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Mir war noch ganz warm ums Herz, während ich durch das Dorf schlenderte. Und merkwürdig leicht war mir ums Herz. Fast froh. Denn nun hatte ich mich vor mir selber gerechtfertigt! Ich hatte mir Ablaß erteilt – für gewesene, läßliche Sünden, die gar keine waren – und – der leidenschaftliche Trotz gegen die steifleinene, selbstgerechte, erstickende Respektabilität da oben raunte es mir zu: auch für die kommenden Zusammenstöße zwischen dem, was andere wollten, und dem, was ich mußte.

Auf der Straße traf ich einen Bekannten. Auch ein Gletscherbruder. Ein Deutsch-Schweizer aus dem Berner Oberland. Er deutete zu einer Bergflanke schon ziemlich hoch über dem Tal empor. Auf ihr bewegte sich, für meine weitsichtigen Augen noch eben erkennbar, ein winziger schwarzer Punkt.

»Da geht er«, sagte mein Bergfreund, den Fernstecher einsteckend, und ich wußte, daß er Morris meinte, und erwiderte achtlos, denn ich wollte weiterkommen und selber allein sein: »Und immer allein!«

»Ja. Er ist menschenscheu. Schon seit zehn Jahren und mehr. Ich kenne ihn noch länger – noch bevor ...«

»Was war mit ihm?«

»Mein Gott ... etwas mit einer Frau – seiner Frau ... Genau weiß ich es auch nicht.«

Ich sah auf den schwarzen Punkt da oben, der sich inmitten der weißen Unendlichkeit kaum zu bewegen schien. Der neben mir schloß: »Ich weiß nur, daß sie schon vor Jahren im Ausland verstorben ist. Damals waren er und sie schon lange getrennt – oder geschieden. – Nun: Malen Sie heute was Schönes! Adieu!«

Schönes ... Es gab so viel Schönes auf der Welt ... Die ganze Welt war schön, wenn sie einem die Menschen nicht vergällten. Einem Künstler raubten, was sein Recht war. Nein: seine Pflicht gegen die unverdiente Gottesgabe des Talents, die ihm das Schicksal in die Wiege gebunden: das Schöne zu sehen – zu lieben – zu verkünden ...

Lachender Künstlertrotz war in mir. Künstlerkraft. Künstlerdrang: Die Welt in mich zu schließen, damit sie sich mir offenbart und ich sie den anderen. Ich lachte. Ich reckte die Arme aus, dehnte die befreite Brust und warf kampflustig den Kopf zurück und versuchte, der Sonne selber ins Angesicht zu sehen. Da hörte ich rasche, elastische Tritte. Konstanze kam an mir vorbei.

Ob durch Zufall ... Damals dachte ich über das alles nicht nach. Alles, was in jenen Tagen geschah, war mir Schicksalsfügung. Nur das eine war mir klar: Sie wollte mich. Sie griff nach mir, weil sie sah, daß sie mich schon in der Hand hatte. Was ich ihr sein sollte: ich weiß es nicht. Ich habe mich auch nie mehr darum gekümmert. Jedenfalls meinte sie es ernst. Denn sie setzte in diesen Tagen ihren Ruf für mich aufs Spiel. Von allen Seiten verfolgten uns Augen. Ihr schien das gleichgültig im Vergleich zu dem Einsatz – ob der nun Liebe, Koketterie oder Berechnung hieß.

Jetzt jedenfalls blieb sie ganz unbefangen stehen und gab mir lachend die Hand. Wir begrüßten uns wie zwei gute Kameraden. Wir verstellten uns voreinander – denn zwischen uns war nun schon mehr. Das lasen wir uns gegenseitig aus den Augen – und wußten, daß wir uns verstellten – und ich wußte, daß das auch nie anders zwischen uns gewesen war – immer wieder – immer – als daß wir uns, einer im andern, flohen und suchten. An ihrem Arm klirrten die Schlittschuhe. Sie ging zum See hinunter. Ich ging mit. Es war bei mir jetzt nicht nur ein Wink und Wille einer unbekannten Macht. Es war bewußter Trotz, mir meine Freiheit des Erlebens, des Schauens und Schaffens zu wahren.

