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Unten im Hotel gähnten die Gäste. Wenn es dunkel wurde, das heißt, wenn es hell wurde und Fluten elektrischen Lichts den Abend zum Tag machten, dann war keine Sorge. Dann wurde nach dem Mittagsmahl getanzt, gespielt, geflirtet. Aber der Tag selbst, wie er im weißen Zwielicht eintönigen Schneetreibens dahindämmerte, war für Sportmenschen, die keinen Sport treiben konnten, eine einzige große Leere.

Eine größere Gesellschaft war, um den Tag totzuschlagen, hinunter nach Chur gefahren. Ich hatte das Gewirtschafte und Gerufe beim Abzug und darunter auch Konstanzes helle, lustige Stimme gehört. Am Abend kamen sie zurück. Ich begegnete Konstanze auf der Treppe. Man konnte sich in dem überfüllten Gasthof, unter das schützende Dach gebannt, nicht vermeiden. Sie tat, als ob wir die besten Freunde wären. Sie reichte mir flüchtig die Hand.

»Eigentlich war es da unten auch langweilig!« berichtete sie, ohne daß ich sie fragte. »Interessante alte Gebäude. Aber damit ist man bald durch. Ich bin durch die Läden gebummelt und hab' Einkäufe gemacht. Schließlich war es so ein Haufen, daß ich ihn lieber dem Spediteur gegeben habe, um sie nach Deutschland zu schicken – wegen der Zollscherereien ...«

Was gingen mich ihre Mitbringsel an? Ich hörte nur halb zu. Sie lief die Treppe empor. Aber nach ein paar Stufen steckte sie den Kopf über das Geländer und rief zu mir hinunter:

»Übrigens, wissen Sie, was ganz merkwürdig ist? Bei dem Spediteur steht immer noch das ganze Gepäck des Herrn Morris. Ich habe es selbst gesehen. Der Spediteur wundert sich auch. Herr Morris wollte ihm sofort von drüben aus Italien telegraphieren, daß er die Koffer nach Genua abschicken sollte. Die kommen ja sonst zum Schiff zu spät!«

Und oben, vom ersten Stock, verkündete sie laut durch das Treppenhaus, gleichgültig, ob Kellner und Gäste es vernahmen:

»Ein gutes Zeichen ist das nicht, daß man seit drei Tagen gar nichts von Herrn Morris hört! Wenn ihm nur kein Unglück zugestoßen ist! ... Sehen Sie ... Sie als Bergsteiger, Sie schweigen auch dazu ...«

Da war wieder das Grauen, das Frösteln. Die unheimliche Erwartung von etwas Kommendem! Ein Lachen. Ein zorniger Ruck in den Schultern: Laßt die Toten ruhen! Ich habe ihn nicht getötet. Mir kann er nichts tun. Ich lebe ...

Was ging mich das alles an? Ich redete es mir ein – ich suchte mich zu überzeugen, daß für mich das Vergangene abgeschlossen sei! Ich wurde eindringlich zu mir selbst: Ich hatte ein Recht, zu schweigen! Jeder Mensch hat das Recht, sich davor zu schützen, daß er schuldlos in den Verdacht eines furchtbaren Verbrechens gerät. Ich ging weiter: Ich hatte sogar die Pflicht, zu schweigen. Gegen Mara, gegen mich, gegen die Menschheit, der ich in meinen Werken noch so viel geben konnte. Wozu alle Blüten und Früchte eines reichen Menschenlebens um des leeren Scheins einer Schuld willen zerstören? Solch ein heroischer, selbstmörderischer Wahnsinn von Wahrheitsliebe war das Opfer nicht wert, das man ihm damit brachte. Es war eine Versündigung am wahren Wert der Dinge.

