August Strindberg
Die Leute auf Hemsö
August Strindberg

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Siebentes Kapitel

Traum und Wirklichkeit; das Pult wird bewacht, aber der Sensenmann kommt und macht einen Strich durch das Ganze.

Carlssons Ehe war, obwohl kurz, keine durchaus glückliche. Die Frau war bejahrt, wenn auch nicht unangenehm, und Carlsson war noch jung genug, um den Augen eines hübschen jungen Mädchens das vollste Verständnis entgegenzubringen. Bis zu seinem kürzlich zurückgelegten achtunddreißigsten Jahre hatte er sich fast ausschließlich für seinen Lebensunterhalt und sein Fortkommen geplagt. Jetzt, wo er sein Ziel erreicht, wo er Aussicht auf ein ruhiges Alter hatte, war in seiner Brust der Wunsch seiner früheren Jahre wieder reger geworden, von einem Mädchen, das hübsch und jung wäre, geliebt zu werden. Und so war sein Auge denn auf Klara gefallen, zu der nach und nach, ohne daß er sich dessen deutlich bewußt war, in seinem Herzen eine stille und tiefe Neigung heranreifte.

Schließlich saß das Bild des Mädchens in seinem Auge fest, und wo er ging und stand, sah er sie. Es war aber eine andere da, die auch sah; aber sie sah nicht Klara an, sondern die Augen, welche ihr folgten, und je mehr sie hinsah, desto mehr glaubte sie zu sehen, bis die Augen schmerzten und feucht wurden.

Es war kurz vor Weihnachten. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, aber der Mond stand am Himmel und beleuchtete die schneebedeckten Tannen, die blanke Bucht, die weißen Felder. Ein rauher Nordwind fegte den trocknen Schnee zusammen, doch drinnen in der Küche stand Klara und heizte den Backofen, während Lotte am Backtrog arbeitete.

Carlsson saß in der Ecke, rauchte seine Pfeife und empfand ein Behagen wie eine Katze in der Wärme. Seine Augen waren auf der Wanderschaft begriffen, sie wärmten und ergötzten sich, wenn sie auf Klaras weißen Armen ruhten, die aus dem Leinen hervorlugten.

»Willst du melken, ehe wir ausfegen?« fragte Lotte.

»Freilich will ich das,« antwortete Klara und zog ihren Rock aus Schaffellen über, nachdem sie den Feuerhaken und die Feuerzange beiseite gelegt hatte. Dann zündete sie die Stallaterne an und ging hinaus.

Nachdem sie gegangen, stand Carlsson auf und ging gleichfalls hinaus.

Gleich darauf kam die Alte aus dem Zimmer und fragte nach Carlsson.

»Er ging mit Klara in den Kuhstall,« antwortete Lotte.

Ohne weiteren Bescheid abzuwarten, nahm die Alte eine Laterne und ging auch hinaus.

Es wehte draußen scharf, aber sie wollte nicht umkehren, da sie sich Gewißheit zu verschaffen gedachte und der Stall nur einen Steinwurf entfernt lag. Auf dem Hofe war es glatt, und der Schnee stäubte in seinen Flocken wie Mehl herab; sie kam indes ziemlich schnell an die Wirtschaftsgebäude und begab sich gleich in den Kuhstall, wo es warm war. Sie horchte und hörte, daß im Schafgang jemand flüsterte. In dem schwachen Mondlicht, das durch die Spinnengewebe und den Staub auf den Fensterscheiben fiel, sah sie, wie die Kühe die Köpfe mit den großen, im Dunkeln unheimlich grünen Augen nach ihr umwendeten; der Melkschemel stand da und auch der Eimer. Aber das wollte sie nicht sehen, es war etwas anderes, was sie um alles in der Welt sehen wollte, etwas, das sie gleich einer Hinrichtung anzog und dessen Anblick sie das Leben kosten mußte.

So ging sie endlich über die Strohhaufen durch den Kuhstall und gelangte in den Schafgang. Hier war es dunkel und still. Die Laterne stand dort verlöscht, aber das Talglicht qualmte noch. Die Schafe blökten und raschelten mit den trockenen Reisigbündeln. Nein, das wollte sie nicht sehen. Dann ging sie weiter und kam zu den Hühnern, die auf die Stiege gekrochen waren, wo sie leise glucksten, als seien sie ganz kürzlich aus ihrem Schlaf geweckt worden.

Die Außentür stand offen, und sie kam wieder ins Mondlicht hinaus. Zwei Paar Schuhe, ein größeres und ein kleineres, hatten ihre Spuren in dem Schnee hinterlassen. Sie zeichneten sich bläulich im Schatten ab und führten zu einer Zauntür, die aus den Hängen gehoben war. Sie folgte hinterdrein, als habe sie jemand ins Schlepptau genommen, und die Spuren lagen über dem Felde gleich einer Kette, an der sie befestigt war und an der von einer unsichtbaren Stelle her in der Koppel gezerrt wurde.

Und es zog und zerrte sie an denselben Ort, vorbei an demselben Hügel, unter dieselben Haselbüsche, wo sie schon einmal eine so entsetzliche Abendstunde erlebt hatte, die zu vergessen sie stets bemüht gewesen. Jetzt standen die Haselbüsche kahl da, und das braune, harte Laub der Eichen raschelte im Winde, aber es war jetzt so dünn, daß man die Sterne und den grünschwarzen Himmel dadurch sehen konnte.

