Rudolph Stratz
Die siebte Pille und andere abenteuerliche Geschichten
Rudolph Stratz

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Odile

Wer den alten Herrn Müri näher kennenlernen wollte, der durfte ihn nicht in der Stadt Algier selbst beobachten, wo er den ganzen Tag mit seinen Grundstückgeschäften herumtrottete, in weißem Spitzbart, weißem Leinenanzug, weißem Panama und weißem Sonnenschirm, bekannt seit dreißig Jahren bei Christen und Moslim. Man mußte den kleinen, weißköpfigen und sonnenbraunen Schweizer abends in seiner Villa draußen in Mustapha Supérieur aussuchen. Da saß er nach des Tages Last und Mühen als ein philosophischer Greis unter den Orangen und Ölbäumen seines Gärtchens, mit dem Blick über grüne Palmen und das blaugoldene Meer und die abendrote, schneeig flimmernde Stadt Algier, die für ihn seit einem Menschenalter ein aufgeschlagenes Buch war. Und wenn er dann guter Laune war, bei einem Glas purpurnen Karthager Rebenbluts, dann schlug er irgendeine Seite dieses Buches auf und erzählte.

Und so auch die Geschichte von dem Hauptmann Cacciara und seiner Frau.

*

»Sie kennen den April in Algier!« sagte zu mir – es ist lange her, schon zu Anfang dieses Jahrhunderts – Herr Müri. »Unser afrikanischer April zeichnet sich durch Regengüsse, Windstärke 8 über dem Mittelmeer und Streik der Seeleute auf den Dampfern nach Marseille aus, die um diese Zeit von den vor der Sonnenhitze flüchtenden Europäern bis in die Bunker vollgepackt sind.

Ich hatte meine Kabine für mich. Ich betrat unten im Hafen von Algier wohlgemut den Dampfer der Compagnie Transatlantique, zu einem Katzensprung hinüber nach Marseille, wo ich eine Bankbesprechung hatte. Es war da gerade eine Gelegenheit, hier in Algier ein süperbes Bauterrain am Boulevard Brû, mit unvergleichlicher Fernsicht, spottbillig zu erwerben . . . Nun gut . . .

Das Schiff überfüllt. Windpfeifen im Takelwerk. Die Rauchfahnen aus den Schloten schief querab. Das Meer draußen weiß von Schaumköpfen. Eine wackelige Überfahrt zu erwarten. Vorläufig lagen wir noch vertäut am Kai.

Und in der Menge der auf Deck herumstehenden Reisenden sehe ich Odile – nicht mehr als Mädchen, als Odile Lenormand, sondern, seit einem halben Jahr, Madame Odile Cacciara. Eine blaue Schiffsmütze auf dem Blondkopf, gegen den Wind, in einem kurzen, grauzottigen Ziegenpelz, wie ihn die jungen Offiziersfrauen jenseits des Atlas zum Schutz gegen die jähen Temperaturstürze tragen, und gehe erfreut auf die entzückende, kleine Frau zu und begrüße sie. Denn ich kannte sie schon als bébé. Ihr Vater befehligte als Kapitän der Compagnie Transatlantique einen dieser Eildampfer zwischen Marseille und Nordafrika. In seinen jüngeren Jahren war er draußen in der Welt auf großer Fahrt gewesen und hatte eine Kapengländerin geheiratet.

Daher kam es, daß Odile – obwohl Französin – eine rosige Blondine mit lichtblauen Augen war. In ihren feinen, schmalen Gesichtsschnitt mit dem schelmischen Stupsnäschen teilten sich Frankreich und England, den zierlichen, kaum mittelgroßen Wuchs verdankte sie der welschen Rasse. Sie war so reizend, wie nur eine junge, blühende, lebensfrohe Frau sein kann.

