Charlot Straßer
Exotische Erzählungen
Charlot Straßer

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Das Pestschiff

1.

In Esmeraldas, dem nördlichsten Hafen der Republik Ekuador, hatte Dolores Larrea das Licht der Welt erblickt.

Ewige, gleißende Sonne beschoß mit brennenden Pfeilen einen seichten Fluß, der Sandbänke ins Meer geschleppt hatte. Das Schiff, das Dolores ihrer Sehnsucht Europa entgegenbringen sollte, mußte weit draußen die Anker auswerfen.

Vor neunzehn Jahren hatte man sie mit ihrer todkranken Mutter gelandet und in das damals einzige Haus eines Fremden, des deutschen Ansiedlers Bredee, gebracht. Über die Mutter war nichts bekannt geblieben als ihr Name und die Sage von ihrer altspanischen Abkunft. Nach wenigen Tagen hatte sie die Augen für immer geschlossen. Keine weiteren Verwandten konnten ausfindig gemacht werden. Wild und unbewacht war Dolores im Haus des Deutschen aufgewachsen, Kind des Meeres und der nächstliegenden Urwälder. Tagelang strich sie in ihnen umher, jagte, kam dann wieder nach Hause, um Wochen und Monate regungslos hinter den Büchern ihres Erziehers zuzubringen. Ganze Kisten voll mußte er ihr aus der fernen Alten Welt herübersenden lassen. Später waren mehrere junge Kaufleute als Mitarbeiter für das begonnene Elfenbeinnußgeschäft 43 nachgekommen. Neben ihnen reifte sie heran, unabhängig, unerziehbar, stolz und eigen.

Dolores nahm Abschied von ihrem Freund und Pflegevater, sprang in das schwankende Boot, das mit Kasten und Koffern beladen war und in dem vier braune Fleteros in bunt zusammengestellten Matrosenkleidern ihres Befehles harrten.

Zu beiden Seiten die Flußmündung, samtgrünes Gras, Inselchen, von süßem Wasser bespült, Bananen und Kokospalmen. All die andere Zeit hatte immer ein sommerwelkes Grün die Bäume in Gaze gehüllt. Nun schien jeder Zweig wie taubesprengt, um ihr den Abschied von der mit ihr verwachsenen Tropenheimat schwer zu machen. Der Sand knirschte einige Male unter dem Boot, und die Kreolen mußten aus allen Kräften anstemmen, die seichten Stellen zu übergleiten.

Die Kindheit, viele Jahre der Unantastbarkeit und freundschaftlichen Abwehr gegen die in Esmeraldas lebenden sieben Freunde, welche sonst nur von den Früchten der wildwachsenden Taguapalme ihr Glück erhofft hatten, ließ Dolores zurück.

Als Königin hatte sie unter den Steinnußhändlern geherrscht. Es fehlte nichts als die Anrede Majestät. Kaum für Augenblicke schien sie das Diadem wegzulegen, wenn sie sich um Bredees Haushalt bekümmerte und die Dienerschaft beaufsichtigte. Allabendlich aber versammelte sie die sieben Herren, die nichts Edleres auf der Welt besaßen, um sich. Manchmal erlaubte sie eine behutsame Ausgelassenheit, dieweil sie Lieder zum Banjo sang; öfter war man ernst und nahe verbunden durch die Sehnsucht, deren Verehrung, um ihr wert zu sein, die anderen immer wieder beweisend darbringen mußten, die Sehnsucht und ein durch die Ferne 44 verschleiertes Heimweh nach Schönheit abendländischer Kultur. Nie jedoch hätte sie ein unredlicher Blick zu belauschen gewagt, keine gewollte Berührung sie verstohlenerweise gestreift, und die Träume der Nacht wurden vor sich selber verschwiegen um ihrer Augen willen, in deren Verstecke man, ohne erröten zu müssen, eintauchen wollte.

Frau Dolores, diesermaßen wurde sie von der Dienerschaft und auch von ihren Kameraden genannt, obschon sie so jungfräulich und schlank als irgendein Mädchen aussah – aber es machte sie unnahbarer und erhabener –, fühlte eines Tages, als der Pflegevater sie bat, seine Gattin zu werden, die Last der um ihretwillen mit fast zu viel gutem Wollen abgesperrten Wünsche und fürchtete sich vor dem Vergeuden ihrer Macht. Auch mochte sie nicht die nur zu bereiten Arme öffnen, um aus Liebesunerprobtheit endlich einmal einen Mann, irgendeinen, an sich zu ziehen, um endlich einmal die letzten Waffen ihrer heimlichen Liebeserkenntnis aus ihrer sorgsam gewahrten Erlebnisarmut zu entfalten, mochte sich nicht vorzeitig an allzu leichten Siegen enttäuschen; und wenn sie es gar nicht mehr aushielt, trat sie ins Freie ans Holzgeländer ihrer Veranda und fuhr dem klugen Arraspapagei über die flammendroten Federn seines Kopfes, so daß er sich an ihren Hals schmiegte und zärtliche Worte sprechen lernte, oder sie spielte mit den beiden Äffchen, die alle übrigen Menschen flohen, sie aber am Rocksaum zurückzuhalten versuchten, wenn sie des Spielens mit ihnen müde war.

Und eines weiteren Tages ward sie dieses Spieles vollends überdrüssig, und der Arras wartete vergeblich aus die liebkosende Hand. Frau Dolores hatte beschlossen, nach dem Traumbild blendender Sonnentage 45 und schwüler Tropennächte auszuziehen, den Gefährten, den sie sich in Weltabgeschiedenheit ausgedacht hatte, zu gewinnen.

Die sechs jungen Clerks standen mit dem alten Bredee fast weinend hinter den mit feinstem Moskitodrahtgeflecht vergitterten Fenstern ihrer leichten Behausung, der Barke nachzuschauen, welche durch die Brandung gegen den weit auf der Reede liegenden deutschen Dampfer zuhielt. Denn Frau Dolores hatte verboten, daß irgend jemand sie begleite, sowie sie das Festland verlassen hätte, außer ihrer zwölfjährigen Dienerin Viktoria, die nun im Boot wie ein zusammengerolltes Hündlein zu ihren Füßen lag.

Der »Moloch« stand hoch und klotzig aus dem Wasser auf. Die Ladung hatte man in den zentralamerikanischen Häfen gelöscht. Erst der Salpeter viel weiter im Süden sollte den hohlen Bauch ins Wasser hinunterbelasten können und dem Schiffe seine gewohnten Verhältnisse wiedergeben. Auch war die Außenwand auf einer langen Reise vom Salzwasser abgeleckt worden. Brauner Rost fraß sich über den schwarzen Leib, und die rote Kielfarbe nahm fast ein Drittel der Schiffswand ein. Umsomehr blitzten das saubere Deck und alle Messinggriffe.

Als sie die schwankende Reling emporstieg und die Kreolen das Handgepäck keuchend hinter ihr hertrugen, sah sie auf der obersten Stufe ein Paar stumpfer, gelber Schuhe, dann zwei weite, weiße Hosenbeinrohre, einen blauen Uniformrock, doppelt bereiht mit gelben Metallknöpfen, am Kragen zwei goldene, von Schlangen umwundene Äskulapstäbe, eine weiße Schirmmütze mit dem Offiziersschild der Dampferlinie und ein gebräuntes Gesicht . . . von da an war alles in Dämmerung, was sie tat – die Befehle an den dienernden Obersteward, 46 die Anordnungen in ihrer Kabine, die Antworten auf die Höflichkeiten des herbeigeeilten Kapitäns. Sie saß vornübergebeugt auf der unteren Koje ihrer Kammer, lehnte die Ellbogen gegen die Knie, stützte ihr Kinn gegen beide Fäuste und dachte über das Gesicht. Wo in aller Welt hatte sie es schon gesehen? In welchem Urwald, auf welcher Meerfahrt war es ihr erstanden? Wo hatten ihr diese Augen schon Einklang bekundet? Woher kannte sie ein Lächeln, das wie Sonnenpfeile zwischen Wolken eines Regenzeittages über die Mundwinkel glitt? Wie konnte ihr ein Antlitz begegnen, das die Züge eines nie gekannten Vaters trug, den sie sich immer wieder auf ihren einsamen Streifzügen hatte vorstellen müssen?