Und immer weiter führte die Kette, sie schlängelte sich unter den Tannen dahin, die ihren Schnee auf ihr dünnes graues Haar herabrieseln ließen, sobald sie an ihre Zweige stieß; und auf ihre gestreifte Kleidertaille fiel der Schnee und stäubte naß und kalt auf ihren Hals und ihren Rücken.

Und immer weiter gings in den Wald hinein, wo der Auerhahn von seinem Nachtlager aufflog und sie erschreckte, hinweg über Sümpfe, wo der Boden unter ihr schwankte, über Hecken, die krachten, wenn sie darüber hinwegkletterte.

Paarweise gingen die Spuren, die eine groß, die andre klein, nebeneinander, zuweilen gleichsam ineinander verschlungen, hinweg über Stoppelfelder, wo der Schnee fortgeweht war, über Steinhaufen und Gräben, Zäune und Windbrüche.

Sie wußte nicht, wie lange sie gegangen war, aber ihr Kopf fror und ihre Hände waren erstarrt. Rot und mager wie sie waren, barg sie sie unter dem Kleide und taute sie von Zeit zu Zeit mit ihrem Atem auf. Sie wollte umkehren, aber jetzt war es zu spät. Es war bis nach Hause ebenso weit für sie, wenn sie zurückging, als wenn sie geradeaus ging. Sie schritt deshalb weiter unter einer Gruppe Espen, deren hängengebliebenes Laub zitterte und bebte, als fröre es in dem kalten Nordwind; und dann gelangte sie an einen Übergang über den Zaun. Das Mondlicht fiel klar und scharf auf diese Stelle, so daß sie deutliche Spuren erkennen konnte. Hier hatten sie gesessen, Sie fand den Abdruck von Klaras Pelzrock mit dem verbrämten Rand,. Hier also war es! Hier! Ihre Knie zitterten. Bald fror sie, als sei ihr Blut zu Eis geworden, bald glühte sie, als wären ihre Adern mit kochendem Wasser gefüllt. Und dann setzte sie sich ermattet nieder, weinte und schrie, wurde aber plötzlich still, erhob sich wieder und stieg über den Zaun. Auf der andern Seite lag die Bucht so blank und schwarz, und gerade gegenüber sah sie die Lichter vom Hause her schimmern und ein einzelnes Licht aus dem Stall. Der Wind wehte scharf und fuhr ihr durch Mark und Bein, zauste in ihrem Haar und bildete Eis in ihren Nasenlöchern. Halb laufend gelangte sie auf das Eis hinab, glitt auf der schwankenden Fläche aus, hörte das knisternde Schilf um ihre Ohren sausen und unter ihren Füßen knirschen; dann fiel sie kopfüber in eine zugefrorene Wake, stand wieder auf und lief weiter, als wenn der Tod hinter ihr her wäre und ihr den Rücken versenge, und so erreichte sie das jenseitige Ufer und ging durch das Eis, das sich infolge des fallenden Wasserstandes wie Glasscheiben über den Schlamm gelegt hatte und krachend und klirrend unter ihrer Last zusammenbrach. Sie fühlte die Kälte an den Beinen in die Höhe steigen, aber sie wagte nicht zu schreien, aus Furcht, daß jemand kommen könne, um sie zu fragen, wo sie gewesen. Hustend, daß die Brust zu zerspringen drohte, schleppte sie sich weiter, schlich den Hügel hinan, ging über den Hof in die Stube und legte sich sofort nieder; Lotte hieß sie Feuer anmachen und Fliedertee aufsetzen und blieb so eine Zeitlang liegen. Erst dann ließ sie sich von dem Mädchen entkleiden und in Decken aus Schaffellen wickeln, fror aber trotz des hellen Feuers unaufhörlich. Endlich ließ sie Gustav zu sich rufen, der draußen in der Küche saß.

»Bist du krank, Mutter?« fragte er in seiner gewöhnlichen ruhigen Weise.

»Diesmal ist es Ernst,« antwortete die Alte stöhnend, »dies überlebe ich niemals. Schließe die Tür ab, Gustav, und öffne den Sekretär. Der Schlüssel liegt hinter dem Pulverhorn auf dem Wandbrett; du weißt es wohl?«

Gustav gehorchte niedergeschlagen.

»Offne jetzt die Klappe,« ziehe die dritte Schieblade zur linken Hand heraus und nimm den großen Brief – –. Ja, das ist er. – Wirf ihn ins Feuer.«

Gustav gehorchte, und bald flammte das Papier hell auf, sich krümmend und verkohlend.

»Ist die Tür geschlossen, mein Junge? Nun, dann schließe den Sekretär wieder ab und nimm den Schlüssel an dich! Setze dich hierher und höre, was ich dir sagen will, denn morgen kann ich nicht mehr sprechen.«

Gustav setzte sich und weinte leise, denn jetzt ward es ihm klar, daß es wirklich Ernst war.

»Wenn ich meine Augen geschlossen habe, so nimmst du das Petschaft deines Vaters, das du ja selber hast, und legst ein Siegel vor alle Schlüssellöcher, bis die Gerichts-Personen hier gewesen sind.«

»Und Carlsson?« fragte der Sohn zögernd.

