Rudolph Stratz
Die siebte Pille und andere abenteuerliche Geschichten
Rudolph Stratz

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Wer . . .?

Hundert Amoretten umgaukelten den kahlen Graukopf des Ersten Staatsanwalts. Ein Rokokogesindel Mozartscher Noten huschte unter seinen Händen aus den Tasten. Er phantasierte. Die junge Dame neben ihm hatte nicht mehr nötig, die Blätter umzuwenden. Er endete. Ein Gemurmel im Salon. Ein gedämpfter Beifall.

»Sie hätten Musiker werden sollen, Herr Erster Staatsanwalt!«

»Ich war noch vor zwanzig Jahren – schon als junger Staatsanwalt – nahe daran!« sagte er zu seinen Gästen. Er war der Hausherr. »Was haben Sie denn da für einen Dolch im Gewand, gnädiges Fräulein?«

»Ich hab' es ganz unten aus Ihren Noten herausgekramt!« Die junge Dame am Klavier legte bittend die Hände zusammen. »Diese Präludien von Bach . . . Ja warum denn nicht?«

Der Glast der Klavierkerzen glitzerte auf der Glatze unter ihr, die sich heftig verneinend bewegte. Es grollte gedämpft unter dem grauen Schnurrbart:

»Nun haben Sie mich glücklich völlig aus der Stimmung gebracht . . .«

»Mit dem guten alten Bach . . .?«

Der Erste Staatsanwalt antwortete nicht. Er warf sich vornüber in die Tasten. Blitze und Donnergewölk . . . Beethoven . . . Plötzlich hörte er auf und fuhr sich gereizt, abgearbeitet, wie sonst am Ende eines langen Schwurgerichtstages, über die gefurchte Stirne.

»Nun ist man wieder Gerichtsmensch!« sagte er verdrossen. »Und hat all das Zeug im Kopf . . . .all das Zeug . . . seit zwanzig Jahren . . .«

»Ja . . . aber was hat denn das mit der Präludie zu tun?«

Noch einmal dröhnte das Klavier. Der Staatsanwalt floh nach Bayreuth. Flammensäulen. Rauschen des Rheins. Windsbraut um Walhall. Dann riß er mit einem Ruck die geballten Fäuste von den Tasten, legte sie auf die Knie und saß stumm da. Im Zimmer war es beklommen still. Die junge Dame weinte beinahe.

»Ich weiß gar nicht, was ich da angestellt hab' . . . das arme Präludium . . .«

»Das erinnert mich an die ganze Geschichte vor zwanzig Jahren!« Der Staatsanwalt nahm sich, nach seiner Gewohnheit, um sich zu beruhigen, den Zwicker von der streng gebogenen Nase und polierte ihn sorgfältig mit dem Taschentuch. »Und da sind alle guten Geister natürlich zum Kuckuck . . .« Er drehte sich jäh auf dem Klavierstuhl gegen die Zuhörer. »Ich hatte damals Gäste, gerade wie jetzt . . . Ich spielte ihnen dieses Bachsche Präludium vor . . . genau in dem Augenblick, wo die Geschichte anfing. . . . Wissen Sie was: Ich werd' sie Ihnen lieber erzählen, statt daß ich Ihnen heute ein Katzenkonzert gebe! Es ist doch alles plötzlich wieder in mir aufgerührt . . . Und sonderbar war die Sache schon . . . das Sonderbarste, was ich je erlebt hab' . . .«

*

»Ich war noch ein Jüngling mit lockigem Haar – will sagen frischgebackener Staatsanwalt am Landgericht – eben verheiratet – netter, gesellschaftlicher Verkehr, wie ihn eine mittlere Industriestadt mit sich bringt. Die Herren fabrizierten Gardinen, deckten sich in Tüll ein, rangierten nach der Zahl ihrer Webstühle. Aber viele von den Damen waren schöngeistig – musikalisch. Ich hatte gleich einen Kammermusikabend gebildet. Jeden Sonnabend. Wir sitzen da. Ich spiele auf dem Bechstein. Da sehe ich über das Notenheft hinweg, in der plötzlich leise geöffneten Flurtüre den mir ganz flüchtig bekannten Architekten Merz, einen jüngeren, frischen, blonden Mann, der mir, im Mantel, den Hut in der Hand, aufgeregt und geheimnisvoll ein Zeichen gibt, ich möge schnell zu ihm hinauskommen . . .

Und wie ich auf den Gang trete, hält er mir schon meinen eigenen Paletot mit beiden Händen zum Anziehen hin und drängt atemlos . . . in Absätzen . . .

»Ich hab' meinen Wagen draußen! Mein Schwager Twerenbold muß Sie sofort sprechen . . . Sie wissen vielleicht nicht . . . Ich bin der Bruder seiner Frau. Meine Villa liegt oben . . . an der Schönen Aussicht, neben der seinigen . . . Ich wurde in aller Eile hinübergerufen . . . und her zu Ihnen . . .«

»Wenn Herr Twerenbold mich sprechen will,« sage ich gemessen und etwas ärgerlich, ohne in das dargebotene Ärmelloch zu fahren, »so bitte ich ihn, sich zu mir zu bemühen!«

»Das kann er doch nicht, Herr Staatsanwalt!«

»Warum nicht?«

»Ja – weil er im Sterben liegt . . .«

»Und da verlangt er nach mir?«

»Er hat Ihnen ein Geständnis zu machen! Mehr weiß ich auch nicht.«

Jetzt war ich ganz Staatsanwalt.