2.

Der »Moloch« war verzaubert. Er hatte eine monatelange, schläfrige Reise hinter sich. Ein Schiff von sechstausenddreihundert Tonnen, zwölfjährig, galt er nicht mehr als besonders bequem. Viel Fracht hatte Raum in seinen Wänden; aber nur etwa dreißig Passagiere erster Klasse nahm er auf, und deren Kabinen waren selten voll besetzt, da die meisten Reisenden es vorzogen, mit größeren Dampfern der gleichen Kompanie zu fahren, und nur diejenigen, welche kleine Zwischenhäfen an der Westseite Südamerikas zum Ziele hatten, sich auf den immerhin sauberen Kasten einschifften. Häufig waren es etwas zweifelhafte Beamte der Küstenrepubliken, die durch ihr Geld gleichwohl so viel Bedürfnis erworben hatten, daß sie den Begriff der deutschen Reinlichkeit erfassen konnten und die Fahrgelegenheit darum der auf chilenischen und englischen Schiffen vorzogen. Kaum einmal reisten Frauen 47 mit, oder dann nur solche recht dunkler Herkunft. Auf des »Moloch« jetziger Fahrt hatte es der Zufall gefügt, daß überhaupt noch kein weibliches Wesen die Planken für längere Zeit betreten hatte.

Und nun war Dolores erschienen. Sie, die nicht wußte, was Welt bedeutete. Und ihr schien, daß die neben ihr es eigentlich auch nicht erfaßten; auch sie sahen nur das Spiegelbild der Umgebung in ihrer eigenen Seele. Nur erkannten sie wohl, was sie spiegelten, um sich an ungezählte, bewertete Äußerlichkeiten zu kehren. Dolores Larrea hielt sich an keine Werte. An die augenblickliche Eingabe. Ihre Schönheit dachte sie sich selbst. Ihre Kleider erfand sie sich nach Laune. Wollte sie spielen, so gab sie sich als Kind, und es war kein Widerspruch zwischen Aussehen und Gebaren. Wollte sie denken – und das wollte sie –, dann mußten Stille und Würde sie umfangen. Unberührt vom Aberglauben an Triebregungen, hatte sie Verwendung aller Triebe für sich erlaubt gefunden, sich einen Traum geschaffen, den sie zu erleben sich sehnte, um in ihm völlig auszuleben, hatte im Gedanken daran über die sieben Kaufherren geherrscht, die eine alltägliche Denkart vor ihrer Eigenkraft zu verbergen gezwungen wurden, war sie unendlich verwöhnt und bedient worden und trat dieser Weise unter die Bewohner des »Moloch«.

Sie waren Seeleute wie andere auch. Aber da draußen unter der Tropenglut, in der manche Jahreszeit überdauernden Vereinsamung, konnten sie wohl zu wilden Tieren in Käfigen geworden sein. Alle Laster waren hinter den Schiffswänden schon verborgen gewesen, alle verworfenen Leidenschaften gefeiert worden. Feige, neidvoll, lüstern blickte jeder auf die Sättigung von des andern Gelüsten. 48

Nur den Kapitän zu nennen, den Säufer, den Gefräßigen, dessen Wanstes zahlreiche Fettfalten man unter der Uniform zu erraten glaubte, dessen Mund troff von unflätigen Zoten, die er Tag um Tag zur selben Stunde wiederholte. Der erste Maschinist mit seinem krankhaften Geiz, seiner giftigen Dürre, der seine Wollust darin befriedigte, daß er an Bord vom einen zum andern lief, um zu verleumden und Gehässigkeiten auszustreuen. Der Verwalter, der die Merkmale einer Lustseuche an Mund und Händen trug und sich aus Rache, weil er die Krankheit erworben hatte, weigerte, sein Geschirr und Eßgerät für sich besonders zu waschen, sondern gerade darum am Tische der Subalternoffiziere mitaß, um ihnen durch seine ekelhaften Ausdünstungen und den Anblick seiner Widerwärtigkeit die Ansteckungsgefahr vor Augen zu halten. Die Mannschaft, darunter viele tapfere Käuze, die mit den Offizieren über denselben Leisten geschlagen waren. Jeder Hafenplatz schwemmte Dirnen an Bord. Jeder Hafenplatz lockte diejenigen, die sich frei machen konnten, in die schmierigsten Bordelle.

3.

Unter ihnen ging ein Knabe, der nur äußerlich zu ihnen gehörte, der nur zu dieser einen Reise an Bord gekommen war. Doktor Stookum, der Schiffsarzt. Oder eigentlich – er war nicht einmal Doktor – er hatte eben erst das medizinische Staatsexamen bestanden und die Befreiung von der Examenlast zum Sprung in die Welt benutzt. Aus der altehrwürdigen Sittlichkeit seiner Vaterstadt, seines Elternhauses, die über ihm gewacht hatten, so daß er die Regungen seiner Sinne zu beherrschen gelernt, war er mitten in das wüste 49 Treiben dieser Seeleute verpflanzt worden. Doch seine Wurzeln sogen kein Gift auf. Die Farben und Wunder der Welt waren machtvoll vor ihm emporgewachsen, umgaben ihn mit einer Hecke, hinter der sich Ekel und Abscheu verbergen mußten. Vielleicht wogten seine Träume ausschweifend und wildbewegt. Aber die Taten seiner Lebensführung blieben von einer einfältigen Schönheit geführt. Da fand sich ein Seltsames in seinen Augen: keine Dirne, die an Bord kam, vermochte er als solche zu erkennen; er brachte ihr sogar Ehrfurcht entgegen, nur weil sie Frau hieß. Kein Trinkgelage konnte ihn halten, weil er sich verzog, wenn er die Müdigkeit des Weingiftes in sich spürte. Und meist trat er auf Deck hinaus, im Anblick des Sternenhimmels einen Glauben zu fühlen. Die häßlichen Reden des Kapitäns prallten ungehört an ihm ab. Er war stark genug, sich in die eigene Welt zurückzuversenken, wenn ihn die seiner Umgebung abzustoßen begann.

Die Reise hatte ihn reich gemacht. Die weite Erde war so chaotisch bunt, und das Meer allein hätte es ihm schon mit seinen läuternden Wechselspielen angetan, wäre er nicht zumeist im Banne der eigenen Jugendlichkeit gewesen, die von dem großen Ereignis träumte, damit sein Dasein erst den Anfang nehmen sollte.

Bis er es mit Dolores zusammen erlebte. Er war es, der an der Reling gestanden hatte, als sie an Bord kam; er hatte ihren ersten Blick in sich gefangen, so fest gefangen, daß er wie mit Flügeln in ihm herumflatterte und überall Verwirrung und Unrast anrichtete.

Aber für die fünfundzwanzigste Reise des »Moloch« überhaupt war Frau Dolores das große Erlebnis.