»Er wird aufs Altenteil gesetzt, das kann ihm wohl niemand nehmen, aber er bekommt keinen Deut mehr, und wenn du ihn auskaufen kannst, so tue es! Gott sei mit dir, Gustav. Du hättest wohl zur Hochzeit kommen können, aber du wirst deine Gründe gehabt haben. Und siehst du, wenn ich nun von dannen gehe, so mußt du vernünftig sein. Keinen Sarg mit silberner Matte! Kaufe nur so einen gelben, wie man ihn in Stockholm beim Tischler fertig bekommt; und lade nicht viel Leute ein, aber Glockengeläute will ich gern haben; und wenn der Prediger ein paar Worte sagen will, so soll es mir recht sein. Du kannst ihm den Meerschaumkopf deines Vaters mit dem Silberbeschlag geben und der Frau Pastor ein halbes Schaf. Und nachher, Gustav, mußt du sehen, daß du dich verheiratest; nimm ein Mädchen, das dir gefällt, und sei ihr treu, aber nimm eine von deinem eigenen Stande, und wenn sie Geld hat, so ist das ja auch kein Schaden; denn vor denen, die unter dir stehen, sollst du dich in acht nehmen, die fressen dich nur auf wie Ungeziefer, und gleich und gleich gesellt sich gern. Wenn du mir nun ein wenig vorlesen wolltest, möchte ich wohl versuchen zu schlafen.«

Kurz nachdem die Tür wieder geöffnet war, schlich Carlsson herein, demütig, aber doch gefaßt.

»Bist du krank, Anna Eva?« fragte er, »dann wollen wir sogleich zum Doktor schicken.«

»Das ist nicht nötig,« antwortete die Alte und wendete sich der Wand zu.

Carlsson ahnte den Zusammenhang und wollte das Geschehene wieder gutmachen.

»Bist du mir böse, Anna Eva? Ach was, das ist kein Grund zum Erzürnen, so eine Kleinigkeit. Soll ich dir etwas aus der Bibel vorlesen?«

»Es ist nicht nötig.« Das war alles, was die Alte antwortete.

Carlsson, der einsah, daß hier nichts mehr zu tun war, und der seine Zeit nicht mit unnützer Arbeit vergeuden wollte, setzte sich auf die Bank, um die Sache abzuwarten. Da die Papiere in Ordnung waren und die Alte weder Kraft noch Lust zum Reden hatte, so verharrte auch er im Schweigen. Was das Verhältnis zwischen ihm und Gustav anbetraf, so konnte das ja immerhin später geordnet werden. Einen Arzt zu holen, fiel niemandem ein, hier auf Hemsö war es Sitte, eines natürlichen Todes zu sterben; auch war alle Verbindung mit dem Festland unterbrochen.

Zwei Tage und zwei Nächte bewachten die beiden Männer die Kammer und einander; wenn der eine auf einem Stuhl oder auf dem Sofa einschlief, schloß der andre ebenfalls ein Auge. Sobald sich aber der eine rührte, fuhr auch der andre in die Höhe.

Am Morgen des heiligen Abends war Madame Carlsson tot.

Gustav hatte ein Gefühl, als sei er erst jetzt vom Mutterleibe losgelöst und ein selbständiger Mann geworden. Nachdem er ihr die Augen geschlossen und das Gesangbuch unters Kinn gesteckt hatte, damit der Mund nicht offen bleibe, zündete er in Carlssons Gegenwart ein Licht an, holte Siegellack und Petschaft und versiegelte den Sekretär.

Jetzt erwachten die Leidenschaften, Carlsson ging hin und stellte sich mit dem Rücken vor den Sekretär.

»Halt, stopp! – Was machst du da, mein Junge!«

»Ich bin kein Junge mehr,« antwortete Gustav; »ich bin Bauer auf Hemsö, und du bist Altenteiler.«

»Oho, das wollen wir doch erst einmal sehen!« meinte Carlsson.

Gustav nahm die Büchse von der Wand herab, spannte den Hahn, so daß das Zündhütchen sichtbar wurde, schlug auf den Kolben, indem er brüllte:

»Hinaus mit dir, oder ich nehm dich aufs Korn!«

»Willst du mir drohen?«

»Ja, denn ich habe keine Zeugen,« antwortete Gustav, der anscheinend in letzter Zeit Umgang mit Gesetzeskundigen gehabt hatte.

Das war deutlicher Bescheid, und Carlsson verstand ihn auch.

»Warte du nur, bis es an die Erbteilung geht,« sagte er und ging in die Küche hinaus.

Der Weihnachtsabend verlief trübe. Eine Leiche im Hause und keine Möglichkeit, den Sarg oder das Totenhemd kommen zu lassen; denn der Schnee fiel unaufhörlich, so daß Fjord und Strom weder brechen noch tragen konnten. Das Boot in die See zu schieben, war unmöglich; denn das Wasser war eine vollständige Eisgrütze, man konnte weder rudern, noch fahren, noch daraufgehen.

Gustav tat, als ob Carlsson nicht existiere, und Carlsson machte es ebenso; sie saßen zusammen bei Tische, ohne ein Wort auszutauschen. Das Haus war in Unordnung; niemand ordnete die Arbeit an. Jeder verließ sich darauf, daß der andre es tue, und auf diese Weise blieb alles ungetan.