»Kommen Sie, Herr Architekt!«

*

In dem dunklen Inneren des Wagens – in dem Mordslärm des Rumpelkastens auf dem Pflaster – überlegte ich: Twerenbold . . . Ich traf ihn öfters im Gesellschafts-Kasino . . . Gesprochen hatte ich mit ihm nie viel . . . denn man konnte mit ihm nur über Strumpfwaren reden . . . Nicht mehr der Jüngste . . . korpulent und ein wenig kurzatmig – glattrasiert – eine Geldmaschine – ein höfliches Hauptbuch. Sicherlich auch korrekt wie ein Hauptbuch. Wieso der jetzt, in seiner letzten Stunde, auf die Staatsanwaltschaft verfiel . . .? Ich fragte in die schwarze Wagenecke neben mir, in der als roter Punkt die Beruhigungszigarre des aufgeregten Architekten glimmte:

»Ihr Herr Schwager ist doch sehr wohlhabend?«

»Klotzig reich!«

»Verheiratet?«

»Feste!«

»Kinder?«

». . . 'n kleinen Junge und ein noch kleineres Mädel.«

»Und – verzeihen Sie mir als Amtsperson die Frage – wie ist denn so die Ehe?«

»Na – bei meiner Schwester – offen gesagt – eine Verstandesehe. Wir waren von Haus aus nicht mit Moneten gesegnet. Sie ist ja auch ein Dutzend Jahre jünger als ihr Mann . . .«

»Und er . . .?«

»Gott – eben ein Strumpfwarenfabrikant. Und sie eine zartbesaitete Seele.«

»Also – harmonisch ist die Ehe nicht . . .«

»Na – wenigstens kleinere barometrische Störungen sind an der Tagesordnung.«

»Hm . . .«

»Aber tragisch sind die Kabbeleien in keiner Weise! Nach einer Stunde vertragen sie sich wieder . . . kenn' ich . . .«

»Also wirklich ernste Differenzen . . .«

»Ausgeschlossen! Total ausgeschlossen! Eine Ehe wie tausend andere! . . . So . . . bitte, Herr Staatsanwalt . . . da sind wir an Ort und Stelle . . .«

*

Im Vorraum zwischen Palmen, Springbrunnen, Marmor-Venus ein vollbärtiger Herr. Ich drückte ihm die Hand.

»Wie steht's, Herr Stadtpfarrer?«

»Er zählt die Minuten, bis Sie kommen! . . . Seien Sie so milde als Ihr Amt es gestattet, Herr Staatsanwalt – was Sie auch hören werden . . .!«

»Glauben Sie wirklich, daß ich als Staatsanwalt etwas von ihm hören werde?«

Der Bart des Geistlichen an meinem Ohr:

»Es ist doch ein Selbstmord! . . . Er hat Gift genommen. Vor einer halben Stunde.«

*

Und während ich mich dem Zimmer nähere – plötzlich, jetzt erst – im Drang der Dinge fällt es mir ein: Als ich heute gegen Abend von Gericht nach Hause kam, hat meine Frau mir erzählt: . . . »Ach ja – und dann ist auch Frau Twerenbold vorbeigekommen und hat ein Weilchen bei mir gesessen und auf dich gewartet, weil sie dich sprechen wollte, und ist dann wieder weggegangen!« . . . Ich hatte der Sache keine Bedeutung beigelegt. Es schwebte ein Verfahren gegen den früheren Twerenboldschen Gärtner aus § 242, wegen Diebstahls – ein ganz unbedeutender, alltäglicher Fall. Ich dachte, sie sei deswegen dagewesen. Jetzt gewann dieser Besuch ein ganz anderes Gesicht. Offenbar hatte die Frau Twerenbold schon etwas Schlimmes wegen ihres Mannes geahnt. Besonders aufgeregt schien sie aber nicht gewesen zu sein! Das hätte meine Frau mir mitgeteilt.

*

Da drinnen liegt der Fabrikant Twerenbold im Bett. Ich erkenne das gemessene, frostige, glattrasierte Kaufmannsgesicht unbestimmten Alters kaum wieder. Es ist von Schmerzkrämpfen verzerrt. Kalter Schweiß auf der Stirne. Schweres Röcheln durch die Stille des Zimmers. In dem ist außer mir nur der Arzt.

»Herr Sanitätsrat . . .?«

Der Doktor leise: »Er hat nur noch eine, höchstens zwei Stunden zu leben!«

»Ist er bei sich . . .?«

*

Es ist, als ob der Herr Twerenbold das hörte. Er macht eine einladende Bewegung mit der schmerzgeballten Hand nach dem Stuhl am Bett. Er flüstert erschöpft:

»Bitte – nehmen Sie Platz, Herr Staatsanwalt!«

Und dann, als ich sitze, fängt plötzlich Twerenbold in seiner Pein, mit den verfallenen, nüchternen Zügen, in denen schon der Tod wohnt, zu feixen an . . . Er zwinkert mir mit den halb erloschenen Augen förmlich ironisch zu – grausam überlegen – als spiele er, der Sterbende, mit dem Staatsanwalt, der ihm nichts mehr anhaben kann, wie die Katze mit der Maus.

