August Strindberg
Die Leute auf Hemsö
August Strindberg

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Drittes Kapitel

Der Knecht spielt seinen Trumpf aus, wird Herr im Hause und lehrt die jungen Hähne sich beugen

Der Brachsen spielte, die Wacholderbüsche trieben junge Schösse, die Hecken blühten, und Carlsson säte Frühlingssaat, wo der Frost das Winterkorn beschädigt hatte; er schlachtete sechs Kühe und kaufte trockenes Heu für die andern, so daß sie wieder auf die Beine kamen und in den Wald hinausgelassen werden konnten; er räumte und ordnete und hatte eine gewisse Gabe, die Leute in Tritt zu bringen, gegen die jeder Widerstand erlahmte.

Auf einem kleinen Hof in Wermland von ziemlich unbestimmbaren Eltern geboren, zeigte er schon früh eine entschiedene Abneigung gegen jegliche körperliche Arbeit, dagegen eine unglaubliche Erfindungsgabe, wo es darauf ankam, dieser langweiligen Folge des Sündenfalls zu entgehen.

Außerdem beseelte ihn eine Lust, die verschiedenen Seiten des Lebens kennen zu lernen, weshalb er niemals lange an einem Orte blieb; sobald er seinen Zweck erreicht hatte, suchte er sich einen neuen Wirkungskreis, und auf diese Weise war er vom Schmiedehandwerk zum Ackerbau übergegangen, hatte sich als Stallknecht versucht, war eine Zeitlang Handelsmann und dann Gärtner, Eisenbahnarbeiter, Ziegelbrenner und schließlich Kolporteur gewesen. Unter allen diesen Wandlungen hatte er sich eine gewisse Elastizität angeeignet, ein Talent, sich in alle Verhältnisse und in alle Menschen zu finden, ihre Absichten zu verstehen, ihre Gedanken zu lesen und ihre geheimsten Wünsche zu erraten. Mit andern Worten: er verstand es, seine Umgebung zu beherrschen, und infolge seiner Vielseitigkeit eignete er sich besser zum Regieren und Leiten als zum Gehorchen – es war ihm eine Unmöglichkeit, das Rad unter dem Wagen zu sein, auf dem dieser fahren sollte.

Durch einen Zufall auf seinen neuen Platz geführt, begriff er sofort, daß er sich hier nützlich machen könne, daß er imstande sei, aus dem jetzt Wertlosen eine Erwerbsquelle zu schaffen; er wußte, daß er bald geschätzt und schließlich unentbehrlich sein würde. So hatte er denn ein bestimmtes Ziel für seine Arbeit gefunden, und als feste Hoffnung, als treibende Kraft stand ihm die Belohnung in Aussicht, die ihm in Form einer verbesserten Stellung winkte. Scheinbar und auch faktisch arbeitete er für die andern, aber gleichzeitig war er seines Glückes Schmied, und wenn er es nur so einrichtete, daß es aussah, als opfere er seine Zelt und seine Kräfte dem Vorteil der andern, so zeigte er dadurch, daß er klüger war als mancher, der dasselbe getan haben würde, der es aber nicht fertig brachte.

Das größte Hindernis, das sich ihm in den Weg stellte, war der Sohn. Mit dem ausgesprochenen Hang des Fischers und Jägers für alles Ungewisse, für jegliche Überraschung, verband sich bei ihm eine bestimmte Abneigung gegen alles Geordnete, Sichere. Wenn man säte, meinte er, so erhielt man doch nur höchstens die Hälfte des berechneten Ertrages, niemals mehr, oft jedoch weit weniger, als man erwartet habe. Ging man hingegen auf die Seevogeljagd, so konnte es kommen, daß man einen Seehund erlegte, und lag man einen halben Tag draußen zwischen den Klippen auf der Lauer nach Fischenten, so konnte es wohl der Eidergans einfallen, sich gerade vor den Flintenlauf zu legen; stets war da irgend etwas und oft etwas ganz andres, als was man erwartet hatte. Übrigens wurde die Jagd auch jetzt noch, nachdem das Privilegium der oberen Klassen auf diese aufgehoben war, als etwas weit Vornehmeres betrachtet, als hinter dem Pflug und dem Düngerwagen herzugehen; und diese Art von Klassifizierung der verschiedenen Arbeiten hatte so tiefe Wurzeln in der Bevölkerung geschlagen, daß es beispielsweise durchaus nicht leicht war, jeden Knecht zu bewegen, mit Ochsen zu fahren, weil diese zu fahren nicht für »fein« galt.

Ein zweiter Stein des Anstoßes war Rundquist. Im Grunde war er ein alter Schlaukopf, der es auf seine Weise versucht hatte, sich das irdische Paradies zu erobern. Von jeglicher schweren Arbeit entbunden und durch lange Mittagsschläfchen und starke Schnäpse verzogen, hatte er es verstanden, sich teils durch vorgespiegelte Kenntnis verborgener Dinge, teils durch seine Art und Weise, alles Ernste fortzuscherzen, im Notfall wohl auch durch vorgeschützte geistige Schwäche und körperliche Kränklichkeit eine höchst angenehme Stellung zu verschaffen. Außerdem verstand er, den Schafen zur Ader zu lassen, glaubte, daß er vermittels einer Wünschelrute imstande sei, Quellen zu entdecken und Barsche in das Netz zu locken; er kurierte allerhand leichte Krankheiten bei andern, behielt aber die seinen für sich, prophezeite beim Neumond gutes Wetter, nachdem es volle vier Wochen hindurch geregnet hatte, und opferte das kleine Geld andrer unter einem großen Stein am Strande, um damit das Kommen des Herings zu bezwecken. Aber er kannte auch eine Menge Bosheiten; so behauptete er zum Beispiel, daß er imstande sei, Unkraut auf den Acker des Nachbars zu zaubern, Hexenschuß herbeizuwünschen und dergleichen mehr, weshalb man ihn fürchtete und ihn sich gern zum Freunde hielt.

Die Verdienste, die er besaß und durch die er sich unentbehrlich gemacht hatte, bestanden in seiner Schmiede- und Tischlerkunst, und was ihn zu einem gefährlichen Gegner für Carlsson machte, war der Umstand, daß er stets das tat, was in die Augen fiel, während alles, was Carlsson im Kuhstall und im Felde ausrichtete, nicht weiter bemerkt wurde.

Und dann war Norman da, ein tüchtiger Arbeiter, der Gustavs mächtigem Einfluß entzogen und der regelmäßigen Arbeit auf dem Lande wieder zurückgewonnen werden mußte.

Carlsson hatte folglich ein gutes Stück Arbeit vor sich; auch mußte er eine nicht geringe Portion Staatskunst entfalten, um durchzudringen, – er war aber der Klügste, und deshalb trug er den Sieg davon.

Mit Gustav nahm er den Kampf gar nicht auf; der durfte seiner Wege gehen, nachdem Carlsson seinen Bundesgenossen mit Hilfe kleiner Begünstigungen an sich gelockt hatte. Und es war nicht schwer, denn Gustav war, offengestanden, ein wenig geizig, und Norman wurde auf den Jagdfahrten im allgemeinen nur als Ruderknecht benutzt und erhielt niemals die Erlaubnis, den ersten Schuß zu tun. Bekam er hin und wieder einmal einen Schnaps, so nahm Gustav in aller Stille deren drei, so daß die Vorteile, die Carlsson für ihn in Gestalt von erhöhtem Lohn, einem Paar Strümpfe, einem Hemd und andern Kleinigkeiten auszuwirken vermochte, im Verein mit Carlssons steigender Machtstellung Gustavs getreuen Verbündeten bald abtrünnig machten. Damit war der Jagdlust des Sohnes ein Hemmschuh angelegt, denn es war nicht amüsant, allein auf See zu gehen, und in Ermanglung von Gesellschaft schloß er sich den Arbeitenden an. Mit Rundquist ging die Sache nicht so leicht; der Fisch war alt und schlau, aber auch ihn gelang es ins Hütfaß zu sperren.

Statt Geld unter die Steine zu legen, ließ Carlsson die Netze ausbessern und mit neuen Tauen versehen, und siehe da, die Heringe blieben reichlicher hängen denn je zuvor; statt mit der Wünschelrute nach neuen Quellen zu suchen, ließ Carlsson den alten Brunnen ausmauern und reinigen, baute einen Trog darum und versah ihn mit einem Pumpenschwengel, und damit war die Wünschelrute überflüssig geworden. Statt die Kühe zu besprechen und Feuer über ihnen zu schlagen, pflegte er sie und versorgte sie mit trockener Streu. Schmiedete Rundquist Hufeisennägel, so fabrizierte Carlsson eiserne Klammern; konnte Rundquist eine Harke schnitzen, so verfertigte Carlsson sowohl Pflüge als Walzen.