Als der Dampfer durch die Nacht dem kleinen Hafennest Manta zusteuerte, das im Sande auf Pfählen 50 gebaut ist und nur ganz traurige, eckige Gestrüppe zwischen den Hütten aufzuweisen hat, und die Hitze aus den Planken und Eisenplatten des Schiffes wie in Wolken in die etwas kühlere Nachtluft verdampfte, kam Frau Dolores an Deck zurück. Ihr Haar war in einem üppigen Knoten hinten emporgerafft, in der Mitte gescheitelt, und ein breites Band aus Silberperlen, wie es die araukanischen Häuptlinge im Süden Chiles tragen, krönte den schwarzen Glanz. Ihr violettseidenes Gewand schien durchsichtig zu sein, dem nie zu berührenden Körper zuliebe. Hals und Arme wuchsen daraus, nur dazu da, einem leichten, schwarzen Schleier Halt zu bieten, so daß er sich der geschmeidigen Leichtigkeit anschmelzen konnte.

4.

Keiner auf dem ganzen Schiff hätte gewagt sie anzureden, als sie unter dem Nachthimmel über das Promenadendeck hinwandelte, hinten am Heck in die grünen Wirbel des Meerleuchtens staunte, welches die Schraube huldigend, wie Leuchtkugeln römischer Kerzen, aufwarf.

Der Kapitän machte, weil er als Schiffsfürst ihre Annäherungsversuche voraussetzte, sein hochnäsigstes Gesicht, was aber infolge seiner Fettpolster um Kinn und Mund höchstens zur Grimasse gelang, und legte sich im Liegestuhl so, daß er jeder Bewegung der wandernden Frau durch die halbgeschlossenen Lider folgen konnte. Der erste Maschinist hatte die klapprigen Knochen zusammengestellt, war in seine Kammer gekrochen, um unter Keuchen und Prusten sein Grammophon an Deck zu holen. Die Brillengläser kehrte er dem Rauchsalon zu, in dessen Spiegelscheiben er gleichfalls der auf und ab gehenden Frau nachstarren konnte, und ließ Platte 51 um Platte mit den rührseligsten Liebesweisen dahinschnarren. Die Offiziere spielten Skat, reihten Regimenter geleerter Bierflaschen auf ihren Tisch und brachen von Zeit zu Zeit in krächzendes Gelächter aus.

Doktor Stookum lag im Rettungsboot Nummer Eins, oben auf der Brücke, an einem verbotenen Platz, sah den Schornstein über sich aufragen und seine dickbauchigen Rauchwolken ausstoßen, sah die leise schwankenden Maste und die um sie kreisenden Sterne, sah die Augen von Frau Dolores als Rätsel nahegerückter, unerforschlicher Welten. Er war zuversichtlich, daß sie ihm Rede stehen würden. Aber der einzige Blick war Glückes genug für eine ganze Nacht. Und als sie neben ihn trat und auf den Silberwurf des Mondes über die Wellen hinschaute, schwieg er Seite an Seite mit ihr, bis Mitternacht lange vorüber war. Dann gingen sie beide, ohne Gruß, ohne sich anzusehen, jedes in seine Kammer.

5.

Auf der Reede von Manta wurde der »Moloch« so kräftig von der Dünung gewiegt, daß kein Boot an die Reling legen konnte und Doktor Stookum, der doch an Land wollte, auf ein Pack Elfenbeinnüsse überspringen mußte, das, um aus dem untenstehenden Segelboot in die Schiffsluken geführt zu werden, von der Dampfwinde hoch über Wasser gehalten wurde. Und als er sich am Drahtseil, in der Luft schwebend, festhielt, den Fuß auf dem Haken, glitt unvermutet Dolores zu ihm auf die schaukelnden Säcke und hielt sich gleichfalls am Drahtseil, oberhalb seiner Faust, und setzte den schmalen Fuß in den Eisenhaken über den seinen. So wurden beide in die Segelbarke herabgelassen. 52

Der Wind trieb sie mit kräftigen, gleichmäßigen Stößen dem Ufer zu. Der Strand war so seicht, daß sich die Barken weit draußen in den Schlamm einbohrten und die öligen Oberkörper der Eingeborenen über der Bootswand emportauchten, um die beiden Passagiere auf nacktem Rücken ins Trockene zu tragen. Das deutsche Haus der Taguagesellschaft ließen sie links und schritten dem Meer entlang. Glattgeleckter Sand zog sich als mächtige Straße bis zum nächsten Vorgebirge. Dahinter hob sich das Festland als eine niedere Felsterrasse.

Ob Pferde zu mieten seien, hatte der Doktor die deutschen Kaufleute gefragt. Immer der Seebrise entgegen, immer Brandung und rauschenden Gesang zur Seite. Die Dünung hatte den Sand elastisch geschlagen, so daß kein Huf jemals einsank. Grünmetallene Eidechsen flüchteten in die wenigen, kümmerlichen Büsche. Andere waren grau am Rücken, feurig und prächtig an der Unterseite. Über ihnen schwebten Fregattvögel mit spitzigen, schmalen Flügeln und einem langen Schwalbenschwanzschweif. Ganz hoch in den Himmel segelten sie, um plötzlich ins aufzischende Wasser herunterzuschießen und ihre Beute im Fluge zu fangen. Reiher flogen silbern durch die Luft, prunkvollen Aufscheins.

Frau Dolores wollte absteigen, weil bunte Muscheln herumlagen. Wie ein Kind freute sie sich über phantastische Schneckenhäuser, hielt sie ans Ohr und gab Bescheid. Nicht mit dem Doktor sprach sie, der sich alle Kleider vollstopfen mußte. Aber außer sich vor Entzücken geriet Dolores, als sie Taschenkrebse aufspürte. Die Sonne stand entgegen, und über die breite Sandstraße waren unzählige, purpurdurchleuchtete Kugeln verstreut. Kam man näher, verschwanden sie, wie vom 53 Zauber berührt, in die Erde. Frau Dolores setzte sich auf einen Felsblock und bat, zuschauen zu dürfen. Gerade dort, wo die Brandung die Ufer zu lecken aufhörte, waren dem Strand entlang kreisrunde Löcher. Ein vor der Sonne gesehenes, purpurfarbenes, achtscheriges Tier arbeitete im Boden. Mit den vorderen, schaufelförmigen Gliedern machte es um sich kreisende Bewegungen; Dolores behauptete, es kaue das Erdreich durch nach kleinen Lebewesen und lasse das Durchgekaute als winzige Körnchen hinter sich zurück. Baggermaschine für einen verborgenen Krabbenkönig, für dessen Kinder man Marmeln verfertige. Nein, ein König, der böse wurde und mit Steinen werfe. Und die geschäftigen Untertanen müßten sie zubereiten, wie Israels Kinder in Ägypten die Ziegel.

Dann machte Dolores eine leise Bewegung, so daß die kleinen Maschinen stillhielten und sich neben ihre Löcher stellten. Sie warf ein Stückchen Holz, und lautlos, unsichtbar schnell waren die Tiere in ihren Höhlen verschwunden. Aber noch mehr Freude bereiteten ihr die Einsiedlerkrebse. Plötzlich liefen da Schneckenhäuser. Dolorens leichter Schritt zitterte auf dem Sand, und die Häuschen klappten schnell, doch behutsam auf ihre Öffnungen. Dolores hob sie hoch, und ein kleiner Einquartierer lag in jedem. Erst streckten sich zwei Scheren sachte hervor, umgriffen des Schlupfwinkels Ausgang ein wenig. Dann kamen feine Tastglieder zum Vorschein, und zuletzt krabbelte der ganze Eremit, soweit es ging, hervor und versuchte sich mitsamt gestohlenem Domizil aus der Hand fortzustehlen. Auf den Boden gesetzt, waren sie aber nichts weniger als schlau, die einfältigen Einsiedler. Man wäre an den zahllosen Schnecken achtlos vorbeigegangen, wenn man nicht auf 54 einmal hätte hinschauen müssen, weil sie alle wie Stehaufmännchen mit leisestem Knipsgeräusch auf ihre Öffnung sich fallen ließen. Das seien die Seelen bestrafter Mönche, die ihr Kloster nun gar auf dem Buckel trügen, um sich wie im Leben hinter die Wände flüchten zu können. Darum ließen sie, wenn so ein Ungeheuer, wie sie, Dolores, ihnen in die Zelle hineinspüren möchte, lieber vom ganzen Gebäude die Türe zuschlagen, als aushalten. Aber der Doktor lachte schon wieder . . .

