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Er hatte von dem Grat eines kleinen Eishügels herab ein paar flüchtige Stufen geschlagen – eigentlich nur Kerben für den Schuhrand in die schräge Glasfläche. Gewiß. Er ging unter mir über den Schnee weiter. Ich stand hinter ihm auf halber Höhe. Der Schnee zu seinen Füßen schimmerte bläulich im hellen Mondlicht. In dessen Schein sah ich plötzlich, was er vorn, ganz nahe, nicht sah: die furchtbare, kaum merkliche, schwache Todeslinie, die sich still im Schnee schlängelte – das Zeichen, daß darunter eine Spalte gähnte ...

Ich wollte anrufen – schreien – im selben Moment knickte er schon vornüber. Sein Knie verschwand. Er selbst war weg, wie in nichts zerflossen. Ich war allein auf dem Gletscher. Ich bekam einen Ruck von unterirdischer Riesenfaust um die Brust. Ich stürzte. Ich glitt am Seil – rasch – rasch – über den glatten Schnee dem Abgrund zu. Die da unten – die schwarzen Mächte – wollten auch mich ...

Ein Krach. Ein Splittern im Eis. Ich hatte mit letzter Kraft den Pickel in den Boden geschlagen. Der Anker hielt. Ich klammerte mich mit beiden Händen an den Schaft. Aber von unten zog der Tod mit aller Macht am Seil. Es schnürte mir die Brust zusammen. Es nahm mir den Atem. Mein Herzschlag stockte.

Ich lag dicht am Rand der Spalte. Es war keine Spalte. Ein mächtiges, wesenloses Nichts, schwarz wie die Hölle, hatte sich aufgetan und gähnte scheußlich zum Himmel empor. Immer noch stürzten dröhnend Schneemassen in den Schlund und verbreiterten die Pforte zur Unterwelt. Ich zählte – bis fünf – bis man den Klatsch der aufschlagenden Masse da unten hörte. Der Abgrund reichte bis in die tiefsten Tiefen des Gletschers. Was er verschlang, das sah nie wieder das Licht der Sonne. Das war auf immer in ewiger Nacht verschwunden.

Und nach mir verlangten sie in der eisigen Hölle da unten! Ungeduldig rissen sie am Seil, ob ich noch nicht bald käme! Hundert – schien mir – gegen einen – gegen mich, dessen Kräfte schwanden. Dessen Besinnung sich trübte. Noch hielt mich mein Wille. Aber wenn der Druck um die Brust mir das Bewußtsein nahm – wenn meine Hände sich vom Stiel der Eisaxt lösten – dann holte mich der schwarze Mann da unten zu sich – dann tötete mich der, den ich hatte töten wollen. – Dann war er wiederum und bis zuletzt der Stärkere – der Sieger von uns beiden ...

Wahrscheinlich hing er, vom Sturz betäubt und von Sinnen, da unten am Seil und wußte gar nicht, was geschah. Aber mir war zumute, als kämpfte ich jetzt mit ihm denjenigen Kampf, den ich freventlich auf dem Gletscher gesucht – den Holmgang auf Tod und Leben, in dem ich leben sollte und er sterben. Ich wollte ja mit ihm streiten, bis einer am Boden lag und der andere sich als Überwinder das Seil vom Leibe löste, das ihn eben so lange mit dem Feind verbunden, als einer von ihnen zuviel auf der Welt gewesen war. Statt dessen umschnürte uns beide jetzt das Seil des Todes und riß uns beide ins Verderben.

Sich von dem Seil lösen – nicht als Sieger – nein – nur sein eigenes Leben zu retten, das sonst mit dem anderen, ohne ihm helfen zu können, verloren war – ich biß die Zähne zusammen. Ich hielt mich, mit letzter, versiegender Kraft, und mit einer Hand am Pickel tastete ich mit der freien Rechten in der Tasche nach meinem Messer, faßte es, klappte es auf, zog es hervor: Ein Schnitt nach dem anderen in den zähen, rot durchwirkten Manilahanf – ich kann nicht mehr – es ist zu spät – meine Finger erlahmen – die Nacht kommt – eine letzte, verzweifelte Kraftanstrengung – ein letzter Schnitt – ein Schnitt durch Leben und Tod ...