»Also alles geht gut, Odile?«

»Ach ja!« Ein dankbarer Augenaufschlag zum Himmel. Nun war sie schon ein halbes Jahr mit ihrem Korsen, dem Filiberto Cacciara, verheiratet. In einer jener unglaublichen kleinen Garnisonen des Ersten französischen Fremdenregiments – irgendwo unten am Rand der Sahara oder der marokkanischen Grenze, wo sich Schakal und Hyäne gute Nacht sagen. Aber jetzt – ihr Gesichtchen strahlte – jetzt hatten sie Urlaub – ihr Mann und sie! Jetzt konnten sie ihre Hochzeitsreise nachholen, die im vorigen Herbst, bei der Eheschließung, der Dienst nicht gestattet hatte. Damals mußte ihr Mann gegen irgendeinen widerspenstigen Wüstentribus zu Felde ziehen. Jetzt ging es nach Paris – Paris! Man würde in Monte Carlo ein paar Frankstücke riskieren, man würde in Toulouse Onkel Adhémar besuchen, das Leben war doch eine himmlische Erfindung.

»Also sind Sie glücklich, Odile?«

Und ob! Es hatte noch kein Wölkchen in dieser Ehe gegeben! Zwei Turteltauben! Er und sie! Odile war in allem eins mit ihrem Mann!

»Wo ist er denn?«

»Noch in der Stadt, um sich abzumelden! Ach – ich erwarte ihn mit Ungeduld! Wir kamen zu spät auf das Schiff. Diese Barbaren haben uns getrennt! Ich soll mit drei dicken Krämerfrauen in einer Kabine liegen. Und er mit ein paar farbigen Spahi-Leutnants zusammen. Es ist unwürdig!«

In diesem Augenblick kam ein Schiffsoffizier. »Madame . . . trösten Sie sich! Dieser Herr hat in liebenswürdiger Weise eingewilligt, zu den beiden algerischen Leutnants Lakhdar den Arabi und Allal zu übersiedeln und Ihnen und Ihrem Mann seine Einzelkajüte neben der des Herrn Müri zu überlassen!«

Er präsentierte einen jungen, sehr gut angezogenen Herrn, der sich lächelnd verbeugte. Sein mageres, tiefbraun gefärbtes Gesicht war ein bißchen weich und leichtsinnig, so wie es vielen Frauen gefällt, die Augen grau und sanft, verständnisinnig, die Lippen bartlos, das in der Mitte gescheitelte kurze Haar fast weißblond über dem Sonnenbrand seiner Züge. Odile lächelte und gab ihm dankend ihre kleine, schmale Hand.

»Sie sind sehr gütig, mein Herr!«

»Es ist mir mehr als eine Pflicht – es ist mir ein Vergnügen, Madame, Ihnen zu dienen!«

Er lächelte wieder verbindlich, beinahe kindlich, und verstummte. Aber er ging nicht weg. Odile schwieg etwas befangen. Ich belebte die Unterhaltung, indem ich bemerkte, daß es eine stürmische Überfahrt geben würde. Aber das machte auf Odile keinen Eindruck. Sie war die Tochter eines Schiffskapitäns, von Kindesbeinen an oft mit dem Vater auf See gefahren, eine kleine Wasserratte, eher, wie gesagt, im Äußeren einer zarten, jungen Engländerin ähnlich, als einer Französin. Ach nein: sie wurde nicht seekrank! Für diesen armen Filiberto, ihren Mann – sie zeigte lächelnd die weißen Zähnchen – konnte sie freilich nicht stehen!

»Nun – so ist alles in Ordnung!« sagte ich erfreut zu dem jungen Mann und ging hinunter in meine Kajüte, die ich nun nicht, wie es sonst meine Ritterpflicht gewesen wäre, an das Ehepaar abzutreten brauchte. Er blieb oben mit Odile zurück. Und sie frug ihn – sie hat mir das alles später erzählt – nur, um etwas zu fragen.

»Sie sind nicht Franzose, mein Herr?«

»Nein, Madame, Amerikaner!«

Er sprach fließend, wenn auch etwas fremdartig, Französisch. Die beiden hätten sich gut in dieser Sprache weiter unterhalten können. Aber Sie wissen ja, wie englisches Blut noch durch dreifache Verdünnung durchschlägt. Odile ging sofort in das Englische über und weitete nach kurzem Wortwechsel erstaunt die blauen Augen.