Der Weihnachtstag brach herein, grau, neblig und mit Schneegestöber. In die Kirche konnte man ebensowenig wie anderswohin, deshalb las Carlsson eine Predigt in der Küche vor. Niemand konnte das Gefühl überwinden, daß man eine Leiche im Hause habe, und deshalb wurde auch nichts aus der Weihnachtsfreude. Das Essen war äußerst nachlässig zubereitet, nichts war zur rechten Zeit fertig, und alle waren verstimmt. Es lag etwas Klangloses in der Luft, sowohl draußen wie drinnen, und da die Leiche in der Stube lag, hielten sich alle in der Küche auf. Man wußte nicht, was man tun sollte, um die Zeit totzuschlagen; wenn man nicht aß oder trank, so schlief man, der eine auf dem Sofa, der andere auf dem Bett, die Karten oder die Harmonika anzurühren, fiel niemandem ein.

Der zweite Weihnachtstag kam und verging ebenso langsam, ebenso langweilig; aber nun verlor Flod die Geduld. Da er einsah, daß fernerer Aufschub Anlaß zu Unannehmlichkeiten geben konnte, indem die Leiche schon anfing in Verwesung überzugehen, so nahm er Rundquist mit sich hinaus in das Holzschauer und zimmerte einen Sarg zusammen, der dann gelb angestrichen wurde. Die Leiche kleidete man mit dem ein, was man gerade finden konnte, und legte sie in den Sarg.

So kam der fünfte Tag heran. Weil aber das Wetter keine Aussicht zu irgendwelcher Veränderung bot und man wahrscheinlich noch vierzehn Tage hätte warten müssen, so wollte man die Leiche um jeden Preis nach der Kirche schaffen, damit sie in die Erde käme.

Zu diesem Zweck wurde das große Segelboot ins Wasser geschoben, die ganze männliche Bevölkerung rüstete sich zu der Eisfahrt mit Schlitten, Haken, Stangen, Äxten und Stricken aus, und in aller Frühe am nächsten Morgen begab man sich auf diese lebensgefährliche Fahrt. Hin und wieder hatte die starke Strömung offenes Wasser geschaffen, und dann ruderte man, bis man an einen zugefrorenen Fjord kam. Nun galt es, das Boot auf die Schlitten zu heben, und wenn das geschehen war, mußte man ziehen und schieben; am schlimmsten war es in dem grützigen Eise, wo die Ruder nur auf und nieder plätscherten, ohne daß sich das Boot mehr als wenige Zoll auf einmal fortbewegte. Zuweilen entschloß man sich, vor dem Boot herzugehen und eine Rinne mit Eishaken und Äxten zu hauen; aber wehe dem, der aus Versehen mit der Axt eine Stelle traf, wo sich der Strom durch die dünne Eisdecke gefressen hatte!

Es war Nachmittag geworden, ohne daß man sich Zeit zum Essen oder Trinken gelassen hatte, und noch hatte man den Weg über den letzten Fjord zurückzulegen. So weit das Auge reichte, breitete sich ein einziges großes Schneefeld aus, hier und da von kleinen, runden Erhöhungen unterbrochen, den zugeschneiten Werdern. Der Himmel war im Osten blauschwarz und drohte mit Schnee, die Krähen kamen kreischend von der See her und zogen dem Lande zu, um ein Nachtquartier zu suchen; es dröhnte zuweilen unter dem Eise, als wolle es Tauwetter werden, und draußen in der See hörte man die Seehunde brüllen. Der Fjord lag nach Osten zu offen da, aber man erblickte keine Waken. Es kam der Bootsmannschaft verdächtig vor, daß man die Eisente draußen am Rande des Meeres schreien hörte. Da man in den letzten vierzehn Tagen keine Nachricht vom Festlande gehabt hatte, so konnte man nicht wissen, ob die Leuchtfeuer erloschen waren – aber das wurde in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr als etwas ganz Selbstverständliches betrachtet.

»Dies kann aber unmöglich so weitergehen!« sagte Carlsson, der fast die ganze Zeit geschwiegen hatte.

»Es muß gehen!« erwiderte Gustav und stemmte die Schulter gegen den Schlitten; »aber wir müssen bei Maaskläppan an Land gehen und einen Bissen Brot zu uns nehmen.«

Und darauf schlug man die Richtung nach der mitten im Fjord gelegenen kleinen Insel ein. Die lag indessen weiter weg, als man geglaubt hatte, und veränderte ihr Aussehen, je mehr man sich ihr näherte. Aber schließlich hatte man sie doch bis auf Kabellänge erreicht.

»Eine Wake!« schrie Norman, der den Auslug hatte; »links halten!«

Die Schlitten machten eine Schwenkung nach links, immer mehr und mehr nach links, und schließlich war man um die ganze Insel herumgekommen. Infolge der letzten Sonnenwärme oder auch infolge von warmen Strömungen war die Insel von dem festen Eis abgeschnitten worden und zeigte sich völlig unzugänglich, wenigstens für die Schlitten. Die Dämmerung brach herein, guter Rat war teuer, und Gustav, der den Oberbefehl übernommen hatte, entwarf gleich einen Angriffsplan, der darauf hinausging, daß das Boot in die Wake geschoben werden sollte und daß im selben Augenblick alle Mann hineinspringen und die Ruder auslegen sollten. Und gesagt, getan! »Eins, zwei, drei!« kommandierte Gustav, das Boot schoß in einer fliegenden Fahrt vorwärts, schleppte die Schlitten mit sich und legte sich ganz auf die Seite, so daß der Sarg ins Wasser fiel.