Als sich aber Rundquist beiseite geschoben und aus seinem Maulwurfsdasein aufgeschreckt sah, suchte er nach mehr in die Augen fallenden Kunstgriffen. Er fing an, das Haus aufzuputzen, schaffte allen Unrat fort, der sich im Laufe des Winters in der Nähe desselben angesammelt hatte, nahm sich der Hühner und Katzen an und verfertigte eine neue Klinke für die Tür.

»Nein, welch ein Prachtkerl Rundquist ist, er hat sogar eine neue Klinke an die alte Tür gesetzt,« hörte Carlsson die Mägde in der Küche sagen; »ja, das läßt man sich gefallen!«

Aber Carlsson war wie ein Pfeil hinterdrein, und eines schönen Morgens war der Feuerherd geweißt, den nächsten waren alle Wassertonnen grün angestrichen, mit schwarzen Bändern und weißen Herzen, ein andres Mal lag das Brennholz unter einem Dach, das Carlsson auf dem Holzhof hinter dem Salzkeller zusammengeschlagen hatte. Carlsson hatte vom Feind gelernt, die Großmacht der Küche zu erobern, und vermittels des neuen Pumpenschwengels war er unwiderstehlich geworden.

Aber Rundquist war zähe und hinterlistig, und einmal in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag machte er sich daran, den Abort feuerrot anzustreichen. Carlsson jedoch, der ihn belauscht hatte, vermochte Norman gegen einen Pägel Branntwein zur Hilfeleistung zu bewegen, und in der Nacht vor dem Trinitatissonntag hörte die Alte ein seltsames Kratzen und Klatschen an den Wänden des Hauses; da sie aber zu müde war, um sich danach umzusehen, gewahrte sie erst am nächsten Morgen, daß das Haus über Nacht glutrot geworden war, mit weißen Fenstersprossen und weißem Beschlag. Und damit waren Rundquists Kräfte so erschöpft, daß er es aufgab, diesen für sein Alter zu anstrengenden Kampf fortzusetzen. Man lachte nun über seinen köstlichen Geschmack, seine Verschönerungsarbeiten bei dem Abort zu beginnen, und als richtiger Renegat machte Norman einen Witz, der später ein geflügeltes Wort wurde und der ungefähr folgendermaßen lautete: »›Man muß stets beim richtigen Ende anfangen‹, sagte Rundquist und strich den Abort zuerst an.« Der Alte gab jetzt die Schlacht verloren, aber nur zum Schein; er wartete ganz im stillen auf eine Gelegenheit, wo er einen neuen Versuch wagen oder einen vorteilhaften Frieden schließen konnte.

Gustav ließ alles seinen Gang gehen, er schaute zu und fand, daß es gut war, wie es eben war. ›Pflügt ihr nur‹, dachte er, ›ich werde seinerzeit schon ernten.‹

Bis dahin hatte Carlssons Wirksamkeit noch keine sonderliche Ausbeute geben können; denn das Geld, das für die verkauften Kühe eingenommen war, hatte allerdings einige Tage im Sekretär gelegen und beim Aufzählen einen sehr guten Eindruck gemacht, aber es war gar bald wieder herausgerollt und hatte eine empfindliche Leere hinterlassen.

Indessen nahte der Sommer heran. Carlsson hatte viel zu tun gehabt, und infolgedessen fehlte ihm die Zeit zum Spazierengehen. Nun ging er eines Sonntagnachmittags auf den Berg hinaus und sah um sich; dabei bemerkte er das Hauptgebäude, das mit seinen herabgelassenen Vorhängen so tot dalag. Neugierig, wie er war, ging er hinauf und faßte an die Tür; sie war offen. Er schlich durch den Vorbau und fand eine Küche; ging weiter und gelangte in ein großes Zimmer, das ganz herrschaftlich aussah; dort waren weiße Gardinen, ein Mahagonibett mit Messingbeschlag, ein Spiegel in vergoldetem Rahmen und facettiertem Glas – er wußte, daß das etwas Feines war –, ein Sofa, ein Sekretär, ein Ofen, genau wie auf einem Gut. Und auf der andern Seite lag ein ebenso großes Zimmer mit einem Kochherd, Eßtisch, Bettstätten und einer Wanduhr. – Erstaunen und Respekt überkam ihn, Gefühle, die allmählich in Mitleid und Verachtung für den geringen Geschäftssinn der Besitzer übergingen. Völlig starr war er aber, als er entdeckte, daß das Haus außerdem noch zwei Kammern mit mehreren behaglich eingerichteten Betten enthielt.

»Du großer Gott,« sagte er halblaut zu sich selber, »so viele Betten und keine Badegäste!«

Ganz berauscht von dem Gedanken an die mögliche Einnahme, begab er sich zu der Alten und hielt ihr die unverantwortliche Nachlässigkeit vor, deren sie sich schuldig mache, wenn sie das geräumige Haus nicht an Sommergäste vermiete.

»Aber bester Carlsson, wir bekommen doch keine, wer will hier wohl wohnen!« stöhnte sie.

»Woher wißt Ihr das, Mutter? Habt Ihr es etwa schon versucht, das Haus zu vermieten? Habt Ihr es jemals in die Zeitung gerückt?«

»Das wäre nur Geld ins Wasser geworfen,« meinte die Alte.

»Man wirft auch die Netze ins Wasser, aber das muß man tun, denn wer nicht wagt, der gewinnt nicht.«

»Man kann es ja immer einmal versuchen, aber Badegäste bekommen wir doch nicht,« schloß die Alte, die nicht mehr an die Erfüllung von Wünschen glaubte.

Acht Tage später kam ein feiner Herr die Wiese herabgegangen und sah sich nach allen Seiten um. Er näherte sich und wurde bei seiner Ankunft auf dem Hofe nur von dem Hund begrüßt; denn die Leute hatten sich, nachdem sie draußen gestanden und den Fremden angeglotzt hatten, ihrer Gewohnheit gemäß verschämt in die Stube und Küche zurückgezogen. Erst als er die Tür erreichte, trat Carlsson als der Mutigste heraus.

Der Fremde hatte eine Anzeige in der Zeitung gelesen.

»Ja, das war hier!« Und dann wurde er zu dem Hauptgebäude geführt. Er war sehr befriedigt, und Carlsson versprach alle möglichen Verbesserungen, alles, was der Herr verlangte, wenn er sich nur sofort entschließen wolle, es seien mehrere Liebhaber da, die Jahreszeit wäre schon sehr vorgeschritten. Der Fremde, dem es scheinbar die schöne Lage des Ortes angetan hatte, beeilte sich zuzuschlagen, und nach gegenseitigen sehr eingehenden Fragen nach Familienverhältnissen und dergleichen mehr nahm er Abschied.

Carlsson begleitete ihn bis an die Pforte und stürzte dann ins Haus, wo er siebzig Kronen in Reichsbankscheinen und einen Fünfkronenschein der Privatbank vor seiner Herrin und deren Sohn auf den Tisch legte.

»Ach, das ist ja entsetzlich, so viel Geld von den Leuten zu nehmen!« seufzte die Alte. Gustav dagegen fand, daß es ein guter Handel sei; und zum ersten Male drückte er Carlsson seine Anerkennung aus, als dieser erzählte, wie er den Herrn mit der Lüge von den vielen Liebhabern gepreßt habe.

Geld auf dem Tisch! Das war ein Triumph für Carlsson, und er sprach auch einen Ton lauter nach dem Siege, bei dem seine Erfahrungen im Handel ihm zugute gekommen waren. Aber es war nicht allein das bare Geld für die Miete, das auf sie herabgeregnet war: da waren noch allerhand andre Vorteile in Aussicht, die Carlsson in flüchtigen Zügen vor den lauschenden Zuhörern entwickelte.

Es würden Fische, Milch, Eier und Butter verkauft werden, und auch für das Brennmaterial müßten die Fremden bezahlen, gar nicht zu reden von dem Botenlohn nach Dalarö, den man gut mit einer Krone jedesmal berechnen könne. Und dann könnte man ein Kalb verkaufen, ein Schaf, ein Huhn, das nicht mehr legen wollte, und Kartoffeln und Gemüse. Ach ja, da würde noch mancherlei abfallen, und dann war es ein so feiner, gentiler Herr!