Unten schnallte ich ihr die Schlittschuhe an. Entlieh mir selber ein Paar. Wir mengten uns nicht in den wimmelnden, farbenbunten, kalten Karneval, der auf der eigentlichen Eisbahn durcheinanderwirrte. Es führte ein Weg quer über den See. Den liefen wir dahin, liefen den Menschen davon. Die sonst totenstille Luft pfiff uns um die Ohren. Der See war nicht sehr groß. Aber mir schien es eine Fahrt im Sturmwind – hinaus – in freie Weiten – dem Kerker entsprungen – zu rettendem Ufer ...

Da war ein Traum: Ein Wirtshaus im Walde. An einem anderen kleinen See. Wir beide am wärmenden Ofen. Wir atmeten rasch und unruhig, als wüßten wir Verfolger hinter uns. Wir saßen eng beisammen in der Ecke einer Hütte – in Winter und Wald – wann war das schon einmal gewesen? Wo hatte es die Sonne dazumal beschienen – sie, die draußen vom blauen Himmelsdom gleichmütig über die Jahrhunderte und Jahrtausende dahinstrahlte ...?

Da war ein Märchen: Der Märchenwald im glitzernden, strahlenden Schnee. Weiße Lasten auf zartem Lichtgrün. Weißer Reif an tausend braunen Säulen. Gnomen von Eiszapfen an leise sprudelnden Quellen. Sonst kein Ton. Nur wir beide. Unsere Schritte lautlos im weichen Weiß. Immer weiter hinein in das stille Zauberland ... in das Träumen des langsam verrinnenden Tages ...

Was wir an dem Tag miteinander gesprochen – in der Erinnerung ist mir nichts davon geblieben. Worte, die von Herz zu Herz erschütternd gingen, waren es nicht. Sie hielt zurück. Sie wartete. Sie ließ mich reden. Und ich genoß schon unsere Einsamkeit zu zweien – dies Glück der Stunde, das mein Recht war! Eine unbestimmbare Scheu hielt mich ab, mir durch Worte dies Glück selbst zu zerstören, indem ich es in ein Unrecht verwandelte – Unrecht an dem, was da drüben auf der anderen Seite des Sees war – und mein war – und meiner harrte ...

Erste Abendschatten mahnten. Menschenstimmen störten. Spaziergänger wanderten um den See herum nach Hause. Schneeschuhfahrer kamen von der Alpina herab. Wir liefen über die bleiche, fahl vergrauende Eisfläche heim. Da, in Nacht und Nebel und Grabeskühle unter unserem gleitenden Stahl fing meine Seele an zu frösteln. Mein Herz fror plötzlich in der Fremde. Oder ich wurde mir jetzt erst dessen bewußt, was, wie ich nun nachträglich fühlte, langsam dämmernd den ganzen Tag über in mir gewachsen war.

Irgend etwas wurde in mir frei. Der Zauber von gestern abend schwand allmählich. Er verwehte wie der leise Luftzug der Nacht, der mir im Laufen um die Ohren strich. Eine Entgötterung kam. Dies atmende, schöne, lebende Menschenbild neben mir, das zutraulich seinen Arm mit dem meinen verschränkt hatte, verblaßte. Wich in die Sternenferne zurück, aus der es geheimnisvoll gekommen. Es legten sich Schleier davor, so wie graues Zwielicht aus dem Panzer des Sees zu unseren Füßen dünstete. Und immer mehr empfand ich es: Neben mir war eine Fremde – eine fremde Frau ...

Neben mir glitt nun im Dunkeln nur noch ein Schatten, wie aus dem Nichts entstanden, in das Nichts zergehend, das uns finster umfing. Aber dort, am anderen Ufer, winkten tröstende Lichter durch die Nacht: Komm wieder! Komm wieder! Hier ist deine Heimat des Herzens! Hier wartet ein Herz auf dich ...