Leben ...

Ich lag auf dem Rücken auf dem Gletscher. Über mir glänzten winterklar die ewigen Sterne. Ich wußte, daß ich – eben dem Tod entronnen – in wenigen Minuten einschlafen und erfrieren würde, wenn ich mich nicht erhob. Ich stand langsam auf. Mühsam atmend. Noch immer beengte mir das abgeschnittene Seilstück die Brust. Ich knüpfte es ab und warf es achtlos in den Schlund. Ich konnte den gräßlichen Anblick dieses eisdünstenden Rachens nicht ertragen. Ich wankte davon. Gewann die Seitenmoräne. Den Schnee des festen Bodens. Er war in der Winternacht steinhart gefroren. Er trug meine matten Füße. Hinunter – von diesem Ort des Schreckens – ins Tal.

Allmählich kam ich im Gehen wieder zu mir. Langsam wurde mir klar, was geschehen. Ja – was war geschehen ...?

Das, was ich wollte ... Weswegen ich hierher hinter dem andern in den weißen Kirchhof da oben hinaufgestiegen war. Mein Wille hatte sich in Wirklichkeit verwandelt.

Nicht durch mich! Aber da schrien plötzlich in der Geisterstunde, in der unendlichen Einsamkeit hundert Stimmen in mein Ohr: Kain! Wo ist dein Bruder Abel?

Nein – nicht durch mich! Ich hab' nur getan, was ich tun mußte! Jeder hätte es getan, um nicht auch selbst zum Opfer zu fallen! Und immer furchtbarer die Rufe der Nacht: Was ohne dich geschah – du hast's vollendet! Kain – Kain – wo ist dein Bruder Abel? –

Und nun war auf einmal das würgende Schuldgefühl: Ja – ich bin ein Mörder! Der Zufall der Gletscherspalte war nur der von meinem Willen gedungene Knecht des Schicksals. Und das Letzte – den Schnitt mit dem Messer – überließ das Schicksal meiner Hand.

Ich hastete dahin. Immer wieder schaute ich mich wild um, als seien Verfolger hinter mir. Aber nur mein eigener Mondschatten folgte dunkel wie die Schuld meinen Spuren. Immer von neuem wiederholte ich mir! Sein Leben konntest du nicht mehr retten! Also rettetest du wenigstens dein eigenes. Jeder, der die Berge kennt – jeder, der sich in deine Lage versetzt, wird es begreifen, wenn du es unten im Tal den Menschen meldest ...

... Indem du ihnen erzählst: ich begleitete einen verhaßten Nebenbuhler, meinen Todfeind, auf den Gletscher. Dort ist er spurlos verschwunden. Das Seil ist verschwunden. Der Gletscher schweigt. Zwei gingen aus. Einer kehrt zurück. Was ist dort oben geschehen?

Der Gletscher schweigt. Aber die Menschen werden reden. Beweisen können sie dir nichts. Doch ein Verdacht – ein furchtbarer Verdacht – wird wach werden und nicht mehr schlafen, solang du lebst! Wird dich verfolgen, wo du bist! Wird dich einsam und fremd – scheu gemieden – unter den Menschen machen. Wird dich für immer von Mara trennen – in einem unüberwindlichen Zurückschaudern vor deiner Nähe. Vor der Nähe eines Mörders ...

Ich blieb stehen. »Ich bin doch kein Mörder!« schrie ich in die leichenweiße Nacht hinaus. Ich murmelte vor mich hin, im Weitereilen: Er wäre auch ohne mich in die Gletscherspalte gestürzt. Allein. Ohne Seil. Erst recht ...