»Sind Sie schon lange aus den Vereinigten Staaten weg?«

»Warum fragen Sie, Madame?«

»Ihre Muttersprache macht Ihnen ja Mühe!«

»Es ist meine Muttersprache, und auch nicht!« sagte der junge Mann etwas zögernd. »Mein Vater ist von Herkunft Norweger! Ich wanderte als kleiner Junge mit ihm in Amerika ein. Zu Hause unter uns sprechen wir fast nur Dänisch!«

»Ach so!« Odile gab ihm unbefangen die Hand zum Abschied. »Nochmals Dank! Da kommt mein Mann!«

Der Hauptmann der Fremdenlegion Filiberto Cacciara war Korse. Und welches Korsen Ehrgeiz wäre es nicht, unter den Fahnen Frankreichs den Spuren Bonapartes zu folgen? Er hatte auch das Äußere seines Berg- und Inselvolks. Ein braunes Antlitz mit zwei glühenden, schwarzen Kohlen von Augen, langem, schwarzem Schnurrbart und Knebelbart, breitschultrige, sehnige Statur. Er war, auf Urlaub, in hellem Zivil. Er winkte heißblütig schon auf der Lauftreppe seiner Frau zu. Sie lief ihm leichtfüßig, schlank und blond, entgegen und lachte: »Wir haben eine Kabine für uns, mein Freund!«

Und, nachdem sie die Einzelheiten berichtet, ihren schmalen Arm kameradschaftlich unter seinen schiebend: »Du mußt auch noch diesem Amerikaner deinen Dank abstatten! Irgendwo auf dem Schiff werden wir ihn schon finden!«

Die Planken des Dampfers zitterten leise. Er glitt durch den Hafen dem offenen Meer zu, das mehr kochenden weißen Schaum als blaues Wasser zeigte. Die Reisenden kehrten fast alle der See den Rücken. Sie standen im Heck des Bootes und bewunderten das prächtige, versinkende, weite Rundbild Algiers, mit seinen mächtigen Arkadenwölbungen über dem Mastengewirr des Hafens, seinen aufsteigenden Häusermassen und dem grünen und gelben Glanz des umschließenden Höhenbogens. Odile hielt mit der Linken die Mütze auf dem Blondkopf fest und deutete mit der Rechten auf die Gruppen der Passagiere. »Da – der Herr dort drüben – mit den Händen in den Manteltaschen – in ihm siehst du unseren Wohltäter!«

Der Hauptmann Cacciara war gern bereit, dem jungen Mann der achtlos, eine Zigarette rauchend, nach Afrika zurückblickte, ein paar höfliche Worte zu sagen. Er ging, über das schaukelnde Verdeck, unsicher und breitbeinig, auf ihn zu und blieb mit einem Schlag stehen. Sein martialisches, brünettes Gesicht verfinsterte sich jäh. Er schaute noch einmal, halb ungläubig, zu dem Fremden hinüber und dann auf seine Frau.

»Odile – meine Teure – weißt du, wer das ist?«

»Ich sagte dir ja: ein Amerikaner. Oder eigentlich ein Norweger . . .«

»Erinnerst du dich, daß vor vierzehn Tagen ein Legionär aus meiner Kompanie desertierte?«

»Dunkel. Es kommt so oft vor . . .«

». . . aber selten, daß man ihn, wie in diesem Fall, nicht wieder einfing, weil er offenbar von dritter Seite her über bedeutende Geldmittel verfügte!«

»Und du willst doch nicht sagen, daß . . .«

»Er hat sich den Schnurrbart abrasieren lassen. Aber die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Es ist der Legionär Charles Hecklé – so nannte er sich wenigstens – ein Deutscher – aus meiner Kompanie!«

Es war ein kurzes Schweigen. Dann zuckte Odile die schmächtigen Schultern. »Nun – so komm!«

»Ja.« Aber sonderbar: Er trat einen Schritt vorwärts. Sie rückwärts. Beide schauten sich betroffen an.

