz aufwirbelt, mustert den Johannes, lacht eine Weile still in sich hinein und sagt endlich: »Trude, hol 'ne Bürste!«

Auch Trude lacht auf und fliegt von dannen. Und als sie wiederkehrt, befiehlt er: »Bürst ihn ab.«

»Wenn Müller und Schornsteinfeger zärtlich sind, gibt's immer ein Unglück,« meint Johannes mit verlegenem Scherze und macht Miene, ihr die Bürste aus der Hand zu nehmen.

»Bitte, lassen Sie mich!« wehrt sie.

Martin schlägt mit der Faust auf die Bank. »Lassen Sie mich? – Nanu – was ist das für 'ne Wirtschaft? Habt ihr denn noch nicht Brüderschaft geschlossen – he?«

Johannes schweigt, und Trude bürstet mit großem Eifer an seinem Rücken entlang.

»Und 'nen Kuß habt ihr euch wohl auch noch nicht gegeben?«

Trude läßt jählings die Bürste sinken, und Johannes beschäftigt sich angelegentlich damit, eines seiner Sporenräder an der Türschwelle entlang zu rollen.

»Also nicht? – Gehört sich aber so! – Allons!«

Johannes macht kurz kehrt und dreht seinen Schnurrbart. Er will den Schwerenöter spielen, gewinnt aber nicht einmal so viel Mut, sich zu ihr hinabzubeugen. Steif wie ein Pfahl steht er da und wartet, bis sie den Mund spitzt und ihm darreicht, dann streicht er die zitternden Lippen flüchtig daran vorbei und fühlt zugleich, wie ein leiser Schauder durch ihren Körper rinnt.

Einen Moment später ist alles vorüber. Mit scheuem Lächeln stehen sie nebeneinander – beide mit Glut übergossen.

Martin schlägt sich mit den Fäusten aufs Knie und meint, das sei soeben 'ne Komödie zum Totlachen gewesen. Dann steht er plötzlich auf und geht von dannen. – Er trägt sein Glück in die Einsamkeit.

*

Am Nachmittag gehen die beiden Brüder mitsammen nach der Mühle. Trude steht am Fenster und guckt ihnen nach, und als Johannes sich umdreht, verbirgt sie ein Lächeln rasch hinter der Gardine.

In der Mühlentür bleibt Johannes stehen, lehnt den Kopf gegen den Rahmen und schaut mit einem Blicke voll inniger Rührung in das Halbdunkel des alten, lieben Raumes hinein, aus dem der Lärm des Räderwirrwarrs sinnbetäubend herausdringt, aus dem weißgraue Mehlwolken, Kleiestäubchen und Wasserdünste, vom Zugwinde erfaßt, ins Freie wirbeln.

In Reih' und Glied stehen die verschiedenen »Gänge« da drinnen aufpostiert. – Links, der Wand zunächst, der alte »Beutelgang« für das Feinmehl, dann der »Schrotgang« und die »Quetsche«, wo die Kleie mit dem Mehl zusammenbleibt, dann der »Graupengang«, der die Gerste ausschlaubt, und zu guter Letzt noch der »Zylindergang«, einer von der neumodischen Art, welcher derweilen frisch dazugekommen ist. Auch ein Schneckenwerk und ein Röhrenaufzug hat sich eingefunden. Das verlangt die neue Mode.

Martin steckt die Hände in die Hosentaschen und schlenkert in stiller Selbstbefriedigung, die kurze Pfeife zwischen den Zähnen, hin und her. Dann nimmt er Johannes bei der Hand, um ihm die Neuerungen zu erklären, wie das feine Mehl von dem Schneckengewinde gefaßt und zu dem Röhrenaufzug hingeschoben wird, dessen kleine, an einem Treibriemen entlanglaufende Eimer es durch zwei Stockwerke bis fast an den Dachfirst emporheben, um es dann in die seidenen, zylinderartigen Schläuche hinunterzuschütten, durch deren feines Gewebe es hindurchstäuben muß, ehe es brauchbar wird.

Atemlos lauschend fängt Johannes die kargen, bruchstückweise hervorgestoßenen Worte des Bruders auf und wundert sich, wie sehr man beim Militär »verbauern« kann, denn das alles sind ihm böhmische Dörfer.

Das Geschäft blüht. Sämtliche Gänge sind in voller Arbeit, und die Mühlknappen haben die Hände voll zu tun, oben auf der Galerie Getreide in die »Rümpfe« zu schütten und unten den Abfluß des Mehls und der Kleie zu überwachen.

»Ich hab' jetzt ihrer drei,« sagt Martin, auf die schlohweißen Burschen weisend, von denen bald einer, bald der andre die Treppe auf und nieder rennt.

»Und den David doch auch?« fragt Johannes.

»Na natürlich,« antwortet Martin und macht ein Gesicht dazu, als habe der bloße Gedanke, David sei nicht mehr auf der Mühle, ihm einen Schrecken eingejagt.

»Wo steckt er denn, der alte Knabe?« fragt Johannes lachend.

»David, David!« hallt Martins mächtige Stimme durch den Raum, das Gerassel der Räder übertönend.

Da schiebt sich aus dem Dunkel des Triebwerkes, dessen zyklopenhafte Massen sich hinter den Holzgestellen der Gänge aus der Tiefe erheben, eine lange, schlottrige, in Mehl getauchte Gestalt hervor, ein Gesicht kommt zum Vorschein, auf dem die Stumpfheit des Alters wenig mehr zum Lesen übrig gelassen hat, mit rötlich angehauchter Nase, die bis auf das mit Stoppeln besäte Kinn herniederhängt, mit Augen, die sich matt und mürrisch unter struppigen Brauen verstecken, und einem Munde, der ewig kaut.

»Was soll ich, Herr?« fragt er, sich vor den Brüdern aufpflanzend, ohne die Kalkpfeife, die ihm lose zwischen den Lippen hängt, aus dem Munde zu nehmen.

»Da hast du ihn, Johannes,« sagt Martin, den Alten auf die Schulter klopfend, während ein Lächeln duldsamer Anhänglichkeit sein Gesicht verklärt.

»Kennst du mich nicht mehr, David?« fragt Johannes, ihm freundlich die Hand entgegenstreckend. Der Alte speit einen Strahl braunen Saftes zwischen den Zähnen hervor, besinnt sich eine Weile und murmelt dann: »Wo werd' ich Sie nicht kennen!«

»Und wie geht's?«

Der Alte besinnt sich wieder eine Weile, kratzt sich den Kopf und meint dann: »Na, wie wird's gehen?« Drauf macht er sich an einem Mehlsack zu schaffen, dessen Schnur er mit seinen knorrigen Fingern auf- und zuknüpft; dann, als er sich vergewissert hat, daß man seiner nicht mehr bedürfe, trollt er sich wieder in sein Dunkel zurück.

Martins Angesicht leuchtet. »Das ist 'ne treue Seele, Johannes! Achtundzwanzig Jahr im Dienst, he! Und immer fleißig, immer pflichttreu!«

»Was tut er denn eigentlich?«

Martin wird verlegen. »Ja – sieh mal – he! schwer zu sagen – Vertrauensposten – he! treue Seele – treue Seele.«

»Stibitzt die treue Seele auch noch manchmal was aus dem Mehlsack?« fragt Johannes lachend.

Martin zieht unwillig die Achseln hoch und murmelt etwas von »achtundzwanzig Dienstjahren« und »Auge zudrücken«.

»Mir scheint er es noch heute nachzutragen,« sagt Johannes, »daß ich mir erlaubte, das Schlupfwinkelchen zu entdecken, in dem er sein bißchen sauer Gestohlenes einzuhamstern pflegte.«

»Du hast nun einmal 'ne Pike auf ihn,« brummt Martin, »wie die Trude auch – ihr tut ihm unrecht – bitter Unrecht!«

Johannes schüttelt lachend den Kopf und weist dann auf eine Tür, die zu einem neuerrichteten Bretterverschlage führt. »Was ist das?«

Martin wiegt verlegen den Kopf.

»Mein Kontor,« stottert er dann, und als Johannes Miene macht, die Tür zu öffnen, springt er rasch hinzu und zieht ihn am Rockschoß wieder zurück.

»Bitt' dich,« brummt er, »geh nicht über die Schwelle! Heut nicht – und sonst auch nicht. Hab' meine Gründe!«

Johannes sieht ihn unwillig an. »Seit wann hast du Geheimnisse vor mir?« will er fragen, aber der treuherzig bittende Blick des Bruders schließt ihm den Mund, und Arm in Arm verlassen beide die Mühle.

Es ist Abend geworden. Das große Rad hat sich zur Ruh' gesetzt und damit dem Schwarm der kleinen Stillstand geboten. Schweigen liegt auf der Mühle, und nur aus der Ferne von der Freischleuse her rauschen die aufgewühlten Wasser ihre eintönige Melodie.

Hier freilich, vor dem Hause, da ruht der Bach still und friedlich, als hab' er auf der weiten Welt nichts weiter zu tun, als Seerosen zu tragen, und die Abendröte spiegelt sich in seinen Tiefen. Wie ein goldrotes, dunkelgesäumtes Band schlingt er sich durch das krause Erlengebüsch, in dem ein Heer von Nachtigallen soeben die Kehlen stimmt, um sich, ihres Wertes unbewußt, mit den Fröschen unten in einen Wettkampf einzulassen.

Die drei Menschenkinder, die fortan in dieser blumigen, liederreichen Einsamkeit mitsammen hausen sollen, haben sich schon innig aneinandergeschlossen. Sie sitzen in der Veranda um den weißgedeckten Abendbrottisch, dessen Spenden heut wenig Beifall gefunden haben, und schauen in innigem Wohlgefühle vor sich nieder.

Martin hat sein Gesicht in beide Hände gestützt und zieht mächtige Rauchwolken aus seiner kurzen Pfeife, von Zeit zu Zeit einen Laut ausstoßend, der halb wie Lachen, halb wie Grollen klingt.

Johannes hat sich ganz in den Blätterschwall hineingewühlt und läßt die Ranken des wilden Weins sich über sein Gesicht hinkräuseln. Sie beben und flattern unter dem Hauch seines Mundes.

Trude hat den Kopf tief in den Kragen hineingesteckt und wirft heimliche Blicke nach den beiden Brüdern hinüber wie ein unbändiges Kind, das gern Tollheiten begehen möchte und sich vorerst vergewissern will, ob auch niemand es beaufsichtigt. Das Stillschweigen ist augenscheinlich nicht nach ihrem Geschmack, aber sie ist schon zu gut geschult, um es zu brechen. Derweilen unterhält sie sich still allein, indem sie heimlich kleine Brotkügelchen dreht und sie, ohne daß einer der Brüder es merkt, mitten in die Spatzenhorde hineinschnellt, die habgierig rings um die Veranda streicht. – Da ist insbesondere einer, ein kleiner, schmutziger Kerl, der durch seine Schlauheit und Schnelligkeit alle andern aus dem Felde schlägt. Sobald ein Futterkörnchen des Wegs dahergerollt kommt, spreizt er beide Flügel, schreit wie ein Besessener, und während er sich mit den andern herumzankt, sucht er es flügelschlagend aus dem Bereich des Kampfes zu entfernen, damit er es, während die andern noch wütend aufeinander loshacken, vergnüglich in Besitz nehmen kann. Dies Manöver wiederholt er vier-, fünfmal, und immer bleibt er der Siegreiche, bis ihm ein Kamerad, nicht faul, seine Schliche abguckt und es noch besser macht als er. – Dabei überkommt Trude die Lust zum Lachen, sie will sie mit Gewalt bekämpfen, stopft das Taschentuch in den Mund und hält den Atem an, bis sie ganz blau im Gesichte ist. – Dann, als sie keine Hoffnung mehr sieht, sich länger zu beherrschen, springt sie von ihrem Sitze auf, um schnell das Weite zu suchen, aber noch vor der Tür bricht das Gelächter los, und laut aufkreischend vor Vergnügen verschwindet sie im Dunkel des Hausflurs.

Die beiden Brüder fahren aus ihrem Sinnen empor.

»Was gibt's?« fragt Johannes erschrocken.

Martin schaut kopfschüttelnd seinem jungen, albernen Weibe nach, dessen Unsitten er wohl kennt, denn nach einer Weile ergreift er des Bruders Hand und sagt, nach der Tür weisend: »Du – sieht die danach aus, als ob sie dich verdrängen wollte?«

»Wahrhaftig, nein!« antwortet Johannes mit etwas beklommenem Auflachen.

»O Junge,« brummt Martin, seinen buschigen Kopf krauend, »was hab' ich für Sorgen ausgestanden! Hab' mich im Bett herumgewälzt manche lange Nacht, wenn du mir in den Sinn kamst! – Ich mein' von wegen des Unrechts, das ich dir vielleicht antat.« – Dann nach einer Weile: »Und doch – wenn ich sie ansah, so harmlos und unschuldig – sag selbst, Jung', ist's möglich, daß ich sie nicht hätt' lieb haben sollen? – Als ich sie sah – he he! – rein weg war ich da. Erinnerte in so mancherlei an dich – lustig und voller Dummheiten, ganz wie du. Zwar ein Kind war sie und ist's geblieben bis auf den heutigen Tag – seelengut und wild und spielerig wie ein Kind. Du – und sie muß kurz gehalten werden, sonst schlägt sie über die Stränge. Aber sie ist mir gerade recht so,« – ein zärtliches Aufleuchten fliegt über sein Gesicht »und wenn ich es mir recht überleg', möcht' ich keinen einzigen ihrer närrischen Einfälle missen. Du weißt, ich muß immer was zu bevatern haben – früher hatt' ich dich, jetzt ist sie's.«

Und nachdem er so sein Herz erleichtert hat, versinkt er in Schweigen.

»Und bist du glücklich?« fragt Johannes.

Martin hüllt sich in Rauchwolken, und aus ihnen heraus murmelt er nach einer Weile: »Hm, kommt darauf an!«

»Worauf?«

»Daß du ihr nicht gram bist!«

»Ich ihr gram?«

»Na, na, red dich nicht 'raus!«

Johannes antwortet nichts. Er wird den Bruder bald eines Besseren belehrt haben, – und die Augen schließend, vergräbt er den Kopf aufs neue in dem Blättergewoge.

Ein Lichtschein läßt ihn aufschauen. Trude steht, die Lampe hoch in der Hand, auf der Türschwelle und schämt sich. Ihr liebes, kindliches Gesicht ist in rötliche Glut getaucht, und die gesenkten Wimpern werfen lange, halbkreisförmige Schatten auf die vollen Wangen.

»Albernes Geschöpf du!« sagt Martin, ihr zärtlich das wirre Haar streichelnd.

»Willst du nicht zur Ruh' gehen, Johannes?« fragt sie mit großem Ernste, doch klingt's in ihrer Stimme noch wie unterdrücktes Kichern.

»Gut' Nacht, Bruder.«

»Wart, ich komm' mit!«

Johannes reicht der Schwägerin die Hand, während sie verstohlen schmunzelnd das Gesicht zur Seite wendet.

Martin nimmt ihr die Lampe ab und geht dem Bruder voran die Treppe empor. Oben faßt er seine Hand und schaut ihm mit seinem treuen Blick eine Weile schweigend ins Auge, wie einer, der seines Glückes noch nicht Herr werden kann, dann schreitet er still zur Tür hinaus.

Johannes seufzt und reckt sich, beide Hände gegen die Brust pressend. Ihm wird das Herz schwer vor lauter Jubel. Er will dem Bruder nach, um mit ein paar innigen, dankbaren Worten sein Gemüt zu erleichtern, aber schon hört er dessen Schritte unten im Hausflur. Es ist zu spät. Bevor er sich schlafen legt, muß sein Gemüt zur Ruhe kommen.

Er löscht die Lampe und stößt einen Fensterflügel auf. Kühl weht die Nachtluft gegen seine Stirn. Das tut wohl, das schafft Frieden.

Er lehnt sich über die Brüstung, pfeift sich ein Lied und schaut in die Dämmerung hinaus. Der Apfelbaum zu seinen Füßen steht in vollem Blühen – ein weißes, wogenschlagendes Blumenmeer. Wie oft ist er als Kind da hinaufgeklettert, wie oft hat er, vom Spielen ermüdet, sich an seinen Stamm gelehnt und still vor sich hin geträumt, derweil die rauschenden Blätter ihm schöne Märchen erzählten. Wenn dann im Herbst ein Windstoß durch die Zweige fuhr, regneten die goldgelben Äpfel hernieder und fielen ihm fast in den Schoß.

Was kann einem nicht alles in den Sinn kommen, wenn man so vor sich hinpfeift! Jeder Ton weckt ein neues Lied, jede Melodie läßt neue Erinnerungen aus ihren Gräbern auferstehen. Und mit den alten Liedern erwacht die alte Sehnsucht und fliegt auf Schmetterlingsflügeln durch ihr ungeheures Reich zwischen Mond und Morgenröte.

Und wie er vor sich niederschaut auf die in Dämmerung zerfließende Erde, da gewahrt er, wie ein Fensterflügel unter ihm sich leise öffnet und ein emporgewandtes Angesicht sich weit hinausneigt. Aus dem bleich schimmernden Oval, das sich hell von den schattenhaften Umrissen des Haares abhebt, leuchten zwei dunkle Augen neckend, kätzchenhaft zu ihm empor.

Jählings hält er mit Pfeifen inne; da hallt ein übermütiges Lachen an sein Ohr, und eine volltönige Stimme ruft: »Nur weiter, Johannes!«

Und als er der Aufforderung nicht Folge leisten will, spitzen sich unten die Lippen und hauchen selber ein paar höchst unvollkommene Töne.

Da wird aus dem Innern des Hauses Martins Brummbaß hörbar, der im Tone väterlichen Vorwurfs sagt: »Mach keine Faxen, Trude! Laß ihn schlafen!«

»Er schläft ja gar nicht!« antwortet sie schmollend wie ein gescholtenes Kind. Dann wird der Fensterflügel geschlossen. Die Stimmen verhallen.

Johannes schüttelt lachend den Kopf und geht zur Ruhe, aber er kann nicht einschlafen. Die Blumen lassen es nicht zu, die Trude an sein Bett gestellt hat und deren Zweige bis über die Bettkante herniederhängen. Mit den bläulich dunkeln Trauben des Flieders mischen sich in nebelhafter Weiße die Sternenkelche der Narzisse. Er kehrt sich um, kniet im Bette nieder und wühlt sein Gesicht in die kühlenden Blumenblätter.

Da plötzlich klingt vom Fußboden her, wie aus dem Schoß der Erde, ein leises Lachen. Leis' wie ein Windhauch, der über die Gräser huscht, aber so glückselig, so ausgelassen –

Er lauscht eine Weile, ob es nicht wiederkehre, aber alles bleibt still. »Tolles, kleines Frauenzimmer!« sagt er belustigt, dann sinkt er in die Kissen zurück und lächelt im Einschlafen vor sich hin.  ...

Am andern Morgen holt Johannes seine Arbeitskleider von der Kammer. In den Achseln schnürt's ein wenig. Man ist eben in die Breite gewachsen.

Die Sonne steht schon hoch am Himmel. Als ob die anderwärts einem halbwegs so hell ins Herz scheinen könnte! Es ist ein eigenes Ding um die Heimatsonne. Was sie anschaut, das vergoldet sie, und den Lippen, die sie trifft, entquellen Lieder.

»In der Heimat ist es schön – Juchhei!«

»Nun hab' ich ein ganzes Nest voll lustiger Vögel im Hause,« lacht Martin, der ihn begrüßen kommt. »Sing nur weiter, mein Junge, bin's von der Trude her gewohnt – aber was willst du mit dem weißen Rock?«

»Denkst wohl, ich werd' hier brach liegen?«

»Noch einen Tag ruh aus!«

»Nicht eine Stunde! Der Faulpelz hängt schon am Nagel.«

Martin hat derweilen die Blumen bemerkt, die am Bette stehen, und sagt mit brummigem Lachen: »Sieh einer die Wetterhexe. Für mich hab' ich's ihr verboten, nun fängt sie den Unfug mit andern an. Drum siehst du auch so gelb aus heut morgen.«

»Ich – gelb? Keine Spur!«

»Red kein Wort! Der werd' ich die Faxen schon austreiben.« Damit gehen sie hinunter.

Trude läßt sich nirgends im Hause blicken.

»Die ist seit fünfe im Garten,« sagt Martin mit wohlgefälligem Schmunzeln. »Das geht hier mit Dampf des Morgens, seit sie die Herrschaft führt. Flink wie 'n Wiesel, mit Morgengrauen auf den Beinen und immer fidel, immer mit Singsang und Hallo.«

Auf dem Wege zur Mühle fliegt den Brüdern eine junge Rübenstaude dicht über die Köpfe hinweg.

Martin dreht sich um und droht lachend mit dem Finger. »Wer war das?« fragt Johannes, indem er verwundert den menschenleeren Hof durchspäht.

»Wer sonst als sie!«

»Aber siehst du denn was von ihr?«

»Keine Spur! Oh, die ist ein Kobold, die kann sich unsichtbar machen, wenn sie will!«

Und mit strahlendem Gesicht folgt er dem Bruder in die Mühle.

Die Stunden vergehen. Johannes will zeigen, was er kann, und arbeitet mit doppelten Kräften.

Während er oben auf der Galerie das Korn aufschüttet, zupft ihn jemand von unten aus leise am Rockschoß. Er schaut hinab: Trude mit sonnverbrannten Wangen und blitzenden Augen steht auf der Treppe und winkt ihm zu: »Komm zum Frühstück!«

»Gleich!« sagt er, schafft seine Arbeit zu Ende und kommt herab.

»Brr!« macht sie, sich schüttelnd, »wie du aussiehst!«

»Nun, wie?«

»Ach – gestern gefielst mir besser.«

Dann reicht sie ihm die Hand zum »guten Morgen« und springt voran die Treppe hinunter, mutwillig einen Mehlregen vor sich herstreuend.

Wie sie an der Tür des Verschlages vorbeikommen, die Martin sein Kontor genannt, schneidet sie ein geheimnisvolles Gesicht und hebt stillstehend beide Hände empor, als ob sie einen Geist beschwören wolle.

Dann nach einer kleinen Weile fragt sie leise: »Du, was hat er da drin?«

»Ich weiß nicht.«

»Darfst du auch nicht 'rein?«

»Nein!«

»Gott sei Dank! Bin ich doch nicht allein so dumm. Da sitzt er nun drin – alle Fremden dürfen zu ihm 'rein, bloß ich nicht. – Wenn ich was von ihm will, so muß ich klingeln. – Sag selbst, ist das nett von ihm? So ein Kind bin ich doch auch nicht mehr, daß er mich – na, ich will stillschweigen, man darf von seinem Mann nichts Übles reden – aber du bist ja sein leiblicher Bruder – leg du ein gutes Wort für mich ein, daß er mir sagt, was er da drinnen hat. Ich bin ja so neugierig.«

»Sagt er's mir denn etwa?«

»Na, dann müssen wir uns miteinander trösten. Komm!«

Und sie springt mit einem Satze die drei Stufen hinauf, die zur Türschwelle führen.