Mittsommerabend langten die erwarteten Goldfische an. Es waren der Herr, seine Frau, eine sechzehnjährige Tochter, ein sechsjähriger Sohn und zwei Dienstmädchen. Der Herr war Violinist an der Hofkapelle, lebte in guten Verhältnissen und war ein friedliebender Mann, Anfang der Vierziger. Er war von Geburt ein Deutscher, und es wurde ihm ein wenig schwer, die Inselbewohner zu verstehen. Seine Frau war eine ordentliche Dame, die sich um ihr Hauswesen und ihre Kinder kümmerte und sich durch ein würdevolles Auftreten bei den Mädchen in Respekt zu setzen wußte, ohne daß sie nötig hatte, wie ein Gewitter zu toben oder sich des Bestechungssystems zu bedienen.

Als der am wenigsten Schüchterne und der, welchem das Wort am besten zu Gebote stand, übernahm Carlsson gleich die Fremden, wozu er auch ein Vorrecht zu haben vermeinte, da er sie auf die Insel gelockt hatte; außerdem besaß keiner der andern die nötige Dreistigkeit oder die geselligen Talente, um ihm den Rang streitig zu machen.

Die Ankunft der Städter auf der Insel verfehlte nicht, einen gewissen Einfluß auf die Sitten und Gedanken der Eingeborenen auszuüben. Täglich sonntäglich gekleidete Menschen zu sehen, für die jeder Tag ein Sonntag war, die ohne Ziel spazieren gingen und ruderten, die fischten, ohne sich etwas aus den Fischen zu machen, die badeten, musizierten und sich die Zeit vertrieben, als gäbe es keine Sorgen und keine Arbeit auf dieser Welt, – das alles erweckte anfangs keinen Neid, sondern nur Erstaunen, daß das Leben sich so gestalten konnte, sowie Bewunderung für diese Menschen, die imstande waren, sich ihr Leben so angenehm einzurichten, so ruhig, so reinlich und fein, ohne daß man sagen konnte, daß sie ein Unrecht begingen oder die Armen aussogen. Unbemerkt und allmählich aber fingen die Bewohner von Hemsö an, sich sehnsüchtigen Träumen hinzugeben und verstohlene Blicke nach dem Hauptgebäude zu werfen; sahen sie ein helles Sommerkleid draußen auf der Wiese schimmern, so standen sie still und genossen den Anblick, als sei er etwas Schönes; erblickten sie einen weißen Schleier auf einem italienischen Strohhut, ein rotseidenes Band um eine schlanke Taille in einem Boot auf der Bucht zwischen den Tannen des Waldes, so wurden sie schweigsam und feierlich gestimmt; sie sehnten sich nach etwas, ohne zu wissen, was es war, nach einem unbestimmten Etwas, das sie nicht zu hoffen wagten, das sie aber doch unwiderstehlich zu sich hinzog.

Die Unterhaltungen wie das ganze Leben in der Küche und in dem alten Hause nahmen eine weniger lärmende Form an; Carlsson trug stets ein reines, weißes Hemd und ging jeden Tag mit einer blauen Tuchmütze; auch nahm er allmählich die Gestalt eines Verwalters an, hatte eine Bleifeder hinterm Ohr oder auch in der Brusttasche und rauchte zuweilen eine billige Zigarre.

Gustav dagegen zog sich zurück, hielt sich so entfernt wie möglich, um es zu vermeiden, daß man ihn zum Gegenstand eines Vergleichs machte. Er sprach bitter über Städter im allgemeinen, hatte es häufiger als bis dahin nötig, sich und die andern an das auf der Bank befindliche Geld zu erinnern, und machte lange Umwege, um das Haupthaus und die hellen Kleider zu vermeiden.

Rundquist ging finsteren Blicks einher, hielt sich größtenteils in der Schmiede auf und erklärte, daß sich seinetwegen die ganze Welt zum Teufel scheren könnte. Norman aber setzte seine Soldatenmütze auf, spannte den Leibriemen über die Jacke und machte kleine Besuche beim Brunnen, wohin die herrschaftlichen Mädchen des Morgens und des Abends zu kommen pflegten.

Am schlimmsten war es für Klara und Lotte, die bald sahen, wie das ganze männliche Geschlecht feig abfiel und den städtischen Dienstmädchen nachlief, die sich auf Briefen Mamsell titulieren ließen und, wenn sie nach Dalarö fuhren, einen Hut trugen. Klara und Lotte mußten barfuß gehen, denn auf dem Wirtschaftshofe war es zu naß, die Schuhe würden dort bald ruiniert sein, und auf der Wiese wie in der Küche war es zu warm, um in Schuhen zu gehen. Sie trugen dunkle Kleider und konnten wegen des Rauches, des Schweißes und Staubes, dem sie ausgesetzt waren, nichts Weißes am Halse tragen. Klara hatte einmal einen Versuch mit Manschetten gemacht, was ihr jedoch übel bekam; es wurde sofort entdeckt, und man machte sich noch lange lustig darüber, daß sie die Konkurrenz mit den Fremden hatte aufnehmen wollen. Am Sonntag aber entschädigten sie sich und legten eine Feierlichkeit an den Tag, wie man sie seit Jahr und Tag nicht gesehen, und das alles einzig und allein des Sonntagsstaats wegen.

Carlsson hatte stets irgendein Geschäft beim Professor und stand auch regelmäßig vor dem Ausbau still, wenn jemand dort saß, fragte nach dem Befinden, prophezeite gutes Wetter, schlug Ausflüge vor, gab Ratschläge und Aufklärungen, die Fischerei betreffend, und erhielt hin und wieder ein Glas Bier oder einen Kognak, so daß die andern ihn schließlich beschuldigten, er wolle sich einschmeicheln.

Am Samstag, wenn die städtische Köchin nach Dalarö hinüber mußte, um Einkäufe zu machen, entstand gewöhnlich ein Streit, wer mit ihr hinübersegeln sollte; Carlsson entschied die Sache sehr einfach zu seinem eignen Vorteil, denn das kleine schwarzäugige, hellgekleidete Mädchen hatte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, und wenn die Alte Einspruch erhob, daß Carlsson, der wichtigste und erste Mann auf dem Hofe, zu den Botengängen benutzt werde, so erwiderte er, daß der Professor sich persönlich an ihn gewendet habe, weil wichtige Briefe zur Post zu befördern seien. Gustav, der eigentlich gegen seinen Willen einen großen Eifer für diese Botengänge an den Tag legte, meinte, daß er die Briefe ebensogut besorgen könne; dann aber antwortete Carlsson auf das bestimmteste, daß davon keine Rede sein dürfe, er würde es dem Herrn nie erlauben, sich so zu erniedrigen, denn dann hätten die Leute allen Grund zu übler Nachrede. Und dabei blieb es.

Diese Fahrten nach Dalarö waren nicht ohne Vorteile, und das wußte der schlaue Bursche wohl. Erstens konnte man mit einem schönen Mädchen während der Seefahrt ungestört zusammen sitzen und so viel dummes Zeug reden, wie man wollte; dann folgte hinterdrein noch eine Bewirtung und ein reichliches Trinkgeld, und in Dalarö machte er sich bei dieser Gelegenheit alle Kaufleute zu Freunden. Dafür, daß er ihnen einen neuen Kunden verschaffte, erhielt er von dem einen ein Trinkgeld, von dem andern einen Schnaps und von einem dritten eine Zigarre; und dann gab es ihm ein gewisses Ansehen bei diesen Leuten, wenn er mit einer Bestellung von dem Professor kam und an gewöhnlichen Alltagen fein gekleidet und in Begleitung einer Stockholmer Mamsell auftrat.

Diese Fahrten nach Dalarö fanden jedoch nur einmal wöchentlich statt und übten keinen weiteren Einfluß auf den regelmäßigen Gang der Arbeit aus; denn Carlsson war schlau genug, den Knechten an den Tagen, wo er abwesend war, Akkordarbeit zu geben: sie mußten soundso viele Klafter graben, soundso viele Furchen pflügen oder soundso viele Bäume fällen; nach dieser Arbeit waren sie dann frei – eine Einrichtung, auf die sie gern eingingen, weil sie dadurch immerhin früher Feierabend machen konnten.