Wir waren etwas von der Richtung abgekommen. Wir betraten das Seeufer an einer verschneiten, unwirtlichen Stelle. Nirgends eine Bank, vor der ich niederknien und ihr die Schlittschuhe abschnallen konnte. In den Schnee – wie ich es getan – konnte sie sich nicht setzen. Und auch nicht mit den Schlittschuhen an den Füßen den steilen, vereisten Hang hinauf. Sie sah mich an. Zum erstenmal glänzte eine lauernde Weiberlist in ihren Augen. Ein Weib wie andere. Ich war heute ihr Ritter. Ich hob sie auf und trug sie die wenigen Schritte zur Höhe empor. Sie ließ es geschehen. Sie legte die Arme um meinen Hals. Ihr schönes Gesicht schaute im Mondschein gleichmütig, bleich wie das einer Toten, auf mich nieder. Der Mond war so hell, daß unser beider Schattenbild langverzerrt, schwarzflackernd auf dem grellen Schnee wie ein Nachtgespenst mit zwei Köpfen hinter uns herglitt.

Wir schritten, sie die Schlittschuhe am Arm, eilig dahin. Denn nun froren wir wirklich. Uns klapperten die Zähne, so daß wir nicht viel mehr sprachen. Als wir uns in der Hotelhalle trennten, las ich beim freundschaftlichen Händedruck einen Zweifel, eine Frage in ihrem glänzenden Blick. Ich tat nicht derlei. Ich eilte zu der Treppe und wollte sie hinaufstürmen, zu ungeduldig, den Lift zu benutzen. Da kam mir von oben Morris entgegen.

»Ich suchte Sie schon – – wegen unserer Bergbesteigung«, sagte er. »Ich ging bis zum See. Aber ich konnte dort nicht warten. Denn ich sah in der Dunkelheit etwas Seltsames. Eine junge Dame kniete da im Schnee und weinte ...«

Ich starrte ihn wortlos an. Er fuhr fort: »Sie konnte sich da draußen den Tod holen – in der Kälte und in der Nacht. Denn auf die achtete sie gar nicht. Auch auf mich anfangs nicht, als ich ihr zuredete. Schließlich gelang es mir, sie zu beruhigen. Ich gewann ihr Vertrauen. Sie duldete es, daß ich sie in ihr Hotel zurückführte. Sie wohnt hier.«

»Welche Nummer ...«

»Oben im ersten Stock – die zweite Tür – wenn Sie das interessiert. Aber nun möchte ich wegen unserer Gletschertour ...«

»Bitte ... nachher! ... Ich kann jetzt nicht ...« Ich vermochte kaum zu sprechen vor Schrecken. Mir, dem Bergsteiger, waren die Knie so bleischwer, daß ich nur langsam, Stufe um Stufe, die Treppe bezwang. Und mir dabei unerbittlich klarmachte: In deiner Braut hat die Genesung von dem Nervenanfall auch die Verzeihung für dich geweckt. Sie hat nicht gewußt, wo du den Tag über warst. Sie hat dich liebevoll erwartet. Sie ist vor das Dorf gegangen, um sehnsuchtsvoll nach dir auszuspähen, und hat gesehen, wie du die andere auf deinen Armen vom See emportrugst ...

Im Zimmer oben die beiden Damen. Eine beklemmende Stille. Keine Vorwürfe. Kaum Tränen. Ein bleiches, süßes, geliebtes Gesicht. Erstarrt in bitterem, leidenschaftlichem, blindem Schmerz. Eine Bewegung tiefgekränkten Stolzes. Die eine kleine weiße Hand faßte zitternd nach der anderen. Ein leises, feines Klingen. Der Verlobungsring rollte über den Tisch und blieb vor mir liegen.

Ich nahm ihn nicht. Das alles war mir unfaßlich. Diese Hand, von der er sich gelöst, war doch mein. Dieser Mensch dort drüben, mein künftiges, zweites Ich und besseres Selbst, war doch mein. War mein natürliches Anrecht auf Erden, so gut wie Leben, Luft und Licht.

Ich redete. Was ich redete, weiß ich nicht mehr. Schweigen – Schweigen eines todwunden Herzens die Antwort. Auch die Mutter schwieg. Ich merkte, daß sie diplomatisierte. Auch sie nahm den Verlobungsring nicht an sich. Er blieb auf dem Tisch liegen, wo er war. Ein herrenloses Gut. Die Mutter sagte nicht, daß ich ihn an mich nehmen möge. Das war mir wieder ein Schein von Hoffnung. Sie gab mir mit den Augen einen Wink, für heute abend lieber zu gehen. Ich ging ...