Das hämmerte ich mir in meinen wieder verworrenen und unruhig gewordenen Kopf. Während ich zu meiner Braut hinüberging, schaute ich zum erstenmal wieder schnell im Dämmern über die Schultern zurück, als würde ich verfolgt, und biß die Lippen zusammen und zwang mich zu einem Lächeln, als ich eintrat und sie mir mit einer Bewegung unendlicher Liebe, vom Stuhl aufspringend, die Arme öffnete. Aber den ganzen Abend kämpfte ich, während ich mit ihr lachte und plauderte, im Untergrund des Bewußtseins mit der übermächtigen Gewissensfrage: Wie kann man zugleich schuldig und unschuldig sein? Wo beginnt meine Schuld? Wo endet sie? Habe ich überhaupt eine Schuld? Habe ich keine ...?

Und während ich Tee trank und der Schwiegermutter kühlen Respekt erwies, richtete in mir die innere Stimme: Deine einzige Schuld ist, daß du aus Menschenfurcht schwiegst!

Ja! Denn mir bangte vor der viel zu weit wie eine Lawine rollenden und mich begrabenden falschen Wirkung meiner Worte auf die Menschen. Es gab nur einen Menschen, dem ich es beichten durfte: meiner Braut, die zärtlich, heiter, ahnungslos an meiner Seite saß. Wiederum unnütz durch den Hauch meines Mundes mein Glück zerblasen wie eine bunte Seifenkugel in der Luft – ich konnte es nicht! Wir waren drei Mitwisser: der Gletscher, Morris und ich. Der Gletscher schwieg, Morris schwieg. Also schwieg auch ich ...

Ich küßte meine Braut und wünschte ihr gute Nacht. Ich ging noch einmal in die Halle hinunter. Sie war voll von Gästen. Weißgepuderte Schultern. Funkelnder Schmuck. Bunte Farben und schwarze Röcke.

Mein Auge fiel auf eine Gruppe. Immer mehr Damen und Herren gesellten sich ihr neugierig zu. Es war schon ein großer Kreis von gespannten Gesichtern um Konstanze, die, lebhaft wie immer, etwas erzählte oder erklärte. Ich hörte, wie sie ihre Stimme erhob: »Also – kurz und gut: Sowie sich das Wetter wieder aufhellt – und das Barometer klettert ja seit ein paar Stunden, was es kann –, müssen die Nachforschungen begonnen werden, was aus Herrn Morris geworden ist.«

Ein Nicken der Zustimmung da und dort. Sie fuhr fort: »Es muß dann sofort eine Expedition abgehen! Und es wäre nicht recht, wenn die Bergführer und anderen Leute von Beruf das umsonst tun sollten, wozu diese wackeren Männer ja gewiß bereit wären! Nein! Es müssen Mittel für diese Expedition vorhanden sein!«

»Wer soll diese Mittel denn aufbringen?« fragte jemand.

»Ich!« sagte Konstanze eifrig.

»Und wer soll diese Expedition begleiten?«

»Ich!« wiederholte Konstanze.

»Da hinauf in Schnee und Eis?«

»Ich bin Schnee und Eis gewöhnt!«

»Glauben Sie nicht, daß der Aufstieg vergeblich ist, weil der Schneefall alle Spuren verwischt hat?«

»Nun – dann hat man wenigstens das Menschenmögliche getan. Sowie die Sonne wieder am Himmel bleibt, breche ich auf!«

Ich weiß, daß ich in dieser Nacht ein Mondscheinwandler war, als der abnehmende Mond herauskam – in dunkler Stunde.

Es trieb mich hinaus in die Nacht. In die Berge. Es – ja – wer ist dies »Es«? Gott? Ich? Schicksal? Irgendeine Macht über den Menschen, die den Mörder geheimnisvoll an den Ort seiner Tat zurückdrängt – zurückzwängt ...

Tat? ... Mörder? Es war nicht meine Tat! Ich war kein Mörder. Und doch – ich mußte hin! Vor den anderen! Als der erste nach dem Sturz. Zu sehen, was da war! Zu sehen, daß es nichts zu sehen gab!