»Wohin, Filibert?«

». . . den Monsieur Hecklé begrüßen!«

»Du kannst ihm doch nicht danken! Die Überfahrt ist ja nur kurz! Morgen mittag sind wir in Marseille! Ihr braucht euch ja auf dem Schiff nicht zu begegnen!«

»Ich verstehe dich nicht!«

»Er wird sich schon von selber zurückgezogen halten, wenn er dich sieht!«

Der junge Mann lehnte, in einer lässigen und träumerischen Haltung, die zu der weichen Liebenswürdigkeit seines Wesens paßte, an der Reling. Er hatte eine Stange Weißbrot aus seinem neuen, hellgrau flatternden Reisemantel gezogen und fütterte damit lächelnd die um das Schiff stiebenden Möwen. Der Hauptmann Cacciara hatte sein Notizbuch herausgezogen und kramte darin.

»Was suchst du, Filibert?«

»Meine militärischen Ausweise – für den Kapitän des Schiffs – um den Legionär Hecklé verhaften zu lassen!«

»Und was geschieht dann mit dem Unglücklichen?«

»Man bringt ihn nach Sidi-bel-Abbès, vor das Kriegsgericht! Man wird ihn füsilieren!« sagte der Hauptmann Cacciara. »Denn er hat sich bei der Flucht tätlich an einer Schildwache vergriffen. Der Faustschlag von hinten, der diesen Posten betäubte, blieb ohne ernste Folgen. Doch er genügt!«

». . . Du willst ihn töten?«

»Nicht ich! Frankreich tötet einen unwürdigen Soldaten! Noch dazu einen Ausländer! Einen Deutschen!«

Der junge Mann drüben schaute belustigt, die Zigarette schief in dem leichtsinnig-abenteuerlichen, sonnengebräunten Gesicht, auf das Brotgeschnappe der kreischenden weißen Vögel. Odile fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann faßte sie den Arm ihres Mannes.

»Bringe mich hinunter in die Kabine!« sagte sie. »Er läuft dir hier auf dem Schiff nicht davon!«

»Du hast recht! Ich darf dich nicht dem Anblick der Szene aussetzen, die jetzt kommt! Er führt wahrscheinlich Waffen bei sich. Es ist alles möglich.«

*

»Nun – diese Kajüte des Ehepaares Cacciara«, fuhr der alte Herr Müri unter dem Abendschatten der Orangenbäume vor seiner Villa in Mustapha Supérieur fort, ». . . diese Kajüte lag, wie schon bemerkt, neben meiner, und die Zwischenwände waren so dünn, daß man, in den Pausen zwischen dem Klatschen der Wellenbrecher an der Schiffswölbung, jedes Wort des Nachbarn verstehen mußte. Und unglücklicherweise konnte ich mich auch nicht diskret auf Deck zurückziehen, als das Ehepaar von dort herunterkam, denn ich saß in Hemd und Unterhose auf meiner schaukelnden Bettpritsche, damit beschäftigt, die leichte Kleidung Afrikas mit wärmeren Hüllen gegen die rauhe Seeluft zu vertauschen. Draußen donnerte ein Wogenorkan gegen das Bullauge. Dann hörte ich nebenan eine weiche Stimme.

»Filibert – Deine kleine Frau bittet dich: Bleib hier! Lasse diesen Unglücklichen! Schone sein Leben! Eine Frau bittet dich!«

»Dies ist Männersache, meine Liebe!«

»Filibert! Er ist ein Mensch wie du! Was hat er dir getan?«

»Ich bin hier nicht Mensch! Ich bin hier Soldat im Dienste Frankreichs!«

». . . und ich bin eine Frau, die dich innig liebt! Ich schwöre es dir: Es ist nur Mitleid mit diesem armen, jungen Blut, das aus mir spricht! Habe auch du Mitleid!«

»Ich darf nicht!« Die Stimme des Hauptmanns Cacciara klang seltsam matt.

Das Schiff war jetzt ganz auf freiem Meer, in der Gewalt des Sturms. Es machte zuweilen Versuche, sich auf den Kopf zu stellen. Dann stieg hinten die Schraube aus dem Wasser, und man hörte, wie sie krachend wieder in die Wellen zurückschlug. In diesem Lärm hatte ich von nebenan nichts verstanden. Nun wieder die flehende, sanfte Frauenstimme.

»Filibert! Sei nicht grausam! Vergieße nicht unnötig Blut! Zerstöre nicht das edle Bild, das ich von dir in mir trage!«

»Du hast . . .« Der Korse sprach mühsam . . . »einen Offizier geheiratet . . . meine Beste!«

»Du stehst so hoch vor mir! Ich sehe zu dir auf . . . Sei menschlich!«

». . . und mein Dienst?« Der Hauptmann ächzte.