Wenn die Arbeit geprüft und nachgesehen wurde, kam die Bleifeder und das jüngst eingeführte Notizbuch zu Ehren, und Carlsson gewöhnte sich daran, als Verwalter aufzutreten und die Arbeit allmählich auf die Schultern andrer zu schieben. Gleichzeitig richtete er auch sein Schlafzimmer zu seiner privaten Junggesellenstube ein. Das Tabakrauchen war bereits längst eingeführt, und auf dem Tisch am Fenster prangten ein grünes Tintenfaß, ein Federhalter, eine Bleifeder, einige Bogen Schreibpapier, sowie zwei Leuchter und ein Ständer für Schwefelhölzer, so daß er aussah wie ein Schreibtisch. Das Fenster ging nach dem Hauptgebäude hinaus, und hier saß er in seinen Mußestunden, beobachtete die Bewegungen der Herrschaft und zeigte gleichzeitig seine Gewandtheit in der Schreibkunst. Am Abend öffnete er das Fenster, stützte die Ellbogen auf das Fensterbrett und saß da oben, aus seiner Pfeife dampfend oder einen aus der Tasche hervorgesuchten Zigarrenstummel rauchend; zuweilen las er auch ein Wochenblatt, was ihm von unten das Aussehen eines ›Proprietärs‹, des Besitzers des ganzen Hofes, gab.

Wenn es dunkel ward und er Licht angezündet hatte, legte er sich aufs Bett und rauchte. Das war die Zeit des Träumens und Pläneschmiedens. Er baute Luftschlösser auf noch nicht eingetroffene Umstände, die sich möglicherweise, wenn das Glück ihm hold war, einstellen konnten.

Während er an einem solchen Abend auf dem Rücken lag und blaue Wolken in die Luft blies, um die Mücken zu vertreiben, und während seine Augen auf das weiße Laken gerichtet waren, das die Kleider bedeckte, glitt dieses plötzlich herab. Gleich dem Schatten eines Regiments Soldaten sah er die Garderobe des Verstorbenen an der gegenüberliegenden Wand aufmarschieren, sich nach dem Fenster zu und wieder zur Tür zurückbewegen, je nachdem der Luftzug die Flamme des Lichts hin und her wehte; es kam ihm vor, als erblicke er den Toten in allen den Schatten, die die Kleidungsstücke auf die gewürfelte Tapete warfen. Hier kam der alte Flod in seinem blauen Friesrock und der grauen Hose, wie er am Steuer in der Schmacke gesessen, wenn er mit Fischen zur Stadt segelte und dann im Wirtshause »Zur Messingstange« saß und Toddy mit den Fischhändlern trank. Hier erschien er im schwarzen Tuchrock mit langen, flatternden Beinkleidern, wie er an Abendmahlstagen zur Kirche zu gehn pflegte, wie er zu Hochzeiten, Kindtaufen und Begräbnissen gekleidet war; hier hing die schwarze Schaffelljacke, in der er im Frühling und im Herbst am Strande arbeitete; hier machte der große Seehundpelz sich breit; er zeigte noch die Spuren des Weihnachtsschmauses, wo das letzte Glas abgebrannten Punsches im Pelz getrunken worden war; und der aus grüner, gelber und roter Wolle gestrickte Reiseschal wand sich wie eine große Seeschlange auf dem Boden und steckte den Kopf in einen Stiefelschaft.

Carlsson wurde es ganz warm ums Herz, als er sich vorstellte, wie er selber in dem prächtigen, seidenweichen Pelz mit einer dazu passenden Mütze im Schlitten übers Eis dahinsauste und wie die Nachbarn die Weihnachtsgäste mit Strandfeuern und Büchsenschüssen empfingen. Er malte es sich aus, wie er in die warme Stube trat, die Überkleider abwarf und jetzt in dem schwarzen Tuchrock dastand, von dem Prediger mit »du« angeredet wurde und den Platz am oberen Ende des Tisches einnahm, während die Knechte an der Tür standen oder sich an die Fensterbank lehnten.

Der Gedanke an die ersehnten Herrlichkeiten wurde so lebhaft, daß Carlsson vom Bett aufsprang und, ehe er sich darüber klar ward, den Seehundpelz umschlug und jetzt mitten im Zimmer stand, die Ärmelaufschläge mit der Hand glatt streichend. Es fuhr ihm wie ein elektrischer Strom durch den ganzen Körper, als er die kitzelnde Berührung des Kragens auf seinen Wangen empfand. Dann zog er den schwarzen Gesellschaftsrock an, knöpfte ihn zu und stellte seinen Rasierspiegel auf den Stuhl, um sehen zu können, wie der Rock im Rücken saß; er steckte die Hand in den Brustlatz und ging im Zimmer auf und nieder. Dem seidenweichen Tuch entstieg ein Gefühl des Reichtums; es hatte etwas Wohlhabendes, Befriedigendes an sich, als er bedächtig die Rockschöße aufnahm, ehe er sich auf die Bettkante setzte, – er hatte die Empfindung, als wäre er auf Besuch.

Während er so in seine berauschenden Träume versunken dasaß, hörte er lebhafte Stimmen von untenher an sein Ohr dringen, und als er lauschte, erkannte er, daß es Idas und Normans Stimmen waren, die sich ineinander verschlangen, sich vereinigten, gleichsam nebeneinander herschritten und sich küßten. Das durchzuckte ihn plötzlich; in einem Nu hatte er den Rock und den Pelz wieder an den Nagel unter das Laken gehängt und ging jetzt, die brennende Zigarre im Munde, die Treppe hinab.

Bis dahin hatte es Carlsson, beschäftigt wie er war und von ernsten Gedanken in Anspruch genommen, stets ängstlich vermieden, sich mit den Mägden näher einzulassen; denn er wußte wohl, wie zeitraubend das war, auch war er sich klar darüber, daß er im selben Augenblick, wo er das Feuer nach dieser Seite hin eröffnete, vor einer Niederlage nicht sicher sei; und war er erst auf diesem Felde geschlagen, so war es aus mit seiner Macht und mit seinem Ansehen.

Jetzt dagegen, wo diese anerkannte Schönheit sich herabgelassen hatte, das Ziel eines Wettstreites zu sein, wo der Sieger so viel zu gewinnen hatte, sah er sich aufgefordert, die Sporen zu benützen, den Kamm zu zeigen; und fest entschlossen, der einzige Hahn im Korbe zu sein, begab er sich auf den Holzhof, wo das Spiel bereits im vollen Gange war. Ärgerlich war es im Grunde doch, daß er sich gerade mit Norman messen sollte; wäre es noch Gustav gewesen, aber dieser jämmerliche kleine Kerl von Norman! Nun, er sollte seinen Lohn schon bekommen!

»Guten Abend, Ida,« begann er, indem er tat, als sähe er seinen Gegner nicht, der ungern seinen Platz am Gitter verließ, den Carlsson sogleich einnahm.

Und dann begann er das Spiel, seine ganze überlegene Beredsamkeit benutzend, während Ida Kien und Brennholz in den Korb sammelte, so daß Norman keine Gelegenheit hatte, ein Wort zu sagen. Ida aber war launenhaft wie die Witterung beim Mondwechsel und warf Norman leise Bemerkungen hin, die Carlsson jedoch auffing und verdoppelt zurückgab. Die Schöne, die Gefallen an dem Kampfe fand, bat indessen Norman, ihr ein wenig Brennholz zu spalten.

Ehe der Glückliche jedoch Zeit gewann, sich der Tür zu nähern, war Carlsson bereits über das spitze Gitterwerk gekrochen, hatte sein Taschenmesser herausgezogen und ein Stück trockenes Tannenholz ausgesucht, das er zerspaltete und nach Verlauf weniger Minuten in Gestalt dünner Splitter wieder in den Korb legte. Er nahm das Ganze auf den kleinen Finger und trug es in die Küche, wohin ihm Ida folgte. Hier blieb er am Türpfosten stehen, so daß niemand aus noch ein konnte. Und Norman, der in der Küche nichts zu schaffen hatte, ging mehrmals auf dem Holzhofe auf und ab, grübelte über den leicht errungenen Sieg der Frechen hier im Leben nach, bis er es am passendsten fand, zu verschwinden und seiner Klage, auf dem Wassertroge am Brunnen sitzend, in einem »Schottischen« Luft zu machen, den er seiner Handharmonika entlockte.