Infolge des Schrecks vergaßen Gustav und Carlsson, ins Boot zu springen, wogegen Norman und Rundquist sich retteten und auf der gegenüberliegenden Kante des Eises anlangten. Der Sarg aber, der nur schlecht schloß, füllte sich mit Wasser und sank unter, ehe irgend jemand Zeit hatte, an etwas andres als an sich selbst zu denken.

»Jetzt müssen wir schnell nach dem Pfarrhofe; befahl Gustav, der heute mehr tatkräftig als überlegend war. Carlsson machte Einwendungen; aber auf Gustavs Frage, ob er lieber die ganze Nacht auf dem Eise stehenbleiben wolle, vermochte er nichts zu antworten, um so mehr, als er sah, daß keine Aussicht vorhanden war, den Werder zu erreichen.

Rundquist und Norman krochen inzwischen an Land, riefen und winkten den Kameraden zu, doch ihrem Beispiel zu folgen; Gustavs ganze Antwort aber bestand darin, daß er ihnen mit der Hand ein Lebewohl zuwinkte und nach Süden deutete, wo der Pfarrhof lag.

Carlsson und Gustav wanderten eine Zeitlang schweigend einher, Gustav mit dem Eishaken voran, um zu untersuchen, ob das Eis tragen könne. Carlsson folgte ihm mit aufgeschlagenem Rockkragen; er war sehr niedergedrückt über das plötzliche und jämmerliche Ende, das seine Frau genommen, und überzeugt, daß man ihm wohl die Schuld in die Schuhe schieben werde.

Nachdem sie eine halbe Stunde gegangen waren, stand Gustav still und schöpfte Atem. Dann blickte er umher, um sich darüber klar zu werden, wo sie sich befanden.

»Zum Teufel! wir haben uns verlaufen,« brummte er; »es ist nicht Maaskläppan, denn das liegt da,« und er zeigte nach Osten. »Und da haben wir die Gillögantanne.«

Und wirklich, landeinwärts auf einer langgestreckten Insel stand einsam und verlassen auf einer kahlen Anhöhe eine Tanne, die mit ihren beiden nackten Zweigen einem optischen Telegraphen glich und den Fischern als Wahrzeichen diente.

»Und da haben wir Trälskar!«

Er sprach mit sich selber und schüttelte den Kopf.

Carlsson wurde ängstlich, denn ihm waren die Schären völlig fremd, und er hatte kein unbegrenztes Vertrauen zu Gustavs Kenntnissen. Dieser schien jetzt seinen Plan gemacht zu haben, denn er veränderte den Kurs und schlug die Richtung nach Süden ein.

Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen, aber der Schnee leuchtete doch noch so viel, daß man den Weg erkennen konnte. Sie sprachen kein Wort, Carlsson aber hielt sich dicht hinter seinem Führer.

Plötzlich stand dieser still und lauschte. Carlssons ungeübtes Ohr hörte nichts, Gustav dagegen war es, als vernehme er ein schwaches Dröhnen von Osten her, wo sich eine Wolkenmauer auftürmte, die schwärzer und dichter war als der Nebelschleier, der den Horizont verhüllte.

Sie warteten einen Augenblick, dann konnte Carlsson deutlich ein leises Brausen erkennen und einen glucksenden Laut, der langsam näher kam.

»Was ist das?« fragte er Gustav und kroch dicht an ihn heran.

»Das ist die See,« antwortete dieser. »In einer halben Stunde haben wir den Ostwind und das Schneetreiben hier, und wenn dieser Wind tüchtig einsetzt, so bricht das Eis auf. Und dann mag der Teufel wissen, was aus uns werden soll. Wir müssen eilen, so schnell wir können.«

Er fing an zu laufen und Carlsson hinterdrein; der Schnee wirbelte ihnen um die Füße, und das Brausen kam näher und näher.

»Jetzt ist es aus mit uns!« rief Gustav, stand still und zeigte auf ein Licht, das hinter ihnen auf einem kleinen Werder schien. »Der Leuchtturm ist angezündet, da ist schon offenes Wasser!«

Carlsson begriff die Gefahr nicht, aber er sah ein, daß sich etwas Ungewöhnliches ereignet haben müsse, da Gustav sogar ängstlich geworden war.

Jetzt erreichte sie der Ostwind, so daß sie einen Steinwurf hinter sich die Schneewand gleich einem dunklen Schirm heranrücken sahen, und gleich darauf waren sie in ein Schneegestöber eingehüllt, das so dicht und schwarz wie die Nacht war. Es wurde völlig dunkel um sie her, und das Licht des Leuchtturms, das ihnen noch vor wenigen Minuten bleich und matt, wie ein Morgenstern, den Weg angedeutet hatte, erlosch schließlich.

Gustav lief in scharfem Trabe vorwärts, und Carlsson folgte ihm, so gut er konnte. Aber er war zu stark und konnte nicht Schritt halten; der Atem wurde immer kürzer, und er bat Gustav, seine Schritte ein wenig zu mäßigen; dieser jedoch hatte keine Lust, sich zu opfern, er lief, lief für sein Leben. Carlsson zog ihn an den Rockschößen, flehte und bat ihn, sich doch nicht von ihm zu entfernen; er versprach ihm goldene Berge, beschwor Himmel und Hölle, aber es half alles nichts.