»Sie haben einen Höllendusel gehabt, als Sie vor einem Vierteljahr hierherkamen!« sagt er mühsam und befriedigt-boshaft. »Und Sie haben gründlich vorbeigehauen! . . . Es tut mir ja leid, daß ich Ihnen die Unannehmlichkeit bereiten muß! Aber es geht nicht anders!«

»Worum handelt es sich?«

»Um Ihren größten Fall, der Ihnen gleich in den Schoß fiel und mit Ihrem Namen als Staatsanwalt durch alle Blätter ging . . .«

»Um die Ermordung der Frau Roland?« . . .

Etwas Eisiges legt sich auf meine Hand. Es ist die Rechte des sterbenden Fabrikbesitzers Twerenbold. Er flüstert:

»Ich war im Zuhörerraum, als Sie vor dem Schwurgericht den Kopf des Mörders verlangt haben . . .«

»Er sitzt wenigstens seit vier Wochen auf Lebenszeit im Zuchthaus!«

». . . Ein Wunder . . . wenn man . . . die Gabe hat . . . den Geschworenen das Bild so plastisch zu malen wie Sie . . . Da liegt die schöne Rix Roland . . . die eleganteste und reichste Frau der Stadt . . . um zehn Uhr vormittags . . . in ihrem sonnigen Boudoir . . . tief brünett . . . im zitronengelben Morgenkleid . . . eine Kugel mitten im Herzen . . .«

». . . Und die Dienstboten sehen den Mörder aus dem Salon stürzen . . . nehmen ihn im Park fest!«

Drüben ein rätselhaftes und unheimliches Lächeln auf den hippokratischen Zügen:

»Hat der junge Mann jemals gestanden?«

»Nein. Weil er wußte, daß das Leugnen allein ihn vor dem Schafott bewahrte.«

». . . Aber . . .« Der Herr Twerenbold stieß einen Laut aus, der halb Lachen, halb Stöhnen war. »Verurteilt habt ihr ihn doch . . .! Oh . . . Sie weiser und gerechter Richter . . . Läuft es Ihnen nicht allmählich ein bißchen kalt über den Rücken – wenn Sie daran denken, was Sie angerichtet haben? . . .«

»Herr Twerenbold: Ich bin öffentlicher Ankläger! Ich erfinde die Tatsachen nicht, sondern stelle sie zusammen! Dieser Viktor Zeska – nebenbei der größte Don Juan und leichtsinnigste Schuldenmacher der Stadt – kommt aus dem Zimmer Frau Rolands. Am Boden liegt rauchend der Revolver . . . Sie ist tot . . .«

»Mausetot . . .«

»Ein Selbstmord der mehr als lebenslustigen jungen Frau – auch durch die Schußrichtung, nach dem Gutachten der Büchsenmacher, völlig ausgeschlossen!«

»Aber völlig!«

»Auf dem Tisch neben der Toten steht offen das leere Kästchen, in dem sie ihr berühmtes Perlenkollier aufzubewahren pflegt. Den Schmuck selber findet man draußen im Park in der Tasche des Viktor Zeska! Was wollen Sie eigentlich noch mehr . . .?«

Der verscheidende Herr Twerenbold hatte das leidenvolle Hauptbuchgesicht in die Kissen zurückgelegt. Seine Stimme klang schon wie aus seltsamer Ferne:

»Haben Sie nie darüber nachgedacht . . .? . . . Es war noch Sommer . . . Alle Türen der Villa standen nach dem Park und der Straßenseite zu offen. Die Dienstboten waren in den Hinterräumen, in der Küche, und im Oberstock mit dem Aufräumen der Schlafzimmer beschäftigt. Es konnte sehr leicht jemand, der in dem Haus Bescheid wußte, ungesehen in das Boudoir der Rix Roland gelangen . . .«

»Selbstredend haben wir diese Möglichkeiten erwogen . . .«

». . . Und es konnte ebenso . . .« Der Herr Twerenbold ächzte. Das Sprechen bereitete ihm Mühe. ». . . während alles in dem Park hinter dem vermeintlichen Mörder herstürzte . . . dieser Jemand . . . unbehelligt nach vorn das Haus verlassen . . .«

»Und wer, Herr Twerenbold, sollte das gewesen sein? Ich habe Frau Roland noch persönlich gekannt. Sie war eine sehr fidele Person. Sie hieß nicht umsonst in der Stadt die lustige Strohwitwe. Ihr Mann war ja nie daheim. Ewig auf Geschäftsreisen. In jenen kritischen Tagen war er ja auch gerade in London. Aufgepaßt hat er auf sie nicht so, wie er sollte. Aber etwas Wirkliches gegen ihren Ruf lag nirgends vor. Alle unsere Ermittelungen führten immer wieder nur auf ihre Art, mit den Männern zu flirten. So auch mit dem Viktor Zeska. Kein Wunder! Dieser Mensch besaß ja offenbar die Gabe, allen Frauen den Kopf zu verdrehen . . .«

». . . Reden . . . Sie . . . nur weiter . . .«, sprach der Herr Twerenbold erschöpft, aber höhnisch.