Am nächsten Morgen schien mir alles wie ein Traum. Strahlend grüßte die späte Sonne in mein Zimmer. Wolkenlos blaute der Himmel über dem Firn. An dieser Reinheit des neuen Tages, dieser Helle und Heiterkeit mußte alles Kranke von gestern genesen. Mein Herz schlug bang vor Hoffnung. Ich wartete auf das Wunder. Nein: auf das Selbstverständliche, daß Mara zu mir zurückkehrte. Niemals war mir der leiseste Zweifel an ihrem Besitz gekommen. Auch jetzt noch konnte ich mich nicht zu solch einem Zweifel durchringen. Ich fand nicht die Kraft dazu. Ich war ihrer so sicher wie meiner selbst. Ich zerbrach in mir uns beide, wenn ich uns beide innerlich, sei es auch nur in Gedanken, trennte ...

Eine Stunde. Noch eine Stunde. Ich stand müßig am Fenster, harrend, bis es an meine Tür klopfen und mich zu Mara entbieten würde. An die andere, die Göttin von gestern, dachte ich im Fieber meiner Reue und Angst so wie an einen Toten – aus meinem Gesichtskreis und bald auch aus meinem Geist Geschiedenen. Dieser flüsternde Hauch von jenseits der Dinge, durch den ich in ihr etwas Überirdisches gesehen, vertrug nicht ihre Menschennähe und ihren Alltag. Er war verweht. Die Luft wieder klar und still im ewigen Rätsel des Seins. Mochte ich auch für einen Augenblick aus dem Traum des Lebens erwacht sein – nun träumte ich ihn weiter wie alle meine Brüder und Schwestern unter der Sonne und war ein Mensch wie sie in Leid und Lust.

Nur in Leid. Denn nichts pochte an meine Tür. Kein Lebenszeichen kam. Nur da unten, auf der Straße, lachte und lärmte das Leben in Schlittengeklingel und Peitschengeknall, Autogeblöke, heiteren Stimmen in allen Sprachen. Ich sah Morris. Er ging quer über die Straße in das Hotel. Er verhandelte da wohl mit den Führern.

Noch eine Viertelstunde. Dann riß mir die Geduld. Hinüber zu Mara! Sie wartete auf meinen ersten Schritt. Das war ja eigentlich selbstverständlich. Das war ihr gutes Recht. Hinüber und den schmalen, goldenen Reif, der dort noch lag, wieder an ihre Hand gesteckt. Ein Kuß der Reue auf diese Hand. Ein Kuß der Liebe auf ihre lieben Lippen, und alles war gut.

Jetzt erst fühlte ich so recht, wie ich sie liebte. In Eile machte ich mich zurecht. Noch ein Blick dabei durch das Fenster – zerstreut – mir war es ganz gleich, was da unten passierte – und dabei stand mir das Herz still.

Da unten trat Mara mit Morris aus dem Haus. Er war offenbar gekommen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Das sah ihm, dem Menschenscheuen, der den Frauen sonst weit aus dem Wege ging, nicht ähnlich. Aber nachdem er sie gestern in ihrer Verzweiflung aus den Unbilden von Nacht und Kälte als Retter heimgeleitet hatte, war es sein Recht. Vielleicht sogar eine Pflicht der Höflichkeit.

Doch dies nun war wahr: Sie gingen beide freundschaftlich nebeneinander dahin, auf einem Spaziermarsch in die Winterwelt hinaus. Ich sah deutlich Maras Gesicht. Es war blaß und ernst. Aber sie hörte freundlich sanft Morris zu. Seine Züge schienen belebter als gewöhnlich. Er, der sonst die Wortkargheit selbst war, erzählte. Er lächelte dabei trotz seiner Verschlossenheit. Und jetzt – jetzt lächelte sie mit, als er auf seinen geliebten Teckel deutete, der vor ihm herlief. Offenbar berichtete er stolz irgendeinen neuen Beweis übernatürlicher Klugheit seines kleinen Freundes. Das Tier galt ja auch als ein Hundewunder. Mara nickte lebhaft. Bückte sich. Streichelte das krummfüßige Geschöpf. Sie und Morris bogen, eifrig sprechend, um die Ecke.