Die weichen Töne, die den Bleizungen der Klaviatur entströmten, drangen durch die dicke Abendluft an dem Türpfosten vorbei und erreichten den Thron der Barmherzigkeit am Feuerherd; denn jetzt fiel es Ida plötzlich ein, daß sie Trinkwasser für den Professor vom Brunnen holen müsse, und Carlsson begleitete sie, diesmal jedoch etwas unsicher, denn nun erstreckte sich der Kampf auf ein fremdes Gebiet. Um die Wirkungen der verhexenden Locktöne zu vernichten, ergriff er Idas Kupfereimer und flüsterte ihr so wohllautende, schmachtende Zärtlichkeiten zu, als wolle er die verführerische Musik in Worte übertragen und das Solo zu einem untergeordneten Akkompagnement machen; aber als sie eben beim Brunnen angelangt waren, vernahmen sie die Rufe der Frau vom Hause her. Sie rief nach Carlsson, und an dem Tone konnte man merken, daß es eilte. Zuerst wurde er ärgerlich und nahm sich vor, überhaupt nicht zu antworten; aber dann fuhr der Teufel in Norman, der mit gellender Stimme zu schreien begann: »Hier, Mutter! Er kommt gleich!«

Mit tausend frommen Wünschen, daß sich der falsche Spielmann zur Hölle scheren möge, mußte sich der Sieger aus den Armen der Liebe losreißen und die halberrungene Beute dem Schwächeren überlassen, der sein Liebesglück nur einem Zufall zu verdanken hatte.

Die Frau rief noch einmal, und in gereiztem Tone antwortete Carlsson, er komme, so schnell er nur könne.

»Will Carlsson nicht hereinkommen und einen Schluck nehmen?« fragte die Frau, die auf dem Vorbau stand und die Augen mit der Hand beschattete, um zu sehen, ob er allein käme.

Carlsson war im allgemeinen gar nicht abgeneigt, einen Schluck zu nehmen, doch in diesem Augenblicke wünschte er allen Kaffee und Branntwein zum Teufel; aber er konnte doch nicht nein sagen, und unter dem Akkompagnement von Normans »Norrkjöpinger Scharfschützenmarsch«, der siegessicher und höhnend aus der Nähe des Brunnens ertönte, mußte er hinein ins Zimmer. Die Alte war liebenswürdiger als sonst, und Carlsson fand sie häßlicher und älter als gewöhnlich; je entgegenkommender sie sich zeigte, desto verdrossener wurde Carlsson, was sie schließlich zu einem Stadium von Zärtlichkeit brachte.

»Ja, Carlsson,« sagte die Alte endlich, indem sie ihm die Tasse wieder vollschenkte, »es wird jetzt Zeit, daß wir zu der Heuernte in der nächsten Woche einladen, und deshalb wollte ich gern ein Wort mit Ihm reden.«

Hier schwieg die Harmonika mitten in den schmelzendsten Akkorden; Carlsson lauschte mit gespanntester Aufmerksamkeit und brachte zögernd, ohne sonderlichen Zusammenhang einige Worte hervor.

»Ja – ach – freilich ja – die Heuernte in der nächsten Woche – –«

»Und deshalb wünschte ich,« fuhr die Frau fort, »daß Carlsson sich mit Klara aufmachen und zu dem Fest einladen sollte; denn ich möchte doch gerne, daß Carlsson auch einmal unter die Leute kommt und sich ein wenig zeigt, denn das kann niemals schaden.«

»Ja, am Sonnabend kann ich aber nicht,« sagte Carlsson unfreundlich; »denn dann muß ich für den Professor nach Dalarö.«

»Nun, das eine Mal könnte Norman das wohl auch besorgen,« meinte Frau Flod und wendete ihm den Rücken zu, um die Miene nicht zu sehen, die er annehmen würde.

Im selben Augenblick erklangen von draußen her einige weiche, von Pausen unterbrochene Takte, die sich zu entfernen schienen und in der Sommernacht erstarben.

Der kalte Schweiß perlte auf Carlssons Stirne; er goß den Kaffeepunsch hinunter und hatte ein Gefühl, als läge ihm ein Stein auf der Brust, als lagerte sich ein dichter Nebel vor seine Augen – eine völlige Erschlaffung der Nerven.

»Das kann Norman nicht,« stieß er heraus; »Norman kann nicht alle Besorgungen für den Professor ausrichten, und – und – er ist nicht betraut.« »Ja, aber ich habe mich bei dem Professor erkundigt,« unterbrach ihn die Frau, »und er sagte mir, daß er am Sonnabend nichts zu besorgen habe.«

Carlsson kam sich wie verheert vor. Die Alte hatte ihn gleichsam in einer Mausefalle gefangen, jetzt gab es keine Rettung mehr für ihn. Und seine Gedanken waren so geteilt, daß es ihm schwer ward, seinen Vorteil zu verfechten. Dies bemerkte die Alte wohl und begann deshalb das Eisen zu schmieden, solange es noch warm war.

»Hör Er nun einmal, Carlsson,« sagte sie, »Er muß es sich nicht nahegehen lassen, was ich jetzt sage, denn ich meine es gut mit ihm.«

»Zum Teufel auch, Ihr könnt sagen, was Ihr wollt, denn jetzt ist es mir völlig gleichgültig,« brauste Carlsson auf, während er die Töne der Harmonika in immer weiterer Entfernung auf der Wiese verklingen hörte.

»Ja, denn – ich wollte nur sagen, daß Carlsson sich zu gut dafür halten sollte, den Mädchen nachzulaufen, denn dabei kommt doch schließlich nichts heraus. Ja, ja, ich weiß es und kenne die Geschichte, und, Carlsson, ich sage es in der besten Absicht. Solche Dirnen aus der Stadt müssen immer einen ganzen Schwarm Mannsvolk um sich haben, denn das soll nach was aussehen, und dann wird hier geliebäugelt und da schöngetan; und wenn sie mit dem einen in den Wald gehen, so gehen sie sicher nachher mit dem andern auf die Wiese, und wenn dann was passiert, so lassen sie den die Last tragen, auf dessen Schulter sie sie am leichtesten wälzen können. So geht es nun mal.«

»Ich schere mich den Teufel darum, was die Knechte tun!«

»Na ja, nehme Er es nur nicht so übel auf,« tröstete die Alte. »Ein Mann wie Carlsson soll daran denken, sich zu verheiraten – dann kann man sich auf solche Scherereien mit losen Frauenzimmern und ihren Angelegenheiten nicht einlassen; hier in der Gegend sind viele reiche Mädchen, und wenn Er vernünftig ist und seinen Vorteil zu wahren weiß, kann Er, ehe Er sichs versieht, sein eigener Herr werden; und deshalb darf Carlsson nicht eigensinnig sein, Er muß auf meinen Rat hören und herumgehen und zur Heuernte einladen. Bedenk Er, daß ich nicht einen jeden darum bitten würde, und ich werde auch schon Verdruß genug mit meinem Sohn deswegen bekommen; aber das ist mir einerlei, und den, für den ich mich interessiere, den stütz ich auch, darauf kann Er sich verlassen.«

Carlsson fing nun an, sich zu beruhigen; er sah den Vorteil ein, der für ihn daraus erwachsen würde, wenn er als Repräsentant des Hofes auftrat; aber er war doch noch zu erregt, um seine Flamme einer ungewissen Aussicht wegen aufzugeben, und er empfand das Bedürfnis, sich erst eines Handgeldes zu versichern, ehe er auf das Geschäft einging. Dann steckte er den Köder an den Angelhaken und warf diesen aus:

»Ich kann mich aber nicht so, wie ich jetzt aussehe, auf den Weg machen, ohne ordentliche Ausstattung.«

»Nun, was das anbelangt, so ließe sich schon Rat schaffen,« meinte Madame Flod; »ist es weiter nichts, so hat die Sache keine Gefahr.«

Weiter wollte Carlsson die Sache nicht treiben; aber er beschloß, dies Anerbieten gegen ein Versprechen einzutauschen, und es gelang ihm auch, mit der Alten abzumachen, daß Norman, der beim Schleifen der Sensen und beim Ausbessern des Heubodens unentbehrlich sei, zu Hause bleiben sollte, während Lotte diesmal die Besorgungen in Dalarö machen würde.


Es ist drei Uhr morgens an einem Julitage zu Anfang des Monats.