Er hätte ohne mich ebenso sein Leben eingebüßt! Und was lag ihm am Leben? Er sagte es ja selbst ... Er wäre ohne Begleiter, ohne Zeugen ebenso dem Tode verfallen gewesen. Ein Sturz in diese Tiefe ist der Tod – zumal jetzt in der Nacht. Die Finsternis nimmt jeden Ausblick, jede Möglichkeit einer Rettung. Und bis der späte Morgen graut, hat längst der Frost sein Werk getan – wenn dies Werk nicht just schon längst vollendet ist ...

Nein – nein – nein – ich habe keine Schuld an seinem Tod. Ich habe keinen Anteil daran. Es ist so gut, als wäre ich nicht dabei gewesen!

Ja – bist du denn dabei gewesen? Du hättest dich gerade so gut fünf Minuten vorher von ihm trennen können...

Er wäre weiter gegangen. Er wäre ebenso für ewig verschwunden, wie jetzt der Gletscher schweigt...

Wenn die Berge schweigen – warum sollen Menschen reden?

Sprichst du – so lebst du dein Leben lang unter einer schwarzen, schweren Wolke. Ein leerer Luftkreis um dich her. Die Leute drei Schritte dir vom Leibe, von dem die Zungen raunen, daß er aus Eifersucht zum Mörder wurde...

Mörder... Mörder...

Wieder schrien es Firn und Felsen. Ich wehrte zornig den Geisterstimmen mit der Hand durch die Luft: Ich kann nichts dafür, daß er fehltrat... Ich hielt ihn noch minutenlang in der Schwebe – mit äußerster Kraftanstrengung... mit höchster eigener Lebensgefahr...

Aber wer glaubt mir das? Es könnte auch ganz anders gewesen sein? Der Gletscher schweigt...

Aber die Menschen reden, sowie ich rede! Sie reden hinter meinem Rücken. Und aus ihrem Raunen und Raten wächst das, an das zu denken mir schon das Blut erstarren macht: Dieses Geflüster von Ohr zu Ohr, diese scheuen Blicke von den Seiten, dieses plötzliche Stillschweigen bei meinem Nahen rauben mir meine Braut ...

Sie schaudert vor mir zurück – die weiße Seele vor der schwarzen, von düsterem Geheimnis überdunkelten. Sie wird nie ihre Hand dem reichen, an dessen Hand Blut klebt ... um ihretwillen ...

Dann war alles vergebens, was dort oben geschah – nicht durch mich, aber für mich ...

Dann ist auch mein Leben zerstört wie das dort oben ...

Ein reiches künftiges Leben, durch die Liebe geweiht ... durch die Kunst geheiligt ... unnütz geopfert ... denn kein Opfer bringt das Opfer der Berge dort oben wieder zum Leben ...

Nein ... nein ...

Der Mensch in mir hätte sich vielleicht dem Schicksal unterworfen. Der Künstler kaum. Der Liebende nie ...

Warum denn auch? Ich habe mich von ihm getrennt! Er stieg allein die Eishänge empor – bahnte sich, als ich mich noch einmal umdrehte, eben hoch da oben mit geschwungener Axt seine gläserne Sprossenleiter in die gefrorenen Katarakte. Ich ging bergab ... Wie ich da gehe ... zum Tal ... im Schnee ...

Im tiefen ... im endlosen Schnee. Er wurde pulverig. Ein mühsames Waten. Stunde um Stunde. Ich konnte nicht mehr denken. Ich brauchte jeden Nerv des Willens, um dieser Winternacht zu entrinnen.

Die Knie trugen mich kaum mehr. Gottlob – ich war längst zwischen den Wäldern. Da leuchtete durch das Dunkel des Wintermorgens ein Licht. Ein Hahn krähte. Ich wankte dem ersten, in tiefem Schnee verschlafenen Bauernhof zu. Im Kuhstall plätscherte schon die Milch aus den Eutern in die Kübel der Senner. Ich bat, mich ein wenig ausruhen und wärmen zu dürfen. Ich schlief auf einer alten Decke, am Boden neben den Kühen. Als ich erwachte und dankte und gestärkt ins Freie trat, war es draußen hell.