Was war da Auffallendes daran? Nichts! Ich war der letzte, der den Verunglückten gesehen und gesprochen. Ich war der erste, der ihn suchte.

Das hinterließ ich in dem noch nicht erwachten Hotel und in ein paar Zeilen an meine Braut. Die Nacht, in die ich hinaustrat, war eisig. Klar und sternenhell. Schon am Abend vorher hatte das Flockentreiben aufgehört. Der Schnee war gefroren. Die Skier glitten. Dann der Aufstieg. Dann, schon im Tageslicht, das Reich der überschneiten Gletscherbrücke.

Schnee – lieber Schnee – du hast gewiß alles in dein weiches Weiß gebettet – auch jenes riesige, schwarze, unergründliche Auge – jenes Loch in der Gletscherbrücke, aus dem die geöffnete Unterwelt blickte. Der Gletscher schweigt ...

Nein! Der Gletscher spricht! Er spricht noch immer. Meine verstörten Augen schauten in der weißen Wirrnis immer noch den großen, finsteren schwarzen Flecken, der durch das Todesschweigen schrie: Hier geschah's! Hier geschah's! Drei Tage Schneefall hatten den fürchterlichen Schlund noch nicht zu schließen vermocht.

Mit äußerster Vorsicht näherte ich mich seinem Rand. Ich hörte das Hämmern meines Herzens in der Stille. Ich beruhigte mich selbst. Ich sagte mir: Haushoch haben jedenfalls diese Schneelasten vom Himmel den Grund des offenen Grabes gefüllt. Was unter ihnen verschüttet ruht, bleibt jedem Menschenauge verborgen.

In kalter Zuversicht, als der Sieger im Kampf mit der mich umwindenden und würgenden Schlange des Schicksals, beugte ich mich über den Abgrund. Schaute in die dämmernde Tiefe. Das Blut gerann mir in den Adern ...

Da unten, kaum ein paar Meter unter meinen Füßen, war ein kleiner, zernagter Eisvorsprung. An dem hing ein dickbereiftes Stück Gletscherseil. Das Ende Seil, das ich mir vom Leib gelöst und achtlos in die Tiefe nachgeworfen hatte! Wart' ein bißchen ... die schmale Eiskante hatte den Fall des Hanfs gehemmt. Da hing es und harrte. An seinem einen Ende war der Messerschnitt, der alles verriet, was geschehen ...

Es herausholen! ... Schnell! Schnell! Ich warf mich auf den Schnee. Ich streckte den Arm mit dem fischenden Eispickel aus, soweit ich konnte. Kein Gedanke, das Ding drunten zu erreichen! Andere Hilfsmittel hatte ich nicht bei mir! Was hätte ich auch tun können? – Ein einzelner Mann! Die, die nach mir kamen, die jetzt schon hinter mir auf dem Weg waren, die wußten sich Rats. Die waren zahlreich. Die ließen einen der Ihren am Seil hinunter und bargen die Beute ...

Ich lachte hell auf. Allerhand Geisterstimmen lachten im Echo mit. Ich stapfte davon. Ich floh zu Tal. In blinder Hast. Mit keuchendem Atem, obwohl ich mir selber sagte: Laß dir Zeit! Dem Schicksal entrinnst du doch nicht! Du bist verloren ...

Dann, als ich unten in den Wäldern war – ungesehen hinter einem verschneiten Arvendickicht –, da stieg im Gänsemarsch die Expedition bergaufwärts. In der Mitte, in ihrer Vermummung mit einem schlanken Jüngling zu verwechseln, Konstanze. Sie sprach erregt mit ihrem bärtigen Vordermann. Forschende Blicke prüften meine Spur im Schnee. Ein Schütteln der wetterbraunen Köpfe schien zu fragen, wer da heute schon gegangen ...

