Charlot Straßer
Exotische Erzählungen
Charlot Straßer

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Zwei Welten

In langschattiger Morgenfrühe war ich aus Iquique auf saumpfadgewohntem Polizeipferd ausgeritten. Ich wollte meinen Freund, den alten Bergmeister zu Santa Rosa, einer Silbermine hoch oben in der Pampa, besuchen, hatte den Weg vor einigen Wochen schon einmal gemacht und getraute mich, ihn führerlos wiederzufinden.

Die Pampa wird erreicht, wenn man mehrere hintereinanderliegende Terrassen, die sich treppenförmig aus dem Meer erheben, überwunden hat. Erst dann gelangt man in die über tausend Meter hoch gelegene eigentliche Wüste.

Den zweiten, steil aufstrebenden Hang ritt ich entlang, nachdem ich zuvor die breite Ebene, die zwischen der ersten Stufe und diesem Aufstieg liegt, im Galopp durchfegt hatte, wandte mich nun aber nicht ostwärts, der breiten Spur gegen die nächstgelegene Salpeteroffizin zu, sondern hielt mich nach Süden an eine schmale, weniger begangene, die in die Sandhügel der Küstenkordilleren hineinführte, in denen jenes Silberwerk lag.

Die Wüste war eine vollkommene. Kein Gewächs, kein Moos, keine Flechte, kein Tier. Einige schwarze Vögel, wie Punkte; weit hinten, wo ich das Meer wußte.

Ab und zu führten Spuren zu beiden Seiten in die Berge hinein. Ich folgte einem rundausgebuchteten Tal in derjenigen Richtung, die mir durch einige scharf 35 gezeichnete Hügelformen in der Erinnerung vorgeschrieben erschien.

Ich war nun drei Stunden im Sattel – Durst, Hunger – ein kleiner Halt, die Satteltaschen zu untersuchen. Noch zwei Stunden, dann war ich am Ziel. Ich durfte füglich aufräumen. Da hatten mir die guten Iquiquennier-Gastfreunde unter anderm wirklich auch noch den Rest der Anchovy-Paste mitgegeben, die mir bei ihnen so gemundet hatte. Scharfes Zeug in dieser Trockenheit und Hitze, etwas unvernünftig, viel davon aufs Butterbrot zu schmieren; aber kalter Tee spülte den scharfen Geschmack herunter. Merkwürdig genau, so schildert es mir die Erinnerung, besah ich mir die Tube, in welcher die Paste über Meer gesandt worden war, mich mahnend, wie zivilisiert es doch sei, daß ich in dieser wesenlosen Wüste die Reste eines eigentlich rein gaumenreizenden Erzeugnisses menschlichen Verlangens zurücklassen werde, eine Stanioltube mit roter Inschrift: »Anchovy-Paste, extrafeine Qualität, garantiert haltbar. Mit Speisefarbe gerötet. Anchovy-Paste ist kühl aufzubewahren.« Ich warf sie hinter mich, und sie kam neben die hungrig aus dem Sand herausgestreckten, gebleichten Kinnbacken eines hier verendeten Maultieres zu liegen.

Dann ritt ich weiter auf immer noch vielfach sichtbarer Spur.

Was war denn auf einmal mit meinen Augen? Sie sahen nicht scharf mehr, sondern durch einen Schleier, durch einen leichten Rauch. Die umliegenden Hügel tauchten wie in Dämpfe hinein; zwei, drei Minuten noch, dann sah ich um keines Pferdes Länge mehr vor mich hin – »die Camanchaca!« – schrie es wie von irgendwoher, schrie es wie aus mir – ich war in den 36 gefürchteten, drohenden Wüstennebel geraten. Das Pferd schnob aufgeregt, blies Strahlen seinen Dunstes aus den geblähten Nüstern – »ruhig Blut, mein einziger Freund! – Wir suchen den Kompaß, und seiner Hilfe gewiß, reiten wir tapfer weiter ans Ziel!« Ich öffnete die Satteltaschen – rechts leer, links leer. – Ich hatte ausdrücklich Auftrag gegeben, ihn einzupacken. Sollte der zuverlässige chilenische Soldat das Notwendigste vernachlässigt haben? Er verlor doch mehr als ich. – Ich nur mein Leben, er sein Pferd! – In den Pistolenhaltern? – Vorn am Sattel waren zwei altmodische Taschen für große Reiterpistolen angebracht. – Auch da nichts!