Während des Frühstücks nimmt sie plötzlich eine ernste Miene an und spricht gewichtig von ihren großen Wirtschaftssorgen. Sie sei zwar schon von Hause her an Selbständigkeit gewöhnt, denn ihr armes Mutterchen sei seit vielen Jahren tot und sie habe schon lange vor der Konfirmation ihrem Vater die Wirtschaft führen müssen; aber die sei nur klein gewesen, der Vater habe sich mit einem einzigen Knecht beholfen in der Mühle wie auf dem Felde und sich fast zuschanden gearbeitet – der arme Vater!

Die Augen stehen ihr voll Wasser. Sie schämt sich und wendet sich ab. – Dann springt sie auf und fragt: »Bist du satt?«

Und als er bejaht, fährt sie fort: »Komm mit in den Garten. Da ist eine Laube – in der schwatzt es sich gut!«

»Die dort hinter dem großen Gange? Das war auch immer mein Lieblingsplatz.«

Sie durchschreiten nebeneinander das Gehege des Gartens, der in Sonnenglut gebadet vor ihnen liegt, und atmen erleichtert auf, als die kühle Dämmerung der Laubenhöhlung sie umfängt.

Sie wirft sich nachlässig auf einen der Birkenstühle, die drinnen stehen, und legt die vollen, sonngebräunten Arme als Kissen hinter den Kopf.

Durch das dichte Laubwerk brechen vereinzelte Sonnenlichter, die ihr auf Hals und Wangen spielen und, über den Scheitel hinhuschend, das braune Kräuselhaar hell aufglühen lassen.

Johannes setzt sich ihr gegenüber und schaut sie mit unverhohlener Bewunderung an. Er ist überzeugt, nie im Leben so viel Lieblichkeit gesehen zu haben wie jetzt in der halb daliegenden Gestalt der holden, jungen Schwägerin. Das Wort des Bruders fährt ihm durch den Kopf: »Ist's möglich, daß ich sie nicht hätt' lieb haben sollen?«

»Ich weiß nicht, mir ist heut so erzählerig zumute,« sagt sie mit ihrem zutraulichen Lächeln, indem sie den Kopf bequemer zurechtnestelt. »Hörst du auch gerne zu?«

Er nickt.

»Das freut mich von dir, Johannes! Also du kannst dir denken, daß bei uns daheim das Brot nicht gerade reichlich zugemessen war – von der Butter, die dazu gehört, gar nicht zu reden – und hätt' ich mein bißchen Gartenwirtschaft nicht gehabt, deren Erträgnis wir in der Stadt verkaufen konnten, wir wären überhaupt nicht ausgekommen. Warum tragen die Leut' auch all ihr Mehl in die Felshammersche Wassermühle, ohne zu bedenken, daß die armen Windmüller auch leben wollen? So dachten wir oftmals und hatten einen ordentlichen Haß auf euer Haus geworfen. Da kommt mit einem Mal der Martin – will gute Nachbarschaft halten, sagt er – und ist freundlich und lieb zum Vater und freundlich und lieb zu mir und bringt den Jungen Johannisbrot und Zuckerkand, so daß wir alle versessen sind auf ihn. Und zu guter Letzt erklärt er dem Vater, er will mich partout zur Frau haben. – ›Aber sie hat nichts,‹ sagt mein Vater. ›Ich will auch nichts,‹ sagt er, und denk dir – er nimmt mich ohne einen gebogenen Heller Mitgift. – Du kannst dir meine Freude denken, denn der Vater hatte oft genug zu mir gesagt: ›Die Männer gehen heutzutage alle nach Geld; Trude, du bist ein armes Mädchen; präparier dich, alte Jungfer zu werden.‹ Und nun war ich Braut noch vor dem siebzehnten Geburtstag. – Auch hatt' ich den Martin schon lange herzlich gern gehabt, denn wenn er auch immer ein bißchen scheu und wortkarg war, an den Augen hab' ich's ihm angesehen, was er für 'n Herz hat! – Er kann sich nur nicht geben, wie er wohl möchte. Ich weiß, wie gut er ist, und wenn er auch noch so viel brummt und mich ausschilt, ich werd' ihn doch lieb behalten mein Leben lang!«

Sie schweigt für einen Augenblick und fährt mit der Hand übers Gesicht, als wolle sie den Sonnenstrahl wegwischen, der ihre Wimpern vergoldet und das Auge in lichten Farben erschillern läßt. – – –

»Und denk dir, wie gut er gegen die Meinen ist!« fährt sie dann eifrig fort, als könne sie nicht genug der Liebe finden, um sie auf Martins Haupt zu häufen. »Er wollte ihnen durchaus eine jährliche Unterstützung zu kommen lassen – ich weiß nicht von wieviel – aber das litt ich nicht, denn ich mochte meinem Vater nicht zumuten, auf seine alten Tage Almosen annehmen zu müssen, und wär's gleich von seinem Schwiegersohn. Aber eins bedang ich mir aus, nämlich daß ich die Gartenwirtschaft, an die ich von Hause gewohnt war, hier weiter treiben dürfte und daß die Einkünfte mir als Taschengeld zufallen sollten. Was ich dann damit mache, ist meine Sache.« Sie lächelt verschmitzt zu ihm hinüber, dann fährt sie fort: »Sie haben's auch wirklich nötig zu Hause, denn, sieh mal, noch sind drei Jungen daheim, die alle ernährt und gekleidet sein wollen, und ein Dienstmädchen muß jetzt auch gehalten werden, seit ich weg bin.«

»Schwestern hast du keine?« fragt er.

Sie schüttelt den Kopf, dann sagt sie, plötzlich in lautes Lachen ausbrechend: »'s ist ein Skandal! Nicht einmal eine zur Frau für dich!«

Er stimmt in das Lachen ein und meint: »'ne Frau wär' mir jetzt wohl weniger nötig.«

»Was denn sonst?«

»Eher 'ne Schwester.«

»Nun, die wär' ja da,« sagt sie, indem sie aufspringt und zu ihm herantritt; dann, als ob sie sich ihrer Lebhaftigkeit schäme, läßt sie sich errötend auf den Stuhl zurücksinken.

»Ja, wolltest du?« fragt er mit strahlenden Augen.

Sie macht ein Schnäuzchen und meint leichthin: »Was ist da viel zu wollen? Schwägerin ist ja schon an und für sich so viel wie halbe Schwester,« und indem sie ihn lächelnd vom Wirbel bis zur Zehe mißt, fügt sie hinzu: »Ich glaube, mit dir als Bruder könnt' man sich sehen lassen.«

»Fünf Fuß, zehn Zoll – Garde-Ulan gewesen – wenn das genügt!«

»Und ein guter Spielkamerad würdest du am Ende auch sein!«

»Brauchst du einen?«

Sie seufzt und sagt: »Ach, sehr! – Es ist so still, so ernst hier. 's gibt keinen einzigen, mit dem man sich herumjagen kann wie früher zu Haus' mit den Brüdern. Manchmal war ich schon im Begriff, einen Müllerjungen beim Kragen zu nehmen, aber das verbot die Würde und der Respekt.«

»Nun bin ich ja da!« lacht er.

»Auf dich setz' ich auch große Hoffnungen.«

»So nimm mich doch beim Kragen!«

»Bist mir zu mehlig.«

»'ne rechte Müllersfrau, die sich vor Mehl fürchtet!« höhnt er.

»Laß nur,« bricht sie ab, »ich werd' dein Spieltalent schon auf die Probe stellen!«

Als die drei wiederum in der Veranda Dämmerstunde feiern und Johannes, den Kopf in den Ranken verborgen, gleich dem Bruder still vor sich hinträumt, da fühlt er plötzlich, wie ein rundes, unbestimmbares Etwas ihm gegen die Stirn prallt und dann zur Erde sinkt. »Vielleicht war's ein Marienkäfer,« denkt er bei sich, aber der Angriff wiederholt sich zum zweiten- und drittenmal.

Da guckt er schon ein wenig argwöhnisch zu Trude hinüber, die, ein Bild vollendeter Unschuld, wehmütig die Melodie »In einem kühlen Grunde« vor sich hinsummt, dabei aber unauffällig kleine Brotkügelchen dreht, die ihr augenscheinlich als Geschosse dienen.

Er erstickt ein fröhliches Auflachen, hascht heimlich nach einer Weinranke, an der vom vorigen Jahre her noch ein paar vertrocknete Beeren hängen, und als sie eine neue Bombe gegen ihn abschickt, schlendert er ihr die Antwort prompt gegen ihr Näschen.

Sie zuckt zusammen, sieht ihn verdutzt an, und wie er sich nun mit dem ernstesten Gesicht von der Welt fragend zu ihr hinüberneigt, bricht sie in ein jubelndes Lachen aus.

»Was gibt's schon wieder?« fragt Martin, aus seinem Brüten aufgeschreckt.

»Er hat die Probe bestanden!« lacht sie und fällt ihrem Mann um den Hals.

»Welche Probe?«

»Wenn ich's dir sage, brummst du – drum schweig' ich lieber still.«

Nun sieht Martin Johannes an.

»Ach, nichts,« sagt dieser, verlegen lächelnd, »es war eine Kinderei. Wir – wir bombardierten uns.«

»Das ist recht, Kinder, bombardiert euch,« sagt Martin und raucht dann schweigend weiter. Johannes schämt sich, und Trude mißt den neuen Spielkameraden mit herausfordernden Blicken.

»Spielerig,« ja, so war's, so hatte Martin Felshammer sein junges Weib genannt. – – –

Von nun an ist's mit den friedlich – schweigsamen Dämmerstunden, die Martin so sehr lieb hat, ein für allemal vorbei.

In den stillen Pfaden des Gartens tönt Juchzen und Gekicher, über den Rasenplatz stürmen einander haschende Gestalten; man scherzt, man neckt sich, man läßt die Hunde los und tollt mit ihnen, man macht Jagd auf fremde Katzen, die den Mühlenhof als Liebesrevier betrachten, man spielt Versteckens hinter Heuschobern und Zaunwinkeln.

Martin hat für dieses Treiben ein freundlich väterliches Gewährenlassen. Im Grunde genommen wär's ihm lieber, wenn die alte Ruhe wieder einkehrte, aber sie sind ja so glücklich beide in ihrer Jugend, ihrer Harmlosigkeit, ihre Augen blitzen so hell, ihre Wangen glühen so rot: es wäre ein Frevel, ihnen mit grämlichen Einwänden die Lust zu vergällen. Sie sind ja Kinder!

Und gibt's nicht auch stillere Stunden? Wenn Trude sagt: »Hans, komm singen,« dann Setzen sie sich fromm nebeneinander in der Veranda nieder oder gehen langsamen Schrittes am Flusse dahin, und hat sich Martin seine Pfeife angezündet und ist zum Zuhören bereit, dann wirbeln ihre Lieder hell in die Dämmerung hinein.

Bald kommen dann schöne, feierliche Augenblicke. Die Vögel in den Zweigen zwitschern im Schlafe, ein leiser Wind weht durch die Ranken, und das Mühlenwehr singt mit dumpfem Rauschen das Geleite. Wie schnell ist da die Stimmung umgeschlagen! Lustig haben sie angefangen, aber immer trauriger werden die Melodien, immer wehmütiger wird der Klang ihrer Stimmen. Sie, die noch vor wenigen Minuten die Köpfe zusammensteckten, haben ernst die Hände gefaltet und starren träumerisch ins Abendrot. Und ihre Stimmen passen herrlich zusammen. Johannes' heller Tenor schmiegt sich weich an ihren vollen, dunkeln Alt, und sein Gehör versagt nie, wenn es gilt, neue Lieder aus dem Stegreif zu begleiten.

Seltsam ist es, daß sie nicht singen können, wenn sie miteinander allein sind. – Wird Martin während des Gesanges in Geschäften abgerufen, so fangen ihre Stimmen alsbald an, unsicher zu werden, sie sehen sich an und lächeln, wenden sich ab und lächeln wieder, dann singt gemeinhin einer falsch, und das Lied wird abgebrochen.

Ist Martin eines Abends nicht zu Hause oder hat er sich, was wohl ein- oder zweimal in der Woche vorkommt, in seinem »Kontor« eingeschlossen, so schweigen sie wie auf Verabredung still, und keiner würde es wagen, den andern zum Gesang herauszufordern.

Dafür haben sie andre um so schönere Beschäftigungen, die sie wiederum nur treiben können, wenn sie vor eines Dritten Ohren sicher sind.

Johannes hat sich beim Militär ein schönes »Arienbuch« angelegt, worin alles gesammelt ist, was ihm von lustigen und gefühlvollen Gesängen insbesondere gefiel. Bei weitem jedoch überwiegt die gefühlvolle Gattung. Liebesklagen, Totenlieder, Balladen von Kindesmörderinnen und unschuldig zum Tode Verurteilten wechseln mit poetischen Betrachtungen über den Unwert des Daseins im allgemeinen, und die Krone des Ganzen bildet Kotzebues »Ausbruch der Verzweiflung«, jener sentimentale Erguß, welcher dazumal ein halbes Jahrhundert lang das populärste aller deutschen Gedichte war.

Diese Sammlung entspricht durchaus Trudens poetischem Fühlen, und sobald sie sich mit Johannes allein weiß, flüstert sie ihm bittend zu: »Hol die Arien!« Dann hocken sie in einem stillen Winkel nieder, stecken die Köpfe zusammen – Trude muß durchaus mit ins Buch sehen – und erquicken sich an dem wollüstigen Grausen, das während der Lektüre durch ihre Glieder rieselt.

Da ist jenes wundersame: »Graf Osinski an seine Geliebte«:

Zum Lebewohl nimm meines Herzens Klagen,
Sanft aufgelöst in silber Harmonie,
Doch ahnde nie, was diese Töne sagen – – –

oder jene volkstümlich alte Romanze:

Heinrich schlief bei seiner Neuvermählten,
Einer reichen Erbin an dem Rhein. – – –

– – – – – – – – – –

Zwölfe schlug's, da drang durch die Gardine
Plötzlich eine weiße, zarte Hand. –
Wen erblickt er? – Seine Wilhelmine,
Die im Sterbgewande vor ihm stand.

Dann fährt Trude zusammen und starrt mit großen, verängstigten Augen in die Dämmerung, aber sie lächelt dabei in seliger Verzückung.

Das Allerheiligste in dem Arienbuche ist eine Abteilung, welche die Überschrift führt: »Die schöne Müllerin.«

»Wo hast du das her?« fragt Trude, die sich durch den Titel getroffen fühlt.

»Ein Kamerad von mir, der Musiker war, hatte die Lieder in einem großen Notenhefte. Daraus schrieb ich sie mir ab. Der sie gemacht hat, soll Müller geheißen haben und ein Müller gewesen sein.«

»Lies, lies schnell,« ruft Trude.

Aber Johannes weigert sich. »Es ist zu traurig,« sagt er, das Buch zuklappend; »ein andermal.«

Und dabei bleibt's. Aber Trude setzt ihm so lange zu mit Bitten und Schmollen, bis er ihr schlechterdings willfahren muß.

»Komm heut abend mit zum Wehr,« sagt er, »ich muß die Schützen aufziehen. Dort sind wir ungestört, dort les' ich dir vor – natürlich, falls – –«

Er blinzt nach dem »Kontor« hinüber. Trude nickt. Sie verstehen sich vorzüglich.

Nach dem Abendessen zieht sich Martin in seinen Schlupfwinkel zurück, verfolgt von den ungeduldigen Blicken Trudens, die die Zeit nicht erwarten kann, da die Geheimnisse der »Schönen Müllerin« sich vor ihr auftun werden.

Arm in Arm wandern sie über die Wiese zum Wehr hinaus. Das Gras ist feucht vom Abendtau. Der Himmel erglüht in rötlichen Flammen. Scharf umgrenzt hebt sich von dem feurigen Hintergrunde der Schattenriß des Fichtenwaldes ab, der schwarz und schweigend die Flur umrahmt. Lauter und lauter rauschen die Wasser ihnen entgegen.

In den rollenden Wellen erglüht der Widerschein des Abendrots, und jeder Tropfen des spritzenden Schaums ist ein spritzender Funke. Auf der andern Seite des Wehrs ruht der Fluß wie ein düsterer Spiegel, schwarz senden die Erlen ihren Schatten darauf nieder und tauchen ihr Bild in die undurchsichtigen Tiefen.

Schweigend gehen die beiden zum Wehr. Ein schmaler Steg, der in der Mitte eine Zugbrücke trägt, läuft neben dem Haupt-, dem »Kernbalken« dahin. Von hier aus werden die »Schützen« der Schleuse, die, sechs an der Zahl, in festen Stützpfählen, den »Satzposten«, nebeneinander ruhen, durch den Müller auf und nieder gezogen. – Jetzt, im sanften Monat Juni, macht das Wehr nur wenig Arbeit, aber im Vorfrühling und im Herbste, bei Hochwasser und bei Eisgang, wenn sämtliche Schützen herausgehoben werden müssen und die Satzposten dazu, damit die Flut mitsamt den Schollen sich ungehindert in die Tiefe stürzen könne, dann heißt es aufpassen und die Kräfte anspannen, auf daß man nicht mit dem Holzwerk zusammen in den Wirbel hinuntergerissen werde.

Johannes zieht zwei der Schützen hoch. Das genügt für jetzt. Dann wirft er den Schlegel fort und stützt den Ellbogen auf das Geländer der Zugbrücke. Trude, die ihm so lange schweigend zugesehen hat, schwingt sich auf den großen Balken, der in gleicher Höhe mit dem Geländer, nur wenige Zoll von ihm entfernt, von Ufer zu Ufer läuft.

»Du wirst schwindlig werden, Trude,« sagt Johannes, voll Besorgnis auf den »Abfall« hinunterschauend, wo in der schiefen Bretterebene die Wasser mit rasender Eile dahinschießen, um sich dann schäumend in die Tiefe zu stürzen.

Trude lacht kurz auf und meint, sie habe oft stundenlang hier gesessen und hinuntergeblickt, ohne vom Schwindel befallen zu sein, und im Notfalle sei er ja da. – Ihr Blick ruht voll Spannung auf seiner Tasche, und wie er das Arienbuch hervorholt, da seufzt sie laut in Entzücken über die geahnten Herrlichkeiten und faltet die Hände wie ein Kind, dem Großmutter Märchen erzählen will. Und Johannes beginnt. Die innigen Worte des gemütstiefen Poeten fließen wie Gesang von seinen Lippen.

»Das Wandern ist des Müllers Lust« – Trude jauchzt hell auf und schlägt mit den Füßen den Takt gegen die Schleusenständer. »Ich hört' ein Bächlein rauschen« – Trude verhält sich abwartend. »Eine Mühle sah ich blinken« – Trude klatscht vor Freude in die Hände und weist nach dem Gehöft hinüber. Mit dem »War es also gemeint, mein rauschender Freund« betritt die schöne Müllerin die Bühne, und Trude wird ernst. »Hätt' ich tausend Arme zu rühren« – Trude gibt leise Zeichen von Ungeduld. »Ich frage keine Blume, ich frage keinen Stern« – Trude lächelt befriedigt vor sich hin. »Ich schnitt' es gern in alle Rinden ein« – Trude seufzt tief auf und schließt die Augen; und nun geht es weiter in den trunkenen Phantasien des jungen, liebetaumelnden Müllergesellen bis zu dem Jubelruf, der das Rauschen des Baches, das Brausen der Räder, den Sang der Vögel übertönt:

Die geliebte Müllerin ist mein!

Trude breitet beide Arme aus, ein Lächeln stiller Seligkeit fliegt über ihr Gesicht, sie schüttelt den Kopf, als wolle sie sagen: »Was um alles in der Welt kann nun noch kommen?« Da findet sich plötzlich der Müllerin rätselhafte Liebe für die grüne Farbe, das Hifthorn schallt aus dem Walde, der trotzige Jäger tritt auf. Trude wird unruhig. »Was will der Kerl?« murmelt sie und schlägt mit der Faust auf den Balken. Der Müllergesell, der arme Müllergesell, er begreift gar bald. »Ich möchte ziehn in die Welt hinaus, hinaus in die weite Welt, wenn's nur so grün, so grün nicht wär' da draußen in Wald und Feld,« so klingt sein wehmütiges Lied. Trude greift bangend und hoffend mit den Händen in die Luft; es kann ja nicht sein, es muß sich ja noch alles zum Besten wenden. Und dann:

Ihr Blümlein alle, die sie mir gab,
euch soll man legen mit mir ins Grab.

Trudens Auge wird feucht, aber noch immer hofft sie, der Jäger werde abziehen und die Müllerin sich bekehren; es kann, es darf ja nicht anders sein. Der Müller und der Bach beginnen ihr trauriges Zwiegespräch, der Bach will trösten, doch für den Müller gibt's nur einen Frieden noch, nur eine Ruh'.

Ach, Bächlein, liebes Bächlein, du meinst es so gut,
Ach, Bächlein, aber weißt du, wie Liebe tut?

Trude nickt hastig. »Was will der dumme Bach? – Was versteht er von Leid und Liebe?«

Und dann – dann kommt das rätselhafte Wiegenlied, das die Wellen singen. Gewiß ist der junge Müller am Rande des Baches eingeschlafen – ein Kuß wird ihn erwecken, und wenn er die Augen auftut, dann wird die Müllerin sich über ihn neigen und zu ihm sagen: »Verzeih mir, ich hab' dich auch wieder lieb.«

Aber nein, was wollen die geheimnisvollen Worte vom blauen, kristallenen Kämmerlein? Warum soll er so lange schlafen, bis das Meer die Bächlein austrinken wird? Und wenn das böse Mägdelein ihr Tuch in den Bach werfen soll, damit ihm die Augen bedeckt seien, dann liegt der Schläfer nicht am Bachesrand, dann liegt er ja tief unten – – – Trude schlägt die Hände vors Gesicht und bricht in ein lautes, krampfhaftes Schluchzen aus, und als Johannes dennoch zu Ende lesen will, schreit sie: »Hör auf, hör auf!«

»Trude, was ist dir?«

Sie winkt ihm, er solle sie in Ruhe lassen; immer heftiger wird ihr Weinen, ihr ganzer Körper bebt: er sucht eine Stütze, er neigt sich nach hinten.