Lag das an meinen Augen? Es war nicht das strahlende Leuchten, der brennende Farbenzweiklang von Blau und Weiß wie sonst. Die Luft schien mir milchig trübe. Ihre eisig belebende Trockenheit fehlte. Sie war feucht und lau. Der Himmel bläßlich-bläulich umnebelt. Die Sonne groß, böse, rötlich verschwimmend wie durch einen Flor. Die sonst harte, kühne, helle Landschaft des Engadins ein Schattenreich, durch das ich den grünen Dächern zuschritt.

Dicht vor dem Dorf kam mir eine Dame auf ihrem Morgenspaziergang entgegen, von einer Freundin und ein paar Herren begleitet.

Ich erkannte sie von weitem an dem elastischen Sportgang. Es war Konstanze. Sie war immer die erste auf den Beinen, und wenn sie nachts bis zwei Uhr getanzt hatte.

Ein Ausweichen war unmöglich. Zu beiden Seiten säumten Schneehügel den schmalen, freigeschaufelten Fußweg. Wir gingen aufeinander zu. Wir waren einander schon ganz nahe. Ich hatte nur den Wunsch, schon an ihr vorüberzusein, so wie an einer plötzlich aufgetauchten Gefahr im Leben – obwohl ich nicht wußte, was da für eine Gefahr sein sollte. Ich redete mir ein: Sie wird natürlich ohne ein Wort an dir vorübergehen, kalt, tödlich beleidigt, nach dem Vorfall bei der Gymkhana vorgestern nachmittag. Sie wird dich vielleicht überhaupt nicht bemerken.

Aber so war sie nicht. Sie verstand, sich zu beherrschen. Sie blieb stehen, blühend, rotwangig, ausgeschlafen, nach einem tüchtigen Frühstück beinahe grausam gesund und jung, und schaute mich neugierig an und lachte mir ins Gesicht: »Sind Sie das, Meister, oder Ihr Geist, der von den Bergen kommt?«

»Ich verstehe nicht«, murmelte ich.

»Na – ich habe noch nie ein Gespenst gesehen! Am wenigsten am hellen Tage. Aber Sie sind eins ... Sie sehen ja aus wie der Tod.«

Ich schwieg. Es ging mir durch den matten, bangen Kopf: Bist du vielleicht der Tod ...? Mein Tod ...? Was weißt du vom Tod ... Vom Tod da oben ...? Und sprichst doch von ihm, als wärst du dabeigewesen ... Sie lachte wieder hell und musterte mich mitleidig wie einen armen Sünder.

»Nein! Wissen Sie, wie Sie aussehen: Wie das verkörperte schlechte Gewissen! Was haben Sie denn angestellt, hm?«

Es sollte ein boshafter Scherz sein und klang wie ein Scherz für die anderen. Für meine Ohren nicht. Aber ich ging darauf ein, um keinen Verdacht zu erwecken. Ich zwang mich zu einem Lächeln. Ich versetzte heiser: »Bitte – verhören Sie mich später! Ich bin jetzt zu müde. Ich will nach Hause.«

Sie beugte sich, auf ihren Stock gestützt, forschend vor. Ihre Augen glänzten.

»Wo kommen Sie denn her? Ich sah Sie doch gestern mit Herrn Morris weggehen!« sagte einer der Herren.

»Wo ist er denn?«

Sollte ich jetzt erwidern: Ich habe das Seil zerschnitten! Er liegt auf dem Grund des Gletschers? Es war der Augenblick der Entscheidung. Nein: Es gab keine Wahl. Ich versetzte: »Morris ist allein weiter in die Berge. Ich habe ihn nur ein Stück weit bis zu den oberen Gletschern begleitet und bin dann umgedreht! Es war von vornherein so ausgemacht..."