»Dieser Zeska war auch sonst ein völlig unsicherer Kantonist! Ein Abenteurer. Die Automobilagentur, die er betrieb, stand vor dem Bankerott. Vergessen Sie nicht, daß ich in der Lage war, ihm nachzuweisen, daß er auf zwei, in den nächsten Tagen fälligen Wechseln das Giro gefälscht hatte! Er mußte sich um jeden Preis Geld oder Geldeswert verschaffen – das Perlenkollier repräsentierte ein Vermögen – oder er war verloren . . .«

Der Herr Twerenbold schien einen schmerzfreien Augenblick zu haben. Er lag jetzt ganz friedlich – die bis dahin unruhig an der Decke zupfenden Hände ineinander gefaltet. Ich schloß:

»Und außerdem: Viktor Zeska hat uns nie ein Wort über den Mörder gesagt! . . . Er müßte ihn doch gesehen haben . . .«

»Nein!« schrie Herr Twerenbold plötzlich erzürnt, mit einer Stimme, deren Stärke man ihm nicht mehr zugetraut hätte. »Es war genau, wie er gesagt hat: Er hat den Mörder nicht gesehen! Denn der Mörder hat aus dem offenen Nebenzimmer heraus geschossen!«

»Woher wissen Sie das?«

»Weil ich dabei war . . .«

»Kennen Sie also den Mörder, Herr Twerenbold?«

»Ja.«

»Wer war es?«

Der Herr Twerenbold streckte mit einer mühsamen, aber wie triumphierenden Armbewegung den rechten Zeigefinger gegen mich aus und keuchte mit ganz weiten Augen und zwei feierlichen Falten um die eingefallenen Mundwinkel:

»Ich.«

»Sie? . . .«

»Ich . . .« bestätigte der sterbende Herr Twerenbold eifrig. Es kam noch einmal ein leises Leuchten in seine grauen Augen, die auch in seinen gesunden Tagen kalt und ausdruckslos gewesen waren – ein letztes Leben in seine glattrasierten, trockenen, zeitlosen Züge, die ebensogut einem Dreißiger wie einem Fünfziger gehören konnten – so als hätte ihn die Natur ein für allemal auf Lebensdauer für den Verbrauch fertiggeschnitzt. Das Charakteristische an diesem wenig interessanten Geschäftsgesicht war der willensstarke, geradezu brutale Mund. Der öffnete sich jetzt mit verzerrten Lippen. Etwas Unersättliches – Niegestilltes – ein leidenschaftlicher Abschied von der Welt – im Antlitz des zum Abgang von dieser Erde fertigen Strumpfwarenmannes.

»Ja . . . nicht wahr . . .?« Er stöhnt. Er macht einen furchtbaren Versuch, zu lachen. Aber es geht nicht mehr recht . . . ». . . Ich . . . ich . . . ausgerechnet ich. . . . Ich bin doch die verkörperte Prosa. . . . Ich bin so langstielig, daß sogar die anderen Strumpfwirker davonlaufen, wenn ich in den Klub komme . . . Ich bin doch ein Mensch, so kalt wie'n Frosch. . . . Nein . . .« Er schrie laut auf und wand sich. Man wußte nicht, war es körperlicher Schmerz oder Seelenqual. »Ich bin ein Mensch. . . . ein Mensch . . . ein Mensch wie andere . . . Reden Sie nicht. . . . Ich habe so gut das Recht gehabt, mich zu verlieben, wie andere . . .«

»In Frau Roland . . .?«

»War das nicht das koketteste Biest unter der Sonne? Hat sie nicht sogar mit mir angebandelt – einem Stockfisch wie mir? – Natürlich nur, um irgendeinen anderen von ihren Verehrern eifersüchtig zu machen? . . . Ich – ich kenn' sie . . . so schlau war ich schon, mir das zu sagen – dumm bin ich nicht. . . . Herrgott . . . wissen Sie, wie alt ich bin? . . . Achtunddreißig! Na also . . . Ich sehe nur immer aus wie mein eigener Großvater – Nun flirtet das sündhaft schöne Frauenzimmer mit mir . . . der sich nie mit den Weibern abgegeben hat – der in so 'was gar keine Erfahrung hat – keine Vorsicht hat – keine Praxis – Sie können gerade so gut ein Streichholz in 'nen Heuschober halten – so rasch ging's bei mir . . .«

Herr Twerenbold lag langgestreckt. Er sammelte mit geballten Fäusten Kräfte. Er stieß hervor:

»Ich hab' eben gesagt, ich hatte ein Recht, mich zu verlieben . . . Nee! hatte ich eben nicht! . . . Ich war ja verheiratet . . . Na . . . meine Ehe . . . Katz' und Hund . . . Fragen Sie nur meinen Schwager . . . und der weiß noch nicht die Hälfte . . . Damit fing's an, daß ich der Rix mein häusliches Elend gebeichtet hab' . . . Und sie tat, als höre sie teilnahmsvoll zu . . . als Freundin . . . Das machte sie mit allen Männern so . . . Mit allen Männern hat sie gespielt . . . Bis dann der Kerl kam . . . und mit ihr gespielt hat . . . Aber schon wie mit 'ner Puppe . . . sag' ich Ihnen . . .«