Ich weiß nicht, wie ich hinüber in den Salon und zu Maras Mutter kam. Jedenfalls stand ich ein paar Augenblicke später dort. Ich war außer Atem. Ich war außer mir. Ich konnte kaum sprechen. Ich war ein Mann, dem bitteres Unrecht widerfahren. Mein erster Blick galt dem Ring auf der Tischfläche. Er war fort.

»Ich habe ihn in Verwahrung genommen!« sagte auf meine ungetane Frage die alte Weltdame. »Ich kann Mara nicht zumuten, ihn wieder anzustecken. Wenigstens solange alles zwischen ihr und Ihnen so völlig ungeklärt ist!«

Ich stampfte mit dem Fuß in meinem Zorn und meiner Aufregung und meinem schlechten Gewissen, das in mir fortwährend mit dem Gefühl der Schuldlosigkeit gegenüber einer höheren Gewalt rang – und jetzt noch mit der Überzeugung rang, daß mir soeben ein bitteres Unrecht geschehen. Ich knirschte: »Ich will ja alles aufklären ...«

»Das sagten Sie schon vorgestern abend. Aber dem widersprach, was Mara gestern abend sehen mußte!«

»Es ist vorbei! Ganz vorbei!«

»Sie können nicht erwarten, daß man Ihren Worten mehr glaubt als Ihren Handlungen!«

»Wem soll man denn dann glauben?«

»Dem, was Sie künftig tun und lassen werden!« sagte Maras Mutter sehr kühl und bestimmt. »Das hängt von Ihnen ab, und danach wird es sich entscheiden, ob dieser Riß sich wieder zusammenzieht, von dem die Welt ja vorläufig noch nichts zu wissen braucht.«

Das sah ihr so ähnlich: Die Welt! ... Immer die Welt! ... Ich stürmte im Zimmer auf und ab. Ich blieb, bis aufs Blut gereizt, vor der kerzengerade im Sessel sitzenden alten Dame stehen. Ich ahnte damals noch nicht, daß das ganze Unheil von ihr – und nicht eben von meiner sanften, guten Mara ausging.

»Wie soll denn das wieder gutwerden!« rief ich erbittert, und ich fühlte, daß das Blut, das mir dabei heiß zu Kopf stieg – daß das nichts anderes als jähe, wilde, auflehnende Eifersucht hieß – ein Gefühl, das ich in der Sicherheit des Besitzes Mara gegenüber gar nicht kannte. »Wie ist denn eine Versöhnung möglich, wenn Mara, ohne sich um mich zu kümmern, jetzt eben mit einem fremden Mann da draußen spazierenläuft!«

Auf dem strengen Gesicht meiner angehenden Schwiegermutter malte sich unverhohlenes Erstaunen.

»Ich verstehe Sie wirklich nicht!« sagte sie. »Sie nehmen als Bräutigam plötzlich völlige Freiheit für sich in Anspruch! Sie widmen sich, blind für alles andere, einer fremden Dame, und dann sind Sie empört, wenn Mara – nicht etwa Gleiches mit Gleichem vergilt und ihren Ruf aufs Spiel setzt – sondern sich nur einen bescheidenen Bruchteil der Freiheit erlaubt, von der Sie ausgiebig Gebrauch machen, als seien Sie überhaupt nicht gebunden! Ja – glauben Sie denn, daß von zwei Teilen nur der eine sich gebunden erachten soll? Sie selber geben Mara ihre volle Bewegungsfreiheit zurück!«

»Und was ich dabei empfinde, wenn ich sie da als meine Braut mit einem fremden Manne gehen sehe ...«

»... ist genau dasselbe,« sagte das graue Bild ohne Gnade vor mir – »was Mara empfunden hat und empfinden mußte, als sie Sie vorgestern – und gar gestern mit einer fremden Frau zusammen sah. Nun wissen Sie selbst, wie ihr da zumute sein mußte!«

»Ich dulde es aber nicht!« schrie ich.

»Und doch wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben, als geduldig hier zu warten, ob Mara noch einmal freiwillig zu Ihnen zurückkehrt. Ich weiß es nicht – offen gestanden –, ich glaube es nicht. Sie ist zu bitter verletzt. Aber man darf die Hoffnung nicht aufgeben!"