Das schöne Gesicht vor mir lächelte. Es war nicht zu erraten, ob über mein Aussehen oder über meine Worte. Mir schien plötzlich in meinem Schuldbewußtsein dieses Lächeln mißtrauisch. Ich wollte jeden Verdacht zerstreuen. Ich ging zu weit...

»Wir verabredeten es in Gegenwart des Hoteliers...« sprach ich hastig, »ich bin auch gar nicht in der vollen Ausrüstung für einen Gipfel. Nicht einmal für einen Gletscherpaß!«

In dieser Sekunde ging eine Veränderung auf Konstanzes Zügen vor. Wenigstens dünkte mich das so. Jedenfalls schloß sie plötzlich halb die Augen, als ob ein Gedanke in ihrem Kopf erwache und sie nicht wolle, daß er sich in ihrem argwöhnischen Blick widerspiegele...

»Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen!« sagte sie langsam und nach einer Pause mit einer seltsamen Betonung: »Warum denn?«

»Ich antworte ja nur auf Ihre vielen Fragen!« erwiderte ich unwillkürlich so gereizt und heftig, daß die anderen sich verwundert anschauten. Konstanzes Mienen blieben harmlos.

»Ach – ich bin gar nicht so wissensdurstig!« sagte sie, »viel Wissen macht Kopfweh ... Also gehen Sie nur nach Hause und ruhen Sie von Ihren Taten aus ...«

Das war ganz harmlos geredet – so, wie man vom Wetter spricht. Das tat man sonst hier nicht. Denn der Himmel war ja einen Tag so blau wie den anderen. Das Inntal hier und das ferne Niltal, die beiden Sonntagskinder der Wintersonne. Aber jetzt meinte Konstanze, während sie sich verabschiedete: »Das Barometer fällt! Sehen Sie nur den Himmel! Es gibt Sturm!«

Sturm am Himmel – Sturm in der Seele. – Ich stürmte auf das Dorf zu. Vor meinen inneren Augen stand ein unheimliches Bild: Ein kleiner Schneebrocken hoch oben auf dem Grat, den der Schuh des Bergsteigers losgetreten. Der winzige Klumpen tanzte zu Tal. Ballte sich zu einer Kugel. Wurde aus einer weißen Maus zu einem weißen Elefanten. Wuchs zu Hausgröße. Riß halbe Schneehalden mit sich. Verwandelte sich in einen donnernden, stiebenden breiten Strom. Tod dem Tal. So wurde vielleicht aus den paar flüchtigen Worten mit Konstanze die Lawine, die mich unter sich begrub ...

Plötzlich malte sich in mir das alles im Dahinschreiten: Man wird Morris doch vermissen, wenn er Tag um Tag nicht heimkommt. Man wird nach ihm suchen. Man weiß ja, in welcher Richtung er gegangen ist. Die bewährtesten Führer werden aufbrechen. Ihn selbst werden sie niemals finden. Aber die mächtige eingestürzte Schneelast im Spaltengewirr, dieses zum Himmel gähnende Maul der Unterwelt schreit stumm dem Nahenden entgegen, wo er sein Ende fand.

Der Gletscher schweigt ... Nein: Der Gletscher spricht ...

Auf dem Eis sind keine Nägelschrunde meiner Bergschuhe eingeprägt. Aber im körnigen Schnee der Bergflanke dicht daneben, da tauchen an der Stelle, wo ich festen Boden gewonnen, meine Fußstapfen auf, führen zu Tal, erzählen geschwätzig den Bergführern: Ja, er ist dabeigewesen! Hier – wenige hundert Schritte von dem Unglücksort weg – sind ja seine Schritte! Aus dieser Entfernung muß er wenigstens genau gesehen haben, was geschah ...

Und ich hatte eben den Menschen gelassenen Mundes erzählt, Morris und ich seien ohne Zwischenfall mit einem Bergsteiger-Händedruck auf dem Gletscher auseinandergegangen. Einen furchtbareren Verdacht konnte niemand gegen mich wachrufen als mit dieser Aussage. Ich klagte mich selbst an ...