Johannes stößt einen Angstschrei aus und springt hinzu, sie in seinen Armen auffangend – – –

»Um Himmels willen, Trude!« keucht er, tief Atem holend ... Der kalte Schweiß steht ihm auf der Stirn ... Sie aber neigt das Köpfchen an seine Brust, schlingt die Arme um seinen Hals und weint sich satt ...

Am andern Tage sagt Trude: »Ich hab' mich gestern recht kindisch betragen, Hans, und ich glaub', viel fehlte nicht, so wär' ich 'runtergestürzt.«

»Du warst schon im Sinken,« sagt er, und ein Schauder läuft ihm über den Leib bei der Erinnerung an den fürchterlichen Augenblick.

Ein sentimentales Lächeln zieht sich über ihr Gesicht.

»Dann wär's mit einem Male vorbei gewesen!« meint sie mit einem tiefen Seufzer, lacht sich aber sofort selber aus ob ihrer Dummheit  ...

Die Tage vergehen. Johannes hat die kühnsten Erwartungen erfüllt, die Trude an ihn als braven Spielkameraden stellte. Die beiden sind unzertrennlich geworden, und Martin, der dritte im Bunde, kann nichts als stillschweigend zusehen und mit seinem brummigen Lächeln Ja und Amen zu ihren Streichen sagen.

Eine Lust ist es zu sehen, wie die beiden beim Haschen über den Hof hinjagen, als hätten sie Flügel an den Sohlen.

Trude saust dahin, daß ihre Füße kaum den Boden berühren, aber Johannes ist trotzdem der Schnellere. Ob es auch lange dauert, eingefangen wird sie doch. Sobald sie merkt, daß ein Entrinnen nicht mehr möglich ist, kauert sie sich zusammen wie ein verschüchtertes Küchlein. Wenn dann seine Arme sie triumphierend umschlingen, erbebt ihr schlanker Leib, als werde er in seinen Grundfesten erschüttert durch seine Berührung.

David, der alte Knecht, sieht dem Treiben von der Luke des Speichers aus, wo er seinen Stammplatz hat, mit großer Aufmerksamkeit zu; dann kratzt er sich wohl den grauen Kopf und murmelt allerhand unverständliches Zeug in sich hinein.

Trude bemerkt ihn einmal und zeigt ihn lachend Johannes.

»Dem alten Schleicher müssen wir einen Schabernack spielen,« raunt sie ihm zu.

Johannes erzählt ihr die lustige Geschichte, wie er vor Jahren einmal das Nest entdeckt habe, in welchem der Alte das stibitzte Mehl aufzubewahren pflegte. »Wenn uns heute dasselbe gelänge?« lacht er.

»Wir müssen eben suchen,« meint Trude.

Gesagt, getan. Am nächsten Sonntag, da die Mühle steht und die Dienstboten samt den Gesellen ausgeflogen sind, nimmt Johannes den Schlüsselbund von der Wand und winkt Truden, ihm zu folgen.

»Wo wollt ihr hin?« fragt Martin, von dem Buche aufschauend, in dem er gelesen hat.

»Eine von den Hennen verlegt ihre Eier,« sagt Trude rasch. »Wir wollen das Nest aufsuchen.« Und sie errötet nicht einmal.

Nun durchstöbern sie eifrig Stallung und Scheune, Speicher und Heuschuppen und vor allem die Mühle, jagen treppauf, treppab, klettern steile Leitern hinan und kramen in dem Schutt der Rumpelkammern.

Wohl zwei Stunden fruchtlosen Suchens sind verflossen, da verkündet Trude, die es sich nicht hat verdrießen lassen, in den entlegensten Winkel des Vorratsraumes zu kriechen, daß sie gefunden habe, was sie suchte. Unter morschen Wellen und ausrangierten Kammrädern, bedeckt von den Trümmern der letzten Jahrzehnte, stehen ein paar große Scheffelsäcke mit Mehl und Graupen gefüllt; auch allerhand nützliche Kleinigkeiten, wie Hämmer, Kneifzangen, Bürsten und Tischmesser, liegen daneben. Laut jubelnd, mit blitzenden Augen, Staub im Gesichte und Spinngewebe in den Haaren, kommt sie aus der Höhle hervor, und nachdem Johannes sich überzeugt hat, daß sie recht gesehen, wird Kriegsrat gehalten. Soll Martin mit ins Geheimnis gezogen werden? Nein, er würde sich ärgern und ihnen am Ende den Spaß verderben. Johannes findet das Richtige. Er schüttet den Inhalt der Säcke in die entsprechenden Behälter und füllt sie statt dessen mit Sand und Erde, zu oberst aber breitet er eine Schicht von Kienruß, wie er vom Kutscher zum Schwärzen des Lederzeugs verwendet wird. Nachdem er noch im Vorübergehen die Werkzeuge rasch in die Teertonne getaucht und alles in der vorigen Ordnung zurechtgestellt hat, hält er sein Werk für vollendet. Beide verlassen innig vergnügt die Mühle, waschen sich an der Pumpe Gesicht und Hände, helfen einander die Kleider säubern und befleißigen sich, beim Eintritt ins Zimmer ein möglichst harmloses Gesicht zu machen. Aber Martin bemerkt sofort das verräterische Zucken, das um ihre Mundwinkel spielt; er droht lächelnd mit dem Finger, fragt aber nicht weiter  ...

Zwei, drei Tage vergehen in brennender Ungeduld, da kommt eines Morgens Johannes atemlos zu Truden in den Garten gestürzt, hochrot im Gesichte von zurückgehaltenem Gelächter. Sie wirft sofort die Hacke hin und eilt spornstreichs ihm nach auf den Hof.

Vor der Pumpe steht ratlos und wütend der alte David, zur Hälfte weiß, zur Hälfte in einen Schornsteinfeger verwandelt. Gesicht und Hände sind kohlrabenschwarz, und auf den Kleidern prangen mächtige Teerflecken. Aus den Fenstern der Mühle gucken die lachenden Gesichter der Müllergesellen, und Martin geht in heftiger Erregung vor dem Wohnhause auf und ab.

Das Bild ist von überwältigender Komik, und Johannes und Trude wollen sich ausschütten vor Lachen. David, der wohl ahnt, wo er seine Feinde zu suchen hat, wirft den beiden einen bitterbösen Blick zu und versucht aufs neue, sich zu reinigen. Aber das verräterische Schwarz haftet mit dem Teer zusammen, als sei es festgewachsen. Endlich erbarmt sich Martin des armen Teufels, läßt ihn in die Gesindestube treten und befiehlt Truden, die helle Lachtränen weint, daß sie ihm einen abgetragenen Arbeitsanzug hervorsuche.

Beim Mittagstisch erzählen ihm die beiden ihren gelungenen Streich. Er schüttelt mißbilligend den Kopf und meint, es wäre besser gewesen, wenn man ihm von dem Fund Anzeige gemacht hätte. Dann brummt er etwas von »achtundzwanzig Dienstjahren« und »Kleinkinderstreichen« und steht vom Tische auf.

Trude und Johannes wechseln einen verständnisinnigen Blick, der da sagt: »Spielverderber«. Der Vorfall bietet ihnen noch drei Tage lang Stoff zu heimlichem Vergnügen.

Am nächsten Sonntag macht Martin eine Fahrt über Land, um alte Schulden einzutreiben. Er wird vor Abend kaum zurückkehren können. Die Gesellen sind in die Schenke gegangen. Die Mühle steht leer.

»Jetzt schick' ich noch die Mägde fort,« sagt Trude zu Johannes, »dann sind wir mutterseelenallein auf dem Hof und können wieder was unternehmen.«

»Aber was?«

»Das wird sich finden,« lacht sie und geht in die Küche hinaus.

Nach einer halben Stunde kommt sie wieder und sagt: »So, jetzt sind sie fort, jetzt kann's losgehen.«

Dann setzen sie sich einander gegenüber und überlegen. »So 'nen Jux, wie letzten Sonntag, finden wir niemals wieder,« meint Trude seufzend, und dann nach einer Weile: »Du, Johannes!«

»Was?«

»Du bist doch 'ne rechte Gottesgabe für mich!«

»Inwiefern?«

»Seit ich dich hier hab', bin ich dreimal so vergnügt. Sieh – er ist ja seelengut, und du weißt – ich hab' ihn lieb, sehr lieb, aber er ist immer so ernst, so von oben herab, als ob ich ein dummes, unvernünftiges Ding wär' – und bin ich nicht fleißig und halt' die Wirtschaft zusammen wie 'ne Alte? Daß mich der liebe Gott so kreuzfidel geschaffen hat, dafür kann ich doch nichts, und 's ist am End' auch kein Verbrechen – aber unter seinem Aug', wenn er einen so ernst und strafend ansieht, vergeht einem alle Lust zum Unsinnmachen.  ... Und wenn man dann still sitzt, dann ist's manchmal so langweilig und so ...«

Sie stockt und besinnt sich. Sie will ihm klagen, weiß aber nicht recht, was?

»Mit dir ist es ganz was Andres,« fährt sie fort, »du bist ein guter Kerl und sagst zu nichts ,nein'. Mit dir kann man machen, was man will!  ... Bei dir braucht man auch nicht das böse Schmunzeln zu fürchten, das er an sich hat, wenn man ihm was erzählt, womit er sagen will: ›Ich hör' dir wohl zu, aber Dummheiten schwatzest du doch.‹ Dann bleiben einem die Worte gleich in der Kehle stecken während du – – – ja, dir kann man alles anvertrauen, was einem durch den Kopf fährt.«

Sie stützt nachdenklich das Gesicht in beide Hände und läßt die Ellbogen auf den Knien hin und her gleiten.

»Und was fährt dir jetzt durch den Kopf?« fragt er.

Sie wird rot und springt auf. »Hasch mich!« ruft sie und verschanzt sich hinter dem Tisch; doch als er sie verfolgen will, geht sie ihm ruhig entgegen und sagt: »Laß nur! Wir wollten ja was unternehmen. – Halt für alle Fälle die Schlüssel parat ... vielleicht fällt uns unterwegs was ein.«

Er holt den großen Schlüsselbund vom Haken und folgt ihr auf den Hof hinaus, auf dem die heiße Nachmittagsonne brütet.

»Schließ die Mühle auf,« sagt sie, »da ist es kühl.« Er tut, wie ihm geheißen, und sie springt mit einem wilden Satze die Stufen hinab in den halbbunkeln Raum, der in sonntäglichem Schweigen vor ihnen liegt.

»Hier hätt' ich Angst allein,« sagt sie, sich nach ihm umschauend, dann weist sie nach der Tür des Kontors, deren helles Holz geheimnisvoll durch das Halbdunkel leuchtet, spreizt die Finger und schüttelt sich.

»Hat er dir noch immer nichts gesagt?« flüstert sie nach einer kleinen Weile, sich zu seinem Ohr hinneigend.

Er schüttelt den Kopf. Ihm wird ein wenig beklommen zumute in dem dumpfen, dämmerigen Raum, er atmet tief, er sehnt sich nach Luft und Licht. – Aber Trude fühlt sich um so wohler in dieser dunstgeschwängerten Atmosphäre, in diesem rätselhaften Zwielicht, wo durch die geschlossenen Luken vereinzelte Sonnenstrahlen wie goldene Bänder schräg zum Boden hinuntergleiten als Tummelplatz für Myriaden tanzender Stäubchen. – Das Grauen, das sie überkommt, ist ihr ein angenehmer Kitzel, sie duckt sich, schauert zusammen und schleicht vorsichtig die Treppe hinauf, als wolle sie Jagd auf Gespenster machen. Oben auf der Galerie schreit sie laut auf, und als Johannes sie voll Besorgnis fragt, was ihr fehle, sagt sie, sie habe sich nur Luft machen wollen.

Sie klettert zu einem Rumpf empor, steigt über die Balustrade und gleitet auf dem Treppengeländer wieder hinunter. Dann verschwindet sie in dem Dunkel des Triebwerkes, dort, wo die mächtigen Räder sich in gigantischen Massen aufeinandertürmen. Johannes läßt sie gewähren; heute hat's keine Gefahr, heute steht alles still.

Ein paar Sekunden später taucht sie wieder auf. Sie nestelt sich dicht an Johannes' Seite, schaut mit scheuen Blicken rings umher und zieht dann einen kleinen Schlüssel aus der Tasche, der an einem schwarzen Bande hängt. »Was ist das?« fragt sie leise.

Johannes wirft einen raschen Blick nach der Kontortür hinüber und sieht sie fragend an.

Sie nickt.

»Leg ihn zurück!« ruft er erschrocken.

Sie wiegt den Schlüssel in der Hand und liebäugelt mit dem blanken Metall. – »Ich hab' einmal zufällig gesehen, wie er ihn dort verbarg,« flüstert sie.

»Leg ihn zurück!« ruft er noch einmal.

Sie runzelt die Brauen, dann meint sie mit einem leisen Auflachen: »Das wär' was zum Unternehmen.«

Dabei wirft sie einen ängstlichen Seitenblick in sein Gesicht, der seine Stimmung auskundschaften soll.

Das Herz pocht ihm hörbar. In seiner Seele dämmert die Ahnung hereinbrechender Schuld.

»Es würde ja ganz unter uns bleiben, Hans,« sagt sie schmeichelnd.

Er schließt die Augen. Wie schön wär' es, mit ihr ein Geheimnis zu haben!

»Und schließlich, was ist dabei?« fährt sie fort. »Warum ist er so geheimniskrämerig, und dazu gegen uns beide, die wir ihm am nächsten stehen auf der Welt?«

»Eben darum sollten wir ihn nicht betrügen!« entgegnet er.

Sie stampft mit dem Absatz auf den Boden. »Betrügen! Pfui, was du für Ausdrücke hast!« – Dann sagt sie schmollend: »Also dann nicht!« und macht sich bereit, den Schlüssel in sein Versteck zurückzutragen. Doch dreht sie ihn noch zwei-, dreimal zwischen ihren Fingern, und schließlich meint sie hellauflachend: »Am End' ist's gar nicht der richtige.«

Sie geht zur Tür und vergleicht kopfschüttelnd das Schlüsselloch mit der Form des Bartes – dann, mit einem plötzlichen Ruck, stößt sie den Schlüssel ins Schloß.

»Er paßt doch!« sagt sie und guckt, scheinbar enttäuscht, über die Schulter hinweg nach Johannes, der hinter ihr steht und angstvoll den Bewegungen ihrer Hände folgt.

»Dreh um!« sagt sie im Scherze und tritt von der Tür zurück.

Ein Schauer durchrieselt seinen Leib. O Eva, Verführerin!

»Dreh um und laß mich den Kopf hineinstecken,« lacht sie, »du selber brauchst nichts zu sehen.«

Da packt ihn eine plötzliche Wut, er läßt mit einem Ruck den Schlüssel zurückschnappen und stößt die Tür weit auf, so daß der helle Lichtschein vom Fenster her ihnen entgegenflutet.

Trude macht eine Miene der Enttäuschung. Ein einfacher, geschäftsmäßig ausgestatteter Raum mit kahl-geweißten Holzwänden liegt vor ihnen. In der Mitte steht ein großer, rohgestrichener Arbeitstisch mit Getreideproben und Geschäftsbüchern darauf, an der einen Wand hängt ein Bündel alter Kleider, und an der gegenüberliegenden ein Holzgestell mit blauen Heften und unscheinbar gebundenen Büchern darin. – Johannes wirft ein paar scheue Blicke in die Runde, dann tritt er an das Büchergestell und beginnt die Titelblätter aufzuschlagen. Welch unheimliche Bibliothek! Da sind medizinische Werke über Gehirnkrankheiten, Schädelbrüche und dergleichen, philosophische Abhandlungen über die Erblichkeit der Leidenschaften, eine »Geschichte des Jähzorns und seiner schrecklichen Folgen«, eine »Anleitung zur Selbstbeherrschung« und von Kant »Die Kunst, durch den bloßen Willen seiner krankhaften Gefühle Meister zu werden«. – Auch literarische Werke sind vorhanden, aber sie drehen sich fast sämtlich um das Thema des Brudermordes. Neben Schauerromanen wie dem »Tragischen Untergang einer ganzen Familie zu Elsterwerda« findet sich Schillers »Braut von Messina« und Leisewitzens »Julius von Tarent«. Selbst die Theologie ist vertreten mit einer Anzahl von Traktätlein über die Todsünden und ihre Vergebung. Daneben in den blauen Heften sorgfältige Auszüge und Ausarbeitungen, untermischt mit trübsinnigen Reflexionen über Erlebtes und Gedachtes.

Johannes läßt die Hände sinken. »Der arme, arme Bruder,« murmelt er mit gepreßtem Aufseufzen. Da legt sich Trudens Hand auf seine Schulter. Sie zeigt nach einer Tafel, die über der Tür hängt, und fragt leise und beklommen: »Was bedeutet das?«

Dort stehen mit großen goldenen Buchstaben die Worte geschrieben:

»Denk an Fritz!«

Johannes antwortet nicht. Er wirft sich in einen Stuhl, schlägt die Hände vors Gesicht und weint bitterlich.

Trude zittert an allen Gliedern. Sie ruft ihn beim Namen, sie schlingt den Arm um seinen Hals, sie versucht seine Hände vom Angesichte zu lösen, und da alles nichts fruchtet, bricht sie selbst in Tränen aus.

Als er sie schluchzen hört, erhebt er sich langsam und schaut mit irrem Auge um sich. Sein Blick fällt auf die Kleider, die an der Wand hängen, Knabenkleider aus längst vergangenen Zeiten. Er kennt sie wohl. Mutter bewahrte sie als Reliquien auf dem Grunde ihres Spinds und zeigte sie ihm einmal mit den Worten: »Die hat dein totes Brüderchen getragen.« Seit sie starb, sind die Kleider verschwunden gewesen. Er hat auch nicht mehr daran gedacht.

Ein Frösteln überläuft ihn.

»Komm,« sagt er zu Truden, die noch immer vor sich hinweint, und beide verlassen das Kontor.

Trude will sofort zur Mühle hinaus.

»Trag erst den Schlüssel zurück,« sagt er.

Zusammen steigen sie die Stufen hinab, die zum Triebwerke führen, und als der Schlüssel an seiner alten Stelle liegt, da stürzen sie beide ins Freie hinaus, als seien die Furien hinter ihnen her.

*

In dieser Stunde hat ihr Verkehr die alte Harmlosigkeit verloren.

Sie sind Mitschuldige geworden.

Zentnerschwer lastet die Schuld auf ihren jugendlichen Gemütern. Sie haben Mitleid miteinander, jeder liest in des andern gedrücktem Schweigen, in seinem heimlichen Aufseufzen und seiner kaum zu verbergenden Zerstreutheit die Geschichte des eigenen Gewissens, aber keiner kann dem andern helfen.

Wie gern hätten sie Martin den Fehltritt gebeichtet: Aber zusammen vor ihn treten und ihm sagen: »Verzeih ums, wir haben gesündigt!« das geht nicht an, das würde gar zu theatralisch aussehen, und wer auf seinen eigenen Kopf das Geständnis unternimmt, der ist nicht wenig im Vorteil gegenüber dem Genossen. Sie stehen ja Martin gleich nah, und wer zuerst das Schweigen bricht, der muß ihm notwendigerweise als der Aufrichtigere, der Minderschuldige erscheinen. Zudem haben sie einander unverbrüchliches Schweigen gelobt und wollen das Wort um so weniger brechen, als sie sich scheuen, über die Sache offen miteinander zu reden.

So geraten sie immer tiefer in die Heimlichtuerei hinein. Jedes harmlose Wort, das bei Tische gesprochen wird, hat eine eigene, tiefere Bedeutung für sie, jeder Blick, den sie wechseln, gilt ihnen als Zeichen geheimen Einverständnisses.

Martin merkt nichts von alledem; nur ein und das andre Mal fällt ihm auf, daß »seine beiden Kinder« viel von der alten Heiterkeit verloren haben, auch daß die Lieder nicht mehr so lustig aus den Kehlen hervorquellen. Er sagt aber nichts, denn er denkt, sie mögen sich gezankt haben und schmollen noch miteinander.

– – – – – –

In der nächsten Woche, als Martin sich wieder einmal in seinem Kontor eingeschlossen hat, faßt sich Trude ein Herz und sagt: »Du, Hans, es ist Unsinn, daß wir uns grämen. Wir wollen die dumme Geschichte ruhen lassen.«

Er macht ein melancholisches Gesicht und meint: »Wenn's nur so ginge!«

Sie lacht hell auf, und er lacht mit; »es geht« wirklich, aber die Lust an Heimlichkeiten, die sie großgezogen haben, läßt sich nicht mehr abgewöhnen. Jeder müßige Scherz erhält einen prickelnden Reiz dadurch, daß Martin »beileibe« nichts erfahren darf, und wenn sie einmal zischelnd die Köpfe zusammenstecken, so fahren sie bei jeglichem Geräusch scheu auseinander, als schmiedeten sie frevlerische Pläne.

Noch ist kein Wort gesprochen, kein Blick gewechselt, kaum ein Gedanke erwacht, der das Licht des Tages zu scheuen hätte, aber der Blumenstaub der Unschuld ist abgestreift von ihren Gemütern.

So ist der Johannisabend herangekommen.

Schwül weht der Wind. Die Erde liegt wie trunken da, begraben unter Blüten, schweigend in dem Rausch der Düfte. Die Jasmin- und Schneeballsträuche sind wie bedeckt von weißem Schaum, die Frührosen öffnen ihre Kelche, und in den Linden knospt es schon.

Trude sitzt in der Veranda, hat das Stickzeug in den Schoß sinken lassen und träumt vor sich hin. Blumenduft und Sonnenglut haben ihr den Kopf wüst gemacht, aber das schadet nichts. Blumenduft und Sonnenglut sind ihr Element. Sie möchte die Glieder in dem heißen Hauche baden, sie möchte alle Kelche austrinken, – wenn nur was drinnen wäre, was sich trinken ließe.

In der Mühle machen sie Feierabend, zeitiger als sonst, denn die Gesellen wollen zum Johannisfest nach dem Dorfe. Man will tanzen und Teertonnen abbrennen und sich austollen nach Leibeskräften.

Trude seufzt. Wer doch da auch hin könnte! Martin darf schon zu Hause bleiben, aber Johannes, Johannes müßte natürlich mit.

Da steht er im Eingange und nickt ihr zu. Dann wirft er sich ihr gegenüber auf die Bank ... er ist müde und erhitzt. Er hat schwer gearbeitet.

Ein paar Minuten später springt er wieder auf. »Hier bleib' ich nicht,« sagt er. »Hier ist es heiß zum Ersticken.«

»Wo willst du sonst hin?«

»Zum Fluß hinunter. Kommst du mit?«

»Ja.«

Und sie wirft die Handarbeit fort und hängt sich an seinen Arm.

»Heut wollen sie tanzen drunten im Dorf,« sagt sie.