Wie dieser strahlendblaue, sonnengoldene Tag im lustigen Treiben buntbewegter Menschlein auf weißem Schnee mir verging – vor meiner Erinnerung ballt sich ein Nebel. Ich entsinne mich nur, daß ein Mann, der äußerlich mir glich, umherging und sprach und lächelte, wie andere Leute – daß er liebevoll seiner Braut Blumen brachte – die stumme, bange, unbestimmte Besorgnis, als ob ich doch ein anderer als sonst sei, von ihren guten Augen wegküßte – ich entsinne mich, daß diesem Mann zumute war wie einem zum Tode Verurteilten am Tage vor seiner Hinrichtung. Jene unerforschliche, das Menschenhirn sprengende Vorstellung: Morgen um diese Zeit wird alles sein wie heute. Die Sonne wird scheinen. Die Menschen werden leben, lieben, hassen, werken, feiern. Nur du bist nicht mehr da.

Wenn du nicht mehr da bist, dann ist überhaupt nichts mehr da. Wenigstens für dich. Also warst du die Welt, und mit dir erlosch die Welt – diese wesenlose Widerspiegelung deines Innern. Außer ihm war nichts. Umgekehrt wie im Leben währt der Traum des Lebens, solange du wachst, und schwindet, wenn du einschläfst. Wer löste das ewige Rätsel? Bis zum letzten Augenblick hofft der Verurteilte auf Gnade. Den ganzen Tag hindurch hoffte mein Herz auf ein Zeichen des Himmels. Baute auf die Rettung der waltenden Allmacht da oben gegen den Justizmord des Schicksals an einem, der nicht schuldig war und gegen den doch jetzt alles sprach. Bis zum Abend wartete ich auf ein Wunder ...

Der Abend kam. Rosenrot, purpurn, kupferglühend, dunkel leuchteten von dem blaßblau und lichtgrün und silbergrau sich tönenden Himmel die Brandfackeln der Firngipfel zu Tal, als wollte mir die Natur noch einmal ihre von mir so oft schwach auf farbiger Leinwand nachgeschaffene Schönheit zeigen, ehe das Schicksal kam.

Das Schicksal war da. Konstanze stand vor mir, noch in den dicken Winterhüllen, wie sie vom Gletscher zurückgekehrt. Jetzt, Auge in Auge mit ihr beschlich mich wieder das längst verflogene Ahnen aus ferner Zeit und längst vergangenen Tagen, das mich bei ihrem ersten Anblick überfallen: daß wir beide schon einmal etwas Furchtbares miteinander durchlebt hatten. Nein – daß ich etwas Furchtbares durchlebt hatte durch sie. So wie jetzt. In der Wiederkehr der Dinge.

Aber auf ihren verschleierten Zügen wohnte eine sonst ungewohnte Weichheit. Bebte ein ihrer frischen, beinahe grausamen Gesundheit fremdes Bangen.

»Sie sind in Gefahr!« sagte sie halblaut mit erstickter Stimme. »In einer viel größeren, als Sie ahnen!«

Ich schwieg. Sie flüsterte nur noch.

»Ich habe das Stück Seil! Ich habe es keinem anderen hier unten noch gezeigt. Ich habe es sofort an mich genommen! ... Die Messerschnitte sind zum Glück unsicher geführt ...«

Zum Glück? Aus ihrem Mund? Ihr Mund sprach weiter: »Die Messerschnitte sind nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen, außer, wenn man, wie ich, weiß, daß es welche sind! Sonst erst nach genauerer Untersuchung. Morgen. Hier unten!«

Ich blieb stumm. Sie fuhr gedämpft fort: »Wenn man über Nacht Zeit hat, kann man leicht das Werg an dem Schnittende so zerzupfen und lockern, daß es täuschend wie ein Riß aussieht!"