Nun fühlte ich die Gefahr. Es überlief mich langsam wie ein kalter, unendlich feuchter Herbstregen. Ringsum aber glomm Brutofenhitze. Auch vorher war die Luft glutig gewesen, sengend heiß, aber eine bräunende, das Kranke abtötende Hitze, nicht eine dampfige, dumpfige, tropische, wie sie mich jetzt einwickelte. Ich hätte um Hilfe schreien mögen, fühlte aber, wie jeder Laut im Ansatz erstickt war. Nur hinter mir hörte ich ein heiseres Krächzen, als ob dort gierige Vögel Unheil ausgeschrien hätten. »Vorwärts, mein Pferd! Dem Glück, dem Zufall, dem Schicksal, das uns so witzlos nicht verkommen läßt, vertraut! Noch haben wir die Fährte vor uns!«

Da hörte sie auf. Unvermittelt, unbegreiflicherweise standen wir in nie betretenem, furchtbar weißem Sand, der mit dem dicken, wie eine Mauer um uns ragenden Nebel verschmolz. »Zurück!« Die Spur war nicht zu finden. »Nach rechts!« Wir kreuzten sie nicht. »Nach links!« Kein anderer Erfolg. »Dann richten wir uns eben nach der Sonne!« Kein hellerer Schein verriet 37 durch den Dampf, wo sie stand. »Dort ungefähr! – dann müssen wir dahin reiten!« Und mutig strebten wir »dahin«. Wir stiegen empor. Wir waren auf einer Höhe. Zu beiden Seiten senkte es sich in die Tiefe – man fühlte es nur, man sah es nicht. Sandwächten ragten ab und zu dicht neben uns auf. Dann wieder war eine Kruste von Kalk und Kochsalz über den Fels geweht, daß es hohl klang beim Darüberreiten, als ob tiefe Gletscherspalten unter Schneebrücken gelauert hätten. Manchmal brach ein Pferdehuf ein. Unvermittelt steil senkte es sich oftmals in die Tiefe. Dann wieder hinauf, wieder ein Stück ebener Erde, wieder hinab – hinauf, hinab.

Ein Uhr. Das etwas langhaarige Pferd bedeckte sich mit seifenschaumartigem Schweiß. Ich war mir bewußt, daß ich ohne Ziel und Richtung durch die Wüste mich bewegte, die endlose, furchtbare, gewaltige Wüste. Wieder und wieder hatte ich die Satteltaschen nach dem Kompaß durchsucht.

Plötzlich geriet ich auf eine Spur, eine breite Spur, das Glück, der Zufall, das Schicksal, das uns so jung nicht hatte verkommen lassen wollen, mußte uns, das Pferd und mich, doch retten. Wenn ich den in den Sand abgedrückten Pferdehufen entlang zurückritt, kam ich ans Meer, zu Freunden, zu Menschen!

Zurück? Was war zurück? Wo stand die Sonne? Stunden und Stunden hatte ich nun schon den weißen Schein der Nebelmauer um mich. Ich wandte, in der blindratenden Hoffnung, dies als ein Zurück deuten zu dürfen. Immerzu folgte ich mit auf die Erde gehefteten Blicken der Fährte.

So sah ich auch meine leere Anchovy-Pastentube im Sande liegen. Ich las deutlich die Worte, die nach 38 oben verkündeten: »Garantiert . . ., mit Speisefarbe . . .« Daneben die gebleichten Maultierkinnbacken.

Im Kreis geritten. Stunden und Stunden im Kreis geritten!

Links von der Spur lag die Tube. Demzufolge ritt ich in der Tat zurück, hatten doch die Knochen rechts am Wege geschimmert, als ich ausritt – ich mußte die Rettung finden. Mit jubelndem Mut erfüllt, mit überströmender Dankbarkeit gegen die Vorsehung folgte ich den Hufstapfen.

Da hörten sie wieder auf. Vor mir ragte steil eine Halde empor. Ich drehte das Pferd. Nur meine eigene, vereinzelte Spur war sichtbar auf ein paar Schritte. Nichts mehr von den vielen Hufen, die halb verweht im Sand sich erhalten hatten. Wie dies geschah, weiß ich heute noch nicht. Aber auch andere, die in die heimtückische Camanchaca geraten sind, haben Ähnliches erlebt, das wurde mir oft berichtet.

So folgte ich meiner eigenen Fährte und verlor sie, wie die vorige, vielfache. Unwiederbringlich war sie in die Einöde ausgelaufen. Hilflos, elend, mit Todesahnung im Herzen, stand ich da. Ich fühlte, daß ein schwarzer Vorhang über die Augen sich deckte; ich fühlte den Schwindel, der seine Drehbewegungen um mich ansetzte – es durfte nicht sein! Schwerfällig hob ich das bleigewichtige, rechte Bein aus dem Bügel und ließ mich vom Pferderücken herabgleiten. Noch einmal wollte ich alle Taschen durchsuchen, jeden Winkel, alles!

Ich schnallte den Sattel ab. Ich band die Pistolenhalftern los; ich kehrte sie um und schüttelte sie aus – – da vollzog sich das Wunder! Der Kompaß rollte hervor. Zu unterst im Gehäuse, dort, wo sich das Lederzeug für die Aufnahme des Pistolenlaufes verengte, 39 mußte er gesteckt haben. Nun lag er im Sande. Nun hielt ich das kühle Eisen mit der zitternden Magnetnadel in der Hand. Und richtete mich auf.