»Da möchtest du wohl mit, Katze?«

Sie ringt ächzend ihre Hände, um so recht malerisch ihr Verlangen an den Tag zu legen.

»Weil's aber nit kann sein, bleib' i zu Haus,« trällert er. »'s ist ein Skandal,« murrt sie, »daß ich noch nie in meinem Leben mit dir getanzt hab'. – Und ich möcht's gar zu gern. Du tanzst schön – sehr schön!«

»Woher weißt du das?«

»Er fragt noch!« sagt sie mit geheucheltem Unwillen. »Denk an jenes Schützenfest vor vier Jahren. – Die Mädel wußten Wunderdinge zu erzählen, wie – nett du wärst und wie schön du sie beim Tanze hieltest – nicht zu los und nicht zu fest; und daß du schlank und hübsch warst, das sah ich selber, aber was half mir das alles? Du blicktest so geringschätzig über mich hinweg, als wär' ich nichts wie leere Luft.«

»Wie alt warst du damals?«

Sie zögert eine Weile und sagt dann kleinlaut: »Vierzehneinhalb.«

»Na, drum!« lacht er.

»Aber groß und – und – ausgewachsen war ich schon damals,« erwidert sie eifrig. »Du hättest dir nichts vergeben, hättest du mich ein paarmal im Saale 'rumgeschwenkt.«

»Nun, wir können's ja in vierzehn Tagen beim Schützenfest nachholen.«

»Ja, können wir?« fragt sie mit leuchtenden Augen.

»Martin gehört zu den Vorstehern der Schützengilde. Er darf schon deswegen nicht fehlen.«

Trude jubelt laut auf, dann sagt sie plötzlich betroffen: »Ich hab' aber keine Tanzschuh'.«

»Laß dir welche machen.«

»Ach, unser Dorfschuster arbeitet so klumpig.«

»So werd' ich dir ein Paar aus der Stadt verschreiben. Du brauchst mir bloß dein Maß zu geben.«

»Ja, willst du? Lieber, guter Hans – du.« – Und dann plötzlich entzieht sie ihm ihren Arm, springt ein paar Schritte nach vorne, ruft »Hasch mich!« und wirbelt von dannen. – Johannes hinter ihr drein. – aber er ist müde – er kann sie nicht einholen. – Über die Zugbrücke des Wehrs hin geht die Jagd auf die weite Grasebene hinaus, die erst am Rande des fernen Fichtenwaldes endet. – Trude macht eine geschickte Wendung – läuft an ihm vorüber – und ehe er ihr folgen kann, ist sie wieder diesseits des Flusses. – Atemlos hascht sie nach der Kette, durch die vom Ufer aus die Zugbrücke gelenkt wird – reißt daran mit aller Macht – das Holzwerk dreht sich knirschend in seinen Angeln – und klappt in die Höhe – in demselben Augenblicke, in dem Johannes auf den Steg springt. Er stutzt – er schreit auf – und sich an den Kernbalken klammernd, erzwingt er's, den Lauf noch am Rande des Loches zu hemmen.

Trude ist totenblaß geworden – sie starrt ihn fassungslos an, wie er, nach Atem ringend, in die dunkle Tiefe hinabschaut.

»Ich hab's – nicht bedacht, Hans,« stammelt sie mit einem Blicke, der flehentlich um Vergebung bittet.

Er lacht hell auf. – Eine wilde, todesmutige Freudigkeit ist über ihn gekommen.

»O du – du!« ruft er, die Arme ausbreitend, »dich hol' ich doch.« – Und mit tollkühnem Satze springt er auf den schmalen Kernbalken, der in zwei abschüssigen, dachförmigen Seiten den Fluß überbrückt.

»Hans – um Jesu willen – Hans!«

Er hört nicht – unter sich den wirbelnden Abgrund – unablässig bemüht, Gleichgewicht zu behalten – schreitet er vorwärts – er zittert – er wankt – noch drei – noch zwei Schritte – noch ein einziger kecker Sprung – er ist drüben.

»Nun lauf!« schreit er mit wildem Jauchzen.

Aber Trude rührt sich nicht. Gelähmt von Schrecken starrt sie ihm entgegen. – Wie ein Tiger springt er auf sie zu – er umfängt sie mit seinen Armen – er preßt sie an sich – sie schließt die Augen und atmet schwer – dann neigt er sich nieder und legt seinen Mund heiß und durstig auf ihre zuckenden Lippen. – Sie stöhnt laut – – ihr Leib zittert fiebrisch in seinen Armen. Da läßt er sie hinsinken – sein Blick fährt scheu in die Runde – hat's niemand gesehen? – Nein, niemand. – Und wenn? Was tut's? Darf Martins Bruder Martins Weib nicht küssen? – Hat er's doch selber einst verlangt!

Sie schlägt die Augen auf, wie erwachend aus tiefstem Traum. Ihr Blick weicht dem seinen aus.

»Das war nicht hübsch von dir, Hans,« sagt sie leise, »das darfst du nicht wieder mit mir tun!«

Er antwortet nichts und bückt sich, die Rose aufzuheben, die ihrem Busen entfallen ist.

»Ich will nach Hause,« sagt sie, einen ängstlichen Blick in die Runde werfend.

Schweigend gehen sie eine Weile nebeneinander her; sie blickt in die Weite, er riecht eifrig an der gefundenen Rose.

»Sie duftet schön,« bemerkt er, einen harmlosen Ton anschlagend.

Sie nickt.

»Liebst du Rosen?« fragt er weiter. Sie sieht ihn an. »Als ob du das nicht wüßtest?« spricht ihr Blick.

»Hör mal!« fährt er in gezwungener Keckheit fort, »warum stellst du mir eigentlich keine Blumen mehr ans Bett?«

Sie schweigt.

»Bin ich dir vielleicht der Mühe nicht mehr wert?«

»Er hat's verboten,« stammelt sie.

»Das ist was Andres,« erwidert er bestürzt. Sodann kommt das Gespräch gänzlich ins Stocken.

In der Veranda empfängt sie Martin mit gutmütigen Scheltworten. Er habe Riesenhunger, und das Abendbrot sei noch nicht aufgetragen.

Trude eilt nach der Küche, um selbst Hand anzulegen. – Schweigend wird das Mahl verzehrt. Die beiden erheben keinen Blick von ihren Tellern.

Eine unerträgliche Schwüle lastet auf der Erde. Der heiße Wind wirbelt kleine Staubwölkchen vor sich her, und blaugraue Dunstschleier senken sich langsam hernieder.

Johannes lehnt den Kopf gegen das Glas des Verandafensters, aber das ist warm, als hätt's tagsüber im Glühofen gesteckt.

Dann springt Trude plötzlich auf.

»Wo willst du hin?« fragt Martin.

»In den Garten,« erwidert sie und geht.

Nach einer Weile werden ihre Schritte drinnen auf der Treppe hörbar, die zum Giebelzimmer führt. – Wie sie durch die Haustür heraustritt, wirft sie einen kurzen, scheuen Blick auf Johannes, dann setzt sie sich mit niedergeschlagenen Augen auf ihren Platz.

Vom Anger des Dorfes her tönt Jauchzen und Kreischen, dazwischen das Gequäke einer Fiedel und das Brummen des Basses.

»Möchtet wohl gern hin, Kinder?«

Sie sind beide still, und er nimmt ihr Schweigen für Bejahung.

»Na, dann kommt,« sagt er aufstehend.

Trude reckt die Arme in heimlicher Beklemmung, wirft einen zagenden Blick zu Johannes hinüber, dann sagt sie kopfschüttelnd: »Mag nicht!«

»Was ist los?« ruft Martin ganz verblüfft. »Seit wann gehst du der Tanzmusik aus dem Wege? Habt euch wohl beide wieder gekabbelt, he?«

Johannes lacht kurz auf, und Trude wendet sich ab.

Plötzlich steht sie auf, sagt kurz »Gute Nacht« und verschwindet.

Eine Weile später trennen sich auch die Brüder.

Mit schweren Schritten steigt Johannes die Treppe hinan – er öffnet die Tür seines Zimmers – ein beklemmender Blumenduft wogt ihm entgegen. Er atmet hoch auf und stößt einen Seufzer der Befriedigung aus. Deshalb also mußte sie so spät noch zum Garten! Neben seinem Kopfkissen steht ein mächtiger Blumenstrauß von Rosen und Jasmin. Er wirft sich ins Bett, als wolle er sich in dem Blumenschwall begraben. Eine Weile träumt er still vor sich hin, aber das Atmen wird ihm schwerer und schwerer, seine Sinne umnebeln sich – ein stechender Schmerz zuckt ihm bei jedem Pulsschlag durch die Schläfe, ihm ist, als solle er ersticken unter der Last dieser Wohlgerüche.

All' seine Kraft anspannend, rafft er sich empor und stößt einen Fensterflügel auf. Aber auch hier keine Ruhe, keine Kühlung. Ein wahrer Reigen von Düften wogt aus dem Garten zu ihm herauf, heiß weht der Wind ihn an, laue, kitzelnde Regentropfen schlagen gegen seine Wangen. Vom Dorfe her zucken die Feuer der Teertonnen trübe durch die nebligen Dunstmassen, welche die Ferne verschleiern.

Johannes schaut hinunter. Er wartet. Das Herz pocht ihm gegen die Rippen. Sein Begehren scheint ihm allmächtig, er will damit das Fenster unten zwingen, sich zu öffnen und – – – horch'! Leise klirrt der Haspen, der eine der Flügel schlägt zurück, und weit hinaus, von dem gelösten Haar umflattert, neigt sich Trudens Angesicht, in stummer Sehnsucht zu ihm emporgewandt.

Ein Moment – dann ist es verschwunden.

Er weiß nicht – soll er jauchzen, soll er weinen? – Nun mag er untergehen in süßer Betäubung. – Was kann der Duft ihm nun noch anhaben?

Er entkleidet sich und geht zu Bette; doch bevor er sich zum Einschlafen rüstet, richtet er sich noch einmal auf, tastet mit zitternder Hand nach der Vase und begräbt sein Gesicht in den Blumen.

Wie ähnlich alles jenem ersten Abend, und doch wie anders! Damals friedlich und fröhlich, und – – –

Eine plötzlich erwachende Erinnerung läßt ihn erstarren – seine Finger klammern sich fester um den Griff der Vase – er lauscht und lauscht – ihm ist, als müsse das ausgelassene Lachen, das damals durch den Fußboden leise zu ihm emporgeklungen war, in diesem Augenblicke wieder an sein Ohr schlagen – er lauscht in steigender Angst, bis es in seinem Kopfe summt und brummt und kichert: ein häßliches Gefühl voll Haß und Neid steigt jählings in ihm auf, und in ein wildes Gelächter ausbrechend, schleudert er die Vase weit fort, bis in die Mitte des Zimmers, wo sie klirrend zerschellt.

– – – – – – – – – – – –

Am andern Morgen schämt sich Johannes. Ihm erscheint alles wie ein wüster Traum. Er sammelt die Scherben der Vase auf, paßt sie aneinander und beschließt, sich Wasserglas aus der Apotheke zu holen, um sie zu leimen. Soviel er auch nachsinnt, er vermag sich über die Empfindung nicht klar zu werden, aus der die vermeintliche Dummejungentat entsprungen war; nur so viel weiß er, daß es etwas sehr Böses, Verabscheuungswertes gewesen ist.

Er drückt die Hand des Bruders herzlicher denn sonst und schaut ihm stumm ins Auge, als hätte er ihm eine große Schuld abzubitten.

Trude steht blaß und übernächtig aus. Ihr Blick weicht dem seinen aus, und die Kaffeetasse, die sie ihm reicht, klirrt in ihrer zitternden Hand.

Da er nichts Besseres weiß, beginnt er von den Tanzschuhen zu reden, will auch gleichzeitig Martin auf den Zahn fühlen. Der ist durchaus einverstanden; Trude soll sich auf der Stelle Maß nehmen lassen, und als sie sich weigert, in Johannes' Gegenwart den Schuh vom Fuße zu streifen, nennt er sie unwirsch eine »Zierliese«.

Sie ist beleidigt, fängt zu weinen an und geht zur Tür hinaus. Gegen Abend kommt sie dann verschämt mit dem Maße zum Vorschein, und Johannes kann den Brief absenden.

Die zerbrochene Vase liegt ihm noch schwer auf dem Herzen. Wie er mit ihr allein ist, gesteht er beklommen: »Du, ich hab' 'ne Ungeschicklichkeit begangen.«

»Was denn?«

»Ich hab' deine Vase zerschlagen.«

»So – war das nur Ungeschicklichkeit?«

»Was denn sonst?«

»Ich glaubte, du hättest es mit Willen getan,« sagt sie scheinbar ganz gleichgültig.

Er antwortet nichts, und sie nickt ein paarmal still vor sich hin, als wollte sie sagen: »Habe doch wohl Recht gehabt!«

*

Die Tage vergehen. Johannes und Trude stehen kühler zueinander als bisher. Sie gehen sich nicht aus dem Wege, sie reden auch mitsammen, aber der alte frisch-frei-fröhliche Ton will nicht mehr in Fluß kommen.

»Sie hat dir den Kuß übelgenommen,« denkt Johannes; aber daß auch er sein Benehmen geändert hat, das fällt ihm nicht ein.

»Kinder, was ist's mit euch?« sagt Martin murrend eines Abends. »Sind euch die Kehlen eingerostet, daß ihr nie mehr singt?«

Ein paar Sekunden lang schweigen beide still, dann sagt Trude halb zu Johannes hingewandt: »Willst du?« Er nickt; da sie ihn aber nicht angesehen hat, glaubt sie sich ohne Antwort und sagt zu Martin gewandt: »Du siehst, er will nicht!«

»Ob ich will!« lacht Johannes.

»Warum sagst du es denn nicht gleich?« erwidert sie, mit dem schüchternen Versuch, auf seinen heiteren Ton einzugehen.

Darauf setzt sie sich in Positur, faltet die Hände im Schoße, wie sie's beim Singen gewohnt ist, und faßt den Taubenschlag drüben ins Auge.

»Was wollen wir singen?« fragte sie.

»Ach, wie ist's möglich dann!« schlägt er vor.

Sie schüttelt den Kopf. »Nichts von Liebe,« sagt sie ein wenig spitz, »das ist alles so dumm!«

Er sieht sie groß an, und nach etlichem Nachsinnen stimmt sie eine Jägerweise an. Kräftig fällt er ein, die beiden Stimmen schlagen zusammen wie zwei Wogen im Meer. Überrascht durch den Wohlklang lächeln sie einander zu; so schön haben sie noch nie gesungen.

Aber sie sind gar bald zu Ende. Wir Deutschen haben nicht viele Volkslieder, die nicht zugleich auch Liebeslieder wären.

Und endlich gibt sie sich darein.

Rosenstock, Holderblüt',
Wenn i mein Schatzle sieh,

beginnt sie, einen Juchzer daranhängend.

Er sieht sie befriedigt an, sie wird rot und wendet sich ab. Sie hat sich nun selber gefangen.

In den beiden Stimmen beginnt ein wundersames Leben, als wenn's der Schlag des Herzens wäre, der in den Tönen pulsiert. Sie schwellen himmelan, wie von Blutwellen getrieben, sie senken sich, als stocke der Quell des Lebens in tiefgeheimem Weh.

Und weil es nicht ist auszusagen,
Weil's Lieben ganz unendlich ist,
So magst du meine Augen fragen,
Wie lieb du mir im Herzen bist. –

Was kreuzen sich plötzlich die Blicke? Was haben die beiden zu zittern, als sei ein elektrischer Schlag durch ihre Glieder gezuckt?  ....

Es vergeht kein' Stund' in der Nacht,
Da nicht mein Herz erwacht
Und an dich denkt,
Daß du mir viel tausendmal dein Herz geschenkt!

Welch trunkene Sehnsucht fiebert in den Tönen!

Wie suchen die Stimmen einander, als wollten sie sich umarmen!

Auf den Bachstrom hängen Weiden,
In den Tälern liegt der Schnee,
Trautes Kind, nun muß ich scheiden,
Muß ins Feld, den Tod erleiden,
Scheiden, Liebchen, das tut weh!

Die Stimmen verhallen in bebendem Geflüster. Aus ist's.  ... Sehnsucht und Hoffnung, Trennungsweh und Todesqual, alles erklang in diesen verräterisch quellenden Tönen.

Um Trudens Lippen zuckt's wie von verhaltenem Weinen, aber ihre Augen leuchten, und sich plötzlich hochaufrichtend beginnt sie das alte, traurige Müllerlied von dem goldenen Hause, das »droben auf dem Berge« steht.

Johannes fährt zusammen, und zitternd fällt seine Stimme ein. Sie singen den ersten Vers zu Ende und beginnen den zweiten:

Da drunten in jenem Tale,
Da treibt das Wasser ein Rad,
Das mahlet nichts wie Liebe
Bei Tag wohl wie bei Nacht.
Das Mühlrad ist zerbrochen – –

Da – ein Schrei – ein Fall – Trude ist vor der Bank zusammengesunken und schluchzt, die Stirn gegen die Holzwand gepreßt, gottsjämmerlich in den Winkel hinein.

Die beiden Brüder springen auf. – Martin nimmt ihren Kopf zwischen seine beiden Hände und stammelt ganz fassungslos abgebrochene, wirre Worte – aber sie schluchzt nur um so heftiger. – Er stampft in Verzweiflung mit dem Fuße auf den Boden, und zu dem totenblassen Johannes gewandt ruft er: »Was hat das Kind?«

Da schlingt Trude ihre beiden Arme um seinen Hals, zieht sich an ihm empor und birgt das tränenüberströmte Angesicht wie schutzsuchend an seinem Halse. Er streichelt liebkosend ihr wirres Haar und sucht sie zu beruhigen, aber er versteht das Trösten nicht, der arme Martin; jedes seiner halblaut gebrummten Worte klingt wie unterdrücktes Wettern.

Sie läßt den Kopf nach der Blätterwand zurücksinken, ihre Lippen regen sich, und als wolle sie das Lied weiter singen, murmelt sie, noch halb erstickt vom Schluchzen: »Das – Mühlrad – ist – zerbr – ochen.«

»Nein, mein Kind, es ist nicht zerbrochen,« sagt Martin, dem das Wasser in die Augen steigt, »es wird nicht zerbrechen – unseres nicht – es wird sich weiter drehen – solange wir leben.«

Sie schüttelt heftig den Kopf und schließt die Augen, als ob sie Visionen sehe.

»Und wie kommst du nur darauf?« fährt er fort. »Ist nicht alles besser geworden, als wir dachten? Ist Johannes nicht auch bei uns? – Leben wir nicht alle glücklich und zufrieden? – und arbeiten spät und früh? – Und wo soll das Unglück herkommen? – Und warum sollte es kommen? – Und – und – geht's den Deinen nicht auch gut? Und sorgen wir nicht dafür, daß dein Vater sein gutes Auskommen hat, und –«

Er stöhnt und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Er weiß nichts weiter – und wendet sich nun an Johannes, der abgewandt, den Kopf gegen den Pfosten stützend, im Eingang der Veranda steht.

»Warum singt ihr auch so traurige Lieder?« fährt er ihn an. »Mir wurde selber ganz – ich weiß nicht wie? – als ihr damit anfingt, und sie – sie ist ein schwaches Frauenzimmer.«

Trude schüttelt den Kopf, wie wenn sie sagen wollte: »Schilt nicht!« Dann richtet sie sich auf, murmelt, ohne aufzuschauen, ein leises »Gute Nacht« und geht ins Haus.

Martin folgt ihr.

Johannes vergräbt den Kopf in seinen Armen und träumt vor sich hin. Noch sieht er sie vor sich, wie sie mit leuchtenden Augen sich hoch aufrichtete und dann plötzlich, wie vom Blitze getroffen, zusammensank. Dann schilt er sich, daß er nicht früher hinzugesprungen ist, um sie vor dem Niedersinken zu behüten, er war ihr ja der nächste, und nicht bloß dem Orte nach!

Nicht bloß dem Orte nach! Wie ein Feuerschein, unheimlich, blutigrot, loht es plötzlich durch sein Gehirn. Jetzt versteht er, was in jener Johannisnacht in ihm vorgegangen ist, warum er die Vase auf den Boden warf – er macht eine Bewegung, als wollte er sie hier zum zweitenmal zertrümmern! Ein Moment nur ist's, ein Moment der Höllenqual – dann ist der Feuerschein plötzlich erloschen, Nacht wird's um ihn, düstere, schmerzerfüllte Nacht. Er streicht sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er die Glut aufs neue anfachen, aber dunkel bleibt alles, dunkel und geheimnisvoll bleibt ihm, was er soeben empfunden hat. Ihm ist, als sollte er aufschreien, als sollte er der Nacht die rätselvolle Not vertrauen, in der er ringt. Er wirft sich auf das Knie, genau an demselben Platze, an welchem Trude niedergesunken war, stützt die Stirn gegen die Kante der Bank und stöhnt leise vor sich hin.

Da plötzlich klappt drinnen eine Tür. Des Bruders Schritte hallen in der Hausflur.

Er springt in die Höhe und setzt sich auf die Bank.

Martins Gestalt, dunkel abgegrenzt, erscheint in der Veranda.

»Bruder, Bruder!« ruft Johannes ihm entgegen.

»Bist du noch da, mein Junge?« sagt der und wirft sich mit einem tiefen Seufzer auf die Bank. »Na, es geht ja schon wieder, sie hat sich in Schlaf geweint, und nun liegt sie ganz friedlich, und auch ihr Atem geht tief und ruhig! Ich hab' noch 'ne Weile an ihrem Bett gestanden und sie angeschaut. Ich komme mir ganz ratlos vor! Ihre Kinderseele hat sonst wie 'n Spiegel klar vor mir gelegen – und nun plötzlich! – Was mag's nur sein? Wie ich auch sinn', ich komme nirgends auf die rechte Spur. Am Ende grämt sie sich, daß sie noch immer keine – keine – Hoffnung hat. Ja, das wird's wohl sein! Aber ich hab' doch meine Sehnsucht ganz still für mich behalten – wollt' sie nicht kränken – denn sie kann ja nichts dafür. Und wenn man's recht bedenkt, ist sie ja noch ein Kind und viel zu unreif, um Mutterpflichten zu erfüllen. Na, man muß eben Geduld haben!«

So redet er sich seinen geheimen Kummer von der Seele. Johannes schweigt. Ihm ist das Herz so voll, so voll. Er will dem Bruder ein Liebes erweisen, er weiß nur nicht, was? Er will sich auch sein eigenes Weh hinwegtrösten, und Martins Hand ergreifend sagt er, so recht aus tiefster Seele: »Oh, es wird noch alles, alles wieder gut werden!«

»Gewiß warum sollt' es nicht?« stammelt Martin bestürzt. Er schüttelt den Kopf, blickt eine Weile sinnend vor sich nieder, dann sagt er mit einem beklommenen Lachen: »Geh schlafen, Johannes. – Dir spukt das zerbrochene Mühlrad durch den Kopf!  ...«

*

Am nächsten Tage liegt Trude krank im Bette. Sie will niemand sehen, auch Martin so wenig wie möglich.