Der Schornstein raucht schon, und der Teekessel steht auf dem Feuer; das ganze Haus ist in Bewegung, und draußen auf dem Hügel ist ein langer Kaffeetisch gedeckt. Die Erntearbeiter, die am vorhergehenden Abend gekommen sind, haben auf dem Heuboden und in der Scheune geschlafen, und zwölf kräftige junge Burschen stehen in weißen Hemdärmeln mit Strohhüten gruppenweise vor dem Hause, mit Sensen und Wetzsteinen bewaffnet. Da sind Männer aus Avassan und Svinnokarn, alt und gebeugt vom Rudern; da sind Aspömänner mit ihren Riesenbärten, um eines Kopfes Länge alle andern überragend – ihr Blick ist tief und melancholisch, eine Folge des einsamen Lebens draußen am Saum des Meeres und der Sorgen ohne Namen, ohne Klage; da ist der Greis aus Fjellangarn, eckig und verkrüppelt gleich der Zwergtanne draußen auf der äußersten Klippe; der Mann aus Tiversatraöen, mager, wettergebräunt, lebhaft und trocken; die als Bootbauer berühmten Quarnöer, die Leute aus Langoiskär, die besten Seehundschützen, und der Arnöbauer mit seinen Söhnen.

Und um sie herum und zwischen ihnen trippeln die Mädchen in Hemdärmeln, das Brusttuch über dem Busen, in hellen Baumwollkleidern und mit Tüchern über dem Kopfe. Die Rechen, die in allen Regenbogenfarben strahlen, haben sie selber mitgebracht, und es sieht weit eher aus, als ginge es zu einem Fest als an die Arbeit. Die Alten stießen sie vertraulich in die Seite und scherzten mit ihnen, während die jungen Leute sich zu so früher Morgenstunde noch zurückhalten und den Abend mit seiner Dämmerung, mit Tanz und Musik abwarten, – erst dann kommt die Zelt der Liebeständelei.

Die Sonne war bereits seit einer Viertelstunde aufgegangen, stand aber noch nicht hoch genug über den Wipfeln des Tannenwaldes, um den Tau vom Grase trinken zu können; spiegelblank lag die Bucht da, eingerahmt von dem lichtgrünen Schilf, aus dem das Piepsen der jüngst ausgekrochenen Entlein, vermischt mit dem Schnattern der Eltern, drang. Die Seemöwen fischten ihren Morgenimbiß und schwebten groß, schneeweiß, mit ausgebreiteten Flügeln gleich den Gipsengeln in den Kirchen über dem Wasser; im Eichbaum erwachten die Elstern und schrien und schwatzten über die vielen Hemdärmel, die sie auf dem Hügel gesehen hatten. Der Kuckuck rief draußen auf dem Anger, im Roggenfelde schlug der Wachtelkönig; oben auf dem Hügel aber sprang der Hund umher und begrüßte die alten Bekannten, und die Hemdärmel und Hemdkragen blitzten im Sonnenschein, breiteten sich über den Kaffeetisch, wo mit Tassen, Schüsseln, Gläsern und Kannen geklirrt wurde, während die Bewirtung ihren Anfang nahm.

Gustav, der sonst so schüchtern war, hatte die Rolle des Wirts übernommen, und da er sich unter den alten Freunden seines Vaters heimisch fühlte, machte er Carlsson überflüssig und besorgte selber das Einschenken des Branntweins. Carlsson aber, der schon auf seiner Einladungsreise Bekanntschaften gemacht hatte, trat wie zu Hause als älterer Verwandter oder Gast auf und ließ sich nötigen. Zehn Jahre älter als Gustav, mit vollausgewachsenem männlichem Äußern, war es für ihn ein leichtes, ihn in den Schatten zu stellen, um so mehr, als Gustav in den Augen der Männer, die sich mit seinem Vater geduzt hatten, doch stets der Knabe blieb.

Inzwischen war der Kaffee getrunken, die Sonne stand höher am Himmel, und die Veteranen setzten sich in Bewegung hinab nach der großen Wiese, die Sensen auf der Schulter, gefolgt von den Knechten und Mägden.

Das Gras reichte ihnen bis an die Lenden und stand so dicht wie die Haare auf einem wolligen Fell, so daß Carlsson einen genauen Bericht von seiner neuen Wiesenbestellung geben mußte. Er tat dies, indem er erzählte, wie er dir Wiese vom vorjährigen Laube hatte säubern und die Maulwurfhügel ebnen lassen, wie er dann die Froststellen frisch besät und mit Jauche berieselt hatte. Dann ordnete er seine Truppe wie ein Hauptmann, wies den Alten und Vermögenden die Ehrenplätze an und ging selbst als letzter hinterdrein, wodurch er es vermied, in der Menge zu verschwinden. Auf diese Weise rückte die Schlachtordnung vor: zwei Dutzend weiße Hemdärmel in Keilordnung gleich einem Volk Schwäne, Sense hinter Sense, und in buntem Durcheinander – wie ein Schwarm Seeschwalben – kamen die Mädchen mit ihren Rechen, die sie munter hin und her bewegten, ohne doch die Ordnung zu unterbrechen, eine jede ihrem Mäher folgend.

Das taufrische Gras fiel in dichten Haufen unter dem Sausen der Sensen, und Seite an Seite lagen alle Blumen des Sommers, die sich über den Wald und den Anger hinausgewagt hatten. Da waren Glockenblumen und Sauerklee, Vergißmeinnicht und Butterblumen, wilder Kerbel, wilde Nelken, Eppich, Schierling, Klee und alles, was die Wiesen an Gras und Grasarten tragen; es duftete so süß nach Honig und Gewürzen, und Bienen und Hummeln entflohen in großen Schwärmen den Mörderscharen; die Maulwürfe verkrochen sich in das Eingeweide der Erde, sobald sie hörten, wie ihr gebrechliches Dach erbebte; die Natter schlängelte sich erschreckt in den Graben hinab und schlüpfte, so schnell sie konnte, in ein Loch; hoch über dem Walplatz aber schwebte ein Lerchenpaar, dessen Nest von einem Stiefelabsatz zertreten war, und als Nachtrab trippelten die Stare hinterdrein, alles mögliche Gewürm, das in dem glühenden Sonnenschein zum Vorschein gekommen war, aufsammelnd und zerstückelnd.

Der erste Umgang reichte ganz hinaus bis an den Rain, und jetzt hielten die Kämpfer inne, indem sie sich auf ihre Waffen stützten und das Zerstörungswerk betrachteten, das sie hinter sich zurückgelassen hatten; dann wurde der Schweiß getrocknet und ein neuer Priem aus der Messingdose genommen; inzwischen hatten auch die Mädchen sich beeilt, die Frontlinie zu erreichen.

Und bald geht es von neuem darauflos, hinein in das grüne Blütenmeer, wo die wachsende Morgenbrise die Wogen in Bewegung setzt; bald zeigt sich dies Meer in bunten, prangenden Farben, wenn die weniger biegsamen Stengel und Köpfe der Blumen aus den samtweichen Wellen der Gräser hervorragen, bald zeigt es sich eben und grün wie das Meer bei Windstille.

Es liegt ein Fest in der Luft, und bei der Arbeit herrscht ein Wettstreit; man will sich lieber in die Sonnenglut hinausstürzen, als daß man die Sense beiseite stellt. Carlsson hat des Professors Ida zum Aufsammeln hinter sich, und da er der Letzte in der Reihe ist, kann er sich ohne Gefahr für seine Waden umwenden, um ihr hin und wieder ein Wort zuzuwerfen. Norman aber, der schräg vor ihm geht, bewacht er scharf, und sooft der es versucht, einen vielsagenden Blick in südöstlicher Richtung zu werfen, fühlt er sofort Carlssons Sense an seinen Fersen, und ein mehr unfreundlicher als wohlgemeinter Zuruf: »Nimm die Beine in acht, du!« ertönt hinter ihm.

Als die Uhr acht schlug, lag die Quellwiese gleich einem frisch besäten Acker so flach wie eine Hand da, und das Gras war in langen Schwaden ausgebreitet. Jetzt wird das Werk in Augenschein genommen und die Schwaden untersucht, und Rundquist ist derjenige, der dem Urteilsspruch der Jury verfällt; denn wo er gemäht hat, da sieht es aus, als hätten die Elfen einen Tanz aufgeführt, so uneben ist es. Rundquist aber verteidigt sich damit, daß er die Mäherin habe ansehen müssen; es passiere ihm nicht jeden Tag, daß ihm ein Mädchen nachliefe.