»Ich habe ein Recht auf Mara!«

»Sie haben sich ausdrücklich und schroff das Recht auf Freiheit als Künstler zugesprochen«, sagte unerbittlich die alte Dame. Sie war nicht dumm. In Wortgefechten zog man bei ihr meist den kürzeren. "Dann müssen Sie als Künstler auch anderen Menschen wenigstens einige Freiheit gönnen!« Ich saß wieder in meinem Zimmer, die Schläfen zwischen den Fäusten. Mein Kopf war wirr und leer. Ich faßte das nicht, daß das, was ich bisher besaß, mir nicht mehr gehören sollte. Ich war als Künstler gewohnt, mir aus der Welt herauszuwählen, was mir gefiel. Und was vor meinen Augen Gnade gefunden, das wandelte in reinem Licht, lebte und atmete durch mich, für mich, wie ich in ihm. Statt dessen löste sich da ein Stück meiner selbst, suchte, kraft eigenen Willens, seinen Weg, der sich von meinem trennte – seinen Lebens- und Schicksalsweg – fort ... fort von mir ...

Halten ... sie halten ... ihr nachschreien: Bleibe! ... Bleibe! ... Meine Stimme erreichte sie nicht ... irgendwo ... da draußen ...

Ich saß und sann. Ohne Reue. In düsterem Trotz – aus starrem Staunen heraus, daß man solch ein Narr des Schicksals sein konnte. Und doch ein Ahnen der Selbsterkenntnis in meinem Zähneknirschen, daß manche Künstler – und darunter damals der, der jetzt als ein anderer diese Zeilen schreibt – große Kinder sind – voll einer spielerischen Selbstsucht, über die sie sich so wenig Rechenschaft geben wie die Kinder.

Nur daß die Kinder mit Puppen spielen und die Erwachsenen mit Menschen. Jetzt merkte ich, was es heißt, mit einem Menschen spielen – mit einem Menschen und seiner Liebe ... so wie ich es mit meiner Braut getan ...

Ich verbrachte den Tag dumpf in meinen vier Wänden. Die dienstbaren Geister des Gasthauses hielten mich für krank. Sie berichteten es unten. So fiel mein Fernbleiben nicht auf. Ich wagte es nicht, meine Zimmer zu verlassen. Es war beinahe sicher, daß ich ihr – der anderen – irgendwo auf der Treppe und in der Halle begegnete. Sie wußte das schon einzurichten. Sie lauerte auf mich wie die Spinne im Netz. Ich war ihre Beute – ich – der ich, in ihrem Bann, mich meiner Freiheit gerühmt, auf mein Recht auf Freiheit gepocht hatte ...

Gestern abend war sie mir völlig gleichgültig gewesen. Ich mußte heute früh mich erst ihres Namens entsinnen ... Konstanze – ja: Konstanze. Jetzt änderte sich mein Gefühl. Sie trat wieder in meinen Lebenskreis. Ich begann, sie zu hassen, als die Urheberin meines Unglücks. Ich haßte sie heiß. Ich haßte zwei Menschen – sie, die fremde Frau – und ihn, den fremden Mann – an dessen Seite Mara jetzt eben draußen irgendwo plaudernd und lächelnd schritt, so als sei ich überhaupt nicht mehr auf der Welt.

Vielleicht nur heute. Morgen war auch noch ein Tag. Ich stand in der neunten Vormittagstunde verbissen am Fenster. Ich wollte, sowie die Zeit genügend vorgerückt war, hinüber zu Mara, mir den Eintritt erzwingen, mich ihr zu Füßen werfen, mir mein Recht holen, Aug' in Auge – nein: Mund auf Mund! Ich war meiner Sache sicher, wenn ich ihr nur erst gegenüberstand.

Ich hatte Morris nicht in das Haus treten sehen. Aber herauskommen sah ich ihn. Mit ihr. Sie schritten, eifrig miteinander redend, die Dorfstraße hinab. Sie schienen sich seit gestern schon viel nähergekommen zu sein ...

An diesem Tage war ich wirklich krank. Meine überreizten Nerven gaben nach. Ich lag bis zum Abend mit dumpfem Kopfschmerz auf dem Bett und starrte zur Decke, ohne zu essen und zu trinken. Der Kellner meldete unten, ich sei noch immer unpäßlich. Es war nach mir gefragt worden – sagte er mir, nach Sonnenuntergang – von einer Dame. Von welcher denn? Ich fuhr empor: Nun – von der, mit der ich vorgestern über den See drüben gewesen! Ich lachte zum Erstaunen des Mannes laut auf, um eine törichte, flüchtige Hoffnung ärmer – daß das ein Lebenszeichen von Mara gewesen ...