»Ein jeder für sich und Gott für uns alle,« antwortete Gustav und bat Carlsson, einige Schritte hinter ihm zurückzubleiben, weil sonst das Eis brechen würde.

Das schien auch wirklich der Fall zu sein, denn hinter ihnen krachte es immer lauter; und das schlimmste war, daß das Brausen jetzt so nahe kam, daß man die Wellen gegen die Werder schlagen hörte und deutlich das Schreien der aufgeschreckten Möwen vernahm, die sich der unerwarteten Beute freuten.

Carlsson stöhnte und hustete, der Abstand zwischen ihm und Gustav wurde größer und größer, und schließlich befand er sich allein im Dunkeln. Er hielt plötzlich inne, suchte nach einer Spur, sah aber nichts; er rief und erhielt keine Antwort. Es war die Einsamkeit, das Dunkel, die Kälte und das Wasser, die im Gefolge des Todes kamen. Von namenloser Angst ergriffen, raffte er sich noch einmal auf und lief so schnell, daß er sehen konnte, wie die Schneeflocken hinter ihm zurückblieben, obwohl der Wind sie in derselben Richtung trieb, der er folgte, und dann rief er wieder.

»Halt Er sich in der Richtung des Windes, dann kommt Er westlich ans Land!« hörte er eine fliehende Stimme aus dem Dunkel heraus – und dann wurde alles wieder still.

Aber nun waren Carlssons Kräfte erschöpft; mutlos mäßigte er seine Schritte und ging ganz langsam, ohne sich aufraffen zu können, und dann hörte er, wie das Meer ihm auf den Fersen folgte, dröhnend, prustend, seufzend, als gehe es auf nächtlichen Raub aus.


Pastor Nordström war des Abends um acht Uhr zu Bette gegangen; er hatte noch lange in der Stiftszeitung gelesen und schlief infolgedessen sehr fest. Aber gegen elf Uhr fühlte er, wie seine Frau ihn mit dem Ellenbogen in die Seite stieß, und hörte wie halb im Traume, daß sie rief:

»Erik! Erik!«

»Was ist denn jetzt los? Kannst du denn nicht ruhig sein?« knurrte er noch halb im Schlaf.

»Ruhig! Glaubst du etwa nicht, daß ich ruhig bin?«

Um einer längeren Auseinandersetzung vorzubeugen, versicherte der Pastor schleunigst, daß er von der Ruhe seiner Gattin völlig überzeugt wäre, zündete dann Licht an und fragte, was denn eigentlich geschehen sei.

»Draußen im Garten ruft jemand! Hörst du es nicht?«

Der Pastor horchte und setzte die Brille auf, um besser hören zu können.

»Ja, wahrhaftig, da ruft jemand! Wer kann das nur sein?«

»So geh doch hinaus und sieh nach!« sagte die Frau Pastor und gab dem Manne abermals einen kleinen Rippenstoß.

Der Prediger zog seine Unterbeinkleider an, warf einen Pelz über und fuhr in die Galoschen; dann nahm er die Büchse von der Wand, schüttete Pulver auf die Pfanne, steckte ein Zündhütchen auf und ging hinaus.

»Heda! Wer ist da?« rief er.

»Gustav Flod!« antwortete eine dumpfe Stimme hinter der Fliederhecke.

»Was, zum Teufel, ist denn jetzt geschehen, daß du um diese Zeit hierher kommst! Liegt die Alte im Sterben?«

»Es ist viel schlimmer,« lautete Gustavs Stimme; »wir haben sie verloren.«

»Ihr habt sie verloren?«

»Ja, wir haben sie auf See verloren.«

»Aber um des Himmels willen, so komm doch herein und steh da nicht in der Kälte!«

Gustav, der den ganzen Tag weder etwas gegessen noch getrunken hatte und der sich bei dem Wettlauf mit dem Ostwinde übermenschlich hatte anstrengen müssen, sah, als der Schein des Lichtes sein Gesicht beleuchtete, wie ein ausgeblasenes Ei aus.

Nachdem der Pastor eine flüchtige Beschreibung der Begebenheiten erhalten, ging er zu seiner Frau hinein und kehrte nach einem Kampfe von wenigen Minuten mit dem Schlüssel zu einem gewissen Küchenschranke zurück. Bald saß der schiffbrüchige Gast an dem großen Küchentisch, und der Pastor bewirtete den Ausgehungerten mit Branntwein, Speck, saurem Schweinefleisch und Brot.

Dann beratschlagte man, was für die Schiffbrüchigen zu tun sei. Jetzt in der Nacht umherzugehen und Leute zu veranlassen, die Verlorenen zu suchen, würde vergebliche Mühe sein; ein Feuer anzuzünden war gefährlich, da es die Schiffer irreleiten konnte, wenn der Schein überhaupt den dichten Nebel durchdrang.