Mitten im grauen Plan auf einem Felsklotz saß ein scharlachroter Vogel, der unversehens aufflog und einen Schein, wie den Schweif eines Kometen in der Tropennacht, zurückließ. Da zum erstenmal begegneten sich beider Augen. Lange und eindringlich.

Über den an einen Stein gekoppelten Pferden hatten sich Aasgeier angesammelt. Ihr Krächzen löste die Blicke wieder, und in fast schreckgejagtem, wenn auch lustvollem Galopp ritt das Paar zu den Segelbarken zurück.

An Bord hatte Frau Dolores viel Freude, weil die Kätzchen über die mitgebrachten Klosterträger, sowie sie sich umfallen ließen, höchlichst verblüfft waren und doch zu gerne mit ihnen gespielt hätten.

Der Doktor aber erlebte eine schlechte Nacht; denn außer dem Geschrei der Aasgeier hörte er ein unermüdliches, unangenehmes Kratzen an seinen Kammerwänden, das erst aufhörte, als er erwachte und bemerkte, daß einer der Offiziere den Deckel zur Schachtel, in welcher die Einsiedlerkrebse auf Wunsch von Frau Dolores aufbewahrt worden waren, geöffnet hatte und diese nun in verzweifeltem Freiheitsdrange überall mit ihren hornigen Gliedern herumtasteten. 55

6.

Über das Schiff schien brodelnde, trübgärende Wallung zu kommen. Jeder begann dem andern zu grollen. Jeder glaubte die eine Frau in seiner Weise lieben und begehren zu dürfen. Lag sie nachmittags auf dem Promenadendeck in der Hängematte, ihr zu Füßen die braune Viktoria, war es verwunderlich, wie belebt die sonst stille Stätte geworden. Der Kapitän mußte unbedingt seine Karten und Zirkel aus dem Kartenhause holen, gerade neben ihr studieren und berechnen, war dann nach einer Viertelstunde empört über Frau Dolorens Teilnahmlosigkeit, rollte die Blätter wieder zusammen, suchte sich den ersten Offizier und erzählte seine sämtlichen Anekdoten, die jener schon so oft gehört hatte, als Tage im Jahr waren. Frau Dolores hörte gleichwohl nicht zu. Dann kam der erste Maschinist dazwischen, der seine Uniform nur ausnahmsweise trug, heute aber im Sonntagsstaat einherschlenkerte, voller Entrüstung darüber, daß die Bitte nach seiner Grammophonmusik noch immer nicht ausgesprochen wurde. Unterdessen war der Kapitän mit dem ersten Offizier in den Salon hinabgegangen. Dort hatten die beiden an Likör sich die Köpfe rasch entzündet und luden ihre eifersüchtige Verstimmung auf den ersten Maschinisten ab. Weil gerade er sich vergeblicher- und lächerlicherweise um die Gunst von Frau Dolores bemühe. Der erste Maschinist seinerseits hatte sich den zweiten, mit dem er sonst in inniger Fehde lebte, hergeholt. Um in das Steuerhaus einzusteigen und dort seine Wut, die aus der verschmähten Liebesmühe entstanden war, auf den Kapitän zu übertragen, den wahren Grund durch Anschuldigungen, daß der Kapitän mit dem Schiffsverwalter unter einer Decke stecke und 56 auf Kosten der Reederei am Essen der Mannschaft und Passagiere unverschämte Summen verdiene, verhüllend, sowie gleichzeitig vergessend, daß er, der Maschinist, am Ende jeder Fahrt das Seine an den Kohlen reichlich in die Tasche erübrigte. Und dieser Art wühlte es weiter im Schiff: jeder war verliebt; jeder suchte Frau Dolores zu dienen auf Kosten des anderen; jeder glaubte Grund zur Hoffnung zu haben; jeder verfolgte den anderen mit einer Eifersucht, die nur das Klosterleben eines weltentlegenen Schiffes züchten kann. Alle gemeinsam aber verwünschten den Doktor, den nutzlosen Pflasterkasten, den Tranlappen, der einer Frau aus Büchern vorlas, dagegen eine saftige Zote mit Achselzucken und Weggehen bedacht hatte, den Windhund, der nicht zu wissen vorgab, wie tierisch gemein das Leben war, und daß der roheste und niedrigste Genuß nichts anderes blieb, als das Ideale, von dem er zu Anfang der Reise in zutraulichen Stunden gefaselt hatte.

7.

Am nächsten Morgen ging man in Puna, an der Mündung des Guayasflusses, vor Anker. Die Ufer glichen mit graugrünen, staubigen Teppichen belegten Theaterrequisiten. Überall lag Sand als Zeuge ewiger Sommer auf den Palmen. Der Strömung wegen mußte gewartet werden bis zum Abend. Dann fuhr man hinauf, mitten vor die Edelsteinketten der Nachtlichter Guayaquils. Es war, als ob eine ungeheure Schlange ihren Leib lässig am Ufer dahindehnte, als ob jede Schuppe ihrer bunten Haut ein Kleinod wäre und als ob sie sich manchmal leise und lüstern regte, so daß die Juwelen zu funkeln begannen. 57

Parole war: An Bord bleiben! In der Stadt herrschten Pest und gelbes Fieber, wie übrigens immer. Man blieb denn auf dem Schiff, hauptsächlich, um die Gesundheitspässe in Ordnung zu behalten und weniger aus Furcht vor der Krankheit.

Der Doktor und Frau Dolores standen an der Verschanzung und blickten in gemeinsamer Sehnsucht nach den Edelsteinen an Land. Nicht, daß sie begehrt hätten, dort umherzuwandern; sie wußten, daß ihrer Unrat auf Straßen und Plätzen harrte, der dem Bilde aus der Ferne und vom sauberen Schiff aus keineswegs entsprach; sie wußten, daß ihnen hohlwangige, blutleere Gesichter mit glanzlosen Augen begegnen würden, von Fieber und Äquatorsonne gebleicht; sie wußten, daß ihnen barfuße Soldaten in allen möglichen und unmöglichen Uniformen auffallen würden, daß man ihnen an allen Ecken und Enden Panamahüte anbieten werde, und daß die Buben ganz hinten auf den Beckenknochen ihrer Esel säßen und mörderisch auf sie hinhieben, die Lastkörbe beidseitig vor sich. Sie kannten die lotterigen, niederen Holzhäuser mit breiten Veranden, auch die Kathedrale hinter dem Parque Seminario, deren Holzfassade mit Ölfarbe marmoriert war, ebenso wie die hölzernen Säulen in ihrem Inneren. Auch die vielen Denkmäler auf den Plätzen, Freiheitshelden der Republik Ekuador in napoleonischen Posen, erwarteten sie zu finden. Ferner würde man im ersten Hotel, in dessen Louis XVI.-Salon Kirmes-Öldrucke an den durchlochten Tapeten hingen, erzählen von den Kulturtaten der jetzigen Regierung und, mit angstvollen Blicken um sich äugend, verraten, daß der Präsident und Diktator ein alter Raufbold sei, der, seiner Haudegenart wegen im Volke beliebt, nicht einmal so viel 58 von allem gestohlenen Geld übrigbehalten habe, um seine Milizen damit zu bezahlen, weshalb er diesen von Zeit zu Zeit den freundschaftlichen Rat gebe, ihre Garnisonen als Entschädigung zu plündern. Nach all dem sehnten sie sich nicht.