Johannes schleicht untätig umher, die Mahlzeiten verlaufen trüb und einsilbig – dichter und dichter lagern sich die Schatten rings um die Felshammermühle.

Aber noch einmal bricht die Sonne hervor. Am vierten Tage ist Trude wieder halbwegs gesund, Johannes darf zu ihr hinein und mit ihr reden.

Er findet sie, ein weißes Kleid auf dem Schoße, am Fenster sitzen. Sie ist blaß und angegriffen, aber ihre Züge verklärt der wehmütige Friede, der Genesenden eigen ist.

Lächelnd streckt sie Johannes die Hand entgegen.

»Wie geht's?« fragt er leise.

»Gut – wie du siehst,« erwidert sie, auf das weiße Kleid hinweisend. »Ich trage mich schon mit Ballgedanken.«

»Zu welchem Balle?« fragte er erstaunt.

»Hast du ein schlechtes Gedächtnis!« sagt sie mit einem Versuch, zu scherzen. »Nächsten Sonntag ist ja Schützenfest.«

»Ja, richtig.«

»Freust dich wohl gar nicht mehr, mit mir zu tanzen?«

»Doch!«

»Sehr? – Sag: sehr?«

»Sehr!«

Ein kindlich leichtsinniges Lächeln zieht über ihr bleiches, mattes Gesicht; sie wühlt in den Spitzen und Tüllrüschen und freut sich über das weiße, lustige Gewoge.

Die körperliche Erschöpfung scheint ihrem Geiste die alte kindliche Harmlosigkeit wiedergegeben zu haben, und wie sie sich nun mit einer gewissen ängstlichen Sorge nach den Tanzschuhen zu erkundigen beginnt, da ist sie scheinbar wieder ganz und gar jenes mädchenhaft gedankenlose Wesen, das Johannes einst treuherzig und unbefangen die Hand zur ersten Begrüßung entgegenstreckte.

Er setzt sich ihr gegenüber auf den Stuhl, läßt das Gewebe des Ballkleides durch seine Finger gleiten und hört still lächelnd ihrem Geplauder zu.

Und was sie zu erzählen weiß, ist eitel Sonnenschein und Lebensfreude. Dieses Kleid hier sei ihr Brautkleid gewesen, sie habe es selber genäht und garniert, denn schneidern könne sie wie keine. – Gern hätte sie Seide angezogen, wie es sich für des reichen Felshammer Braut wohl auch geziemte, aber sie habe das nötige Geld nicht zusammenkratzen können, und sich von ihrem Verlobten das Brautkleid schenken zu lassen – das habe ihr Stolz nicht zugelassen. Heut tue es ihr fast leid, die Nähte trennen zu müssen, denn wieviele törichte Pläne und Träume seien da nicht mit hineingenäht. – Aber was solle sie machen? sie sei eben als Frau gar zu stark geworden.

Dann schweift das Gespräch auf das bevorstehende Schützenfest hinüber, berührt die neuen Bekannten im Dorfe und wandert gelegentlich auch in die Stadt nach der Schusterwerkstatt; aber immer wieder und wieder kehrt es zu ihrer Brautzeit zurück und weilt bei den Stimmungen und Erlebnissen jener glückseligen Tage.

Sie scheint sich wieder ganz als Mädchen zu fühlen. Das Lächeln, das träumerisch und ahnungsvoll ihre Lippen umspielt, hat etwas Bräutliches, als ob das Fest, dem sie entgegengeht, ihre Hochzeit wäre.

Alle ihre Gedanken gehören fortan dem Balle. Während sie vollends gesundet, während ihre Augen sich klären, auf ihren Wangen das alte Rot aufs neue erblüht, sinnt sie Tag und Nacht, wie sie sich schmücken solle, träumt sie von der Wonne, die als etwas Neues, ganz Unfaßbares in jenen Stunden über sie hereinbrechen werde.

*

Trompeten schmettern, Klarinetten gellen, die Pauke dröhnt mit dumpfen Schlägen darein.

Mit Kling und Klang, mit Tripp und Trapp schreitet die Gilde in feierlichem Aufzuge die Straße entlang. Vorauf zwei Herolde zu Pferde – Franz Maas und Johannes Felshammer, die beiden Garde-Ulanen. Sie haben es sich nicht nehmen lassen, und wäre die Gilde darüber in Stücke gegangen.

Franzens Angesicht strahlt, aber Johannes schaut ernst, fast gleichgültig darein. Was kümmern ihn die Menschen, die ihm derweilen alle fremd geworden? – Keinen grüßt er, auf keinem ruht sein Blick, aber er späht, er durchmustert die Reihen, und nun leuchtet er stolz und glücklich auf, – er neigt sich, er senkt zum Gruße den Degen: – – drüben an der Straßenecke mit hochroten Wangen, mit leuchtenden Augen, das Taschentuch schwenkend, steht, die er sucht, seines Bruders Weib.

Sie lacht, sie winkt – sie zieht sich am Zaune empor, sie springt auf den Prellstein – – sie will ihm nachschauen, bis er im wirbelnden Staube verschwindet. Beinahe, beinahe vergißt sie Martin darüber, der neben der Fahne herschreitet. Warum geht er auch so still und steif seines Weges, warum steckt er den Kopf so tief in den Kragen? – Aus der Ferne aber winkt Johannes noch einmal mit dem Degen herüber.

Der Schützenplatz, das Ziel des Zuges, liegt dicht am Rande des Föhrenwaldes, der, von dem Wehr aus gesehen, die Wiesenlandschaft umrahmt, und ist geradeswegs kaum tausend Schritt von der Felshammermühle entfernt, die über das Erlengebüsch des Flusses herüberwinkt. Wenn das dumme Schützenvolk keinen so betäubenden Lärm machen würde, man müßte das Rauschen der Wasser deutlich hören.

»Wäre der Firlefanz nur schon zu Ende!« denkt Johannes und wirft einen sehnsüchtigen Blick nach dem »Tanzsaale« hin, einem mächtigen, viereckigen Zeltbau, dessen Leinwanddach sich hoch über das Gewimmel der rings im Kreise errichteten Buden und Zelte erhebt. Erst am Nachmittag, wenn der König feierlich proklamiert ist, dürfen die Angehörigen der Mitglieder den Festplatz betreten.

Die Stunden vergehen, eintönig knallen die Schüsse am Waldsaum entlang. Um Mittagszeit kommt Johannes an die Reihe. Er schießt – ins Blaue. Trotz der Blumen, die Trude ihm in die Büchse gesteckt hat. – »Glücksblumen« hat sie gesagt, und Martin hat dabeigestanden und gelächelt, wie man wohl zu Kinderspielen lächelt.

Sobald seine Schützenpflicht erfüllt ist, kehrt er dem Stande den Rücken und schreitet in den Wald hinein, wo von dem Johlen und Schwatzen nichts zu hören ist, wo nur das Echo der Schüsse leise in den Lüften verrollt. – Er wirft sich ins Moos und starrt zu den Föhrenzweigen empor, deren schlanke Nadeln im Scheine der Mittagssonne schimmern und blitzen gleich blank geschliffenen Messerchen.

Dann schließt er die Augen und träumt. Wie fremd ist ihm die ganze Welt geworden! Und wie weit liegt alles hinter ihm, was er vordem erlebt! Viel ist's ja nicht gewesen; das Weib und die Not haben noch keine Rolle darin gespielt; und doch wie reich, wie farbenglühend ist es ihm sonst erschienen! Nun hat ein Abgrund alles verschlungen, und über dem Abgrund wallen rosenfarbene Nebel.

Zwei Stunden mögen verflossen sein, da hört er, wie fernes Trompetengeschmetter die Wahl des neuen Königs verkündet. Er springt empor. – Noch eine halbe Stunde, und Trude muß da sein.

Auf dem Schützenplatze erfährt er, daß seinem Freunde Franz Maas die Königswürde zugefallen ist. Er hört es wie im Traume – was geht's ihn an? Seine Blicke wandern unablässig nach der Landstraße hin, wo in Staub und Sonnenbrand Scharen hellgekleideter Frauengestalten zu Fuß und zu Wagen dahergezogen kommen.

»Schaust du nach Truden aus?« fragt plötzlich Martins Stimme hinter ihm.

Erschrocken fährt er aus seinem Sinnen hoch.

»Schockschwerenot, Junge, was ist mit dir los?« fragt Martin lachend. »Hast du dir deinen Fehlschuß zu Herzen genommen, oder schläfst du am hellen Mittag?«

Martin hat seinen guten Tag heute. Der Verkehr mit den vielen Menschen – er ist einer der Hauptwürdenträger in der Gilde – hat ihn aus seinem Brüten aufgestört, seine Augen glänzen, und um den breiten Mund spielt ein behagliches Lächeln. – Wenn er nur in seinem Feststaat nicht gar so ungeschickt aussehen möchte! Der Hut sitzt ihm tief in der Stirn und läßt am Hinterkopfe freien Spielraum für ein Büschel struppiger Haare, das neugierig über die Krempe guckt, und darunter schlängeln sich die breiten, weißen Bänder des Vorhemdchens, die aus dem Rockkragen hervorgekrochen sind.

»Dort kommt sie, dort kommt sie!« ruft er plötzlich, den Hut schwenkend.

Die blitzende Chaise mit den zwei prächtigen litauischen Braunen davor, das ist die Felshammersche Staatskarosse, die sich Martin zur Hochzeit hat bauen lassen. In ihrem Fond – die weiße Gestalt, die sich so stolz nachlässig in einen Winkel zurückgelehnt hat und mit steifem Ernst um sich blickt – das ist sie, »die reiche Felshammerin«, wie die Leute ringsumher sich zuflüstern.

»Schau, – Trude fühlt sich!« sagt Martin leise, Johannes am Ärmel zupfend.

In demselben Augenblick hat sie die Brüder entdeckt, und die gezierte Haltung zu allen Teufeln schickend springt sie im Wagen in die Höhe, schwenkt den Sonnenschirm in der einen, das Taschentuch in der andern Hand und lacht und jubelt und prickelt mit der Spitze des Schirmes den Kutscher im Nacken, damit er schneller fahre.

Und als der Wagen hält, nimmt sie sich keine Zeit zu warten, bis der Schlag geöffnet ist, sondern springt auf die Leiste und von dort herab Martin geradeswegs in die Arme.

Sie ist in flatternder Aufregung, ihr Atem geht heiß, ihre Lippen regen sich zum Sprechen, aber die Stimme versagt ihr.

»Ruhe, Kind, Ruhe!« sagt Martin und streichelt ihr das Haar, das heute in einem Walde von Ringellocken auf den entblößten Nacken fällt.

Johannes steht regungslos, in ihren Anblick versunken.

Wie ist sie schön!

In luftigen Schleiern weht das weiße, klare Kleid um ihre weichen Formen. – Und der schneeige Hals! – Und die Grübchen da, wo der Busen ansetzt! – Und die vollen, herrlichen Arme, auf denen ein leichter Flaum silbern flimmert! – Und die hochgewölbte Büste, die sich hebt und senkt in marmornen Wogen! – – Sie erscheint unnahbar schön, ganz Weib und ganz Majestät; fließen doch die beiden Begriffe »Weib« und »Majestät« in seiner unberührten Seele zusammen, zusammen in ein ungewisses Etwas, das ihn mit Wonne und Grauen erfüllt. Sein Auge hat sich plötzlich aufgetan und zuckt noch geblendet im Anschauen der königlichen Weibesherrlichkeit, an der er sein junges Leben lang als ein Blinder vorbeigegangen.

Wie ist sie schön! Wie ist das Weib so schön!

Und nun entringt sich ein Strom von wirren Worten ihren entfesselten Lippen. – Fast sei sie gestorben vor Ungeduld – und die dumme Wanduhr – und das einsame Mittagessen – und die dummen Tanzschuhe, die nicht haben passen wollen! »Zu enge sind sie – drücken tun sie sehr, – aber schön sehen sie aus; nicht wahr?«

Und sie hebt ein wenig den Saum ihres Kleides, um die Wunderwerke zu zeigen, himmelblaue hochgestelzte Pantöffelchen, über dem Spann mit blauseidenen Schleifen gebunden.

»Sie scheinen zu kurz!« meint Martin mit bedenklichem Kopfschütteln.

»Sind sie auch,« lacht sie, »die Zehen brennen, als stäken sie in Feuer! – Aber desto besser wird sich's tanzen, – was, Johannes?« Und sie schließt für einen Moment die Augen, als wolle sie versunkene Träume aufs neue zum Leben erwecken. Darauf hängt sie sich an Martins Arm und wünscht zu ihrem Zelte geführt zu werden. Die vornehmsten Familien des Ortes haben sich hier ihre eigenen Wohnungen hergerichtet, leichte Hütten oder Leinwandzelte, die ihnen in der Nacht einen Unterschlupf gewähren, denn das Fest zieht sich gewöhnlich bis in den hellen Morgen hinein. Trude ist gestern selber auf dem Festplatz gewesen, um den Bau ihres Zeltes zu beaufsichtigen; sie hat auch Möbel herschaffen lassen und die Pforte reich mit Laubgirlanden bekränzt. Sie darf stolz sein auf ihr Werk, denn das Felshammerzelt ist das schönste in der ganzen Runde.

Während Martin sich einen Weg durch das Gedränge zu bahnen sucht, kehrt sie sich zu Johannes um und sagt rasch und leise: »Bist du zufrieden, Hans? Gefall' ich dir?«

Er nickt.

»Sehr? – Sag: sehr!«

»Sehr!«

Sie atmet tief auf und lacht dann still befriedigt vor sich hin.

Die schöne Müllerin macht Aufsehen in der Menge. Die fremden Gutsbesitzer stehen und starren sie an, – die Bürgerfrauen stoßen sich heimlich mit den Ellbogen, – die jungen Bursche aus dem Dorfe ziehen linkisch den Hut, – ein Zischeln, ein Murmeln durchfliegt die Reihen, wo sie erscheint. Ernst und mit einer kleinen gezierten Würde geht sie an Martins Arm daher, von Zeit zu Zeit die Locken zurückschüttelnd, die ihr über die Schultern fluten, und wenn sie dabei den Kopf in den Nacken zurückwirft, sieht sie aus wie eine Königin, nein, wie ein übermütiges Kind, das in einem Märchen die Königin spielen soll und dem wenig behaglich dabei zumute ist.

Als eine Stunde später die ersten Geigenstriche tönen, ruft sie hell aufjubelnd: »Hans, jetzt gehör' ich dir.«

Martin warnt vor Erkältung und sonstigen Übeln, aber mitten in seinen Reden fliegen sie auf und davon. Da gibt er sich drein, schenkt sich ein Glas mit gutem Oberungar voll und streckt sich aufs Sofa, um der Ruhe zu pflegen.

Allerhand vergnügliche Gedanken ziehen ihm durch den Kopf. Hat sich nicht alles gut und schön gestaltet, seit Johannes auf der Mühle lebt? Sind die trüben Stunden voll Unglücksahnung und Gespensterfurcht nicht seltener und seltener geworden? Lebt er nicht zusehends auf, angesteckt von der harmlosen Lustigkeit jener beiden? Gibt nicht der heutige Tag den besten Beweis dafür, daß seine Scheu vor fremden Menschen verschwunden ist, daß er gelernt hat, fröhlich zu sein mit den Fröhlichen? Und Trude – wie glücklich sie an seiner Seite ist! Jener Abend freilich! – Ach was! Weiber sind ein schwaches Volk, sind tausenderlei Launen unterworfen! Und wie schnell ist nicht alles wieder gut geworden! Das Wort, das Johannes an jenem Abend gesprochen hat, fällt ihm ein; er klingt mit seinem vollen Glase an die beiden leeren, welche die Kinder zurückgelassen haben: »Prosit, ihr da! Auf vergnügte Dreieinigkeit bis an des Lebens Ende!« –

Trude und Johannes haben sich derweilen durch die aufgestaute Menge bis zu den Pforten des Tanzsaales durchgedrängt. In klingenden Wogen strömt die Musik ihnen entgegen; wie der heiße Odem einer Menschenbrust weht die Luft aus dem Innern sie an. In der Dämmerung des Zeltes wirbeln die Paare dichtgedrängt durcheinander und jagen gleich Schattengestalten an ihnen vorbei.

Johannes wandelt wie im Traume. Er wagt kaum den Blick auf Truden niederzusenken; denn noch immer hält die geheimnisvolle Scheu ihn gefangen und schnürt ihm mit ehernen Klammern die Brust zusammen.

»Du bist so still heut, Hans,« flüstert sie, ihr Antlitz an seinen Ärmel schmiegend.

Er schweigt.

»Hab' ich dir was nicht recht gemacht?«

»Alles, alles!« stammelt er.

»So komm, laß uns tanzen!«

In dem Augenblicke, da er die Hand um ihren Nacken schlingt, fährt sie zusammen, dann läßt sie sich mit tiefem Aufseufzen in seine Arme sinken. Und nun fliegen sie dahin. Sie lehnt das Angesicht tiefatmend gegen seine Brust. Genau vor ihrem linken Auge flimmert die Schleife, die er als Schütze heute trägt, – das weiße Seidenzeug zittert an ihren Wimpern. Sie schiebt den Kopf ein wenig zur Seite und blickt zu ihm empor.

»Weißt du, wie mir zumute ist?« flüstert sie.

»Nun?«

»Als trügst du mich durch die Wolken!«

Und dann, als sie innehalten müssen, sagt sie: »Komm rasch hinaus, damit ich mit keinem andern zu tanzen brauch'!«

Sie umklammert seine Hand, während er ihr in der Menschenmenge Bahn bricht. Stolz und glücklich, mit hochroten Wangen und leuchtenden Augen, geht sie draußen an seinem Arme dahin. Sie lacht, sie plaudert, sie spottet, und er tut ihr nach Kräften gleich. – Im Feuer des Tanzes ist seine Scheu vollständig dahingeschmolzen. – Eine wilde Freudigkeit fiebert durch seine Adern. Heute gehört sie ihm an mit ihrem Sinnen und Denken, ihm ganz allein, das fühlt er an dem Beben ihres Armes, der in süß geheimem Drucke den seinen fester preßt; das liest er in dem feucht verklärten Schimmer ihrer Blicke, die sich zu seinem Antlitz emporstehlen.

Nach einer Weile sagt sie ein wenig beklommen: »Du, wir müssen nachsehen, was Martin macht.«

»Ja, du hast Recht,« erwidert er eifrig.

Aber bei dem guten Vorsatz bleibt es. Jedesmal, wenn sie am Zelte vorüberwandern, ereignet sich irgend etwas Merkwürdiges auf der entgegengesetzten Seite, das ihnen Gelegenheit gibt, ihren Entschluß zu vergessen.

Da kommt ihnen plötzlich Martin selber entgegen, strahlend vor Vergnügen, inmitten einer Schar von Bürgern des Dorfes, die er mit sich genommen hat, um sie freizuhalten.

»Holla, Kinder!« sagt er, »jetzt verleg' ich mein Generalhauptquartier zur Butike des Kronenwirts; wenn ihr trinken wollt, kommt mit uns.«

Trude und Johannes tauschen einen raschen Blick des Einverständnisses und danken dann einmütig.

»Adjes denn, Kinder, und amüsiert euch gut!« Damit geht er von hinnen.

»So lustig hab' ich ihn noch nie gesehen!« meint Trude lachend.

»Zu gönnen ist's ihm!« sagt Johannes mit weicher Stimme, dem Bruder liebevoll nachblickend. Er will das Nagen totmachen, das bei Martins Anblick in ihm lebendig wurde.

– – – – – – – – – – – – –

Es ist Abend geworden. Das Festgewühl ist in purpurnen Schein getaucht. Rotdämmernd liegen Wald und Flur.

In einem einsamen Winkel am Wiesenrand bleibt Trude stehen und schaut trunkenen Blickes in die mattglühende Sonne.

»Ach, wenn sie uns heut nicht unterginge!« ruft sie, die Arme ausbreitend.

»Befiehl's ihr doch!« sagt Johannes.

»Sonne, ich befehle dir, daß du bei uns bleibst!«

Und wie nun der rote Ball tiefer und tiefer hinabrollt, schauert sie plötzlich zusammen und sagt: »Weißt du, welch ein Gedanke mir eben kam? – Daß wir sie nie mehr aufgehen sehen werden!« Dann lacht sie hell. »Ich weiß, es ist dumm' Zeug! Komm tanzen!«

Und sie kehren zum Saale zurück. Ein neuer Tanz hat soeben begonnen. Fiebernd vor Lust, trunken im gegenseitigen Anschauen, fliegen sie dahin und verschwinden dann in einem dunklen Winkelchen neben der Musikantentribüne, das sie sich ausgewählt haben, um den Späherblicken der andern Tänzer zu entgehen, die alle darauf lauern, mit der schönen Müllerin bekannt zu werden.

Trudens Haare haben sich gelöst und flattern frei in der Luft, in ihren Augen schimmert eine matte Glut, wie sie Berauschten eigen ist; ihr ganzes Wesen scheint aufgelöst in der Wonne des Augenblicks.

»Wenn mir nur der Fuß nicht brennen möchte wie das liebe Höllenfeuer!« sagt sie einmal, als Johannes sie auf ihren Platz zurückführt.

»So ruh' dich doch aus!«

Sie lacht laut auf, und als in diesem Augenblicke Franz Maas herzukommt, um in seiner Würde als Schützenkönig um den Ehrentanz zu bitten, wirft sie sich in seinen Arm und wirbelt von dannen.

Johannes legt die Hand gegen die brennende Stirn und schaut dem Paare nach, aber Lichter und Menschen verschwimmen vor seinen Blicken zu einem wogenden Chaos: alles ringsum scheint sich im Reigen zu drehen – er taumelt – er muß sich an einem Pfosten festhalten, um nicht niederzusinken; und als in diesem Augenblicke Franz Maas mit Truden zurückkommt, bittet er ihn, seine Schwägerin für eine halbe Stunde in Obhut zu nehmen: er müsse hinaus, um frische Luft zu schnappen.

Aus dem heißen, dunstigen Raume, in dem zwei Kronleuchter voll Unschlittkerzen einen unerträglichen Qualm verbreiten, tritt er hinaus in die klare, kühle Nacht. Aber auch hier Lärm und Gefiedel!