Mit den Knechten draußen auf dem Werder, meinte man, habe es keine Not, schlimmer dagegen sähe es für Carlsson aus. Gustav glaubte nämlich als sicher annehmen zu können, daß der Fjord aufgebrochen und daß es mit Carlsson zu Ende sei. »Es sähe beinahe so aus,« meinte er, »als wenn er über seine eigenen Taten gefallen wäre.«

»Hör einmal, Gustav,« wendete Pastor Nordström ein, »ich finde, ihr seid ungerecht gegen Carlsson gewesen, und ich weiß wirklich nicht, was du mit seinen ›eigenen Taten‹ meinst. Wie sahen Haus und Hof aus, als er zu euch kam! Hat er den Besitz nicht für dich in die Höhe gearbeitet? Und daß er sich mit der Witwe verheiratete – nun ja, sie wollte ihn ja absolut haben. Daß er sie aber bat, ein Testament zu machen, darin sehe ich nichts Böses, er konnte es ja wenigstens versuchen; freilich, daß sie es tat, war unüberlegt von ihr. Carlsson war ein flinker Bursche, und er tat alles das, was du tun wolltest, was du aber nicht konntest. Was? – Hast du vielleicht etwas dagegen, wenn ich für dich um die Hand der Witwe in Avassa mit ihren achttausend Reichstalern werbe? Nein, Gustav, du mußt auch nicht ungerecht sein. Glaube mir, es gibt auch noch andere Anschauungen als deine eigenen!«

»Ja, das kann sein! Aber jedenfalls hat er die Mutter ums Leben gebracht, und das vergesse ich niemals.«

»Unsinn! Das hast du längst vergessen, wenn du erst Hochzeit hältst; und es ist auch noch gar nicht ausgemacht, daß Carlsson die Schuld an ihrem Tode trägt. Hätte sich die Alte zum Beispiel etwas übergezogen, als sie an jenem Abend ausging, so würde sie sich nicht erkältet haben. Und so sehr wird sie sich die Sache wohl nicht zu Herzen genommen haben – konnte es sie doch im Grunde nicht wundernehmen, wenn er, der junge Kerl, ein wenig mit den Mädchen schäkerte. Die Sache scheint jetzt indessen zum Abschluß gekommen zu sein; morgen früh müssen wir sehen, was sich machen läßt. Da es Sonntag ist, kommen die Leute zur Kirche, also brauchen wir sie nicht holen zu lassen. Lege du dich jetzt nur schlafen und ärgere dich nicht weiter darüber. Bedenke nur, des einen Tod ist des andern Brot.«

Am folgenden Morgen, als die Gemeinde auf dem Kirchhofe versammelt war, kam Pastor Nordström mit Flod anmarschiert.

Statt in die Kirche zu gehen, blieb er mitten zwischen der Menge stehen, die offenbar schon von dem Vorgefallenen unterrichtet war. In einer kurzen Ansprache forderte er die Leute auf, sich mit ihren Booten unten an der Pfarrbrücke zu versammeln und gemeinsam zur Bergung der Schiffbrüchigen auszuziehen. Es entstand jedoch ein Gemurmel unter der Menge: Carlsson hatte sich nämlich infolge von Meinungsverschiedenheit in einigen Gemeindeangelegenheiten Feinde geschaffen; es schien, als wolle man das Gotteswort nicht entbehren.

»Unsinn,« wendete der Prediger ein, »ihr seid wohl nicht so versessen darauf, mich zu hören, wenn ich euch recht kenne. Was? Hab ich nicht recht, Avassan? Du bist doch sonst so schriftgelehrt, daß du es hören kannst, wenn ich mit meinem Latein zu Ende bin.«

Ein leises Lächeln glitt durch die Versammlung, und die Bedenken waren schon so gut wie besiegt.

»Wir haben übrigens in acht Tagen wieder Sonntag, dann kommt nur alle! Ich verspreche euch, daß ihr genug bekommen sollt, und eure Frauen könnt ihr mitbringen, denen will ich ins Gewissen reden, daß sie ein ganzes Vierteljahr daran genug haben. Seid ihr nun bereit, den Esel aus dem Brunnen zu ziehen?«

»Ja – a!« ertönte es aus der Menge.

Und dann trennte man sich, um nach Hause zu gehen und sich zur Seefahrt umzukleiden.

Das Schneetreiben hatte aufgehört, der Wind war nach Norden umgesprungen, und es war jetzt kaltes, klares Frostwetter. Der offene Fjord rollte blauschwarz gegen die weißen Werder, als die Boote nach einer Weile an der Pfarrbrücke landeten. Die Leute trugen Pelzjacken und Seehundmützen und waren mit Äxten und Boothaken bewaffnet. Von Segeln konnte keine Rede sein, deshalb hatte man sich mit Rudern versehen.

In dem ersten Boot saßen der Prediger und Gustav, vier der kräftigsten Burschen ruderten, und Bootsmann Rapp versah das Amt des Auslugers.

Man war ernst gestimmt, aber nicht sonderlich betrübt; mit einem Menschenleben mehr oder weniger pflegte die See es nicht so genau zu nehmen.

Die See ging hoch, und das Wasser, das in das Boot floß, fror sofort, mußte zerhauen und hinausgeworfen werden. Zuweilen kam eine Eisscholle geschwommen, streifte das Boot, tauchte unter und kam an dem andern Bug wieder zum Vorschein.

Der Pastor saß mit seinem Fernrohr da und spähte nach Trälskär hinüber, wo die beiden Hemsöer gefangen saßen; von Zeit zu Zeit warf er einen hoffnungslosen Blick auf den Fjord, wo Carlsson aller Wahrscheinlichkeit nach ertrunken lag; auch forschte er auf den treibenden Eisschollen nach der Spur eines Fußes, nach einem Kleidungsstück, nach der Leiche selber. Aber alles vergebens.