Wenn man am schwarzen Schiffsrumpf hinunterblickte, auf die Dellen und Kämme des leise bewegten Stromes, so schien jeder kleine Flutgipfel von grünen Flammen durchgeistet. Der Wasserlinie entlang zog sich ein breiter, phosphorschimmernder Weg. Es war dunkelste Nacht; dennoch sah man Scharen von Fischen um das Schiff herumspielen. Sie hatten weißglimmende Umrisse und schossen durch die Fluten wie geheimnisvolle Elmfeuer. Man konnte denken, wenn man aus wissenschaftlicher Wirklichkeit den Vergleich aussprechen wollte, als schwämmen da von Röntgenstrahlen durchleuchtete Wesen. Man konnte sich vorstellen, man sehe das kleinste Wirbelchen und die feinste Fischgräte. Da aber, wo die Ankerkette steil in die Tiefe hing, senkte sich eine phosphorgoldene Lichtsäule bis auf den Grund.

Als der Mond aufging, losch freilich das Gleißen im Wasser ein wenig, überströmte dagegen Dolores. Sie trug stets eine andere Tracht, immer aus duftigem, sattfarbenem Seidenstoff. Heute meergrün. Ihr ganzer Leib schien daraus hervorzutreten, aber in so strengen Linien, daß man den Blick davor senken mußte. So einer Hals und Arme ansah, fühlte er, daß sie ganz kühl, belebend und erfrischend bei der Berührung sein mußten. Um den Nacken lagen drei Kettchen, eines immer etwas länger als das andere. Am ersten hing ein aztekischer Jadeit von mildem, milchigem Schein. Am zweiten eine chilenische Münze aus der Spanierzeit. Am dritten ein silberner Indianergott, wie ihn 59 die Eingeborenen von Costa-Rica tragen. Frau Dolores zu den Füßen, die mit vergoldeten Schuhen bekleidet waren, lag Viktoria, enggeschmiegt an Seide und Schenkel, und blickte mit dem unveränderlichen, hündischtreuen Gesicht nach ihrer Herrin. Der Doktor saß rittlings auf der Verschanzung, schaute zu den beiden Wesen einer anderen Welt und wußte nur weiter zu schweigen.

Dolores aber plauderte, mit offenen, weltabgewandten Augen; sie redete wie im Schlaf; sie redete, als ob sie in die Kinderzeit zurückversetzt gewesen wäre; sie sprach für sich selber, und doch spielte sie vor dem Manne, dem sie als einzigem auf dem bösen Schiffe ihre Worte gönnte.

»Wenn jetzt, du lieber Doktor,« sagte sie, »die durchsichtigen Fische im Wasser alle zu einem Ziel schwämmen, dann würden sie mit ihren Rücken eine Straße bilden für uns beide und wir schritten zusammen – ja, ich würde dir die Hand dazu reichen – denn ich fürchte mich doch ein wenig – hinüber ins verwunschene Land. Dort in den Straßen wären alle smaragdenen Strahlen des Meerleuchtens für uns gesammelt; wir würden davon abbrechen nach Herzenslust und uns einhüllen; wir würden alle anderen Kleider abwerfen und uns damit bekleiden und du müßtest herrlich aussehen darin. Wir würden in ein Haus eintreten, in welchem ein Spiegel sich fände und ich müßte mich davor drehen und wenden, um zu wissen, wie ich bin. Dann könntest du mir einen Wagen bauen, immer aus den smaragdenen Strahlen; ein Schwarm Fregattvögel, die flögen aus deinen Augen heraus – müßten ihn ziehen – sie wären aus Rubinen, und ihr rotes Funkeln müßte durch die schlafenden Urwälder segeln. Wir würden die nickenden 60 Papageien sehen, und die Schlangen müßten aufflackern im Abglanz unseres Gefährts, und die Kolibris könnten wie Sterne zu uns ein und aus schwirren. Du dürftest den Arm um mich legen und müßtest mich lieben, wie mich noch keiner liebhaben durfte.«

Der Doktor wollte von der Verschanzung herabspringen.

»Warte!« sagte Dolores. »Nun hast du die Fahrt gestört. Zur Strafe kehren wir zurück in die Fieberstadt. In der Stadt wäre ein Heiligtum, ja, ein uraltes Gefäß aus der Inkazeit, mit gespenstischen Vögeln bemalt, und du müßtest durch die ganze Stadt eilen und es finden und meiner Hand anvertrauen. Und ich würde mit meinen Schleiern alle Pestluft einsammeln und in die Urne fangen, sie auf unser Schiff tragen und draußen auf dem Meer, wo es am weitesten ist, in die Tiefe versenken.«

»Ja, das mußt du! Morgen noch gehst du, die Urne zu suchen. Du mußt das tun, damit ich diese Nacht, die ich mit dir verplauderte, nie vergessen werde. Versprich mir das!«

Dann fing sie an, inständig zu bitten. Der Doktor wußte erst nicht, wieweit sie scherze oder ob sie noch im Traume spreche; als sie ihn aber an den Händen faßte und niederknien wollte, versprach er ihr, alles zu versuchen, morgen an Land zu fahren und die Urne zu finden. Da faßte ihn Dolores um den Hals und küßte ihn.

8.

Der Doktor saß bis zum Sonnenaufgang an Deck und sah ein Licht der Fieberstadt nach dem anderen erlöschen.

Als das Motorboot der Gesellschaftsagentur anlegte, 61 sprang er hinein, einzig beherrscht vom Gedanken, Dolorens Wunsch zu erfüllen. Viele Stunden lang irrte er durch die glutheißen, ausgesengten Straßen, zuerst dem Ufer entlang, an dem die Kakaobohnen auf Tüchern vor der Sonne ausgebreitet lagen, dann durch die engeren Gassen, unter Arkaden einstöckiger Häuser durch, dann durch schmutzige Gassen mit aufgerissenem, löcherigem Pflaster, bis er unvermutet von einem kleinen Manne angesprochen wurde.

Ob er Antiquitäten suche?

»Ja, Inkavasen.«

Aus dem hintersten Winkel seiner muffigen Stube, in der alte Kleider, Waffen, Sattelzeug, Kochgeschirr und Trödelkram sich umhertrieben, zog der jüdische Händler einen in zerschlissene Tücher gehüllten runden Krug, den er mit zitternden Händen herausschälte. Vor des Doktors Augen erwuchs ein geheimnisvoller Vogel mit matter, zum Teil abgebröckelter, braunroter Glasur. Schwanz und Kopf bildeten die Henkel, und auf dem gewölbten Bauch waren schwarze, pelikanartige Vögel gezeichnet. Keine Öffnung verriet des Tieres Inhalt; nur schien es, als könnte man etwas, das wenig schwerer war als Luft und doch kein Wasser, darin hin und her bewegen.

Der Händler behandelte die Urne mit umständlicher Ehrfurcht, berechnete sie nach den Jahrhunderten ihres Alters, traute aber schließlich seinen Augen nicht, als er das überschwengliche Entgelt des glücklichen Doktors einstecken durfte.

An der Reling wartete Frau Dolores. Wortlos nahm sie die Urne in Empfang, trug sie behutsam wie ein lebendes Wesen auf beiden Handflächen vor sich her und blieb fortab unzertrennlich von ihr. 62

9.