Ich schlug mir mit der Hand an die Stirn. Ich begriff nicht, daß mir das nicht früher eingefallen war. Nun war es zu spät. Ich hatte das Gefühl, als ginge das Schicksal schon seinen Weg. Ich schritt willenlos dahin. Ich stand wie ein Nachtwandler vor dem Hotel.

Dort wurde eben Reisegepäck auf einen Schlitten aufgeladen. Das war nichts Auffallendes. Aber auf dem Koffer lasen meine geistesabwesenden Augen den Namen: »Morris«. Ich sprach es halblaut und dumpf vor mich hin: »Morris« .. Mich durchkältete ein Entsetzen. Wohin gingen denn diese Schiffskoffer und großen und kleinen Handtaschen? Er konnte sich doch nicht seine irdische Habe in das Jenseits nachkommen lassen. Der Portier, der die Verstauung der Gepäckstücke leitete, bemerkte, daß mein Blick an ihnen hing. Er erklärte: »Die Sachen gehen an einen Spediteur in Chur und von dort nach Genua, so daß Herr Morris sie dort vorfindet, wenn er an Bord geht ...«

»An Bord?«

»Nun ja. Herr Morris reist doch mit dem nächsten Schiff nach den Vereinigten Staaten. Er hat sich ganz plötzlich dazu entschlossen. Ich glaube, erst gestern vormittag.«

»Da ging er doch in die Berge ...«

»...und über einen der Hochpässe hinunter nach Italien. Es ist ja ein tollkühnes Unternehmen – allein im Winter. Aber Herr Morris hat ja derlei schon öfters ungestraft ausgeführt...«

»Also kommt er gar nicht mehr hierher zurück?«

»Er hat seine Rechnung bezahlt und sein Zimmer aufgegeben! Herrn Morris sehen wir hier nicht wieder.«

Nein. Den sah kein Auge hier wieder. Das wußte ich. Und auf einmal mehr! Jetzt war es mir klar: Dies da – seine Abreise für immer – seine Fahrt nach Amerika, wo er schon oft gewesen – ein unsteter Weltwanderer wie er –, das war's, was er mir auf dem Gletscher, unter der Drohung meiner geschwungenen Waffe nicht sagen wollte, damit es nicht wie eine Flucht – oder eine Ausflucht und Feigheit erschiene. Und das war es, was er mir, wenn wir beide ruhiger geworden, jenseits des Gletschermeeres auf dem Schneehang gesagt haben würde, hätte ihn nicht zuvor die Unterwelt gerufen...

Der Portier warf einen besorgten Blick nach dem immer mehr sich blaugrau verfärbenden Himmel und tauschte einen zweiten Augenwink voll Unruhe mit einer Gruppe ernster, schweigsamer Bergführer neben ihm.

»Ich wollte, Herr Morris käme hierher zurück!« sagte er halblaut. »Ich hoffe es immer noch, daß er vielleicht doch bald nach Ihnen umgekehrt ist.«

»Sie wissen, daß wir uns getrennt haben?«

»Ich hörte ja, wie Sie das gestern hier miteinander abmachten. Ich stand ja neben dem Prinzipal – hier – vor der Tür ... –«

Mir wurde wieder leichter ums Herz. Da hatte ich Zeugen. Beweise. Der Portier prüfte wieder die Wolken.

»Aber bald müßte Herr Morris kommen!« versetzte er. »Denn sonst ...«

»Sonst ...?«

»Sie sind sein Freund, Sie kennen die Berge besser als ich. Sie sind ebenso besorgt wie ich. Ich lese es auf Ihrem Gesicht. Wenn Herr Morris von diesem Unwetter in den Gletschern oben überfallen wird, dann müßte er viel Glück haben, daß er mit dem Leben davonkommt.«

Da fielen schon die ersten Flocken. Dichter, immer dichter wurde das Gewimmel. Man sah kaum mehr hundert Schritte weit. Windstöße stöhnten.