Und jetzt ruft Klara oben auf dem Hügel zum Frühstück; die Branntweinflasche blitzt in der Sonne, und das Dünnbierfäßchen wird angestochen. Auf dem Herd brodeln im Kessel die Kartoffeln, und die Heringe dampfen auf der Schüssel; die Butter ist aufgelegt, das Brot geschnitten, die Schnäpse werden eingeschenkt, und das Frühstück ist in vollem Gange.

Carlsson ist gelobt worden und fühlt sich siegesstolz. Ida ist gnädig gegen ihn, und er bedient sie mit der größten Aufmerksamkeit, aber sie ist auch die Schönheit des Tages. Madame Flod, die mit Tellern und Schüsseln aus und ein läuft, streicht oft an den beiden vorüber, zu oft, als daß es Ida nicht hätte merken sollen. Carlsson merkt jedoch nichts, bis ihm die Alte leise mit dem Ellbogen in den Rücken stößt und ihm zuflüstert:

»Carlsson soll den Wirt machen und Gustav helfen; Er soll so tun, als wäre Er hier zu Hause.«

Carlsson hat aber nur Augen und Ohren für Ida und antwortet der Alten mit einem Scherz. Da kommt jedoch Line, das Kindermädchen des Professors, und erinnert Ida, daß sie jetzt zum Reinigen der Zimmer nach Hause kommen müsse. Darüber entsteht großer Kummer und Bewegung unter den Knechten, während die Betrübnis der Mädchen nur eine mäßige ist.

»Wer soll nun hinter mir her harken, wenn ich kein Mädchen mehr habe?« ruft Carlsson in erheuchelter Verzweiflung aus, denn er will darunter seine schlechte Laune verbergen.

»Das muß Mutter wohl tun,« meint Rundquist, von dem man behauptete, daß er Augen im Rücken habe.

»Ja, Mutter soll harken!« riefen die Knechte im Chor, »Mutter soll mit uns harken!«

Die Alte wehrt den Sturm mit der Schürze ab. »Herr du meines Lebens! Soll ich alte Frau es noch mit den jungen Mädchen aufnehmen? Nein, um keinen Preis der Welt tu ich das! Ihr seid nicht recht bei Sinnen!«

Aber der Widerstand reizt.

»Nehm Er nur die Alte!« flüstert Rundquist Carlsson zu, während Normans Antlitz sich aufklärt und das Gustavs sich zusehends verfinstert.

Da blieb ihr denn keine Wahl, und unter Hurrarufen und Gelächter läuft Carlsson ins Haus, um die eigene Harke der Alten zu holen, die irgendwo auf dem Boden liegt. Doch die Alte läuft ihm schreiend nach, indem sie ausruft: »Nein, um Gottes willen! Er darf mir nicht da oben zwischen meinen Sachen kramen!«

Und dann verschwinden die beiden unter den lauten und scharfen Bemerkungen der Zurückbleibenden. »Mir deucht,« unterbricht endlich Rundquist eine eingetretene Pause, »mir deucht, sie bleiben ziemlich lange aus. Geh nach, Norman, und sieh zu, was ihnen zugestoßen sein kann.«

Stürmischer Beifall ermutigt den Ehrgeizigen fortzufahren:

»Was können sie nur da oben machen? Nein, das geht wirklich nicht an; kann mir das einer von euch sagen? Ich werde ganz unruhig bei der Sache!«

Gustav wurde dunkelblau um die Lippen, aber er zwang sich, in das Gelächter der andern einzustimmen.

»Gott sei mir armem Sünder gnädig!« fuhr Rundquist im selben Tone fort; »aber jetzt halte ich es nicht länger aus, ich muß sehen, was sie da machen.«

Im selben Augenblick erscheinen Carlsson und die Alte in der Tür mit der Harke. Die ist fein angestrichen und mit zwei Herzen und der Jahreszahl 1852 geschmückt, es ist die Harke der Alten aus ihrer Brautzeit; Flod hatte sie selbst angefertigt und Erbsen in den Schaft getan, die rasselten, sobald man die Harke bewegte. Die Erinnerung an die Freuden der Vergangenheit hatten den Sinn der Alten lebhaft erregt, und ohne jegliche Spur von verletzter Eitelkeit zeigte sie auf die Jahreszahl und sagte:

»Es ist eine ganze Reihe von Jahren her, seit Flod die Harke machte ...«

»Und du Braut warst,« fiel ihr der Svinnokarn in die Rede.

»Das kannst du wohl noch einmal werden,« meinte ein andrer.

»Auf Ferkel von sechs Wochen und Witwen von zwei Jahren kann man sich niemals verlassen!« neckte ein dritter.

»Altes Holz brennt am hellsten!« platzte noch ein andrer heraus.

Und so warf jeder seinen Span ins Feuer. Die Alte aber lächelte nur und wehrte die Reden ab; sie machte gute Miene und scherzte selber mit, denn es half ja nichts, ärgerlich zu werden.

So bewegte sich denn der Zug dem Moor zu, wo das Riedgras wie ein Tannenwald stand und das Wasser den Knechten bis an die Stiefelschäfte ging. Die Mädchen zogen Schuhe und Strümpfe aus und hängten sie auf den Zaun.

Die Alte harkte und tummelte sich, so daß sie schon hinter Carlsson war, ehe noch eine der andern begonnen hatte; viele neckische Worte mußten die »beiden Jungen« wie sie genannt wurden, hören.

Und so wurde es Mittag und Abend. Der Spielmann war mit seiner Violine gekommen, die Tenne war abgeräumt und gefegt, und die ärgsten Risse waren mit Pech verkittet. Bei Sonnenuntergang begann der Tanz.

Carlsson eröffnete den Ball mit Ida, die ein schwarzes Kleid mit viereckigem Ausschnitt und einen Maria-Stuart-Kragen trug. Sie war die von den Bauernmädchen beneidete Dame, die den Alten Ehrfurcht, den Jungen aber sehnsüchtiges Verlangen einflößte.

Carlsson war der einzige, der sich auf den neuen Walzer verstand, und deshalb nahm Ida ihn auch einmal nach dem andern, nachdem ein Versuch im Dreitrittwalzer mit Norman mißglückt war, weshalb dieser, als er aus dem Feld geschlagen war, es für das richtigste hielt, sich an die Harmonika zu halten, teils um seinen Herzenskummer auszuschütten, teils um eine letzte Leimrute zu stellen, vermittels der er den schönen, treulosen Vogel fangen wollte, den er schon vor Wochen in der Hand zu haben glaubte, der aber gleich darauf auf dem Dache saß und mit einem andern schnäbelte.

Carlsson fand indessen das Akkompagnement überflüssig, weil er selbst einen richtigen Spielmann bestellt hatte und die asthmatische Harmonika wirklich nicht gut zu der leichtfüßigen Violine paßte, sondern den Takt störte und den Tanz in Unordnung brachte. Als die öffentliche Meinung über die Unbrauchbarkeit der Harmonika genügend vorbereitet schien, nahm Carlsson, glücklich über die günstige Gelegenheit, den Nebenbuhler abzutrumpfen, den Mund sehr voll und rief dem unglücklichen Liebhaber, der zusammengekauert in einer Ecke saß, quer über die Tenne zu:

»Halt nun auf, Norman! Leg ein Schloß vor den Sack, und wenn du die Trommelkrankheit hast, kannst du ja auf den Hügel hinaufgehen und dir den Atem ausklemmen!«

Die öffentliche Meinung gab sich durch beifälliges Lächeln gegen den Sünder zu erkennen. Norman hatte aber bereits etwas im Kopf; Idas Maria-Stuart-Krause hatte bis dahin ungeahnte Kräfte in ihm erweckt, so daß er den hingeworfenen Handschuh sofort aufnahm.

»Halt auf!« äffte er Carlsson nach, der sich unversehens seiner Heimatsprache bedient hatte, die stets zum Gelächter der andern Anlaß gab. »Komm du nur heraus auf den Hügel, dann will ich dir schon Bescheid geben!«

Carlsson fand die Lage noch nicht drohend genug, um sich seiner Fäuste zu bedienen, deshalb hielt er sich einstweilen noch an das unschuldigere Wortgefecht.