»Viktor Zesla?«

»Sagen Sie 'mal: Wissen Sie, warum sich die Frauen ausgerechnet in solche Menschen verlieben, von denen sie genau wissen, daß es Strolche sind . . .? Abenteurer . . .? gewissenlose Kerle . . .? Darum gerade – sagen die Frauen. Dieser Zeska brauchte ja nur ein Frauenzimmer anzusehen . . . Schon Schluß . . . Auch bei der Rix! . . . Wissen Sie . . . Solang' sie nur so 'rumgebandelt hat – mit Gott und der Welt . . . da war ich eines von ihren Opfern! . . . Gut! . . . Aber wie ich nun sehe, wie dieser . . . dieser . . . dieser Mensch von Tag zu Tag Macht über sie gewinnt . . . im Begriff ist, sie ins Unglück zu stürzen . . . ihren Ruf ganz zu ruinieren . . . ihre gesellschaftliche Stellung . . . alles . . . Sie werden sagen: Wozu hat sie 'nen Mann? Gott: der Mann hat neunzehn Aufsichtsratsposten . . . Wie kann er sich da noch um seine Frau kümmern? . . . Der Mann war überhaupt nie da . . . damals ja auch gerade in England . . . Also kurz und gut: Ich sah das Unheil vor mir . . . Ich konnte nicht mehr an mich halten . . . Ich war verrückt . . . verrückt . . . verrückt . . .«

»Und was taten Sie da, Herr Twerenbold? . . . Reden Sie langsam . . . Erschöpfen Sie sich nicht unnötig . . .«

»Ich ging in . . . die Villa . . . Roland . . .« Der Fabrikant Twerenbold kämpfte erschlafft mit der Sprache. Seine Stimme holperte und stolperte schon. »Das Haustor offen . . . ich . . . ohne Anmeldung . . . in den Salon . . . Nebenan – im Boudoir – sie . . . Der Schuft . . . der Schuft . . . der Schuft ist bei ihr . . . er kniet vor ihr . . . küßt ihr die Hände . . . und sie beugt sich zu ihm nieder und küßt ihm weinend Mund und Stirne . . . und gibt ihm ihr Perlenkollier aus dem Kästchen – und er steht auf und steckt es in die Tasche . . . Auch das nimmt er noch von ihr an . . . und kniet noch einmal vor ihr nieder, um ihr zu danken . . .«

Und mir, dem Staatsanwalt, geht es durch den Kopf: Das hat Viktor Zeska immer wieder in der Schwurgerichtsverhandlung behauptet, er habe die Perlen von seiner Freundin geschenkt bekommen, um damit die drohenden Wechsel einzulösen – und ich, der Staatsanwalt, habe ihm immer wieder vorgehalten: Angeklagter – wenn Frau Roland Ihnen die Perlen schenkte – warum haben Sie sie hinterher ermordet?«

»Erzählen Sie zu Ende, Herr Twerenbold!«

»Ich weiß nicht, was dann war . . .« murmelt der fahle Mann im Bett. »Ich habe geschossen und sie getroffen und den Revolver weggeworfen – und bin durch das leere Haus fortgegangen – auf die Straße hinaus – wie im Traum . . . wie im Traum . . .«

*

Ich ging auf den Fußspitzen in den Vorraum. Dort, bei den Palmen und der Marmor-Venus stand der blonde Herr Merz. Ich zog ihn in die Ecke. Ich fragte gedämpft:

»Herr Architekt, waren Ihr Schwager und Viktor Zeska vielleicht ganz eng miteinander befreundet?«

Er macht große Augen. Er ist förmlich entsetzt: »Um Gottes willen! Wie kommen Sie auf diese Vermutung?«

Ich durfte ihm nicht erwidern: Es gibt eine höchste Freundschaft, die besteht darin, daß man in der Sterbestunde die Schuld des anderen auf sich nimmt, um ihn aus lebenslangem Zuchthaus zu erlösen! Ich wiederholte:

»Bestand irgendein Freundschaftsverhältnis zwischen den beiden Männern?«

»Aber ausgeschlossen, Herr Staatsanwalt!« Der Architekt Merz zuckte die Achseln. »Schon nach der ganzen Lage der Dinge: Der gute Zeska war doch – unter uns – ein mauvais sujet . . . Ich bitte Sie – das wäre was für meinen korrekten Herrn Schwager gewesen! Der verkehrte doch überhaupt nur mit etablierten Firmen!«

»Also Zeska gehörte nicht zu seinen Freunden?«

»Leute wie Twerenbold – die haben überhaupt keine Freunde! Nur Geschäftsfreunde! Ich glaube nicht, daß er irgend jemanden näher gekannt hat, der nicht im Handelsregister steht . . .«

*

Der Sicherheit halber setzte ich mich noch einmal an das Bett des Sterbenden.

»Herr Twerenbold . . . hören Sie mich, Herr Twerenbold? . . . Ja? . . . Bitte – nehmen Sie Ihre Kräfte zusammen . . . Sagen Sie mir: War Zeska Ihr Freund?«

Ich hätte nicht geglaubt, daß diese verglasenden, kalten grauen Augen vor mir noch einmal in solch einem heißen Haß aufleuchten konnten. Ein Zucken von Verachtung und Wut um die Mundwinkel. Ein verbissenes Gemurmel:

»Der Schuft . . . der Schuft . . . der Schuft . . .«

»Und trotzdem, Herr Twerenbold . . .«

Furchtbar – diese eiskalte Hand, die wieder nach der meinen unsicher fingerte – mir ein Zeichen gab, das Ohr zum Mund des Sterbenden zu beugen. Es war nur noch ein stoßweises Flüstern. Ein mühsamer, letzter Lebenshauch.