Rettung? Noch einmal Rettung? Wieder ihre raunende Stimme: »Nichts bleibt an Ihnen haften als die Notlüge, Sie seien schon vorher umgekehrt ... Die verzeiht man Ihnen in Anbetracht der Umstände ... Man begreift, daß Sie nicht selbst den naheliegenden Verdacht auf sich wälzen wollten ... Er war doch Ihr Nebenbuhler ...«

In ihren Augen glänzte, während sie das sagte, eine merkwürdige Selbstverständlichkeit, daß man um Liebe willen freveln, töten, alles tun dürfe. Ich hatte das Gefühl, daß sie imstande gewesen wäre, so zu handeln, wie sie mir vorwarf. Ich versetzte mühsam: »Morris ist von selber durch Unvorsichtigkeit in die Spalte gestürzt!«

»Und durch den Sturz riß das Seil. Es war hartgefroren und scheuerte sich an der messerscharfen Eiskante durch!« Sie nickte eifrig, als seien wir Gefährten! »Man muß es glauben! Man wird es glauben! Es ist ja eine altbekannte Tatsache: Die größten Bergsteiger sind immer gerade an den ungefährlichsten Stellen verunglückt!«

Ich fand keine Erwiderung. Sie murmelte: »Man wird sich mit Ihrer Erklärung zufriedengeben müssen! Man wird nicht weiter forschen, wenn man nicht weiter forschen kann! Ich werde Sie retten! Aber Sie müssen mir unbedingt vertrauen! Ganz und in allem!«

Jetzt erkannte ich, was der Preis für ihre Hilfe war.

»Das heißt: Ich soll meine Braut zum zweitenmal um Ihretwillen verraten?« sagte ich. Sie schaute mich grausam und hart an, als setzte sie im Geist schon den Fuß auf den Nacken der Nebenbuhlerin. Nun wußte ich, daß mich zwei Frauen liebten – nicht wie Tizians Frauen mit himmlischer und irdischer, sondern mit himmlischer und höllischer Liebe. Ich wiederholte, da sie, ihres Sieges sicher, mit einem kaum merkbaren Lächeln schwieg: »Sie meinen, man sühnt den Mord an einem Menschen am besten dadurch, daß man ein Verbrechen an dem Menschen begeht, den man am meisten auf der Welt liebt!«

»Wie wollen Sie anders Ihr Leben retten?«

»Also lassen Sie mich sterben«, sagte ich. »Aus Liebe zu meiner Braut!«

Ich ging weg. Ich ging zu Mara. Ich war ruhig geworden. Nun erfuhr sie von mir alles ...

Ich erzählte es ihr mit ganz alltäglichen, kurzen, beinahe trockenen Worten. Und doch war das eine jener Stunden, von Mensch zu Mensch, in denen Gottes weite Welt um uns winzig wird gegenüber der geöffneten Unendlichkeit unseres Innern und der Erdball tief unter uns irgendwo schwebt, eine kleine Kugel im leeren Raum. Als ich geendet hatte, dämmerte es draußen von nahender Nacht, und ich war müde. Ich küßte meine Braut.

»Ich will nun schlafen gehen!« sagte ich.

Wer leichtgekleidet, wie ich war, jetzt in der Dunkelheit in die Bergwildnis hinaufstieg, den lullte bald die Kälte ein. Er setzte sich irgendwo hin in eine Nische von Schnee. Er schlief ein und erwachte nicht mehr. Es war ein schmerzloses Hinübergehen in das andere Land.

Sie verstand, was ich meinte. Sie stand auf und sagte nur: »Ich gehe mit dir!«

Das war der Augenblick, von dem ab wir beide, sie und ich, nur noch ein einziger Mensch waren – eins und doppelt, wie jenes Sinnbild der Schöpfung, jenes Baumblatt des Ostens – aneinandergewachsen durch den Tod für das Leben – und so sind wir geblieben, ein halbes Leben lang bis heute ...