Nachdem sie einige Stunden gerudert hatten, erreichte man die Schären. Rundquist und Norman hatten schon in der Ferne die Rettungsflotille erblickt und ein Freudenfeuer am Strande angezündet. Und als die Boote landeten, verrieten sie mehr Neugierde als Rührung, denn in Lebensgefahr hatten sie keinen Moment geschwebt.

»Das ist überflüssig, solange man festen Boden unter den Füßen hat,« meinte Rundquist.

Da der Tag kurz war, machte man sich gleich daran, das Boot zu bergen, und begann dann, nach der Leiche zu fischen.

Rundquist wußte natürlich ganz genau anzugeben, wo sie lag, denn er hatte ein Irrlicht über dem Wasser gesehen. Aber die Arbeit förderte nichts ans Tageslicht als einige lange Stücke Tang, Muscheln und dergleichen mehr. Man fischte den ganzen Morgen bis zum Mittag – aber vergebens. Die Leute wurden endlich der Sache überdrüssig. Einige waren an Land gegangen, um ein Stück Brot und einen Schnaps zu sich zu nehmen und Kaffee zu kochen. Schließlich erklärte Gustav, daß seiner Ansicht nach nichts mehr in der Sache zu machen sei, da die Strömung die Leiche höchstwahrscheinlich ins offene Meer geführt habe.

Niemand verspürte sonderliche Lust, die Leiche ans Tageslicht zu fördern, und im Grunde genommen ging die Sache ja auch nur Gustav allein an; deshalb empfand man es als eine Art Erleichterung, daß man nicht gezwungen war, sich dem Leid andrer gegenüber gefühllos zu zeigen.

Um der traurigen Angelegenheit doch einen einigermaßen feierlichen Abschluß zu geben, ging Pastor Nordström zu Gustav Flod und fragte ihn, ob er etwas für die Alte tun solle. Seine Bibel hatte der Pastor bei sich, und einen Gesang wisse man wohl auswendig.

Gustav ging voll Dank auf den Vorschlag ein, der alsdann der Versammlung mitgeteilt wurde.

Die Sonne war im Begriff, ihre kurze Bahn zu beschließen, und von ihren letzten Strahlen beleuchtet, lagen die kleinen Inseln rosenrot da, als sich die Leute an dem Strande versammelten, um der den Umständen angemessenen Leichenfeier beizuwohnen. Der Prediger begab sich, von Gustav gefolgt, in ein Boot, stellte sich an den Achtersteven, holte seine Bibel hervor, klemmte das Taschentuch zwischen die Finger der linken Hand und entblößte das Haupt. Auch am Ufer nahmen alle Anwesenden ehrfurchtsvoll die Mützen ab.

»Laßt uns Nummer 452 singen: ›Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen‹,« sagte der Pastor. »Wißt ihr den Gesang auswendig?«

»Ja,« antwortete man einstimmig vom Strande her.

Und dann ertönte der Gesang, mit anfangs vor Kälte, dann vor Rührung zitternder Stimme über die ungewohnte Feier und die ergreifenden Töne des alten Kirchenliedes, das schon so vielen das letzte Geleit gegeben.

Die letzten Töne verhallten in der kalten Luft über dem Wasser, und es entstand eine Pause, während welcher man nur das Sausen des Nordwindes in den Tannenwipfeln, das Plätschern der Wogen gegen die Steine, das Geschrei der Möwen und das Scharren der Boote auf dem Grund vernahm.

Der Pastor wandte sein alterndes, gefurchtes Gesicht dem Fjorde zu, und die Sonne beschien sein entblößtes Haupt, mit dessen buschigen grauen Haarsträhnen der Wind spielte wie mit den Zapfen einer alten, verwitterten Tanne.

»Von Erde bist du und zu Erde sollst du werden, bis unser Herr und Heiland, Jesus Christus, dich am Jüngsten Tage erwecken wird. Lasset uns beten!« begann er mit seiner tiefen Stimme, die gegen Wind und Wetter kämpfte.

Und dann sprach er ein Vaterunser, und nach dem Segen streckte er seine Hand zum letzten Lebewohl über dem Wasser aus.

Alle bedeckten die Häupter wieder. Gustav drückte dem Pastor die Hand und dankte ihm, schien aber noch etwas auf dem Herzen zu haben.

»Ach, Herr Pastor, ich glaube doch, daß – – sollte nicht Carlsson auch noch ein Wort haben?«

»Das war für zwei, mein Junge. Aber es ist hübsch von dir, daß du an ihn denkst,« antwortete der Greis, der gerührter zu sein schien, als er merken lassen wollte.

Die Sonne ging unter, man mußte sich jetzt trennen, um nur so schnell wie möglich heimzukommen.

Aber eine letzte Aufmerksamkeit wollte man Flod doch erzeigen. Nachdem man Abschied voneinander genommen hätte und alle in die Boote gestiegen waren, gab man ihm eine Strecke das Geleite, bildete dann eine Linie mit den Booten, grüßte mit den Rudern und rief: »Lebewohl!«

Dies war eine Huldigung, die nicht allein dem Kummer galt, sondern auch dem jungen Mann, der nun in die Reihe der verantwortlichen Männer aufgenommen worden war.

Und in seinem eigenen Boote am Steuer sitzend, ließ der neue Besitzer von Hemsö sich von seinen Knechten heimrudern; er sollte fortan sein eigenes Fahrzeug über die stürmischen Wasser und über die unergründlichen Sunde des Lebens dahinsteuern.


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