»Wenn das da unten in Afrika passiert wäre . . . in der Kaserne . . . Gewiß! Aber hier! Unterwegs nach Europa! Du trägst Bürgerkleid, wir fahren ins Glück! In den Urlaub! In dies schöne Frankreich! Wir lieben uns so sehr! Es geht uns so gut! Die Welt ist für uns voll Sonnenschein! Lasse nicht den Schatten des Todes zwischen uns fallen!«

Zwischen uns . . . Ich nebenan hörte diese Worte – diese Szene – eine andere, als sie sich sonst die Komödiendichter in Paris auszudenken pflegen. Dort geht es um den Liebhaber. Auch hier trat ein Dritter zwischen Mann und Frau. Aber er kam nicht als Geliebter. Dieser leichtsinnige, hübsche, oben auf dem Deck Möwen fütternde junge Taugenichts kam als ein Schicksalsbote, der einer liebenden jungen Frau den Schleier von den wahren Zügen ihres Mannes riß . . .

»Filibert . . . Deine kleine Odile weint . . . nur aus Mitleid . . . nur aus Schrecken über deine Veränderung . . . deine Härte . . .«

»Ich muß . . . zum Kapitän . . .«

»Ich fürchte mich vor dir . . . und vor unserem künftigen Leben . . .«

»Ich gehe . . .«

Aber es schien: Der Hauptmann Cacciara ging nicht. Statt dessen klang ein angstvoller Ruf seiner Frau – sie war offenbar aufgesprungen und hielt sich stolpernd irgendwo in der schwankenden Kabine fest.

»Filibert: Was ist mit dir? Warum wirfst du dich lang aufs Bett?«

Ein Stöhnen nur als Antwort.

»Fühlst du dich nicht wohl, Filibert – mein Liebling?«

Ein neues Röcheln und Gurgeln.

Und dann Odiles befreite Stimme in einem Stoßgebet: »Gott sei Dank! Er ist seekrank geworden.«

*

»Ja – dieser bärenstarke, pechschwarze Korse opferte auf der ganzen Überfahrt dem Meere, als sei er eine bleichsüchtige Jungfer!« sagte der alte Herr Müri. »Ich hörte es dauernd nebenan. Er konnte sich nicht regen und rühren. Er schämte sich, den Kapitän an sein Schmerzenslager kommen zu lassen und sich ihm in diesem Zustand zu zeigen, und der hätte auch, im Sturm, keine Möglichkeit gehabt, seine triefende Kommandobrücke zu verlassen und sich mit den Passagieren zu befassen. So gewann der ahnungslose Fremdenlegionär a. D. Charles Hecklé eine Galgenfrist bis zur Einfahrt nach Marseille. Was inzwischen geschah, hat mir Odile selbst erzählt.«

*

Als es abends zum Diner läutete, ging sie, eine seefeste halbe Engländerin und ein seebefahrenes Kapitänskind, ihren Mann allein lassend, hinunter in den Speisesaal. Die lange Tafel, über der aufgeregt die Hängelampen kreisten, war fast leer. Nur vereinzelte Gäste saßen vor den Holzrahmen, in denen die Suppenteller spritzten und der warme Zwiebelschinken – nie kocht ein Schiffskoch fetter als bei grober See – schaukelte.

Man konnte seinen Platz nach Belieben wählen, und Odile setzte sich, ohne die Anweisung des Stewards abzuwarten, dem braungebrannten, freundlich lächelnden Deserteur gegenüber, der jung, blond, blauäugig und lebensfrisch war wie sie.

Der lange, schmale Windhund von Dampfer rollte augenblicklich. Abwechselnd stieg bald die eine, bald die andere Seite der Tafel in die Höhe. Als Odile gerade ganz hoch oben war, ein Stück Thunfisch in Öl auf der Gabel, sah sie auf ihr Gegenüber tief unten hinab und fragte:

»Wie heißen Sie eigentlich, mein Herr?«

»Frederik Kidd!« – Der junge Mann wuchs auf seinem festgeschraubten Stuhl lächelnd über ihr empor, während sie in die Tiefe versank und von dort weiter forschte:

»Ist das Ihr wahrer Name?«

»Zu Ihrem Dienst, Madame! Mein norwegischer, nach Amerika importierter Name!« Der leichtsinnig-liebenswürdige, braungebrannte Kopf drüben bewegte sich schnell abwärts.