In den Schießbuden klappern die Bolzen der Windbüchsen, von den Würfeltischen hallt das heisere Geschrei der anlockenden Besitzer, und das Karussell dreht mit Kling und Klang seinen glitzernden Flitterkram durch die Dunkelheit.

Zwischendurch wälzen sich die schwarzen Wogen des Volkes.

Hinter den Kronen des Fichtenwaldes, der düster und schweigend das Treiben überragt, flammt es in goldgelben Lichtern am Horizonte auf. Noch eine halbe Stunde, und der Mond wird seinen lächelnden Glanz über die Ebene ergießen.

Johannes geht langsam zwischen den Zelten dahin. – Vor der Butike des Kronenwirts macht er halt und schaut durchs Fenster. Aber wie er Martin mit hochgeröteten Wangen inmitten eines jubelnden Zecherhaufens sitzen sieht, schleicht er ins Dunkel zurück, als habe er Angst, ihm zu begegnen.

Aus dem daneben liegenden Lokal hallt lärmender Gesang. Er zögert einen Augenblick, dann tritt er ein, denn die Zunge klebt ihm am Gaumen. Lauter Jubel empfängt ihn. An einem langen bierüberschwemmten Tische sitzt eine Schar ehemaliger Schulkameraden, wüste Gesellen zum Teil, denen er sonst gern aus dem Wege gegangen ist.

Man umringt ihn, man trinkt ihm zu, man nötigt ihn, im Kreise niederzusitzen.

»Was machst du dich so rar, Johannes?« schreit einer vom entgegengesetzten Ende der Tafel her, »und wo steckst du die Abende über?«

»Er hängt der schönen Schwägerin am Schürzenband,« spottet ein andrer.

»Laß meine Schwägerin aus dem Spiel!« ruft Johannes mit gerunzelten Brauen. – Ihn widert das Treiben an, die rohen Scherze tun ihm weh. Er stürzt ein paar Gläser kühlen Bieres hinunter und geht hinaus, mit Mühe die zudringlichen Gesellen von sich abschüttelnd.

Er schlendert zum Waldrand und starrt in die Finsternis hinein, die sich mit bleichen Mondreflexen zu beleben beginnt, dann geht er eine Strecke zwischen den Kronen dahin, die weiche, würzige Fichtenluft mit vollen Zügen einsaugend. – Er will mit Gewalt des rätselhaften Rausches Herr werden, der sein Gebein durchwühlt; aber je weiter er sich vom Festplatze entfernt, desto mehr wächst seine Unruhe. – – –

Im Begriffe, den Tanzsaal zu betreten, sieht er Franz Maas in heller Aufregung auf sich zueilen. Eine dumpfe Unglücksahnung dämmert in ihm auf.

»Was ist geschehen?« ruft er ihm entgegen.

»Gut, daß ich dich finde. – Deine Schwägerin ist unwohl geworden.«

»Um Gotteswillen! Wo hast du sie hingebracht?«

»Martin hat sie in euer Zelt geführt.«

»Wie kam's? Wie kam's?«

»Eine Weile vorher schon bemerkte ich, daß sie blaß und still geworden war, und als ich sie fragte, was ihr fehle, sagte sie, der Fuß schmerze sie. Aber sie wollte trotzdem nicht stille sitzen, und während ich mit ihr tanzte, brach sie plötzlich mitten im Saale zusammen.«

»Und dann? Was dann?«

»Ich richtete sie auf und zog sie so schnell wie möglich zu ihrem Platze, während ich einen absandte, Martin zu holen.«

»Mensch, warum schicktest du nicht nach mir?«

»Erstens wußt' ich nicht, wo du warst, und dann gehörte sich's doch, daß man zuerst ihrem Manne –«

Johannes bricht in ein schrilles Lachen aus. »Sehr richtig; aber was dann?«

»Sie schlug die Augen auf, noch ehe Martin ankam. Ihr erstes war, die Weiber fortzuschicken, die um sie herumstanden; darauf flüsterte sie mir zu: ›Sagen Sie ihm nichts von der Ohnmacht‹, und als er nun blaß im Gesicht herzugestürzt kam, ging sie ihm scheinbar ganz vergnügt entgegen und sagte: ›Mich drückt der Schuh; – weiter ist es nichts.‹«

»Und dann?«

»Dann führte er sie hinaus. Aber ich sah noch, wie sie plötzlich losschluchzte und den Kopf an seiner Schulter verbarg. Da dacht' ich mir: ›Weiß Gott, wo die der Schuh drückt.‹«

Johannes hört nichts mehr. Ohne dem Freunde ein Wort des Dankes zu sagen, stürzt er von dannen.

Die Leinwand, welche den Eingang des Felshammerchen Zeltes verdeckt, ist tief herabgelassen. – Johannes lauscht einen Augenblick. – Leises Weinen, vermischt mit Martins begütigender Stimme, dringt aus dem Innern; – er will den Vorhang aufreißen, aber der gibt nicht nach; er scheint an der Leiste festgenagelt.

»Wer ist da?« tönt Martins Stimme von drinnen.

»Ich – Johannes!«

»Bleib draußen!«

Johannes zuckt zusammen. Dieses »Bleib draußen!« ist ihm wie ein Messerstich durch die Brust gefahren. Wenn es gilt, in ihrem Leid ihr nahe zu sein, ihr Trost und Frieden zu bringen, dann heißt es: »Bleib draußen!«

Er beißt die Zähne zusammen und starrt mit heißen Blicken den Vorhang an, durch dessen Gewebe ein mattrötlicher Schimmer bricht.

»Johannes!« tönt die Stimme des Bruders aufs neue.

»Was soll ich?«

»Geh sehen, ob unser Wagen da ist.«

Er tut, wie ihm geheißen. Zu Botendiensten ist er ja gut genug. Er durchspäht die Reihe der Fuhrwerke, und als er nichts findet, kehrt er zum Zelte zurück.

Jetzt ist der Vorhang aufgeschlagen. Dort steht sie – ein klares Tüchlein um die Schultern geschlungen – so bleich und so schön.

»Ich dacht's mir wohl,« sagt Martin, als er Bericht erstattet, »hab' den Wagen ja erst um Morgengrauen bestellt. – Aber was nun?«

»Will Trude fort?« fragt er beklommen.

»Trude muß!« sagt sie, ihm aus verweinten Augen einen Blick zuwerfend, der wieder lächeln will.

»Gib dich drein, mein Kind!« erwidert Martin, ihr Haar streichelnd. »Wär's der Fuß allein, dann würd's nichts schaden. Aber dein Weinen vorhin – die Aufregung – ich glaube, deine Krankheit steckt dir noch in den Gliedern, und Ruhe wird dir gut tun. – Wenn's nur nicht so lange dauern möcht', bis der Wagen geholt wird! Ich glaub', das beste wär', du gingest die kleine Strecke über Feld zu Fuße – natürlich falls du nicht mehr Schmerzen hast. Wird's gehen?«

Trude wirft Johannes einen Blick zu und nickt dann eifrig.

»Die Luft ist warm, das Gras ist trocken,« fährt Martin fort, »und Johannes kann dich begleiten.«

Trude zuckt zusammen, und ihm steigt das Blut siedend heiß zu Kopf. Sein Auge sucht das ihre, aber das weicht ihm aus.

»Du kannst ja in einer halben Stunde wieder hier sein, lieber Junge,« sagt Martin, der Johannes' Schweigen für Mißmut hält.

Er schüttelt den Kopf und meint mit einem Blick auf Truden, auch er habe nun genug.

»Also geht mit Gott, Kinder,« sagt Martin, »und wenn ich meine Gesellschaft abgescharrt habe, komm' ich nach!«

Johannes sendet einen Blick in die Ferne; die Flur, die, umhüllt von den Schleiern des Mondlichts, in silbernem Dufte vor ihm liegt, erscheint ihm wie ein Abgrund, auf dem die Nebel brauen; ihm ist, als ziehe der Arm, der sich jetzt weich und liebkosend durch den seinen schiebt, ihn fort in die Tiefe.

»Gute Nacht!« murmelt er, halb vom Bruder abgewandt.

»Gibst du mir nicht einmal die Hand?« fragt Martin in scherzhaftem Vorwurf, und wie Johannes ihm zögernd die Rechte bietet, drückt er herzhaft zu.

Was so ein Händedruck wehe tun kann!

– – – – – – – – – – – – – –

Der Trubel des Festes sinkt weiter und weiter in die Ferne zurück. – Der vielstimmige Lärm wird zum dumpfen Brausen, aus dem nur der Klingklang des Karussells sich schrill heraushebt, und als die Tanzmusik, die so lange geschwiegen hat, aufs neue beginnt, erdrückt sie alles übrige mit ihren schneidenden Trompetentönen.

Aber auch sie wird schwächer und schwächer, und die große Pauke, die bis dahin nur bescheiden mitgewirkt hat, erhält die Oberherrschaft; denn ihr dumpfes Dröhnen dringt am weitesten in die Ferne.

Schweigend gehen die beiden nebeneinander her; keines wagt das andre anzureden. Trudens Arm zittert in dem seinen, ihr Auge ruht auf den Nebeln, die, grün durchleuchtet, von den Wiesen emporsteigen. Tapfer schreitet sie einher, wiewohl sie ein wenig hinken muß und von Zeit zu Zeit mit leisem Ächzen zusammenzuckt.

Sie mögen wohl fünf Minuten gegangen sein, da dreht sie sich um und weist, die Hand ausstreckend, auf das Lichtergewimmel des Festplatzes, das auf der schwarzen Mauer des Föhrenwaldes funkelt. Das Karussell dreht seinen leuchtenden Kreis, und die leinene Wand des Tanzsaales schimmert wie ein aus Flammen gewobener Schleier.

»Sieh, wie schön!« flüstert sie schüchtern.

Er nickt.–

»Johannes!«

»Was, Trude?«

»Sei mir nicht gram!«

»Weswegen – sollt' ich – –?«

»Weswegen gingst du vom Tanze fort?«

»Weil's mir zu heiß im Saale war.«

»Nicht, weil ich mit einem andern tanzte?«

»Oh, keine Spur!«

»Sieh, Hans, als du fort warst, da fühlt' ich mich plötzlich so einsam und verlassen und mußte mit Gewalt an mich halten, um nicht loszuweinen. Er hätt's dir ja verbieten können, dacht' ich mir, denn für wen bin ich aufs Fest gegangen als für ihn? Für wen hab' ich mich geschmückt als für ihn? – Und der Fuß brannte mir tausendmal mehr als vorhin, vor meinen Augen wurd's mir grün und gelb – und dann plötzlich – nun, du weißt ja, was geschah –«

Er beißt die Zähne zusammen, in seinen Armen zuckt's, als müsse er sie an sich pressen. – Ihre Stirn lehnt sich leise an seine Schulter, ihr Auge glänzt hell zu ihm empor, da plötzlich schreit sie laut auf: – der schmerzende Fuß, den sie nur mühsam am Boden hinschleppt, ist gegen einen Feldstein geschlagen. – Sie versucht sich aufrecht zu halten, aber ihr Arm entgleitet dem seinen, und ermattet vor Schmerz läßt sie sich in das Gras sinken.

»Einen Augenblick möcht' ich hier liegen,« sagt sie und wischt sich den kalten Schweiß von der Stirn, dann wirft sie sich mit dem Gesicht auf den Rasen und liegt eine Weile regungslos da.

Ihm wird bange bei diesem Anblick.

»Komm weiter,« mahnt er, »du erkältest dich hier.«

Sie streckt ihm mit abgewandtem Antlitz die rechte Hand entgegen und sagt: »Heb mich auf.« Aber als sie weitergehen will, knickt sie aufs neue zusammen.

»Du siehst, es geht nicht,« sagt sie mit mattem Lächeln. »So trag' ich dich fort,« ruft er, die Arme weit ausbreitend.

Ein Laut, der halb wie Jammer, halb wie Jubel klingt, entfährt ihren Lippen; im nächsten Augenblick liegt ihr Leib emporgehoben in seinen Armen.

Sie seufzt tief auf und lehnt, die Augen schließend, den Kopf an seine Wange. – Ihre Brust wogt an seiner Brust, ihr welliges Haar rieselt über seinen Hals, ihr warmer Atem streichelt sein glühendes Angesicht.

Fester schließt er den zitternden Körper an sich: – fort, fort – immer weiter – ob auch die Kräfte versagen, fort, bis ans Ende der Welt. – Sein Atem keucht, heftige Stiche bohren in seiner Seite, vor sein Auge legt sich ein rötlicher Schleier, – ihm ist, als solle er niedersinken und die Seele aushauchen, – aber weiter, weiter ...

Dort winkt der Fluß, das Wehr rauscht dumpf durch die schweigende Nacht, hell blinken die spritzenden Tropfen im Mondschein.

Sie läßt den Kopf auf seinen Arm zurücksinken, ein schmerzlich seliges Lächeln spielt um den halbgeöffneten Mund, – und nun schlägt sie das Auge auf, in dessen dunklen Tiefen des Mondes Abbild schwimmt.

»Wo sind wir –?« flüstert sie.

»Am Ufer,« keucht er.

»Laß mich sinken.«

»Ich muß – ich kann – nicht –«

Dicht am Rande des Flusses legt er sie nieder; dann streckt er sich lang im Rasen aus und preßt die Hand aufs Herz und ringt nach Atem. In seinen Schläfen zuckt's, die Sinne drohen ihm zu vergehen; doch mit Gewalt sich emporraffend neigt er den Oberkörper zum Flusse nieder, schöpft eine Handvoll Wasser und badet die Stirn darin.

Das bringt ihn wieder zur Besinnung. Er wendet sich nach Truden um. – Die hat das Gesicht in die Hände vergraben und stöhnt leise vor sich hin.

»Tut's sehr weh?« fragt er.

»Es brennt!«

»Steck' den Fuß ins Wasser. Das kühlt.«

Sie läßt die Hände sinken und sieht ihn verwundert an.

»Mir hat's gut getan,« sagt er und weist auf die Stirn, von der noch einzelne Wassertropfen niederrieseln.

Da beugt sie sich nach vorn und will den Schuh vom Fuße ziehen, aber ihre Hand zittert, ermattet hält sie inne.

»Laß mich dir helfen,« sagt er. Ein Ruck – der Schuh fliegt zur Seite, der Strumpf folgt nach, und sich bis an den äußersten Rand des Erdreichs vorschiebend taucht sie den nackten Fuß bis zum Knöchel in die kühle Flut.

»Oh, wie das wohl tut!« flüstert sie tief aufatmend; dann, sich nach links und rechts wendend, versucht sie dem Körper eine Stütze zu geben.

»Lehn dich an mich,« sagt er.

Da läßt sie den Kopf an seine Schulter sinken. In seinem Arme zuckt's, aber er wagt nicht, ihn um ihren Leib zu schlingen – er wagt kaum, sich zu regen; – sein Atem geht schwer, sein Auge starrt auf das Wasser nieder, durch dessen Kristall Trudens weißer Fuß schimmert gleich einer Perlmuttermuschel, die auf dem Grunde ruht.

Schweigend sitzen sie da. Vor ihnen am Wehr brausen und wirbeln die Wasser. Der Schaum spannt eine silberne Brücke quer über den Fluß, und die Wellen verrauschen zu ihren Füßen. Von Zeit zu Zeit trägt ein Schwellen des weichen Nachtwindes gedämpfte Musik zu ihnen herüber, und in das einförmige Dröhnen der Pauke mischt sich der dumpfe Schlag der Rohrdommel.

Plötzlich fährt ein Frösteln durch ihre Glieder.

»Was ist dir?«

»Mich friert!«

»Zieh gleich den Fuß aus dem Wasser!«

Sie tut, wie ihr geheißen, dann langt sie das feine Batisttüchlein aus der Tasche, das sie zum Balle mitgenommen.

»Das nutzt wenig,« sagt er und holt mit zitternder Hand sein eigenes derberes Taschentuch hervor. »Laß mich abtrocknen!«

Stumm, mit scheu flehendem Blicke, gibt sie sich darein, und wie er den weichen kühlen Fuß in seinen Händen fühlt, da wirbelt's vor seinen Sinnen, ihn überkommt's wie ein flammender Wahnsinn, und sich zur Erde neigend, preßt er die fiebernde Stirn darauf.

»Was tust du?« schreit sie auf.

Er fährt empor. – Trunken ruhen ihre Blicke ineinander – ein wildes Aufjauchzen, und sie liegen sich in den Armen. – – – – –Heiß brennen seine Küsse auf ihrem Munde. Sie lacht und weint und nimmt seinen Kopf zwischen ihre Hände und streichelt sein Haar und lehnt ihre Wange an seine Wange und küßt seine Stirn und seine beiden Augen.

»O du, du! Wie hab' ich dich lieb!«

»Bist du mein?«

»Ja, ja!«

»Wirst du mich immer lieb haben?«

»Immer, immer! Und du – du wirst mich nie allein lassen, wie heute – daß Martin  ...«

Jählings hält sie inne. Schweigen lastet auf ihnen. – Welch ein Schweigen! – Die Pauke dröhnt aus der Ferne. Das Wasser rauscht –

Zwei todblasse Gesichter starren sich an.

Und nun kreischt sie auf. »Jesus, Jesus!« geht ihr Schrei durch die Nacht.

Laut ächzend schlägt er die Hände vors Gesicht. Ein tränenloses Schluchzen erschüttert seinen Körper. Vor seinen Augen flammt es, flammt es in blutiger Lohe empor, als wollte es die Welt in Brand setzen. – Nun ist plötzlich in ihm Tag geworden! Was in jener Johannisnacht unheimlich aufdämmerte, was an dem Abend, da Trude während des Singens weinend zusammenbrach, wie ein Blitz sein Gehirn durchzuckte, um im nächsten Augenblicke zu erlöschen – das ist jetzt wie ein glühender Sonnenball vor ihm aufgestiegen. Jede Flamme predigt Haß, jeder Flimmer zuckt in Neidesqual ihm durch die Seele, jeder Strahl krampft in Furcht und Schuldbewußtsein sein Herz zusammen.

Trude hat sich mit dem Antlitz auf die Erde geworfen und weint, weint bitterlich.

Mit gesenktem Haupte und gefalteten Händen starrt er auf den holden Leib, der, aufgelöst in Jammer, vor ihm liegt.

»Komm heim!« sagt er tonlos. Sie hebt das Haupt und stemmt die Arme gegen den Boden; doch wie er sie nun emporrichten will, schreit sie laut auf: »Rühr mich nicht an!« Zweimal, dreimal versucht sie sich aufrecht zu stellen, aber immer wieder knickt sie zusammen. Da streckt sie stumm ihre Arme aus und läßt sich von ihm emporziehen. Schweigend geleitet er die Wankende auf den Mühlenhof. Ihre Tränen sind versiegt. – Die Starrheit der Verzweiflung liegt auf ihren todbleichen Zügen. – Sie hält das Antlitz abgewendet und läßt sich willenlos von ihm weiterschleppen.

Vor der Schwelle der Veranda löst sie ihren Arm aus dem seinen, und die letzte Kraft zusammenraffend stürzt sie von ihm fort nach der Haustür hin.

Dumpf hallen die Schläge des Klopfers – einmal – zweimal, dann werden drinnen im Hausflur schlürfende Schritte laut, – der Schlüssel dreht sich, – ein dunkelgelber Lichtschein fällt in die Mondnacht hinaus.

»Um Gottes willen, Madam', wie sehen Sie aus?« tönt die erschrockene Stimme der Dienstmagd. – Die Tür schlägt zu.

Lange starrt Johannes nach der Stelle hin, wo sie verschwunden ist. Ein Frostschauer, der seinen Leib vom Wirbel bis zur Zehe durchrieselt, läßt ihn erwachen. – Geistesabwesend schleicht er über den mondhellen Hof, streichelt die Hunde, die freudig bellend an ihren Ketten zerren, wirft einen stumpfen Blick auf das ruhende Mühlrad, unter dessen Kranze die Wasser geräuschlos, gleich blitzenden Schlänglein, vorübergleiten. Ein dumpfer Drang treibt ihn fort. Der Boden des Mühlenhofs brennt unter seinen Füßen.

Er wandert über die Wiese zum Wehr zurück nach der Stelle hin, auf der er mit Truden gesessen. – Auf dem Rasen leuchtet ihr blauseidener Schuh, und nicht weit davon liegt der lange, zarte Strumpf. Sie ist also auf dem nackten Fuße heimgehinkt und weiß es wahrscheinlich selber nicht.

Er bricht in ein gellendes Lachen aus, ergreift beides und schleudert es weit hinein in die Wellen.

Wohin nun? – Der Mühlenhof hat seine Pforten hinter ihm geschlossen für immerdar. – Wohin nun? Soll er sich unter irgendeinem Heuhaufen zur Ruhe legen? Aber schlafen kann er ja doch nicht. – Halt! Eine lustige Gesellschaft gibt es, – zwar vorhin hat er sie verschmäht, aber jetzt kommt sie ihm gerade recht!

Als Martin Felshammer sich um die zweite Morgenstunde von seinen zechenden Genossen losgemacht hat und in glückseliger Laune auf den Festplatz hinaustritt, wo der blaugraue Schimmer des erwachenden Tages das Treiben der Nachtschwärmer beleuchtet, kommt ihm eine Schar trunkener Bursche entgegen, die, Zotenlieder singend, im Gänsemarsch durch die Reihen der lustwandelnden Pärchen brechen, voran der Schlosser Garmann, ein berüchtigter Geselle, der nachts das Wilddieben betreibt, und andre Taugenichtse hinterher.

Mit dem Entschlusse, sie sofort vom Platze zu weisen, tritt er auf die Bande zu. – Da plötzlich bleibt er versteinert stehen, die Arme sinken ihm schlaff hernieder: inmitten des Haufens mit stierem Blick und trunkenen Gebärden taumelt sein Bruder Johannes.

»Johannes!« ruft er entsetzt.

Der fährt zusammen, sein hochrotes Gesicht wird erdfarben, in seinen Augen flackert eine scheue Glut, – er zittert, er streckt den Arm abwehrend aus und taumelt zwei, drei Schritte zurück.

Martin fühlt seinen Zorn weichen. Das jammervolle Bild ruft sein ganzes Mitleid wach. Er folgt Johannes nach, und ihn am Arm ergreifend sagt er mit liebevoller Stimme: »Komm, Bruder; es ist spät, – wir wollen heimgehen!«

Der aber weicht zusammenschauernd vor der berührenden Hand zurück, und den Blick in Todesangst auf ihn gerichtet sagt er mit heiserer Stimme: »Laß mich, – ich will nicht, – ich will nichts zu tun haben mit dir, – ich bin dein Bruder nicht mehr.« –

Martin fährt hoch auf, umklammert mit beiden Händen die Platte des neben ihm stehenden Tisches und sinkt dann, wie von einem Schwertstreich gefällt, auf der nächsten Bank zusammen.