Als Norman jedoch auf seine Herkunft aus Wermland anspielte, fühlte er sich in seiner Nationalehre verletzt, und nachdem er sich eine Weile vergebens besonnen hatte, wie er den Gegner am empfindlichsten beleidigen und die Lacher auf seine Seite bringen könnte, entschloß er sich, direkt auf den Feind loszugehen. Er ergriff ihn bei der Weste und schleppte ihn vor die Tür. Die Mädchen stellten sich in der Türöffnung auf, um dem Kampf zuzuschauen, und es fiel niemandem ein, sich ins Mittel zu legen.

Norman war klein und untersetzt, Carlsson voll ausgewachsen und stärker. In einem Nu warf der letztere den Rock, der nicht beschädigt werden durfte, ab, und dann stießen die Kämpfer aufeinander: Norman mit dem Kopfe voran, wie die Lotsen es ihn gelehrt hatten; Carlsson aber packte ihn und versetzte ihm einen so heftigen Stoß in die Flanken, daß Norman auf den Kehrichthaufen niederstürzte, gleich einem aufgerollten Stachelschwein.

»Du Lümmel!« schrie er, außerstande, sich länger mit den Fäusten zu verteidigen.

Carlsson schäumte vor Wut, und nachdem er vergebens nach einer passenden Antwort gesucht hatte, setzte er seine Knie auf die Brust des Gefallenen und bearbeitete ihn gehörig mit den Fäusten. Norman spie und biß um sich, erhielt aber zuletzt eine Handvoll Streu in den Mund.

»Nun will ich dir das Maul reinscheuern!« Und mit einem Strohwisch, den er von dem Kehrichthaufen genommen, rieb Carlsson den Überwundenen, bis seine Nase zu bluten anfing. Aber das machte dem hitzigen, keuchenden Norman Luft, und nun schleuderte er dem Sieger seinen ganzen Vorrat von Schimpfworten ins Gesicht, und dieser war nicht imstande, ihm den Mund zu stopfen.

Die Musik war verstummt, der Tanz hatte aufgehört, und die Zuschauer hatten ihre Bemerkungen über den Wort- und Faustkampf gemacht, dem sie mit derselben Gemütsruhe zusahen, wie einem Schlachtfeste oder einem Tanzgelage, obwohl die Alten doch Carlssons Angriffe für weniger regelrecht hielten, als es die alte Prügelsitte erforderte. Aber plötzlich erklang ein Schrei, der den Haufen zerteilte und die allgemeine Feststimmung verscheuchte:

»Er gebraucht ein Messer!« schrie eine Stimme; man konnte nicht sehen, wer von den beiden es war.

»Ein Messer!« wiederholten die Zuschauer.

»Kein Messer! Fort mit dem Messer!«

Und dann umringte man die Kämpfenden; Norman, dem es gelungen war, sein Taschenmesser zu öffnen, wurde entwaffnet und wieder auf die Beine gebracht, nachdem man Carlsson gewaltsam von ihm losgerissen hatte.

»Ihr könnt euch prügeln, Burschen; aber das Messer bleibt aus dem Spiel!« lautete die Entscheidung des alten Svinnokarn.

Carlsson zog seinen Rock an und knöpfte ihn über seiner zerrissenen Weste zusammen, Norman jedoch hing der eine Hemdärmel in Fetzen bis auf das Bein herab. Mit zerschlagenem Gesicht, schmutzig und blutig, hielt er es für das geratenste, hinter dem Hause zu verschwinden, um seine Niederlage vor den Mädchen zu verbergen.

Mit dem frohen Selbstbewußtsein des Siegers und des Überlegenen trat Carlsson jetzt wieder im Ballsaale auf, und nachdem er einen Schluck genommen, setzte er das Spiel mit Ida fort, die ihn mit Wärme, fast mit Bewunderung empfing.

Der Tanz ging wie ein Dreschwerk, und die Dämmerung war bereits hereingebrochen; die Schnapsgläser machten wieder und wieder die Runde, und man beschäftigte sich nicht mehr so lebhaft mit dem Tun und Lassen des lieben Nächsten. Deswegen war es Carlsson möglich, mit Ida die Scheune zu verlassen und den Feldzaun zu erreichen; aber als das Mädchen eben über den Zauntritt gelangt war und Carlsson noch am Zaun stand, vernahm er Madame Flods Stimme, ohne daß es ihm möglich gewesen wäre, die Frau im Halbdunkel zu sehen.

»Carlsson! Ist Carlsson da? Will Er nicht kommen und einen Tanz mit seiner Gehilfin von heut morgen wagen?«

Carlsson antwortete nicht, sondern schlich sich leise wie ein Fuchs über den Zaun hinüber.

Aber die Alte hatte nicht nur ihn, sondern auch noch obendrein Idas weißes Taschentuch gesehen, das sie um die Taille gebunden hatte, um ihr Kleid gegen schweißige Hände zu schützen. Nachdem sie noch einmal gerufen hatte, ohne Antwort zu erhalten, ging sie ihnen nach und kam über die Stiege auf das eingehegte Feld. Es war stockdunkel auf dem Wege unter den Haselbüschen, und sie sah nur etwas Weißes, das in dem Schwarzen zu ertrinken schien und schließlich in dem langen Tunnel verschwand. Sie wollte den beiden nachlaufen, aber im selben Augenblick vernahm sie Stimmen neben dem Zaun, eine gröbere und eine wohlklingendere, beide jedoch gedämpft und, als sie näher kamen, flüsternd. Gustav und Klara kletterten über den Zauntritt, er knackte unter den unsicheren Tritten des jungen Mannes, und von zwei starken Armen gehoben, schwang sich Klara hinüber. Die Alte verbarg sich hinter den Büschen, während die Jungen, sich zärtlich umschlungen haltend, tanzend, singend, küssend an ihr vorüberzogen, geradeso, wie auch sie einmal getanzt, gesungen und geküßt hatte. Noch einmal knackte der Zauntritt: es war der Quarnöer Knecht, der gleich einem jungen Füllen hinübersprang, und oben auf dem Zaun, gerötet vom Tanz, mit ausgelassenem Lächeln, das alle ihre weißen Zähne entblößte, stand das Mädchen aus Fjellang. Dann legte sie die erhobenen Arme hinter den Nacken zurück und tat, als wolle sie sich fallen lassen, worauf sie sich mit kurz herausgestoßenem Gelächter und weitgeöffneten Nasenlöchern in die Arme des Burschen stürzte, der sie mit einem langen Kuß in Empfang nahm und sie ins Dunkel hineintrug.

Die Alte stand hinter dem Haselbusch und sah Paar auf Paar kommen und wieder gehen, genau wie in ihrer Jugend, und die alten Gluten, die unter zweijähriger Asche verborgen gewesen, schlugen wieder in hellen Flammen auf.

Inzwischen hatte die Violine nach und nach ihre Wirksamkeit eingestellt; Mitternacht war vorüber, und der junge Tag schimmerte schon schwach dort drüben über dem Walde nach Norden zu. Der Lärm in der Scheune ward gedämpfter, und einzelne Hurrarufe von der Wiese her ließen erkennen, daß sich die Tanzgesellschaft aufgelöst hatte, daß die Heimfahrt der Schnitter nahe bevorstand. Sie mußte hingehen und Lebewohl sagen. Als sie auf den Steig hinauskam, wo das Dunkel sich lichtete, so daß man die grüne Farbe des Laubes erkennen konnte, sah sie Carlsson und Ida Hand in Hand vom Hügel herabkommen, als wollten sie zur Polka antreten.

Beschämt darüber, hier in dem »grünen Gang« betroffen zu werden, eilte sie über den Zauntritt, um nach Hause zu kommen, ehe die Gäste gegangen waren. Aber an der andern Seite des Zaunes stand Rundquist und schlug die Hände zusammen, als er die Alte erblickte, die ihr Antlitz hinter der Schürze verbarg, um nicht zu zeigen, wie sie sich schämte.

»Herrjemine! Ist Mutter auch ein wenig im Walde gewesen? Ja, ja; ja, ja, das ist eine bekannte Sache, auf die Alten ist am allerwenigsten Verlaß!«

Sie hörte kein Wort mehr, sie lief auf das Haus zu, wo man nach ihr gesucht hatte und wo sie mit anhaltenden Hurrarufen, Handschütteln, Danksagungen und Abschiedsgrüßen empfangen wurde.

Und nachdem alles wieder still geworden und die Verschwundenen aus Feld und Wiese zusammengerufen waren, begab sich die Alte zur Ruhe; aber sie lag noch lange wach und horchte, bis sie Carlsson die Treppe hinauf in seine Kammer gehen hörte.


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