»Haben Sie einen Paß mit diesem Namen?« Odile rief es im Abwärtsstreben.

Aus der Unterwelt, zwischen dem Platschen eines Rotweinglases, die sorglose Antwort: »Nein. Es tut ja nicht not! Niemand in Europa außer Rußland fragt zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts noch nach einem Paß!«

Odile zögerte. Dann sagte sie rasch: »Gute Nacht, mein Herr!« und tastete sich in ihre Kabine zurück.

*

Am nächsten Vormittag hatte sich die Windstärke zu einem schweren Sturm ausgewachsen. Es waren noch weniger Passagiere zum Lunch erschienen. Odile und der fremde junge Mann saßen sich gegenüber wie zwei Kinder auf einer Wippe und hatten Mühe, Glas und Gabel zum Mund zu balancieren. Dabei fragte er teilnehmend – er hatte ausgezeichnete Manieren und setzte nicht eine Sekunde den freundlichen Respekt vor einer Dame außer Auge. »Und Ihr Gatte, Madame? . . . Man sieht ihn nicht?«

»Ich bin mit meinem Vater, einem Schiffskapitän, bis Westindien gefahren! Nach Brasilien! Nach Kanada!« sagte die blonde Odile. »Aber noch nie sah ich einen Mann, der so seekrank war wie mein Mann! Er rührt sich nicht mehr, der Unglückliche! Er liegt und schweigt! Aber bei der Einfahrt in den Hafen wird er sich rasch erholen! Ich kenne das!«

»Sie sind auch etwas bleich, Madame!«

»Das hat andere Gründe!« Odiles schmales Antlitz trug einen harten, veränderten Zug. Eben tanzte die Leeseite, auf der ihr Stuhl stand, wieder in die Höhe. Sie beugte sich über den schiefen Tisch vor und sagte zwischen den Zähnen, durch das Dröhnen einer Sturzwelle auf Deck über ihr, zu ihrem in die Tiefe zurücksinkenden Gegenüber. »Sie sind der entflohene Fremdenlegionär Hecklé!«

»Madame . . .« Unten lächelte ein leichtsinniges Gesicht. Aber es war ein verzerrtes Lächeln. Ein fahler Schein legte sich über die tiefe Bräunung der Züge.

»Nehmen Sie sich in acht! Sie spielen mit Ihrem Leben! Ihr Hauptmann ist an Bord!«

»Woher wissen Sie das . . .?«

»Es ist mein Mann!«

Zugleich mit diesen Worten erhob sich Odile hastig von ihrem Stuhl. Sie vermied es, den jungen Mann gegenüber noch einmal anzusehen. Sie arbeitete sich, die flache Hand an die Seitenwand des Speisesaales gestützt, vorbei an den Innenkabinen, aus denen das Gurgeln der Seekranken scholl, die wild schwankende Treppe empor, auf Deck. Dort hielt sie sich, breitbeinig auf den rollenden Planken stehend, am Tauwerk einer Rahe fest und spähte hinaus übers Meer. Und sah – schon ganz nahe – mit bloßem Auge deutlich zu erkennen, drüben die schneeweißen Kalkklippen der französischen Küste. Hoch oben, golden in der Sonne flimmernd, die Riesenstatue von Notre Dame de la Garde. Ein unbestimmtes, weites, graues Dunstgespinst zu Füßen der heiligen Jungfrau: Masten, Schlote, Dächer: Marseille.

Der Dampfer hatte den gefürchteten Löwen-Golf hinter sich. Er lief in die gewaltige, stille Inselbucht vor dem Hafen ein. Auf einmal wurden seine Bewegungen so ruhig wie auf einer Seinefahrt vom Quai d'Orsay nach St. Cloud.