Johannes aber stürzt von hinnen. Der Wald schließt sich hinter ihm. –

*

Fortan gibt's traurige Tage auf der Felshammermühle. Als Martin an jenem Morgen heimgekommen ist, – alles still im Hause, mäuschenstill – da hat er den Mühlen-Schlüssel von der Wand genommen und ist zu jenem Unglücksraum geschlichen, den er als Tempel seiner Schuld erbaut hat. – Dort haben ihn seine Leute um die Mittagszeit gefunden, bleich wie der Kalk an der Wand, den Kopf in die Hände gestützt, unaufhörlich vor sich hinmurmelnd: »Vergeltung für Fritz, Vergeltung für Fritz!« Das Gespenst, das alte, fürchterliche, das er gebannt wähnte für immerdar, sitzt ihm wieder im Nacken und schlägt die Krallen würgend um seinen Hals.

Die Leute haben ihn fast mit Gewalt aus seiner Höhle hervorziehen müssen. – Mit müden, schweren Schritten ist er zur Mühle hinausgewankt. – Sein Weib hat er mit eingefallenen Wangen und scheuen, verstörten Augen in einem Winkel hockend gefunden. Da hat er ihren Kopf zwischen seine beiden Hände genommen, hat die Zitternde eine Weile mit finsteren Blicken angeschaut und dann den trüben Spruch gemurmelt: »Vergeltung für Fritz! Vergeltung für Fritz!«

Und wie sie die unheimlichen Worte gehört hat, da ist ihr ein Schauder kalt über den Nacken gefahren.

»Weiß er?  ... Weiß er nicht?  ... Hat Johannes ihm gestanden?  ... Ist er durch Zufall dahinter gekommen? ... Ahnt er vielleicht nur?  ...«

Seitdem verzehrt sich ihre Seele, verzehrt sich ihr Leib in Furcht vor diesem Manne, in Sehnsucht nach jenem andern, den die Liebe zu ihr in die Ferne trieb. Sie wird bleich und magert ab, ihre Wangen welken  ... Sie schleicht daher wie eine Nachtwandlerin.  ... Um ihre Augen ziehen sich bläuliche Furchen, die breiter und breiter werden, und um den Mund gräbt sich ein Fältchen, das immer zuckt und immer spielt, wie ein tanzender Irrwisch.

Martin sieht nichts von alledem. Sein ganzes Wesen ist untergegangen in der Sorge um den verlorenen Bruder. In den ersten Tagen hat er von Stunde zu Stunde gehofft, ihn wiederkehren zu sehen, gänzlich ahnungslos vielleicht über das, was er im Wahnsinn der Trunkenheit gesprochen hat. Und er – er wahrlich wird der letzte sein, der ihn daran erinnert!

Aber als ein Tag nach dem andern vergeht, ohne daß Johannes sich einfindet, wird die Angst immer mächtiger in ihm; er beginnt dem Verschwundenen nachzuforschen; anfangs mit wenig Erfolg, denn der Verkehr zwischen Dorf und Dorf ist nur gering. Doch allgemach dringt eine Kunde nach der andern auf den Mühlenhof; heut ist er hier und gestern dort gesehen worden, unstet von einem Ort zum andern irrend, aber stets von lustiger Gesellschaft umringt. Den »tollen Hannes« nennen ihn die Leute, und wo er erscheint, da füllt sich die Schenke, da knallen die Pfropfen und klirren die Gläser und, wenn die Lust hoch geht, wohl auch die Fensterscheiben, durch deren Glas die Flaschen hinaus auf die Straße fliegen. Immer zu! – – Der »tolle Hannes« bezahlt den ganzen Rummel. Was ihm in die Quere kommt, das hält er frei, und Schelmenlieder und lustige Geschichtlein gibt er noch obendrein, daß einem das Zwerchfell platzen möcht' vor lauter Lachen. Ja, das ist ein wackerer Saufkumpan, der tolle Hannes!

Bald erscheinen auch allerhand zweideutige Persönlichkeiten vor der Tür der Felshammermühle, Leute, mit denen man nicht gern zu tun hat, wie der Kornwucherer Löb Levi aus Beelitzhof und der Gutsschlächter Hoffmann aus Grünheide; die präsentieren gelbe, fettige Papierchen, auf denen die Hand des Bruders Schuldanweisungen ausgestellt hat mit soundsoviel Prozenten auf soundsoviel Tage.

Lange starrt Martin die unsicheren Schriftzüge an, die durcheinander taumeln, als wären sie betrunken, dann geht er zum Geldschrank und bezahlt, ohne ein Wort zu sagen, die Schuld samt den wucherischen Zinsen. Wie gern würde er sein halbes Vermögen dahingeben, wenn des Bruders Rückkunft damit zu erkaufen wäre!

Endlich läßt er den Wagen anspannen und begibt sich selber auf die Suche. Meilenweit fährt er herum, ganze Nächte ist er unterwegs, aber nie gelingt's ihm, des Bruders habhaft zu werden. Die Kunde, die er von den Wirten erhält, ist dürftig und verworren; die einen antworten mit verlegenem Ausweichen, die andern mit verschmitzter Geheimtuerei, sie scheinen sämtlich zu ahnen, daß der reichliche Verdienst ihnen zum Teufel gehen würde, sobald sich der Mann der Felshammermühle des sausewindigen Bruders wieder bemächtigt.

Als Martin einzusehen beginnt, daß man ihn hintergehe, packt ihn die Mutlosigkeit. Er läßt den Wagen in den Schuppen bringen und verschließt sich ein paar Tage lang in seinem »Kontor«. Währenddessen brütet er darüber, ob es geraten sei, den Marienfelder Gendarm für sich zu gewinnen. Dem würde es, kraft seiner amtlichen Vollmacht, ein leichtes sein, die Wahrheit aus den Leuten herauszuholen. – Aber nein!  ... den Bruder durch die Polizei aufsuchen zu lassen, das erlaubt die Ehre des Felshammerschen Hauses nicht  ... der alte Vater müßte sich ja im Grabe umdrehen.

Eine Erkältung, die er sich bei seinen nächtlichen Fahrten zugezogen hat, wirft ihn aufs Krankenlager. Trude sitzt bei Tag und bei Nacht neben seinem Kopfkissen, zwei fürchterliche Wochen lang, gefoltert durch seine Fieberphantasien, in denen die beiden Brüder, der Tote und der Lebendige, bald zu zweien, bald in ein einziges, doppelköpfig gespensterhaftes Wesen verwandelt, ihn umschwirren.

Sobald er halbwegs genesen ist, läßt er den Wagen vorfahren. Einmal muß er ihn doch finden!

Und er findet ihn ....

Eines Spätabends zu Anfang September führt ihn der Weg durch Bretz, ein Dorf, zwei Meilen nördlich von Marienfelde gelegen. Durch die geschlossenen Läden der Schenke dringt wüster Lärm ihm entgegen – Füßestampfen, Zetern und trunkenes Gesinge.

Schwerfällig steigt er vom Wagen und bindet das Pferd an die Pforte der Einfahrt. Die Laterne flackert trübe im Nachtwind, – schwere Regentropfen klatschen hernieder.

Die Klinke der Schanktür klirrt in seiner Hand – ein Stoß – weit fliegt sie auf.  ... Dicker, blaugelber Tabaksqualm schlägt ihm ins Gesicht, vermischt mit den Dünsten schalen Bieres und übelriechenden Fusels.

Und dort zu oberst an der langen, rohgezimmerten Tafel, die Backen aufgedunsen, – das Auge rot und dickgerändert mit jenem glasigen Schimmer, wie er Trunkenbolden eigen ist, – mit wirrem, ungesträhltem Haar, schmutzigem Hemdkragen und lotterigem Rocke, an dem gelbe Heuhalme, vielleicht die Überbleibsel des letzten Nachtlagers, hängen – dort, jenes Bild raschgereiften Lasters und hoffnungsloser Verkommenheit, das ist's, was ihm von seinem Liebling, seinem ein und alles, noch geblieben ist ....

»Johannes!« schreit er, und die Fuhrmannspeitsche, die er in der Hand hält, fällt polternd zur Erde.

Totenstill wird's in dem menschengefüllten Raum, mit geöffneten Mäulern starren die Zecher dem Störenfried ins Gesicht.

Der Elende ist von der Bank emporgefahren, sein Antlitz versteinert sich in namenloser Angst, seiner Brust entringt sich ein hohles Keuchen, mit einem verzweifelten Satze springt er auf den Tisch, mit einem zweiten sucht er über die Köpfe der Nächstsitzenden hinweg das Weite zu gewinnen.

Umsonst!  ...Die eiserne Faust des Bruders sitzt ihm auf der Brust.

»Du bleibst!« tönt es ihm dumpf grollend ins Ohr; drauf fühlt er sich mit übermächtiger Kraft in den Ofenwinkel niedergedrückt, wo er gebrochen zusammensinkt.

Martin aber öffnet die Tür so weit, als die Angeln reichen, und mit dem Peitschenstiel in das Dunkel des Hausflurs weisend, pflanzt er sich in der Mitte des Schankzimmers auf.

»Raus!« ruft er mit einer Stimme, welche die Gläser auf dem Tische erzittern macht.

Die Zecher, meist blutjunge Bursche, greifen eiligst nach ihren Mützen; nur hie und da ertönt ein dumpf es Murren in der Menge.

»Raus!« schreit er noch einmal und macht eine Bewegung, als wolle er dem nächsten der Murrenden an die Kehle springen.

Zwei Minuten später ist die Schenke ausgefegt.

Nur noch der Wirt steht wie versteinert vor Schrecken hinter dem Schanktische. Jetzt, da Martin den finsteren Blick auf ihn richtet, beginnt er sich in weinerlichem Tone über die Geschäftsstörung zu beklagen.

Martin greift in die Hosentasche, wirft ihm eine Handvoll harter Talerstücke hin und sagt: »Ich will mit ihm allein bleiben!«

Als er die Tür hinter dem dienernden Wirte verriegelt hat, geht er mit langsamen Schritten auf Johannes zu, der reglos, das Gesicht in den Händen vergraben, in seinem Winkel kauert. – Er legt die Hand auf seine Schulter und sagt mit einer Stimme, in der grenzenlose Liebe und grenzenloser Schmerz erzittern: »Richt dich auf, mein Junge – laß uns reden miteinander!«

Johannes rührt sich nicht.

»Willst du mir nicht sagen, was du gegen mich hast? Sich aussprechen tut gut, mein Junge!  ... Erleichtere dein Herz, mein Junge!«

Johannes läßt die Arme sinken und stößt ein besseres Lachen aus. »Mein Herz erleichtern? Hahaha!«

Die innere Angst, die vorhin wie ein Krampf seine Züge verzerrte, hat sich in dumpfen, verbissenen Trotz verwandelt.

Schwankend zwischen Grauen und Mitleid schaut Martin auf dieses Angesicht, in dessen tiefen Furchen von dem einst so offenen, weichherzigen Johannes nichts mehr geschrieben steht. Alle verworfenen Leidenschaften müssen darin gewühlt haben, um es in sechs kurzen Wochen so jammervoll zu entstellen.

Jetzt richtet er sich auf und wirft einen spähenden Blick nach der Tür.

»Du hast mich wohl eingeschlossen?« sagt er mit einem neuen Auflachen, das Martin durch Mark und Bein geht.

»Ja.«

»Willst mich wohl wie einen Verbrecher mit dir schleppen?«

»Johannes!«

»Nur zu – du bist ja der Stärkere! – Aber das sag' ich dir: so elend bin ich doch noch nicht, daß ich mich nicht wehren würde. Eher würd' ich mich vom Wagen wälzen und mir den Kopf am Prellstein zerschmettern, als daß ich mit dir käme!«

»Erbarmen, himmlischer Gott!« ruft Martin. »Junge, Junge, was haben sie mir aus dir gemacht!«

Johannes geht mit schweren Schritten im Zimmer auf und ab und klappt im Vorbeistreifen mit den Deckeln der Bierkrüge.

»Mach es kurz,« sagt er dann stehen bleibend. »Was willst du von mir, daß du mich hier einsperrst?«

Martin geht schweigend zur Tür und läßt den Riegel zurückschnappen; dann stellt er sich dicht vor den Bruder hin. Seine Brust arbeitet schwer, als wolle er die Worte, die zu sprechen ihm obliegt, aus den tiefsten Tiefen seiner Seele emporheben. – Aber was hilft's? – In der Kehle stecken sie fest. – Beredt ist er nie gewesen, und wie nun plötzlich mit Flammenzungen reden, um diesem Wahnwitzigen seinen Wahn zu nehmen? – Alles, was er hervorbringen kann, sind die Worte: »Was hab' ich dir getan? – Was hab' ich dir getan?«

Er spricht sie zweimal, dreimal und immer wieder. – Was wüßte er Besseres zu sagen? – All seine Liebe, all sein Jammer liegt ja darin.

Johannes antwortet nichts. Er hat sich auf die Bank gesetzt und wühlt sich mit beiden Händen in den verwahrlosten Haaren. Um seinen Mund spielt ein Lächeln, ein fürchterliches Lächeln ohne Trost und ohne Hoffnung.

Endlich unterbricht er den hilflosen Bruder, der immer fort seine Formel spricht, als wollte er damit zaubern. »Laß genug sein,« sagt er, »du weißt mir nichts zu sagen und kannst mir auch nichts sagen. – Ich bin fertig mit mir, mit dir, mit der ganzen Welt. – Was ich durchgemacht habe in diesen letzten sechs Wochen, – seit ich von der Mühle weg bin, hab' ich unter keinem Dache mehr geschlafen – denn ich hatt' den Glauben, es würd' auf mich niederstürzen –«

»Aber um Jesu willen, was – –?«

»Frag mich nicht.  ... Du kriegst es doch nicht zu wissen. Von mir nicht.  ... Laß alles Reden, es nutzt nichts, – und wenn du mich beim Andenken der Eltern beschwören wolltest –«

»Ja, die Eltern!« stammelt Martin freudig. Warum hat er nicht früher daran gedacht?

»Laß sie ruhig in ihrem Grabe!« sagt Johannes mit seinem häßlichen Auflachen. »Auch das verfängt nicht bei mir. Sie können's nicht hindern, daß ich zugrunde gehen muß, auch nicht, daß ich – dich hasse!«

Martin stöhnt laut auf und sinkt, als hätte er einen Schlag erhalten, auf die Bank zurück.

»Aber weil ich immerfort an sie gedacht hab', weil ich mir immer wieder und wieder ins Gedächtnis zurückrief, daß Martin Felshammer mein Bruder ist, darum ist es so und nicht anders gekommen. Es hat mich ein schweres Opfer gekostet – das kannst du mir glauben! – Drum beklag dich nicht über mich, – – glaub mir – ich hab' ganz recht an dir gehandelt – hähähä! Bruder – ganz recht!«

Martin forscht nicht mehr. Die Lösung dieses Rätsels steht klar vor seinen Augen. – Alte Blutschuld ist Sühne fordernd aus dem Grabe gestiegen. – – – Er faltet die Hände und murmelt leise: »Vergeltung für Fritz!«

»Aber in einem hast du Recht,« fährt Johannes fort, »wenn du mich an die Eltern erinnerst: ich darf ihrem Namen, dem Namen Felshammer keine Schande machen! – Das hat mich schon lange gewurmt – – – wenn ich's auch nicht ändern konnte; denn etwas muß der Mensch doch haben zu seinem Vergnügen – – – hähähä! – Es ist mir eigentlich ganz angenehm, daß ich dich treffe, wir können's in Ruhe besprechen – – – ich will nach Amerika!«

Martin schaut ihm eine Weile in das glühende, aufgedunsene Gesicht, dann sagt er leise: »Geh mit Gott!« und läßt die Stirn schwer auf die Tischplatte niedersinken.

»Und zwar bald,« fährt Johannes fort. »Ich hab' mich schon erkundigt. Am 1. Oktober fährt das Schiff von Bremen – – – in nächster Woche muß ich von hier fort – du weißt, was mir von unserem Erbe zusteht  ... ein gut Teil muß ich übrigens schon verputzt haben – gib mir davon, soviel du gerade bar zur Hand hast, und schick es an Franz Maas – – – von dem werd' ich es mir abholen.«

»Und willst du nicht noch einmal zur – zur –«

»Zur Mühle? – Nie!« schreit Johannes emporfahrend, während eine unstete Flamme voll Angst und voll Sehnsucht in seinem Auge aufflackert.

»Und du willst wohl – ich soll hier Abschied von dir nehmen – hier in diesem ekelhaften Loch – – – Abschied fürs ganze Leben – – Mensch! – Abschied fürs ganze Leben?«

»'s wird wohl so sein!« sagt Johannes, den Kopf neigend.

Da sinkt Martin wieder in sich zusammen und murmelt: »Vergeltung für Fritz!«

Johannes starrt mit erloschenen Augen den Bruder an, der wie gebrochen an Leib und Seele vor ihm kauert.  ... Er ist fest entschlossen, ihn nie mehr wiederzusehen .... aber die Hand muß er ihm doch reichen – zum Abschied! »Leb wohl, Bruder,« sagt er, sich dem reglos Dasitzenden nähernd. »Leb glücklich und bleib gesund!« Da plötzlich fühlt er, wie es ihn überrieselt, warm und weich  .... In seinem Hirne wirbelt's. Tausend Bilder jagen gleichzeitig daran vorbei.  ... Er sieht sich als Kind von dem älteren Bruder gehegt und verzärtelt, er sieht sich als Jüngling stolz an seinem Arme daherwandern, er sieht sich mit ihm zusammen an der Eltern Totenbette stehen, er sieht sich Hand in Hand mit ihm in jenem großen Augenblick, da sie einander versprachen, sich nimmer zu trennen und nimmer einen Dritten zwischen sich treten zu lassen.

Und nun! – Und nun!

»Bruder!« schreit er auf – und laut schluchzend sinkt er ihm zu Füßen.

»Mein Junge – mein lieber Junge!« Er weint und jauchzt und umklammert ihn mit beiden Händen und preßt ihn an sich, als wolle er ihn nimmer von sich lassen. »Jetzt hab' ich dich  ... o Gott  ... jetzt hab' ich dich! – Jetzt wird alles wieder gut  ... nicht wahr?  ... Sag, es war alles bloß Spuk und Wahnsinn! Du weißt nicht, was du tatst – he? Du erinnerst dich an nichts mehr – he? Ich will wetten, du – he? Bist aufgewacht – nicht wahr – – – bist aufgewacht?«

Johannes preßt die Zähne zusammen und lehnt das Gesicht an seine Brust. Da plötzlich kommt ein Gedanke über ihn und legt sich ihm schwer aufs Herz und schwirrt ihm in den Ohren, ein Gedanke gleich einem Vampir, kalt und feucht und mit Fledermausflügeln um sich schlagend: in diesen Armen hat heute noch Trude gelegen  ....

Jählings springt er auf.

Fort aus diesem Raume, fort aus dieser Luft – sonst packt der Wahnsinn ihn wirklich! – –Er springt nach der Tür – ein Knirschen der Angeln, ein Klirren des Schlosses – er ist verschwunden. Martin schaut ihm eine Weile starr vor Bestürzung nach, dann sagt er, wie um sich die aufsteigende Angst auszureden: »Er ist zu erregt ... er muß frische Luft schöpfen – er wird wiederkommen.«

Sein Blick fällt auf die hölzernen Garderobehaken drüben an der Wand; er lächelt gänzlich beruhigt und sagt: »Er hat die Mütze hier gelassen  ... draußen regnet's – der Wind geht kalt  ... er wird wiederkommen.«

Darauf ruft er den Wirt, befiehlt, sein Pferd in den Stall zu führen, und läßt für den Bruder einen heißen Grog machen und ein Bett aufschlagen; »denn,« sagt er mit glückseligem Lächeln, »er wird wiederkommen.«

Als alles bereitet ist, setzt er sich auf die Bank und brütet vor sich hin. Von Zeit zu Zeit murmelt er, wie um den gesunkenen Mut neu zu beleben: »Er wird wiederkommen!«

Draußen peitscht der Regen an die Fensterladen, der herbstliche Wind braust um den Giebel, und jeder Tropfen, jedes Brausen predigt: »Er wird wiederkommen, er wird wiederkommen!«

Die Stunden vergehen – die Hängelampe erlischt – – – Martin ist über seinem Warten eingeschlafen und träumt von des Bruders Wiederkommen.

– – – – – – – – – – –

Am Morgen wecken ihn die Leute. Verstört und fröstelnd schaut er um sich. Sein Blick fällt auf das leere Bett, in dem der Bruder schlafen sollte. Das erste Bett seit sechs Wochen! – Traurig bleibt er davor stehen und starrt es an. – – – Dann läßt er sein Fuhrwerk vorführen und fährt von dannen.

*

Es ist heuer früh Herbst geworden. – Seit acht Tagen bläst ein Nordoststurm, rauh, durch alle Knochen dringend, als wär's November. Regenschauer prasseln gegen die Scheiben, und auf dem Boden liegt schon eine Schicht gelblichbrauner, zu Gallert zerronnener Lindenblätter.

Und wie zeitig es dunkelt! In der Bäckerwerkstatt brennt schon lange vor Abendbrot die Hängelampe. Unter ihrer Kuppel sitzt Franz Maas, eifrig rechnend und zählend. Vor ihm auf dem Bäckertische, wo sonst die weißen, runden Häufchen des Semmelteigs in Reih' und Glied geordnet liegen, blinken heute weiße, runde Häufchen von Silbertalern, und statt der knusprigen Bretzel knistern die Blätter des Papiergeldes.

Das ist der Schatz, den Martin Felshammer ihm am vergangenen Sonntag anvertraut hat mit der Weisung, ihn Johannes zu übergeben. Auch einen Brief hat er hinterlassen, worin die Aufrechnung des Erbteils auf Heller und Pfennig niedergeschrieben ist.

An jedem Vormittag, der seitdem verflossen ist, hat er an die Tür geklopft mit der immer gleichen Frage: »Ist er dagewesen?« und hat sich auf Franzens Kopfschütteln schweigend wieder entfernt. Der Schatz drückt gewaltig auf des jungen Bäckers Gemüt. Allabendlich zählt er die Summen auf den Tisch, um sich zu vergewissern, daß nichts im Laufe des Tages verschwunden ist.

So auch heute. – Heute ist Freitag, heute muß er kommen, wenn er das Bremer Schiff noch rechtzeitig erreichen will.

Geräuschlos hat sich die Tür geöffnet. Johannes steht hinter ihm, als er gerade im Begriff ist, die Geldrollen zu verschließen.

»Das ist wohl alles für mich?« fragt er, ihm die Hand auf die Schulter legend.