». . . Anfangs hab' ich ihm das Zuchthaus gegönnt . . . aber dann . . . dann kamen die Nächte . . . die schlaflosen Nächte . . . da stand er vor mir . . . da wurde ich fast verrückt . . . Er ist ein Schuft . . . aber er ist doch unschuldig . . . Und das mitansehen . . . ein Leben lang . . . Ich hab's nicht mehr gekonnt . . . Aber an seiner Stelle ins Zuchthaus? . . . Nein . . . da habe ich lieber selber Schluß gemacht! . . .Mein Selbstmord ist der beste Beweis, daß ich schuldig bin . . .«

*

Der Arzt und die Krankenschwester kamen mit Kampfer oder so etwas. Ich sagte dem Doktor nebenan:

»Lieber Herr Sanitätsrat . . . Ich muß sofort jemanden, der hier in der Stadt im Zuchthaus sitzt, mit Herrn Twerenbold konfrontieren! Ich werde den Sträfling herbeiholen, so schnell ich nur kann. Glauben Sie, daß ich den Patienten noch lebend wiederfinde?«

»Ich hoffe! Aber eilen Sie sich! Lange macht er's nicht mehr . . .«

*

Automobile waren damals, trotz der Agentur des Viktor Zeska, in Deutschland noch etwas Rares. Ich mußte die vor dem Hause haltende Droschke des Architekten benutzen. Der Kutscher hieb auf die klapprigen Gäule. Wir karriolten fast im Galopp in die schwarze Nacht hinein. Das Zuchthaus lag weit draußen vor der Stadt – in freier windüberpfiffener Ebene. Wir hielten vor den Mauern. Vor dem Staatsanwalt öffneten sie sich. Innen die unheimliche helle Fülle und Leere der Nacht im Zellengefängnis. Eisentore. Wächter. Schlüssel. Eiserne Treppenaufgänge. Wieder Wächter. Schlüssel. Zur Einzelzelle des Viktor Zeska.

*

Der Sträfling No. 89 stand im Hemd neben seiner Pritsche. Er mußte wach gelegen haben, als wir eintraten. Sein glattrasiertes Gesicht blinzelte nicht verschlafen, sondern hatte eher einen lauernd-verhaltenen, atemlos gespannten Ausdruck – so, als würde jetzt etwas geschehen, was er schon lange erwartete . . . Lange? Ich errechnete im Kopf. Nein: Er saß jetzt erst vier Wochen. Seine Züge hatten noch nichts vom Zuchthausgrau. Sie waren nur bleich – gerade wie bei der Gerichtsverhandlung. Er sah noch genau so aus, wie ich ihn damals, vor den Geschworenen, in Erinnerung hatte: Ein schöner, schlanker, mittelgroßer Mensch von etwa dreißig Jahren mit unzuverlässigen, weich umschatteten, verständnisinnigen Augen und einem unruhigen Mienenspiel, dessen verwegener Leichtsinn jetzt unter der Maske der Zuchthausnummer 89 mit gramvollen Leidensfalten schlief.

Ich war allein mit ihm in der Zelle. Er legte auf mein Geheiß seine gestreiften Hosen und die gestreifte Jacke an und fuhr in die Schuhe. Ich sah ihn scharf an. Er hielt meinen Blick anscheinend gleichgültig aus. Aber ich merkte an seinen raschen, kurzen Atemwölkchen in der kalten Luft, daß er innerlich vor Erregung bebte. Ich begann:

»Sie bleiben dabei, daß Sie nicht die Frau Roland ermordet haben?«

Ein leidenschaftliches Zurückwerfen des Kopfes:

»Und wenn ich in den Mauern hier verrecke – ich war es nicht . . .«

Und mich überlief langsam – als Gänsehaut – den Rücken lang – das Grauen meines Berufs: Ich hatte den Mann vor mir hierher gebracht . . . Und drüben bezichtigte sich ein anderer der Tat . . .

»Aber Sie waren Augenzeuge, als Frau Roland ermordet wurde?«

»Ja. Sie fiel tot neben mir nieder. Die Kugel pfiff vorher dicht an meinem Ohr vorbei.«

»Wer war der Mörder?«

»Ich hab' es schon hundertmal gesagt: Ich weiß es nicht.«

»Sie müssen ihn gesehen haben!«

»Ich kann nicht durch die Wände sehen. Der Schuß kam aus dem Nebenzimmer – wie ich auch schon hundertmal gesagt habe . . .«

»Aber durch die Portieren konnte man hineinsehen.«

»Von mir aus nicht . . .«

»Von der Stelle, wo Frau Roland lag, konnte man hineinsehen! Und Sie selber sagen jetzt eben, sie sei an Ihrer Seite hingestürzt!«

»Ich habe nichts gesehen!«

Ich ging durch die kleine Zelle. Ich blieb vor Viktor Zeska stehen.

»Wenn Sie den Mörder nicht sahen – weswegen – glauben Sie – daß die Tat geschah?«

»Na natürlich aus Eifersucht . . . das habe ich auch schon Dutzende von Malen gesagt . . . Aber man glaubt mir ja kein Wort.«

»Können Sie mir jetzt jemand Bestimmten nennen, den Sie im Verdacht haben?«

»Das habe ich schon in der Gerichtsverhandlung nicht gekonnt! Wie sollt' ich es denn jetzt . . . in dem Affenkasten hier?«

»Es wäre doch möglich, daß Ihnen nachträglich ein Name auf der Zunge liegt . . .«

»Da müßte ich Ihnen die halbe Stadt nennen! Frau Roland hat mit jedem Herrn zwischen zwanzig und fünfundvierzig geflirtet, der in ihre Nähe kam . . .«

Und jetzt konnte der Häftling 89 seine Selbstbeherrschung nicht mehr wahren. Die Streifen seiner Sträflingskleidung zitterten unter einem Schüttelfrost der Aufregung, der seinen Körper überfiel. Er krampfte die immer noch gepflegten Finger ineinander, mit denen er tagsüber auf dem Werktisch drüben unter dem hohen, kleinen Fenster die Schuhmacherei lernte.