Erst jetzt fiel es mir ein, mit einer wütenden Bewegung, mit einem sinnlosen Hin- und Herschlenkern der Arme die um mich versammelte Gesellschaft zu erschrecken. Sie aufzuscheuchen gelang mir nicht. Denn schon seit Anbeginn hatten mich die Aasgeier begleitet. In der Luft waren sie mir nicht aufgefallen. Sowie ich aber einmal haltmachte, tauchten sie, im Nebel vergrößert, grau und abscheulich, grotesk und leichenfreudig neben mir auf. Zuerst war es ein einzelner, dann deren drei, vier; dann waren es ihrer ein Dutzend, und jetzt stießen und drängten sie um mich herum: achtzehn der garstigen, kahlköpfigen Tiere zählte ich, welche, widrige, heisere Schreie ausstoßend, sich ab und zu fast träge in die Federn hackten, ab und zu aufhüpften und sich um den nächsten Platz bei uns, dem Pferd und mir, balgten. Kaum fünf Schritte entfernt, so daß ich die vordersten deutlich, die hintersten aber schon im Nebel aufgedunsen, verquollen erblicken konnte.

Einstweilen begriffen sie nicht, daß das runde Ding in meiner Hand mich ihnen entriß, mich mit nie gekanntem Mut, mit unbeschreiblicher Lebensfreude erfüllte.

Und nun in der Richtung nach Santa Rosa. Denn ich war den Silberminen doch wohl näher als Iquique.

Die Uhr zeigte auf vier. Die übermächtige Freude hatte mich die Müdigkeit nicht bewußt werden lassen. Nachdem aber der erste Rausch sich gelegt hatte, begann ich zu zittern. Wollte sich der schwarze Vorhang wieder vor die Augen senken? Glaubte ich zusammenzubrechen?

Ich hatte das Gefühl, als sei ich zu erschöpft, um irgend etwas mehr zu unterscheiden. Die ungeheure 40 Hitze, die um mich wogte, konnte ebensogut auch Kälte sein – ich wußte nicht mehr, was kalt und was heiß genannt wurde – nein, es war Kälte, durch die ich ritt, eisige, furchtbare Kälte – der Sand, der zu meinen Füßen rieselte, war schneeweiß, schnee-, schneeweiß – war Schnee, war körniger, hart gefrorner Schnee – ich ritt am Kamm eines hohen, hohen Berges durch den Winter, den Winter der Alpenheimat.

Die Gegend war mir wohlbekannt. Aus dem Lauterbrunnental war ich emporgeklommen zwischen schneebeschwerten, schwarzen Tannenwäldern hindurch – nun ritt ich über die wunderweiten Schneefelder der im Dezembermantel verkleideten Scheidegg gegen die Grindelwaldnerseite hin. Es war das Größte, Gewaltigste, was ich je im Leben gefühlt hatte. Der Atem der Kraft, die Winterhochluft hatten mich angeweht – die Eisesstille ewiger Einsamkeit hatte mich umarmt – die Ewigkeit selbst war mir gegenübergetreten und hatte mir einen Augenblick irdischer Seligkeit gewährt, dem Angesicht des Unvergänglichen in die Augen zu blicken. Und ein Weltenbauwerk, ein Himmelsdom, vor dem ich zum erstenmal im Leben das Wort Gott hätte rufen mögen, wuchs vor meinen Augen auf – ein königlicher, majestätischer Turm aus blauschwarzen, übereisten Flühen, aus brandenden, grüngespaltenen Gletschern, aus goldenen, von der Abendsonne verklärten Schneefirnen. Mitten stand er im All, das wie ein Meer in den Abgründen schäumen mußte, aus denen er sich emporreckte – der Berg der Berge – das Machtvollste, Hehrste, Stolzeste, was die Erde sich erschaffen hatte, und das die Menschen gleich benannt haben wie das Heiligste, so unter ihnen wandelt: Jungfrau! Ich sank vom Pferde, kniete nieder und betete. 41

Als ich aufblickte, geweckt von einem kühlen Luftzug, zerfloß rings um mich ein dichter Nebel. Ich kniete in feinkörnigem Sande – der Schnee zog sich lautlos in die Erde zurück, wurde von ihr eingeatmet, Sand quoll daraus hervor, Sand, Sand, Sand.

Fast lotrecht fiel es vor mir in die Tiefe ab. Zu Füßen des zerrissenen Hanges sah ich einige Hütten, Gerüste und Kamine: die Silberminen von Santa Rosa.

Noch tiefer glitten Hügelwellen um Hügelwellen in die ungeheure Ebene, in die Pampa hinauslaufend, schneeweiß, bis sie an eine duftige, blaue Grenzwand gelangten, in welche das mächtige Bild der Jungfrau, das ich noch eben geschaut hatte, zusammengesunken war: die fernen, hohen Anden. Und wirklich glitzerten von dort her Schneefelder im Abendsonnengolde. 42



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