»Gott sei Dank, daß du da bist!« ruft Franz, freudig erschrocken. Dann wirft er einen prüfenden Blick über des Freundes Gestalt. – Martin muß übertrieben haben, als er ihm, Tränen in den Augen, von dessen verkommener Erscheinung berichtete. Er sieht ordentlich und anständig aus, trägt einen funkelnagelneuen Regenrock, unter dessen zurückgeschlagenen Klappen ein grauer, sauberer Anzug hervorschimmert; – sein Haar fällt glatt gekämmt in den Nacken herab; – sogar rasiert ist er. Aber freilich, der trübe, unheimlich aufleuchtende Blick, die Säcke unter den Augen, das häßliche Rot auf den Wangen, das sind traurige Zeugen in dem einst so jungfrohen Angesicht.

Und dann ergreift er seine beiden Hände und sagt: »Johannes, Johannes, was ist mit dir geschehen?«

»Geduld – du sollst alles erfahren!« erwidert er, »einer Menschenseele muß ich's anvertrauen, sonst drückt's mir drüben das Herz ab!«

»Also es ist dein Ernst? Du willst  ...«

»In dieser Nacht mit dem Postwagen geht's fort. Mein Platz ist schon bestellt. – Ehe ich zu dir kam, bin ich noch durchs Dorf gegangen. – Es war schon dunkel, drum durft' ich's wagen – und hab' von allem Abschied genommen. Am Grabe der Eltern war ich und vor der Kirchentür, auch beim Kronenwirt, dem ich noch 'ne Kleinigkeit schuldig war.«

»Und die Mühle hast du vergessen?«

Johannes beißt die Lippen zusammen und kaut seinen Schnurrbart; darauf murmelt er: »Das kommt noch!«

»O, das wird den Martin freuen!« ruft Franz Maas, selber ganz rot vor Freude.

»Sagt' ich denn, daß ich zu Martin will?« fragt Johannes zwischen den Zähnen durch, während seine Brust sich hebt, als wollte sie einen Berg von Beklommenheit hinunterwälzen.

»Was? Heimlich wie ein Dieb, von niemand gesehen, willst du dich auf deines Vaters Erbe herumschleichen?«

»Auch das nicht. Ich habe Abschied zu nehmen, aber nicht von Martin!«

»Von wem denn sonst? Mensch, von wem denn sonst?« ruft Franz Maas, in dem eine fürchterliche Ahnung aufdämmert.

»Riegle die Tür ab und setz dich her,« sagt Johannes – »jetzt will ich dir erzählen.« – – –

Die Stunden vergehen. – Der Sturm rüttelt an den Laden. – In der Lampe brodelt das Öl. – Kopf an Kopf sitzen die beiden Freunde, die Blicke ineinander versenkt. – Johannes beichtet – er verschweigt nichts – von jener ersten Begegnung mit Truden bis zu dem Augenblicke, da ihn das Grauen aus Martins Armen hinaustrieb in die regnerische Nacht.

»Was dann kam,« endet er, »ist mit zwei Worten gesagt. Ich lief, ohne zu wissen, wohin – bis Frost und Nässe mich zur Besinnung brachten. Da kam gerade der Postwagen von Marienfelde daher. – Ich hielt ihn an – geriet doch wenigstens ins Trockene. – So gelangt' ich in die Stadt, wo ich bis jetzt gehaust hab'. – Löb Levi hatte mir gerade hundert Taler gegeben, damit hab' ich mich neu hergerichtet, denn verwahrlost, wie ich war, mocht' ich Truden nicht unter die Augen treten.«

»Unglücklicher – du willst – – –?«

»Mach keinen Krakeel!« erwidert er unwirsch, »es ist alles schon in Ordnung. Einem Kind, das ich auf der Straße traf, hab' ich einen Zettel an sie gegeben und gewartet, bis es wiederkam. In der Küche hat sie ihn an sich genommen, ohne daß selbst die Mägde was merkten. Um elf Uhr wird sie am Wehr sein, und ich – nu ja – ich auch!«

»Johannes, ich fleh' dich an, tu's nicht,« ruft Franz in heller Angst. »Es gibt ein Unglück!«

Johannes antwortet mit einem heiseren Auflachen, und den Mund an des Freundes Ohr gelegt, zischelt er: »Glaubst du wohl, Mensch, daß ich imstande wär', in der Fremde zu leben und zu sterben – wenn ich sie nicht noch einmal gesehen hab'? – Glaubst du, ich würde den Mut haben, vier Wochen lang auf dem Meer zu fahren, ohne mich hineinzustürzen – wenn ich sie nicht noch einmal gesehen hab'? Die Luft zum Atmen müßt' mir fehlen, Speis' und Trank müßt' mir im Halse stecken bleiben, ich müßt' verdorren bei lebendigem Leib – wenn ich sie nicht noch einmal gesehen hab'.«

Wie Franz das hört, läßt er alles Abraten.

Johannes' unruhiger Blick schweift nach der Pendeluhr hinüber. »Es ist Zeit,« sagt er und greift nach seiner Mütze. »Um Mitternacht kommt der Postwagen durch den Ort. – – – Erwart mich an der Posthalterei und bring zwei Hunderttalerscheine mit – das reicht zur Überfahrt. – – Das übrige kannst ihm zurückgeben. Ich brauch's nicht! – Adjes so lange!«

Unter der Tür wendet er sich noch einmal um und fragt: »Du, riecht mein Atem nach Branntwein?«

»Ja.«

»Dann gib mir ein paar Kaffeebohnen zu kauen. – Ich will nicht, daß Trude in letzter Stunde ein Grauen vor mir kriegt.«

Und als Franz seinen Wunsch erfüllt hat, verschwindet er im Dunkel.

*

Hochwasser ist heute.

Mit Zischen und Brausen schießen die Fluten den »Abfall« hinunter, um dann mit dumpfem Grollen in dem Schaumgrabe zu versinken, so daß der leuchtende Gischt in hochgewölbtem Bogen über ihnen zusammenschlägt.

In das Getöse der Wassermassen mischt sich das Heulen des Sturmes. – Die alten Erlen längs des Ufers neigen und beugen sich zueinander wie schattenhafte Riesen, die um die Mitternachtstunde in langer Kette den Ringelreigen tanzen.

Der Himmel ist mit dunkeln Regenwolken verhangen, alles ist schwarz ringsum, nur der schneeige Schaum verbreitet ein ungewisses Licht, in dem die Umrisse des Balkengerüstes nebelhaft verschwimmen. Darüber hin ragt das Geländer der kleinen Zugbrücke, anzuschauen wie die Schattengestalt einer Katze, die hochbeinig über ein Dach hinschleicht.

Auf der Zugbrücke treffen die beiden zusammen.

Trude, den Kopf in ein dunkles Umschlagetuch gehüllt, hat lange schon unter den Erlen gestanden, vor dem Regen Zuflucht suchend, und da sie die Umrisse seiner Gestalt jenseits des Wehrs auftauchen sah, ist sie ihm entgegengeeilt.

»Trude, bist du's?« fragt er hastig, nach ihrem Gesicht spähend.

Sie schweigt und klammert sich an das Geländer. Der Schaum tanzt in gelben und blauen Farben vor ihrem Auge.

»Trude,« sagt er, indem er versucht, ihre Hand zu ergreifen, »ich bin gekommen, um von dir Abschied zu nehmen fürs ganze Leben. Willst du mich ohne ein Wort in die Fremde ziehen lassen?«

»Und ich bin gekommen um der Ruhe meiner Seele willen,« sagt sie, vor seiner tastenden Hand zurückweichend.

»Hans, ich hab' viel ausgehalten um dich – – Ich bin um ein halbes Leben älter geworden – – schwach und krank bin ich – – darum hab Mitleid mit mir – rühr mich nicht an – – ich will nicht aufs neue schuldbefleckt in deines Bruders Haus zurückkehren!«

»Trude, – bist du gekommen, um mich zu quälen?«

»Still, Hans, still, – tu mir nicht weh! – – Wir wollen doch beide jetzt Frieden und Mut – mit uns nehmen für unser ganzes Leben. – Da dürfen wir nicht auf einander wüten – in Liebe nicht, und auch nicht in Groll.« – Erschöpft hält sie inne – ihr Atem geht keuchend – – dann mühsam sich zusammenraffend, fährt sie fort: »Sieh – ich wußt's wohl, daß du kommen würdest – lange, eh' ich den Zettel heut' bekam – und hab' mir jedes Wort tausendmal ausgedacht – was ich dir sagen wollt' – – aber freilich – du mußt mich – nicht so aus der Fassung bringen.«

Seine Augen glühen durch die Finsternis, sein Atem geht heiß – und mit schrillem Auflachen sagt er: »Mach keinen Heiligenschein um uns herum. – Es nutzt nichts .... verdammt sind wir beide doch im Himmel und auf Erden! – Da laß uns wenigstens  ...« Aufhorchend bricht er ab. »Pst!  ... mir war – als hört' ich – auf der Wiese –«

Er hält den Atem an und lauscht. – Nichts zu hören, nichts zu sehen. – Was es auch war, Sturm und Nacht haben es verschlungen.

»Komm hinunter zum Ufer,« sagt er, »unsere Gestalten zeichnen sich hier oben ab.«

Sie geht voran – er folgt. – Doch auf dem schlüpfrigen Holzwerk gleitet sie aus. – Da fängt er sie in seinen Armen auf und trägt sie zum Flusse hinab. – Wehrlos liegt sie an seinem Halse.

»Wie leicht bist du geworden seit jenem Tage,« sagt er leise, indem er sie niedergleiten läßt und aufrichtet.

»O, – du würdest mich kaum wiedererkennen, wenn du mich sähest,« erwidert sie ebenso leise.

»Was gäb' ich drum, wenn ich's könnt'!« sagt er und versucht das Umschlagetuch von ihren Wangen zurückzustreichen. Ein bleiches Oval – zwei dunkle, runde Schatten darin, dort, wo die Augen sind, – mehr läßt die Finsternis nicht erkennen.

»Ich komm' mir vor wie ein Blinder,« sagt er, und seine zitternde Hand gleitet von ihrer Stirn bis auf die Wangen nieder, als wolle er tastend die geliebten Züge entziffern. Sie widerstrebt nicht mehr. – Ihr Kopf sinkt auf seine Schulter.

»Was hab' ich dir nicht alles sagen wollen!« flüstert sie, »und nun weiß ich nichts mehr – rein nichts mehr.«

Er schlägt die Arme fester um sie. Schweigend und reglos stehen sie da, während der Sturm an ihnen zaust und der Regen auf sie niederpeitscht. – – –

Da hallen vom Dorfe her die gebrochenen Töne des Posthorns, halb verschlungen vom Unwetter. »Unsere Zeit ist um,« sagt er erschauernd, »ich muß fort.«

»Jetzt – in der Nacht?« stammelt sie tonlos.

Er nickt.

»Und ich seh' dich nicht mehr?« – –

Ein wilder Aufschrei zuckt durch den Sturm. –

»Johannes, – erbarm dich, – ich lass' dich nicht, – ich – kann nicht leben ohne dich!« – Ihre Finger krallen sich in seine Schultern. »Du sollst nicht – ich will nicht ...«

Mit Gewalt versucht er sich loszumachen.

»Ah so! – du gehst ... O – du – du bist schlecht! ... Du weißt, daß ich sterben muß – wenn du gehst. Ich kann nicht – – – Nimm mich mit dir! Nimm mich mit dir!«

»Bist du von Sinnen, Trude?« Er schlägt die Hände vors Gesicht und stöhnt laut auf.

»So! – – Das nennst du von Sinnen sein.  ... Wehrt sich nicht das Lamm – – wenn man's zur Schlachtbank –?  ... Und du willst? ... Ah, liebst du mich so? ... Ist das alles?  ... Ist das alles?«  ....

»Denkst du an Martin?«

»Er ist dein Bruder! – Weitet weiß ich nichts von ihm  ... Aber ich weiß, daß ich sterben muß – wenn ich noch länger bei ihm bleib' ...Mich friert, wenn ich an ihn denke!  ... Nimm mich mit dir, Mann! Nimm mich mit dir!«

Er umfaßt ihre beiden Handgelenke, und sie hin und her schüttelnd flüstert er mit halberstickter Stimme: »Und weißt du auch, daß ich verlumpt und verlottert bin, – ein Verworfener, ein Säufer – zu nichts mehr nütze auf der Welt .... Wenn du mich sehen könntest, du würdest ein Grauen vor mir haben .... Ordentliche Menschen gehen mir aus dem Wege .... Allen Guten bin ich ein Abscheu geworden!  ...Und glaubst du, ich würde gut sein zu dir?  ...Ich werde dir nie verzeihen, daß du zwischen mich und Martin getreten bist  ...nie verzeihen, was ich um deinetwillen an ihm verbrochen hab'. Er wird zwischen uns stehen, solange wir leben. Ich werde dich beschimpfen – ich werde dich  ...schlagen, wenn ich betrunken bin. Du wirst die Hölle haben an meiner Seite .... Nun?  ...Was meinst du nun?«

Sie neigt demütig das Haupt, faltet die Hände und sagt: »Nimm mich mit dir!«

Ein Schrei wilden Jubels entfährt seinen Lippen. »So komm  ...aber komm rasch .... Eine Viertelstunde – hält der Wagen .... Niemand wird uns sehen .... Franz Maas – der einzige – – der verrät uns nicht .... In der Stadt kaufst du dir Kleider und dann  ...Halt! Was heißt das?«

Auf der Mühle ist's lebendig geworden. Gelber Lichtschein fällt aus der weitgeöffneten Tür in die Finsternis .... Eine Laterne schwankt über den Hof, verschwindet – kommt wieder – und saust dann, weggeschleudert, in einem leuchtenden Bogen durch die Luft gleich einem Meteor. – – – – – – –– – – – – – – – – – – –

Martin liegt im Bette eingeschlafen. – Da pocht es an die Fensterlade.

»Wer ist da?«

»Ich  ... der David!«

»Was willst du?«

»Machen Sie auf, Herr! – Ich hab' Ihnen was Nöt'ges zu sagen.«

Martin springt aus dem Bette, zündet ein Licht an und wirft sich in seine Kleider. – Ein flüchtiger Blick fällt auf Trudens leeres Bett .... Gewiß ist sie im Wohnzimmer über dem Nähzeug eingedruselt, denn rechtschaffener Schlaf kommt schon lange nicht mehr in ihre Augen.

»Was gibt's?« fragt er den David, der naß wie eine Katze in den Hausflur tritt.

»Herr!« sagt er unter dem Mützenschirm hervorblinzelnd, »es ist von wegen der achtundzwanzig Jahre, die ich auf dem Hof bin – – und schon der selige Herr Vater war immer gut zu mir ....«

»Und um mir das zu erzählen, holst du mich nachts aus dem Bette?«

»Ja – denn heut nacht, wie ich auf wach' und den Regen platschen hör', fällt's mir schwer auf die Seele, daß die Satzposten nicht 'rausgehoben sind.  ... Am End' staut's Wasser zu stark, und wir können morgen nicht mahlen.«

»Hab' ich euch nicht tausendmal gesagt, Kerle,« schilt Martin, »daß die Satzposten bloß bei Eisgang 'rauszuheben sind? Bei Hochwasser macht's unnütze Arbeit.«

»Ich hab's auch nicht getan,« meint David.

»Na also!«

»Denn wie ich zum Wehr komm', seh' ich auf der Zugbrück' zwei Liebesleut' stehen!«

»Und deshalb  ...?«

»Und da dacht' ich mir eben, es sei Schand' und Spektakel und nicht länger –«

»Laß sie sich doch lieben in drei Teufels Namen!«

»Und ich wär's dem Herrn schuldig, wenn der Herr Johannes und unsere Frau –«

Er kommt nicht weiter, denn seines Herrn Faust sitzt ihm an der Kehle.

Was geht mit Martin vor, dem Unglückseligen?

Sein Gesicht wird blaurot und schwillt auf – die Stirnadern quellen hoch heraus – die Nasenflügel zucken – die Augen wollen aus ihren Höhlen treten – weißlicher Schaum steht ihm vor dem Munde.

Dann stößt er einen Laut aus, der wie das Aufheulen eines Hundes klingt – und David loslassend reißt er sich mit einem Ruck das Hemd am Halse entzwei.

Zwei, drei tiefe Atemzüge, wie der Erstickende sie tut, und dann brüllt er laut auf in jählings entfesselter Wut: »Wo sind sie? – – – Wo sind sie? – – – Ich mach' sie kalt! – – – Auf der Stelle mach' ich sie kalt!«

Er entreißt dem entsetzten David die Laterne und stürzt hinaus. Im Radhäuschen verschwindet er – eine Sekunde später kommt er wieder zum Vorschein. Hoch über seinem Haupte blitzt eine Axt.

Dann schwenkt er die Laterne dreimal im Kreise herum und wirft sie weit von sich mitten ins Wasser hinein. – Nach dem Wehr stürmt er hin – – –

»Dort kommt einer!« flüstert Trude, sich enger an Johannes schmiegend.

»Wahrscheinlich haben sie an den Schützen zu tun,« flüstert er zurück. »Rühre dich nicht und sei guten Muts.«

Näher und näher jagt die dunkle Gestalt daher. Ein tierähnliches Brüllen dringt durch die Nacht, das Brausen des Sturms übertönend.

»Martin ist's!« sagt Johannes, drei Schritte zurücktaumelnd. Aber schnell rafft er sich empor, umklammert Truden und zieht sie mit sich, dicht an das Balkenwerk des Wehrs heran, in dessen schwärzestem Schatten sie beide niederkauern.

Ganz nahe an ihren Köpfen vorbei jagt der Tobsüchtige. – Die hochgeschwungene Axt schimmert in dem Dämmerlicht des Schaumes. – – –

Jenseits des Wehrs macht er halt. Er scheint auf das weite Feld hinauszuspähen, das sich ohne Baum und Strauch in gleichmäßigem Dunkel ausbreitet.

»Halt an der Mahlschleuse Wacht, David,« donnert seine Stimme nach der Mühle hin. »Sie sind auf der Wiese – da fass' ich sie!«

Ein Laut des Entsetzens entringt sich Johannes' Brust. Er hat des Bruders Absicht durchschaut: er will die Zugbrücke aufziehen, um sie beide auf der Insel zu fangen.

Und dicht hinter Trudens Nacken hängt die Kette – die Kette, an der man ziehen muß, um die Brücke zurückschlagen zu lassen.

Sein erster Gedanke ist: »Schütze das Weib!« – Er reißt sich aus Trudens Arm und springt den Abhang des Ufers hinan, um sich der Wut des Bruders zum Opfer darzubieten.

Trude stößt einen gellenden Schrei aus. Johannes in Todesgefahr – drüben der Tobende – hell blinkt die Axt – – aber hinter ihr die Kette, der eiserne Ring, der ihr den Kopf fast wund schlägt. Mit zitternden Händen greift sie danach – sie zerrt mit aller Kraft – in demselben Augenblick, in dem Martin den Balken des Stegs erklimmen will, klappt die Zugbrücke zurück.

Johannes sieht nichts davon, er sieht nur den Schatten drüben und die helle Axt. – Noch wenige Schritte, und der Tod saust auf ihn herab. – – Da, im Augenblick der höchsten Not fällt ihm die Mutter ein, und was sie einst zu dem Wütenden sprach.

»Denk an Fritz!« schreit er dem Bruder entgegen.

Und siehe da! Die Axt entfällt seiner Hand – er taumelt – er sinkt – ein Schlag – ein Spritzen – er ist verschwunden.

Johannes stürzt nach vorne – sein Fuß schlägt gegen die umgeklappte Brücke – dicht vor ihm gähnt ein schwarzes Loch.

»Bruder, Bruder!« schreit er in wahnsinniger Angst, er denkt nichts mehr, er fühlt nichts mehr. Nur das eine: »Rette den Bruder!« rast durch sein Gehirn.

Mit einem Ruck wirft er den Mantel ab – ein Sprung – ein dumpfer Schlag wie gegen eine scharfe Kante – – – – – – –Trude, die halb ohnmächtig die Kette umklammert

hält, sieht zwischen den hellen Wassern eine längliche, dunkle Masse den schrägen Abfall hinunterschießen und in den Schaumwirbeln verschwinden.  ... Eine Sekunde später noch eine .... Wie zwei Schatten flogen sie an ihr vorbei.

Sie wendet den Blick nach dem Gerüst empor – –

Dort oben ist alles still – alles leer.

Der Sturm heult  ...das Wasser rauscht. – – Besinnungslos sinkt sie am Ufer nieder.

*

Am andern Morgen wurden die Leichen der beiden Brüder aus dem Flusse gefischt. – Seite an Seite schaukelten sie sich in den Wellen, Seite an Seite wurden sie begraben. – Trude war wie versteinert in ihrem Schmerz. In tränenloser Stumpfheit starrte sie vor sich hin, ihre Verwandten, selbst ihren Vater wies sie von sich, nur Franz Maas durfte um sie sein. – Getreulich nahm er sich ihrer an, wehrte Fremden den Zutritt zu ihrer Schwelle und regelte den Verkehr mit den Behörden. – Viel fehlte nicht, so wäre auf Davids dunkle Andeutungen hin die gerichtliche Untersuchung gegen die Unglückliche eingeleitet worden.

Aber waren die Aussagen des alten Knechtes auch zu lückenhaft und verworren, um einen Prozeß darauf zu bauen, so genügten sie doch, um Trude Felshammer vor der Welt zur Verbrecherin zu stempeln. Je scheuer sie sich von den Menschen zurückzog, je ängstlicher sie den Mühlenhof vor jedem fremden Angesicht verschloß, desto ausschweifender wurden die Gerüchte, die über sie im Schwange waren.

»Die Müllerhexe,« so benannten sie die Leute, und die Sagen, die ihre Gestalt umgaben, pflanzten sich von einem Geschlechte zum andern fort.

Die Mühle ward nun die »Stille Mühle«, wie der Volksmund sie benannte. Die Mauern zerfielen; die Räder vermorschten; der blinkende Fluß schlämmte voll Unkraut, und als der Staat einen Kanal anlegte, der das Bett oberwärts Marienfelde zum Hauptstrom ablenkte, da wurde er vollends zum Sumpfe.

Und Trude selbst? Sie vereinsamte gänzlich. Bald wollte sie auch den Freund nicht länger um sich dulden und verschloß ihm die Tür.

Vor ihrem Gewissen galt sie als Mörderin. Ihre Angst trieb sie einem Beichtvater, trieb sie der katholischen Kirche in die Arme. Man sah sie um Kruzifixe rutschen und vor Kirchentüren knien, in der Hand den Rosenkranz drehend, die Stirn an den Steinen blutig geschunden.

Sie sühnt das große Verbrechen, das sich »Jugend« nennt.

*

 


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