Seit Frau Dolores die Urne besaß, war sie noch unnahbarer für alle anderen geworden. Nur Stookum und Viktoria mußten ihr Schritt für Schritt folgen.

Das ganze Schiff war wie liebebesessen. Aller Augen ruhten auf ihr. Jede ihrer Bewegungen löste Spott und Gelächter, gehässige Bemerkungen, unerfüllte Wünsche und geheimgehaltene Liebkosungen aus. In ihren Kammern saßen die Offiziere und schmähten stundenlang auf den Doktor; in der seinen tobte der Kapitän, daß er solche Unsittlichkeit und schamlose Wirtschaft nicht weiter dulden werde, und daß er im nächsten Hafen an die Reederei depeschieren wolle. Die Mannschaft konnte sich Abende durch mit auf das Liebespaar umgemodelten Matrosenliedern belustigen, und die wenigen Passagiere teilten das Maß ihres Neides bald mit dem Kapitän, bald mit dem ersten Maschinisten oder den andern Offizieren.

Doch wo sie vorüberging mit ihrem geliebten Spielzeug, mit ihrem Heiligtum, mit ihrer braunen, unscheinbaren Urne, wichen die Leute scheu zur Seite, und nicht einer wagte, ihr nahe zu treten, geschweige denn sie anzureden.

Die langen Nächte saß sie in ihrer Hängematte, ließ sich leise von Viktoria schaukeln und sprach mit dem Doktor, wie ein Kind zum Kinde; denn auch über ihn hatte sie nun Macht, daß er den Ton, den sie anklingen wollte, in sich widerhallen fühlte, darin antworten mußte. Das waren ihre glücklichsten Zeiten.

10.

Am dritten Tage, kurz vor Callao, als sie zusammen dem Spiele der zahllosen Hammerhaie, die bald ganz 63 an der Oberfläche am Schiff vorbeistrichen, obenhin durch die Wellenkämme, bald scheinbar unbeweglich neben dem stetig vorwärtsschnaufenden »Moloch« trieben, und doch immer wieder neu von vornher auftauchten – seltsame Tiere mit abscheulichen, breitgetretenen Köpfen, die nach beiden Seiten Hammerschlägel aussandten – mit wundervollen Fischleibern, die wie Torpedos dahinschossen – wurde der Arzt an Vorderdeck in den Mannschaftsraum gerufen.

Da lag ein Kranker, hatte große, glänzende Augen, fieberte, atmete schwer, klagte über Schmerzen und geschwollene Drüsen in Leistenbeugen und Achselhöhlen – Pest, Beulenpest.

Erst erschrak der junge Arzt; dann überlegte er. Gefahr durch den Kranken bestand vorderhand nicht für die anderen.

»Waren Ratten an Bord?«

»War man durch kranke Ratten belästigt worden?«

In der Bäckerei seien welche ganz frech und langsam herumgelaufen, häßliche Tiere, abgemagert, mit zerzausten Fellen.

»Tote Ratten?«

»Nein.«

Die Leute im niedrigen Logis, das sich nach vorn zu verengte, fingen an zu murren. Errieten sie? Der Doktor ließ den Mann ins Hospital schaffen. Keiner wollte anfassen. Nur auf Drohungen hin.

Der Kapitän war außer sich. »Das fehlte noch. Das konnte, durfte nicht sein! Niemals gebe er das zu! Womöglich in Quarantäne müssen! Er dulde keine offene Deklaration an den Hafenarzt in Callao; er wisse von nichts, und wehe dem, der etwas verlauten lasse!« Mit rotem Gesicht raste er auf der Brücke hin und 64 her. »Die Kosten, welche der Reederei erwachsen würden! Die Scherereien! Dieser eingebildete Knabe, der eine Geschlechtskrankheit für Pest erklären wollte! Dieser unnütze Mitesser an Bord!«

Nach zwei Stunden wurde ein Heizer krank gemeldet, nach weiteren drei Stunden ein dritter.

»Dieses Lumpengesindel! In allen Hafenplätzen liefen die Schweine den Dirnen nach!«

Unterdessen rottete sich die Mannschaft, die keine Wache hatte, zusammen.

»Das Weib war schuld an allem! Das Weib hatte den Dampfer verhext! Was trug sie in ihrem alten Topf herum, der seit Guayaquil an Bord war? Warum hatte gerade der Doktor ihr den geschenkt? Da war das Gift drin! Die Kleider sollte man ihr vom Leibe reißen! Ins Meer versenken! Ersäufen!«

Ihre Augen funkelten tückisch, wenn sie sich die Grausamkeiten vorstellten, die sie am Weibe verüben wollten.

Vor der Brücke ballten sie sich zu Haufen. Gegen die Vorgesetzten richtete sich erstmals der Haß. Den dritten Steuermann hatten sie gepackt und schlugen ihn. Da griffen die anderen Offiziere zu den Waffen. Und vor den Pistolenläufen sowie vor den massigen Fäusten des »Alten« zogen sich die Schreienden und Drohenden langsam zurück.

Noch einmal konnte das Wüten des wilden Tieres, denn ein solches war nun der »Moloch«, gebändigt werden. Wie die Stiere zuerst auf die roten Tücher der Picadores abgelenkt werden in ihrer Wut, so richteten sich aller Augen nun auf die gelbe Flagge, die an der Signalleine flatterte, gewiß für lange Tage, während der Quarantäne im Hafen von Callao. 65

11.

Es war nahezu frostig geworden, unweit des Äquators, und feucht, und man mußte wärmere Kleider anziehen. Eine kalte Meeresströmung strich vorüber. Dichte Nebel hüllten die See ein. Unglücklicher Tag für den Arzt. Keine schwarzen Raben zeigten ihn an; keine Spinne lief ihm über den Weg; aber auf die Patienten stürzten sich die Visite machenden Hafenärzte wie Aasgeier. Für sie war es Festtag. Das Schiff mußte geschwefelt werden; alle erdenklichen sanitären Maßnahmen durften verhängt und die ungeheuerlichsten Rechnungen dafür ausgestellt werden. Strengste Quarantäne wurde verordnet; die Kranken brachte man auf festen Grund und fuhr sie in einem Extrazuge nach Lima ins Lazarett. Die Räucherbarke legte zur Seite des »Moloch« an, und Kesselchen mit reinem gelben Schwefel, darüber leichte, blaue, giftiges Gas ausströmende Flammen brannten. wurden in alle Luken und Kammern gesetzt. Aus dem Schiffsraum sammelte man Körbe voll toter Ratten und warf sie ins Wasser. Wäsche und Kleider der Mannschaft mußten an Land gefahren werden, wurden dort ausgeräuchert, an Bord wieder entfaltet; immerhin konnte man feststellen, daß das meiste daran haftende Ungeziefer auch nach dieser Prozedur noch lebte. Kein Bein durfte vom Schiff. Die Falltreppe war emporgezogen; Hafenpolizisten hielten Wache an Deck. Einzig der aus Salina-Cruz mitgereiste Leibarzt des damaligen Präsidenten Diaz von Mexiko, durch Empfehlungen an die peruanischen Minister immunisiert, wurde schon am ersten Tage in einer Regierungsbarkasse geholt und dampfte ohne weiteres nach der Hauptstadt hinauf. Die Zeitungen brachten spaltenlange Artikel, und ein besonders findiger 66 Kopf hatte den Verlauf der Pest auf dem »Moloch« genau feststellen können. In Guayaquil waren die Ratten durch den Strom geschwommen, oder sie hatten sich zwischen den Säcken der Ladung, die aus den Speichern am Kai in großen Leichtern zum Dampfer gefahren wurden, versteckt und waren an den Ankerketten und Tauen und zwischen den Säcken der Ladung ins Schiff geklettert. Taue und Ketten hatte man zwar mit großen Blechtrichtern über dem Wasserspiegel versehen, die nach unten sich öffneten, so daß die Ratten nicht darüber hinwegklimmen sollten; aber auch diese Hindernisse waren von ihnen überwunden worden. Derart kamen die erkrankten Tiere an Bord. Ihr Ungeziefer sprang auf die Menschen über und steckte sie an. Und die Epidemie brach aus. Es war ein deutsches Schiff; man haßte die Deutschen; man liebte die Franzosen; man begünstigte die englischen Dampferlinien, weil die Chilenen als Todfeinde die Alemanos bevorzugten. Es war eine Fundgrube hämischster und giftigster Bemerkungen, mit denen sich die peruanische Presse vollsog.