». . . Wer von diesen Leuten das war, Gott im Himmel . . . ich weiß es nicht . . .«

»Man wird Ihnen einen Mantel geben! Kommen Sie mit!« Ich setzte den Sträfling 89 in der Droschke neben mich. Zwei Wächter auf dem Rücksitz. Ich beugte mich zum Schlag hinaus und rief dem Kutscher zu. »Fahren Sie darauf los, was Sie können! Es geht um Tod und Leben!«

*

Der Doktor stand schon auf der hellen Schwelle der Villa und spähte ungeduldig nach mir aus. Der Herr Twerenbold lebte noch. Aber es ging rasch zu Ende. Wir traten ein. Ich mit Viktor Zeska, den ich der Sicherheit halber immer am Handgelenk umfaßt hielt. Dann der Sanitätsrat und der Stadtpfarrer, stumm im Hintergrund. Ich schloß sorgfältig die Türe. Daraufhin führte ich Viktor Zeska vor das Bett des Herrn Twerenbold. Die beiden – der Sträfling und der Sterbende – sahen sich schweigend, mit einem so eisigen, so tödlichen Haß ins Gesicht, daß es mir klar war: Um einen Freundschaftsdienst in letzter Stunde handelte es sich da wahrhaftig nun und nimmer . . .

Und ein zweites Rätsel fiel mir, in aller Eile, auf: Ich beobachtete Viktor Zeska unausgesetzt und möglichst unauffällig von der Seite. Ich hatte ihm nicht gesagt, wohin die Fahrt ging. Er konnte durchaus nicht wissen, daß er plötzlich vor Herrn Twerenbold stehen würde. Aber er schien darüber in keiner Weise erstaunt . . . So, als hätte er das längst erwartet . . .

»Herr Twerenbold . . . Sie stehen im Begriff, diese Welt zu verlassen . . .«

Herr Twerenbold bestätigte mir das eigentlich nur noch mit einer Bewegung der Augenlider. Aber man sah in seinen lebhaften Pupillen, daß er ganz bei Sinnen war.

»Sie stehen in kurzem vor dem höchsten Richter . . .«

Herr Twerenbold gab das in gleicher Weise zu.

»Sie werden nicht mit einer letzten Lüge auf den Lippen vor Gott treten wollen . . .«

Herr Twerenbold verneinte das mit einer matten, kaum merklichen Kopfbewegung.

»Vor Ihnen steht ein Mann, der wegen des Mordes an der Frau Roland verurteilt ist . . .«

»Unschuldig verurteilt . . .«

Herr Twerenbold röchelte es noch einmal mild und heiser auf. Mit einer letzten Lebenskraft der keuchenden Lungen.

»Herr Twerenbold – wenn dieser Mann hier unschuldig ist – wer ist dann – vor diesen beiden Zeugen im Zimmer – der Mörder?«

»Ich . . . ich . . . ich . . .« Herr Twerenbold stieß es mit einer äußersten Kraftanstrengung hervor. »Ich . . . vor Gott dem Allmächtigen . . . Ich war der Mörder und die Kanaille da . . . die . . . ist unschuldig . . . Den Kerl laßt nur ruhig laufen . . . der kommt schon noch 'mal anderweitig an den Galgen . . .« Er trommelte mit geballten Fäusten gegen seine pfeifende Brust. »Aber, diesmal . . . diesmal war ich es . . .«

Seine geballten Hände hämmerten jetzt nur noch ganz schwach . . . Lagen still . . . Er wandte den Kopf auf die andere Seite. Drehte sich um . . . der Arzt beugte sich über ihn. Machte mir nach rückwärts ein Zeichen.

*

Ich begleitete den Häftling 89 in den Vorraum, wo die Wächter standen. Auf der Schwelle fragte ich ihn:

»Was haben Sie zu dem Geständnis des Herrn Twerenbold zu sagen?«

Viktor Zeska sah mich fest an:

»Wenn er Selbstmord begeht und auf dem Totenbett vor dem Staatsanwalt und zwei Zeugen seine Schuld eingesteht – dann war er eben der Mörder! Und ich komme frei!«

Und seltsam . . . es klang für mich etwas in der knappen und trockenen Selbstverständlichkeit seiner Worte, als habe er das alles, mit Herrn Twerenbold, eigentlich schon gewußt – und wisse überhaupt viel mehr, als er sagen wollte! Ich brachte ihn zur Droschke.

»Ich lasse Sie jetzt durch die Wächter in Ihre Zelle zurückbringen . . . Sie erfahren morgen mehr . . .«

Als ich wieder in das Krankenzimmer trat, wehte da kalte Luft. Die Schwester hatte die Fenster geöffnet. Die Gardinen bewegten sich im Nachtwind. Das war das Zeichen, daß Herr Twerenbold ausgeatmet hatte. Er lag mit einem strengen, starr zufriedenen Ausdruck auf den Zügen da. Seine Augen waren schon geschlossen. Seine Hände auf der Brust gefaltet.