»Das macht jetzt ein paar Tage so fort!« sagte der Portier. Ich stieg die Treppe hinauf. Mit mir schritt ein Gedanke: Solch ein Schneefall ist das große Schweigen für immer. In der nächsten Stunde schon sind alle meine Fußstapfen verwischt. Niemand weiß, wie weit ich mit Morris ging. Die weiße Vergessenheit breitet sich über alles. Niemand weiß, wo Morris liegt. Die Gratkämme sind die Wetterscheide. Wenn es ihm gelang, sie vor dem Einbruch des Schneesturms zu erreichen – für einen Bergsteiger wie ihn kein Ding der Unmöglichkeit –, dann ist er jetzt schon drüben im Süden in Sicherheit, schifft sich mit seinem Gepäck in Genua ein. Wer fragt hier nach dem einsamen Mann?

Und kommt, vielleicht nach Monaten oder einem halben Jahr, die Nachricht, daß man ihn irgendwo in der Welt vermißt – nun – dann ist es eben das Natürliche, wobei sich jeder beruhigt, daß er den Naturgewalten zum Opfer fiel. Gerettet ... gerettet ...

Ich betrat mein Zimmer. Mit mir der Gedanke: Und das alles unnötig – daß Morris starb! Er räumte ja mir, seinem Nebenbuhler, freiwillig den Platz. Er hatte sich offenbar für immer von Mara getrennt! Irgend etwas war gestern geschehen – was ihn wegtrieb – in die Gebirge – über das Meer! Da war Licht für mich! Da war Hoffnung. Da war Glück und Leben ...

Da war ein Brief ...

Nein! Nein! Es war keine Sinnestäuschung meiner erschöpften und überreizten Nerven. Da lag ein Brief. Mitten auf dem Tisch. An mich adressiert. Ich kannte die feinen, zarten Schriftzüge. Es war Maras Handschrift.

Wenn ich die Augen schloß und wieder mit stockendem Atem öffnete – war dann der lichte Schein auf dem Schreibtisch verschwunden? ... War er nur das wesenlose Widerspiel meiner Wünsche und meines Willens gewesen? Narrte mich das Schicksal in meiner Not? Nein! Weiß schimmerte da der Umschlag. Die weiße Taube mit dem Ölzweig kam. Ich stürzte vor dem Brief auf die Knie. Ich faltete die zitternden Hände, in denen ich ihn hielt. Ich preßte ihn mit feuchten Augen an die Lippen, ehe ich ihn öffnete. Er enthielt nur wenige Worte:

»Ich bin in solcher Angst um Dich! Es heißt, Du seiest auf einer gefährlichen Tour, und das Wetter wird so schlecht. Hoffentlich bist Du vernünftig und kommst bald heim. Bitte, komme dann gleich zu mir! Mara.«

Nachschrift: »Ich habe Dich ja so lieb!«

Irgend jemand stürzte draußen im Flur an erstaunten Misses, Reverends und Signori wie ein Verrückter vorüber. Irgend jemand stürzte drüben in den Salon. Irgend jemand stürzte da auf die Knie und barg sein Antlitz schluchzend in weichen Kleiderfalten und fühlte eine leise Hand, die seine Haare streichelte. Und dieser glückselige Mann war ich.

Und dieser glückselige Mann hörte eine sanfte Mädchenstimme: »Ich hab' ja nie aufgehört, dich zu lieben! Ich hätte dir verziehen! Ich weiß ja, wie du bist! Nur ...«

Nur die Mutter ... sie war jetzt nicht da. Sie hütete sich. Aber was geschehen war, das war ihr Werk ...

Küsse. Küsse. Küsse. Und zwischendurch Maras Beichte. »Die Mutter meinte, du müßtest einmal eine Lehre empfangen, noch ehe ich dein werde! Denn dann sei es zu spät! Ich sollte dich mit dem strafen, was du mir an Leid antust ...«

»Mit der Eifersucht ...«

Sie nickte. Tränen der Reue in ihren Kinderaugen.