So ging das nicht weiter. Als wieder am nächsten Morgen warmes Sonnengold mein Zimmer füllte, hatte ich mich wieder in der Hand. Ich war nicht gesonnen, länger tatenlos meinem Nebenbuhler den Vortritt zu lassen. Ich wollte jetzt handeln, ehe er kam. Ich ging, trotz der frühen Stunde, hinüber zu den Damen. Die Jungfer wischte noch Staub im Salon. Ich ließ mich durch sie bei Mara melden. Sie kam gleich wieder zurück. Das gnädige Fräulein bedauerte, mich nicht empfangen zu können. Ich schickte das Kammermädchen hinein mit der Bitte, mir eine Stunde zu bestimmen.

Die Antwort war sofort wieder da: Das sei dem gnädigen Fräulein leider unmöglich!

Ich biß die Zähne zusammen. Ich stürzte davon. Ich gab das Spiel noch nicht verloren. Ich setzte mich in meinem Zimmer hin und schrieb einen Brief. Mein Atem glühte mir über dem Papier. Mein Herzblut strömte mir aus der Feder. Alle Nöte meiner Seele zitterten in den Zeilen. Schluß! Ich atmete tief auf. Ich versiegelte diese Beichte – diese Bitte – dieses Gebet um Gnade und schickte es hinüber.

Ich ging im Zimmer auf und nieder und wartete mit bald stürmendem, bald stockendem Herzschlag, der mir den Atem benahm. Unten vor dem Hotel stand ein Schwarm von Wintersportlern im Schnee. Konstanze unter ihnen. Sie war wie gewöhnlich der Mittelpunkt. Ihr schönes, von dem Sonnenfrost gerötetes Gesicht lachte. Ihre roten Lippen bewegten sich in oberflächlichem Geschwätz. Aber mir war, als ob dabei ihre Augen – diese großen, für mich entzauberten und enträtselten Augen, die mir jetzt kalt, fast drohend vorkamen – flüchtig an den Stockwerken des Hotels entlangglitten und ein Fenster suchten – das Fenster, von dem ich rasch, wie vor dem bösen Blick mich schützend, zurücktrat. Mein Gesicht war so finster, wie ihres mit weißen Zähnen lachte beim Abmarsch mit ihrem lärmenden Wintergefolge. Ich haßte die da unten jetzt. Ich haßte sie ...

Der Platz unten war leer. Es pochte an meine Tür. Der Kellner stand auf der Schwelle. Er trug einen Brief auf einem Teller. Gottlob – er kam nicht mit leeren Händen.

Mara hatte Antwort geschickt.

So rasch? Der Mann war ja kaum zwei Minuten weggewesen. Sie hatte gar keine Zeit gehabt, zu schreiben. Ich faßte mit zitternder Hand nach dem weißen Umschlag. Ich sah einen merkwürdigen, verhaltenen Gesichtsausdruck des wohlgeschulten Kellners, der sich diskret und geräuschlos zurückzog, um nicht Zeuge des Spiels meiner erbleichenden Züge zu sein. In meiner Hand hielt ich meinen eigenen Brief. Sie hatte ihn mir uneröffnet zurückgesandt ... Ich weiß, daß ich in diesem Augenblick so blind und ungestüm fühlte – oder vielmehr wollte – wie ein gescheuchtes Wild. Nur Flucht – Flucht vor den Menschen – vor mir selber – weg – weg – aus diesem Kerker meines Stolzes – aus diesem Grab meiner Hoffnungen – aus diesem Fegefeuer meiner Seele in Schnee und Eis – weg – irgendwohin ...

Ich nahm mir nicht etwa Zeit, meine Sachen zu packen. Ich zog mir nur – in unbewußter Hast und Angst vor mir, vor dem Schicksal, vor allem – meine Bergausrüstung über den Leib, griff nach der Eisaxt und rannte davon, in die weite, weiße Welt draußen und in die Morgensonne des Engadins hinein.


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