Denn der Tod wollte uns nicht, eben weil wir ihn wollten. Wählerisch und wahllos ist der Tod. Wir hatten das Haus verlassen. Wir schritten eilig, stumm, als fürchteten wir, zu spät zu irgend etwas Großem, nie Erlebtem zu kommen, die Straße entlang. Wir suchten die nächsten Nebengassen. Niemand sollte uns mehr sehen. Niemand uns folgen. Aber da waren Leute. Hinter uns. Vor uns. Überall. Die Behörden wußten noch von nichts. Aber ein Gerücht war durch die Luft von Dorf zu Dorf geflogen, wie ein Brandfunken im Föhn. Einheimische standen um uns. Wintergäste schritten unschlüssig neben uns her. Touristen – es schienen Bekannte von Morris zu sein – traten uns in den Weg.

»Sie werden nicht abreisen,« sagte der eine zu mir, »ehe Sie sich vor der Obrigkeit verantwortet haben!«

»... wenn Sie es können«, rief eine zweite Stimme.

Eine dritte: »Sie können es nicht!«

»Ihr Gesichtsausdruck zeigt es ...«

»Und die Miene der Dame, die Sie begleitet ...«

»Sie beide wissen mehr als wir ...«

»... und werden es jetzt den Behörden offenbaren müssen!«

In meinen Ohren klangen die halblauten, drohend verhaltenen Stimmen. Der eine von Morris' Freunden schaute mir fest ins Auge. Er sagte bestimmt und gedämpft: »Gestehen Sie: Sie haben Morris ermordet!«

»Nein!«

»Alles deutet darauf hin!«

»Nein! Nein!«

»Alles spricht gegen Sie!«

»Nein! Nein! Nein!«

»Ihr Leugnen wird Ihnen nichts nützen! Der Verdacht ist zu stark!«

»Verdacht? Wir haben den Beweis ...«

»... daß Morris durch Ihre Hand starb!«

»Morris ist tot und wird doch gegen Sie zeugen ...!«

»Morris ... ist ... tot ...?« sprach plötzlich leise, zweifelnd eine ganz fremde Stimme irgendwoher von dem Hintergrund aus der Menge. Es schien eine Frauenstimme zu sein. Ich weiß nicht, wem sie gehörte. Ich habe sie nie vorher, nie nachher vernommen ...

»Wer zweifelt daran?«

»Ich! ...« sagte wieder die geheimnisvolle Stimme.

»Warum?«

Und abermals die Stimme der Unsichtbaren: »Weil er dort kommt ...«

Es war keine Bewegung unter den Menschen umher. Es war eine Lähmung. Nur alle Augen wandten sich langsam, weitaufgerissen nach der nebelgrauen Schneefläche zur Rechten. Durch die führte ein schmal ausgetretener Pfad. Auf dieser Furche von vereisten Fußspuren schritt im Abendzwielicht ein Mann heran. Er hatte sich von Morris Gesicht, Gestalt und Ansehen geborgt.

In der Fata Morgana der Wüste malt sich in den Augen aller Menschen – Männer und Frauen – weißer und farbiger – auf rätselhafte Weise genau das gleiche Spukbild. So erschien auch hier allen, die da standen, dieser aus den Schatten der Luft gewachsene Bergsteiger als der tote Morris – nur daß die braunen, bartlosen Züge bleicher waren als sonst.

»Da bin ich wieder!« sagte er in das atemlose, ungläubige Schweigen. Eine vor Erregung stockende Stimme hinterher: »Sie ... sind nicht verunglückt ...«

»Doch. Ich trat fehl und stürzte in die Gletscherspalte ...«

»Ich stürzte ... nicht: ich wurde hineingestürzt.« – Es ging eine tiefe Bewegung durch die Menschen umher.