Am vierten Tage der Quarantäne jedoch durfte der »Moloch« kurzerhand wieder in See stechen. Die Agentur der Dampfergesellschaft hatte Mittel und Wege gefunden, die Pestilenz endgültig zu vertreiben. Außerdem fuhr das Schiff nach Chile; mochten sie dort den schwarzen Tod bekommen! Und hatte doch die Agentur mehrere tausend Soles an die Hafenärzte gespendet.

Doktor Stookum kämpfte und wehrte sich tapfer. Er verlangte, allen andern zum Trotz, die strengsten Maßnahmen: er wies auf Folgen und Verantwortung hin; er schürte damit nur den tödlichen Haß, den die ganze Besatzung gegen ihn hegte. Frau Dolores aber wählte 67 ihre Kleider sorgfältiger denn je. Sie spielte mit ihrer Schönheit unaufhörlich; sie stellte ihre Ketten und Schmuckstücke um so berückender zusammen, je mehr sich die Stimmung gegen ihren Freund verschärfte. Und Stunden und Stunden stand sie mit ihm an der Verschanzung, ließ nicht locker, vor dem trübselig in des Hafens Mastenwald und Taugewirr Blickenden, was alles ihm wie dicht fallender Regen vorkam, ihre Gedanken als Kinderspiele mit Libellenflügeln hin und her schillern zu lassen, bis er, wenn auch für Sekunden nur, aufschauen und lächeln mußte.

12.

Endlich fuhr man aus, vorbei an der ockerfarbigen, kahlen Insel San Lorenzo, der Schutzmauer Callaos. In der Ferne des Festlandes die massigen, steilaufsteigenden, ebenso kahlen Kordilleren. Breite Nebelschwaden lagerten auf den Bergen umher. Weiter und weiter entschwanden die Schiffe des Hafens, von denen besonders diejenigen einer englischen Dampferlinie, mit der grünen Kielfarbe, schlank und wie in Trauerkleider gehüllte junge Witwen aus dem Wasser aufstiegen. Zuletzt vorbei an den peruanischen Kriegsschiffen. Mochten sie noch so alt und kampfuntauglich sein, immer sahen sie stolz und gefährlich schön aus, weißgestrichen und aus der Entfernung sogar sauber, männlich in ihren Formen.

Den Tag über folgten Seelöwen mit feuchtfröhlichen Gesichtern dem »Moloch«, streckten den nassen, glatten Kopf unvermutet aus dem Wasser empor, hielten fauchend und schnaubend Umschau, schnellten sich zu dritt und zu viert in aalglatten Bewegungen aus den Wellen 68 auf, und ihrer braunen Leiber nasse Felle glänzten wie prall anliegende Seide.

Die Sonne verzehrte sich heißer denn irgendwann. Ungeheurer Haß wurde von ihr ausgekocht, zu dem der »Moloch« das Gefäß schien. Giftschwere Begierde nach der einzigen Frau, die von Tag zu Tag schöner und verlockender ward, gor aus, je mehr man jeden andern Frauenantlitzes verlustig ging. Der Blödeste, Vertrunkenste unter den Matrosen und Heizern fühlte liebesähnliche Regungen, die der Besessenheit zum Ausbruch verhelfen mußten. Wieder rotteten sie sich vor der Brücke zusammen; wieder wurden sie mit den Waffen niedergehalten; zwei von den rohesten hatten sich Frau Dolores in den Weg gestellt, die Fäuste bereit zum Zugreifen, und hätte ihnen nicht der Doktor ins Gesicht geschlagen, sie wären bald zu mehreren wiedergekommen. Die Leute waren um so aufgeregter, als sie weder in Mollendo noch in Pisco oder Arica an Land gelassen werden konnten, weil die unsauberen Gesundheitspässe überall Quarantäne nach sich zogen.

Man hörte keinerlei Geräusch als das Knirschen und Stampfen der Maschine und rauhe, heisere Befehle; jeder haßte den anderen; keiner gönnte dem Nächsten ein Wort; nur gegen das Paar wandte sich der allgemeine, einmütige Zorn: gegen den Arzt, der das Unheil aus dem Schiff an den Tag gebracht hatte, gegen die Frau, die daran schuld war, die es in ihrer Urne herumtrug, gegen die Frau, die alle begehrten und aus eben diesem Gefühl aus tiefster Seele verfluchten.

Sie schien von nichts zu wissen. Weder die Pest hatte sie erschreckt, noch vermochten sie die haß- und wunschtollen Augen der Leute zu ängstigen; sie verschloß sich in sich selbst; vielleicht, daß sie von dem 69 Manne träumte, der nun ihr ganzes Sein erfüllte, und ob ihrer Träume die Wirklichkeit vergaß; die Liebe war im Sturm über sie gekommen; unendlich liebte sie ihn, der um ihretwillen zum Leiden gezwungen war. Sie hatte nur den einen Wunsch, ihm wert zu erscheinen. Und so plauderte sie unermüdlich; sie dichtete sich Märchen, die sie ihm wiedergab; sie erfand sich eine Zukunft, die sie mit ihm leben wollte; sie schien ihre Phantasien aus der Urne zu schöpfen, die sie in ihren Händen trug; sie hielt sich zusammen aus übermenschlichen Kräften, da sie die Verzweiflung fühlte, die ihnen beiden drohte.

Denn, wie es in ihm aussah, wußte sie. Auch er war nach außen ruhig, fast fröhlich. Aber er begann sich zu quälen um des Ganges willen, den er in der pestverseuchten Stadt für Dolores getan hatte. Sie wußte, daß er unaufhörlich darüber nachsann, ob er durch diese Tat den schwarzen Tod auf sein Schiff gebracht habe. Sie wußte, daß er in den Augenblicken, da er es bejahte, sich selber, trotz aller logischen Einwendungen, die ihm seine Berufskenntnisse gaben, für den Träger der Krankheit hielt, sich selber als angesteckt betrachtete, und daß er wiederum diesen Wahn in sich bekämpfte. Sie wußte, daß er, wenn er sich auf seine Kammer vor ihr zurückzog, dort sich untersuchte, immer und immer wieder, sich maß, ob er fiebere, daß er seine Pulsschläge zählte und daß ihn die Gewißheit mehr und mehr umfing, er trage die Seuche unrettbar in sich. Dann trieb es ihn zu ihr zurück, obschon er sich marterte, weil er nun durch seine Nähe der geliebten Frau die Krankheit nur um so sicherer übertrug.

Stunde um Stunde brachte Verschlimmerung. Sie merkte wohl, wie seine Hand in unbewachten 70 Augenblicken den eigenen Körper abtastete und wie die von Wahn befangenen Finger bejahende Antwort gaben. Dann verdoppelte sie die Reize ihres Spiels, den Kranken abzulenken und zu heilen.