Mit stummen Küssen auf diese Hände kniete vor seinem Bett eine junge Frau. Seine Frau. Es fuhr mir durch den Kopf, woran ich in der Eile des Augenblicks bisher gar nicht gedacht hatte –: Jetzt erst ist sie gekommen! Sie wandte mir den Rücken zu. Ich sah nur den weichen Nackenknoten ihres braunen Haars – seltsamerweise unter einem Straßenhut. Sie preßte noch einmal ihre Lippen auf die Rechte ihres toten Mannes – nicht auf seinen Mund – nicht auf seine Stirne. Dann stand sie auf. Ich sah ihr tränenloses, sonderbar unbeseeltes Antlitz, das so bleich war wie das des Leichnams neben ihr. Ich kannte sie, wie gesagt, bisher nicht. Ich hatte nur gehört, daß sie für sehr hübsch galt. Sie hatte feine, nervöse, leidenschaftliche Züge. Die Form ihres Gesichts war ganz schmal und länglich. Die Brauen über den dunklen Augen auffallend dicht und nahe zusammengewachsen.

Jetzt bemerkte ich, daß sie zu dem Hut auch einen Wintermantel – hier im Zimmer – trug . . . Ich ging auf sie zu . . .

»Mein herzlichstes Beileid, gnädige Frau!« sagte ich und streckte die Rechte aus. Sie trat hastig zwei Schritte von mir zurück und steckte ihre beiden Hände in die Taschen des Mantels, um sie mir nicht reichen zu müssen.

»Ich habe mich schon fix und fertig gemacht, Herr Staatsanwalt!« sagte sie. »Nehmen Sie mich nur bitte gleich mit!«

»Was heißt das . . .?«

»Ja. Ich bin es doch gewesen, die die Frau Roland . . .«

»Sie?«

»Ich hab' auf den Viktor gezielt – aus Eifersucht – weil er von mir weg ist – zu ihr – er hat vor ihr gekniet . . . da ist die Kugel an seinem Kopf vorbei und hat sie getroffen. Das wollt' ich nicht. . . .«

»Und er hat Ihren Namen nicht verraten . . .«

»Ja. So anständig war er doch . . . Aber wir haben's nicht ausgehalten . . . ich nicht . . . und mein Mann auch nicht – dem hatt' ich alles gestanden . . .«

»Und er hat weiter mit Ihnen gelebt . . .?«

»Ich hätte tun können, was ich wollte – er hätte nie die Kraft gehabt, sich von mir zu trennen! Nie hat er etwas mit der Roland zu tun gehabt – nie mit irgendeiner Frau. Außer mit mir. Ich war sein ganzes Leben! Ich war sein Alles . . . Er war ein so kalter Mann und hat mich angebetet – wie eine Heilige . . .«

»Ich hörte im Gegenteil, Ihre Ehe sei unglücklich gewesen!«

»Ich habe ihn aus Vernunft genommen und habe ihn nicht lieben können. Und er hat täglich darum gebarmt und gebettelt. Das waren die Stürme in unserer Ehe. Dann kam der Viktor. Den mußte man ja lieben, ob man wollte oder nicht. Jede.«

»Ihr Mann hat die Tat wirklich nicht begangen?«

»Was er Ihnen davon erzählt hat, das ist, Wort für Wort, nur die Wiederholung dessen, was ich ihm gebeichtet hab'! Ich war in der Villa. Ich hab' geschossen. Ich hielt die Gewissensbisse, daß der Viktor unschuldig im Zuchthaus saß, nicht mehr aus. Ich war heute nachmittag schon bei Ihnen, Herr Staatsanwalt, um mich selbst zu stellen . . .«

»Ich war nicht daheim . . .«

»Ich wäre morgen früh wiedergekommen! Mein Mann sah, daß es mir bitterer Ernst war. Er konnte den Gedanken, mich zu verlieren – mich getrennt von ihm hinter Gefängnismauern zu wissen – nicht ertragen! . . . Hier – diese Zeilen hat er mir hinterlassen . . .«

Ich las: »Es gibt nur ein einziges Mittel damit der Unschuldige aus dem Zuchthaus kommt, und du, die Schuldige, nicht hinein: Ich muß alle Schuld auf mich nehmen. Aus Liebe zu dir. Aus Liebe. Aus Liebe. Nie hat ein Mensch so geliebt wie ich. Leb' wohl!«

Ich steckte stumm die letzte Botschaft des toten Strumpfwarenfabrikanten ein.

»Als ich den Zettel gelesen hatte, Herr Staatsanwalt, und die Treppe hinunter in sein Zimmer stürzte, war es schon geschehen . . .«

»Gnädige Frau: Im Namen des Gesetzes . . .«

»Erlauben Sie nur, daß ich noch einmal meine Kinder küsse! . . . So . . . danke. Ich bin bereit.«

*

Der Staatsanwalt hatte zu erzählen aufgehört. Eine Dame fragte:

»Und was wurde dann mit ihr?«

»Sie wurde nach einer verhältnismäßig kurzen Frist vor Jahren begnadigt.«

». . . und hat den Viktor Zeska geheiratet?«

»Den hat sie nie wiedergesehen. Der ist längst verschollen. Sie hat ihren Mädchennamen angenommen und ihr ganzes Leben der Erziehung ihrer Kinder gewidmet. Vor einiger Zeit hat ihre Tochter geheiratet. Bei der lebt sie, ganz zurückgezogen, in einer deutschen Kleinstadt . . . Es ist ja längst Gras über die Sache gewachsen . . .«

 


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