Und schon kamen, wie immer, noch gelb wie Leichen auf Urlaub, die ersten, jäh genesenen Seekranken an Deck und lächelten harmlos, als sei nichts geschehen. Die anderen Opfer des Meeres folgten. Die Matrosen liefen geschäftig hin und her. Das ganze Verdeck füllte sich unter dem Brüllen der Schiffssirenen mit Menschen, und alle standen auf der einen Seite und starrten da in das Wasser.

Die Einfahrt war hier besonders schmal und schwierig. Denn gerade an dieser Stelle war vor einigen Wochen ein anderer Dampfer der Compagnie Transatlantique auf der Heimfahrt von Tunis gesunken. Sein Heck ragte noch steil aus dem glatten Spiegel. Man sah den ganzen Schiffskörper unter sich in der klaren Flut. Man sah wie durch grünes Glas durch die offenen Türen in die leeren Kabinen hinein, in denen noch die Habseligkeiten der in aller Eile vollzählig geretteten Passagiere – Schiffskoffer, Aktenmappen, Plaidrollen – je nach ihrer Schwere lagen oder trieben.

Ganze Schwärme von kleinen Booten schwammen um die Unglücksstelle. Sie fischten, was nicht niet- und nagelfest war, aus dem versunkenen Dampfer heraus, in dem halbnackte, schwarzbehaarte Männer von dem über Wasser befindlichen Heck, mit Seilen bewaffnet, in die Tiefe hinabwateten, wo, wie es schien, im Schiffsbauch Taucher an der Arbeit waren.

Von dem vorbeifahrenden Passagierboot aus beobachtete alles gespannt diese Vorgänge. Nur der Hauptmann Cacciara hatte sich noch nicht ganz erholt. Er kleidete sich, als seine Frau bei ihm eintrat, eben mühsam an. Sie musterte ihn scheu, bang, wie einen fremden Menschen. Es war eine schwere, lähmende Stille zwischen ihnen. Aber sein bleiches, martialisches Gesicht war hart entschlossen. Odile wußte, was das bedeutete: den Tod für den jungen Mann da oben! Den unerbittlichen Tod! . . . Und ihr Gatte rückte von ihr immer weiter – in irgendwelche Ferne, aus der es keine Rückkehr zu ihrem Innersten gab.

Eben als der Hauptmann fertig war, hörte das schwache Zittern der Schiffswelle auf. Die Ankerkette rasselte. Der Dampfer lag still. Aber noch war Zeit. Noch durfte vor Eintreffen der Hafenbehörden niemand von Bord. Filiberto Cacciara sah seine Frau nicht an. Er gab sich einen Ruck in den breiten Schultern. Er stieg straff hinauf an Deck, um dem Kapitän Meldung zu erstatten und den Fremdenlegionär Hecklé verhaften zu lassen. Odile sah ihm schweigend nach. Ihr Gesicht war starr.

Oben stand aufgeregt der Kapitän, die Passagierliste in der Hand, vor der Hafenkommission. Der finstere Korse hörte im Herantreten, wie er zu den Beamten sagte: »Seit einer halben Stunde schon durchsuchen wir das ganze Schiff! Einer der Reisenden erster Klasse ist spurlos verschwunden!«

»Sein Name?«

»Frederick Kidd, Minen-Ingenieur aus den Vereinigten Staaten, zur Zeit am Polytechnikum in Zürich, von wo er sich zum Studium der Erzlager im Atlas, auf einige Wochen nach Algier begeben hat!«

»Wann sah man ihn zuletzt?«

»Hier seine Kabinengenossen, die Herren Leutnants Lakhdar ben Arabi und Allal, bestätigen, daß er die Nacht noch mit ihnen verbracht hat!«

»Heute mittag saß er noch beim Lunch Madame gegenüber!« bekundete der Steward und wies auf Odile, die ihrem Mann gefolgt war.