»Sind Sie es selbst oder Ihr Geist?«

»Warum nicht ich selbst?«

»Es ist keinem Menschen möglich, durch das Labyrinth der Gletscherspalten, nachts in der Finsternis, tief unten einen etwa vorhandenen Ausweg ins Freie zu finden!«

»Einem Menschen nicht!«

»Wem? Gott?«

»Ja.«

»Wie?«

»Durch seine Kreatur.«

Aus dem Rucksack, den Morris trug, schnopperte ein spitzes, nasses, schwarzes Hundeschnäuzchen. Zwei schwarze Augen guckten neugierig in die Welt, wohlwollend auf die Menschen. Kein Hund hat solch einen treuherzigen Gesichtsausdruck wie der Teckel. Morris holte seinen Kameraden aus dem Sack und stellte ihn auf den Boden auf seine vier krummen Beine.

»Dem kleinen Kerl hatte der Sturz nichts geschadet!« sagte er. »Er war gleich wieder munter. In unterirdischen Klüften weiß ein Dachshund Bescheid. Das ist ja sein Daseinszweck. Sein Instinkt weist ihm auch im Dunkel den Weg. Und den Weg zeigte er mir!«

»Sie konnten doch nicht die Hand vor den Augen sehen!«

»... aber sein Winseln hören!« sagte Morris. »Mit dem Gewinsel kam er geschäftig zu mir zurück, wenn ich mich verirrte und falsch tappte. Ich zwängte mich durch. Ich kroch. Ich half mit dem Pickel nach. Endlich sah ich ein fernes Dämmern und erreichte den Schlund der Seitenmoränen und arbeitete mich hinauf und seilte den Hund hinter her.«

»Aber das war ja schon vor langen Tagen ...«

»Ich war zu Tode erschöpft. Mit Müh und Not erreichte ich noch die erste menschliche Behausung. Kurz, ehe ich dort ankam, war ein anderer Bergsteiger, der da ein paar Stunden im Kuhstall gerastet hatte, aufgebrochen. Hätte ich ihn noch getroffen, so hätte ich ihm Botschaft mitgegeben.«

Sein Blick zu mir hinüber sagte: Das warst du! Er fuhr fort: »So hielt mich der Schneesturm dort drei Tage von der Welt abgeschnitten, fest. Heute machte ich mich auf den Weg. Es ging langsamer als sonst. Ich spüre den Sturz noch in allen Knochen ...«

Ein Schweigen nach seinen Worten. Dann sagte einer: »Gott sei Dank ...«

»So ist alles aufgeklärt!«

»Nein!«

Da war eine Hand. Die hielt das in stufenweisen Kerben abgekappte Ende eines Seils. Die hielt mein Todesurteil hoch und zeigte es der Menge. Ich hörte an meinem Ohr eine helle, kalte, schonungslose Stimme des Jüngsten Gerichts:

»Es war kein Sturz, bei dem das Seil riß! Dies Seil ist von Menschenhand zerschnitten!«

Morris sah erst Konstanze an. Dann uns. Wir bebten unter seinem unerforschlichen Blick.

»Gewiß!« sagte er ruhig. »Sollte ich hilflos zwischen Himmel und Erde hängenbleiben? Emporziehen konnte mich der einzelne Mann dort oben nicht! Also zerschnitt ich lieber selbst mit eigener Hand das Seil und ließ mich auf gut Glück in die Tiefe fallen, um mich vielleicht noch zu retten ...«

Um uns zu retten ... Morris warf keinen Blick mehr auf uns. Er bückte sich und steckte seinen Teckel wieder in den Rucksack. Er grüßte die Umstehenden und ging in der Richtung nach dem Bahnhof zu. Dort unten stand schon der Zug nach Chur hinunter und hinaus in die Welt.

Er ging. Auf Nimmer- und Nimmerwiedersehen. Er ließ in mir den Menschen hinter sich. der ich durch ihn geworden und seitdem geblieben bin an der Seite meiner lieben Frau. Es gibt eine nüchterne und lehrhafte Fabel von den drei Ringen. Ich kenne einen besseren Spruch auf einem Ring, den Goethes Hand geweiht hat. Er lautet: Alles um Liebe ...


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