»Es fiel mir so schwer – so furchtbar schwer. Es war für mich so hart, hart gegen dich zu sein. Aber Mutter meinte dagegen, es sei zu unser beider Bestem ...«

Ein zärtlicher Lockenkopf, der sich zu mir niederbeugte. Weiche Arme, die mich liebevoll umschlossen.

»Glaube mir: Ich habe keinen Augenblick aufgehört, dich zu lieben! Ich hätte es nicht vierundzwanzig Stunden ausgehalten – ohne dich! Ich hätte längst ein Ende gemacht – wenn nicht ...«

»...Ja ... ich weiß es: Wenn deine Mutter nicht gewesen wäre ...«

»... Bis sie selber merkte, daß man nicht mit dem Feuer spielen darf! Gestern! Bis dahin waren ich und er – dein Freund, mit dem du jetzt in die Berge gegangen bist –, bis dahin waren ich und er nur freundschaftlich miteinander – auf Spaziergängen. Erst auf dem Spaziergang gestern vormittag – da merkte ich mit Schrecken, wieviel ich ihm schon war. Da sagte er es mir plötzlich ... Ich hatte bis dahin geglaubt, es sei eine harmlose Spielerei zwischen ihm und mir, wie das ja hier gang und gäbe ist ...«

»Und was hast du ihm geantwortet?«

Reine Kinderaugen blickten auf mich hernieder.

»... daß ich dich liebhabe – nur dich! Und daß ich wieder zu dir zurückwollte ...«

Ich küßte stumm ihre Hände. Meine Tränen fielen darauf.

»... und daß er das nicht dir und keinem Menschen sagen dürfte, weil du es aus meinem Munde hören solltest!«

»Und er?«

»Er war tief erschüttert. Dann nahm er von mir Abschied. Er wollte sofort St. Moritz verlassen auf Nimmerwiederkehr und wieder in die weite Welt hinaus! Nach Amerika, glaube ich! – Und er hat seinen Vorsatz auch gleich ausgeführt! Nicht wahr – er ist doch mit dir weg?«

»Ja. Er ist weg!«

Draußen fielen die Flocken. Sie schütteten nieder. Die Welt wurde ein wehendes Weiß. Die Welt verschwand – so wie jener verschwunden war – da oben – nicht durch mich – was konnte ich dafür, daß er, der Erfahrene, unvorsichtig eine zu schwache Schneebrücke betreten hatte? Er war nicht das erste Opfer der Berge und würde nicht das letzte sein...

Totenstille draußen, ein Tanz der Flocken vor den von Eisblumen überkrusteten Scheiben. Nur zuweilen Peitschengeknall und Schlittenglockenklang. Die Fenster wurden undurchsichtig. Immer enger wurde der Kreis des Lebens. Was atmete, barg sich im kleinen sicheren Raum. Mara und ich. Wir beide. Was brauchten wir sonst noch auf der Welt?

Wären diese Blätter nicht das, was sie sein sollen: die schonungslose Beichte eines Menschen mit seinen Irrungen, die Stimme eines Verstorbenen zu den Ohren derer, die durch ihn leben, seiner Söhne und Enkel, um ihnen manches Rätsel in seinem Erinnerungsbild zu klären – wären diese Schriftzüge nicht die Fibern und Nerven einer bloßgelegten Seele – ich könnte sagen – und es würde wahrscheinlicher klingen –, daß Gewissensbisse mir den Herzensfrieden dieser Tage zernagten. Ich könnte niederschreiben, daß immer wieder die Schattengestalt eines Dritten in der Ecke des Zimmers stand, wenn Mara und ich das Glück des Alleinseins genossen.

Nichts von alledem! Diese Tage hießen Versunkenheit und Vergessen.

Ich gab mich mit halbgeschlossenen Augen dem stillen Zauber dieser tröstenden weißen Stunden hin. Ich träumte den Traum des Lebens. Ich hatte einen schönen Traum ...


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