»Sie wissen nichts von ihm, Madame?«

»Nein!« sagte Odile. Und plötzlich stand es wie eine Eingebung vor ihr: Die eine Längsseite des Verdecks voll Menschen, die andere vollkommen leer und unbeachtet. Der versunkene Dampfer, davor auf der Wasserfläche die treibenden Barken, die halbnackten Männer. Geld hatte er, der verlorene Sohn aus gutem Hause, offenbar in Menge. Es war in diesem, nicht wiederkehrenden Augenblick für einen gewandten Burschen wie einen Fremdenlegionär vielleicht nicht schwer, sich unbeobachtet an einem Tau längs der Schiffswand in eines der Boote gleiten zu lassen und mit der Faust voll Banknoten die halbwilden Kerle zu hypnotisieren, daß sie ihn irgendwo an Land schafften. Dann mußte er, in solch einem langsamen, kleinen Ruderkahn, vielleicht jetzt eben im Hafen angelangt sein und den Fuß auf den Boden des alten Europa setzen.

Der Dampfer lag dicht am Kai. Eine schwarze Menschenmenge, aus der rote Schärpen und olivengrüne Plüschhosen leuchteten, stand wie immer bei Ankunft eines Schiffs am Ufer und beobachtete die Vorgänge auf Deck und die Verzögerung der Landung. Odile schaute leer über die Mauern von Köpfen hin. Dahinter lärmte im Hin und Her von Arbeitern, Matrosen, Reisenden, Bummlern, das ihr so wohlvertraute Hafenleben von Marseille. Unter einer dieser Gruppen sah sie einen jungen Mann. Er war zwischen den Schiffen im Hafen aus einem Ruderboot gestiegen. Ein belangloser Vorgang, hundertfach in jeder Stunde, bei dem regen Verkehr der Kontor-Angestellten, der Makler, der Versicherungsvertreter, der Spediteure, zwischen dem Land und den von allen Erdteilen kommenden, nach allen Erdteilen gehenden Handelsdampfern.

Der junge Mann schlenderte langsam und unauffällig seines Wegs. Sein leichtsinniges, gebräuntes Gesicht war ruhig und sorglos. Er kam an dem schmalen, langen Schiff der Compagnie Transatlantique vorbei. Er schaute, ohne den Fuß zu hemmen, gleichgültig, mit dem flüchtigen Interesse, das jeder im Hafen für blauen Wimpel der Abfahrt und gelbe Flagge der Ankunft zeigt, nach dem Passagierboot aus Algier hinüber. Eine Sekunde nur trafen sich seine Augen mit denen Odiles oben auf dem Deck. Dann wandte sie sich ab, um keine Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken, und ihre Züge verfärbten sich . . .

Neben ihr stand ihr Mann! Und sie sah an seinem Gesichtsausdruck: Er hatte den unten erkannt.

Es war eine atemlose Stille zwischen ihnen beiden. Der Korse Cacciara konnte mit einem Handwink, einem Zuruf an die Sergeants de Ville unten, die die Lauftreppe vom Kai zum Schiff bewachten, den jungen Mann anhalten lassen, hinunterlaufen, sich als dessen Vorgesetzten ausweisen! Er tat es nicht. Er drehte langsam den schnurrbärtigen Kopf zur Seite, so als habe er nichts gesehen . . . Eine leidende Ergebung lag auf den düsteren Mienen des Welschen: Was die Frau will, will Gott . . .

»Ich glaube, Odile, wir werden gutes Wetter für unsere Reise nach Paris haben!« sagte er mit einem prüfenden Blick zum Himmel.

Der junge Mann war in der Richtung nach dem Menschengewimmel der breiten Cannebière verschwunden. Dort hinten lag der Bahnhof. Fast jede Stunde ging ein Schnellzug. Über die Grenze. Auf Nimmerwiedersehen . . .

Odile schob ihren Arm unter den ihres Mannes und schmiegte sich an ihn, wie es eine zärtliche, kleine Frau tut.

»Jetzt machen wir unsere Hochzeitsreise!« sagte sie mit feuchten, blauen Augen.

Drüben auf dem Dampfer steckte der Kapitän seine Papiere ein. »Wir werden natürlich das Schiff in allen Winkeln durchstöbern!« sprach er zu den Hafenbeamten. »Aber das Verschwinden von Passagieren auf hoher See ist ja leider ein altes Geheimnis der Schiffahrt! Ob Selbstmord oder Unglücksfall – ich fürchte, wir werden nie wieder etwas von Mr. Frederick Kidd vernehmen!«

 


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