Aber es gelang ihr anders, als sie erhofft hatte. Auch Doktor Stookum sah die Notwendigkeit der Befreiung von seinen Gedanken. Und da die Frau in ihrem ganzen Liebreiz sich ihm bot, richtete er sein erwachendes Begehren, seine Sucht nach Betäubung auf sie.

13.

Es war kurz vor Mitternacht, als der Dampfer auf der Reede von Pisagua vor Anker ging.

Die Aussicht, in einem neuen Hafen anzulegen, den man sicher nicht betreten sollte, dieses Arztes rücksichtsloser, gemeiner Angeberei wegen, hatte die Mannschaft sinnlos gemacht. Als er an Deck trat, hoben sich Fäuste aus dem Dunkeln gegen ihn. Als Frau Dolores wie zum Schutze sich neben ihn stellte, wich trotzdem alles noch einmal scheu zurück. Denn man wußte nun mit Gewißheit, daß sie Tod bedeutete, daß in der Urne, die sie trug, die giftige Gefahr an Bord gekommen sein und so lange bleiben mußte, als das Gefäß in den Schiffsräumen weilte.

Frau Dolores faßte ihren Geliebten an der Hand und führte ihn hinunter in ihre Kammer. Dort hatten sie einstweilen Ruhe. Viktoria legte sich vor der Tür auf die Schwelle.

Gleich elektrischen Funken sprang die Nachricht unter die Leute, die Hexe habe den Doktor zu sich genommen. Häßliches Gelächter erfüllte den »Moloch«.

Auf Vorderdeck kamen die Heizer und Matrosen aus ihrem Logis und redeten mit zusammengesteckten Köpfen. Sie beschlossen Mord. 71

Der Kapitän und die Offiziere bezechten sich. Blindlings tranken sie aus furchtbarem Haß, und noch nie waren so schleimige Reden über das Meer hinausgeschleudert worden wie in diesen Stunden.

Vor den Knien Dolorens lag der Arzt. Alle Vorwürfe, die er sich um der Seuche willen erfunden, alle Schuld, die er über das Schiff gebracht zu haben glaubte, alle Qual und Todesfurcht, da draußen am Rand der gottverlassenen chilenischen Salpeterwüste an Pest mit der Geliebten verkommen zu müssen, alle Gefühle für die herrliche, seltsame Frau vor ihm waren in ein leidenschaftliches Chaos zusammengeschweißt worden und brachen nun mit elementarer Gewalt durch. Er begehrte nicht mehr ihre Worte zu hören, nicht mehr ihrem Lachen zu lauschen, nicht mehr das Spiel ihrer Kleider zu schauen und das Getändel mit ihrer Urne; er verlangte nach ihrem wunderbaren Leib; er verlangte in ihr zu wühlen und seine Kräfte an ihr auszutoben. Frau Dolores erschrak. Nicht vor seiner Wildheit, nicht vor dem Ansturm seiner Sinne; sie fühlte Leidenschaft, wie er; sie hatte keinen anderen Wunsch, als sich ihm hinzugeben; sie hatte diesen Wunsch ja nur geschürt; nun aber, wie mit einem Schlage mußte sie sich auf sich selbst besinnen; mit unerbittlicher Gegenständlichkeit kamen ihr nicht zu verhindernde, immer wiederkehrende, allzu weibliche Zustände zum Bewußtsein, klar, deutlich zum Bewußtsein; nur heute durfte es nicht sein; nur jetzt nicht; sie konnte, wollte ihm nicht willfahren. Sie bat ihn, abzulassen; sie flehte, sie befahl; sie wehrte ihn ab. Sie vertröstete ihn, versprach sich ihm auf später. Er warb und warb weiter. Sie erwachte vollends. Die mit Haß geschwängerte Luft sprang auf sie über. Sie haßte auf einmal den Mann, den 72 sie noch eben zur Sinnlosigkeit gereizt hatte. Was wollte er denn von ihr? Was unterstand er sich? Dann wieder überflutete sie ein heißer Strom, so daß sie ihn unermeßlich liebte. Sie umfaßte seinen Kopf und glättete ihm das wirre Haar. Sie kannte sich nicht. Was waren für Doppelgewalten in ihr? Warum durfte nicht sein, da sie doch wilde, zügellose Wünsche in sich hatte, daß sie diesen Lustwogen nachgab? Warum liebte und haßte sie zu gleicher Zeit? Als er diesen Widerstreit in ihr fühlte, mußte auch er erwachen. Blitzartig vollzog sich die Wandlung in ihm. Noch eben hatte er gebeten und gefleht; noch umfaßte er ihre Knie, und noch küßte er sie. Ein Schluchzen brach aus ihm heraus, ein lautes Weinen. Unerklärlicher-, unmöglicherweise begann der Mann zu weinen wie ein Kind, dann sogar zu schreien. Er schalt sie; er schmähte sie. Und wieder vermochte er in all dem Wirrwarr, wie in hellen Augenblicken eines Fieberrausches, klar über sich zu denken. Er wußte ganz genau, daß er in seiner Gier sich häßlich ausnahm; er verstand sich selber nicht, daß er so schreien konnte; er wußte, daß er unendlich liebte, daß er nur Liebe und nichts als Liebe verschenken wollte; er liebte, liebte unendlich, und er haßte, haßte aus tiefstem Herzen! Die Frau neben ihm wurde bewußter und eisiger. Auch sie begann in Worten sich zu wehren. Auch ihre Worte übertrieben ihre Gefühle, gingen weiter, als sie eigentlich wollten, geißelten sein Schelten, taten, als ob sie nicht verstünden, nahmen alle Versprechen zurück, die sie ihm aus ihren Träumen gegeben, obschon sie gerade das Gegenteil bezweckten; dann plötzlich begann auch sie zu weinen. Laut und furchtbar. Noch mehr haßte er sie. Er hatte gehört, daß schon geraume Zeit die betrunkenen Offiziere vor der Kammer standen und mit widerlichem 73 Gelächter die Szene verfolgt hatten, daß die ganze Mannschaft hinter ihnen lauerte, bereit, bei erster Gelegenheit die Türe zu sprengen, ihre Rachsucht zu büßen. Er haßte die geliebte Frau, die sich ihm versagte; nein, nicht darum allein haßte er sie; sie war schlecht; sie spielte mit ihm; sie war unwahr; sie quälte ihn! Und dennoch mußte er es glauben, daß sie ihn liebte! Warum, warum quälte sie ihn? Warum dieser undenkbare, unmögliche Auftritt? Warum dieser Wahnsinn? »Gib dich! Laß sie schreien draußen; demütige mich nicht!« Wieder reizte sie ihn. Dann hob er die Hand gegen sie; schlagen konnte er nicht; die Faust fiel auf den Riegel; er stieß ihn zurück, und im nämlichen Augenblick war er durch die gröhlenden und johlenden Menschen im Gange draußen hindurch, die Treppe hinauf und mit einem einzigen Sprung über die Verschanzung in die Tiefe. Niemand hatte seiner acht. Wie eine Stauflut war die Menge gegen die Türe der Frau vorgeprallt; sie aber trat, mit erhobenen Armen die Urne haltend, ihnen entgegen und schleuderte sie den Vordersten in die Gesichter. Ein furchtbarer, abergläubischer Schrecken lähmte sie alle. In wenigen Sekunden war es totenstill auf dem Schiff.

14.

Kein Boot wurde ins Wasser gelassen, nach dem Versunkenen zu suchen.

Am Morgen fand man von Frau Dolores nur einen meergrünen Schleier, der lose am Heck über dem Geländer hing.

Auch Viktoria war spurlos verschwunden.

 


 


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