Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III. Teil.
Frühling

Carneval in Nizza

 

Im Leide selbst gönnt eurer
Seele frohen Mut an jedem Tage.

Aeschylos (Die Perser)

 

22. März.

Rings schläft das Haus, dieses einsame, graue, leere, finstere Haus. Die Uhr tickt, als brächte sie mir eine Spur des Lebens. Kein anderer Laut als der ihre dringt zu mir. In dieser Stille saß ich einst verzweifelt und wartete auf das Leben ... gierig, mit verschmachtenden Sinnen. In solcher Nacht schrieb ich die Verse:

Ich ruhe wie in finstrer Gruft,
Was liegt an meinem Sterben,
Wenn einstens auch der Tod mich ruft,
Ich kann nicht besser verderben.

Hoch über mir, da lastet der Schnee,
Es knarren die alten Linden,
In meinem Herzen starb das Weh,
Kann keine Träne finden.

Nur tiefes Schweigen ringsumher,
Ein Schweigen unermessen –
Ob ich noch lebe? Nicht weiß ich's mehr,
Ich habe das Leben vergessen.

Ich bin nicht mehr verzweifelt und ich warte nicht mehr. Ich habe das Leben zu mir herabgeholt mit seiner Kraft und seiner Schönheit, und nun halte ich es in starken Händen und rufe ihm zu, wie einst dem Geliebten: »Du – du – o du!« Ich spüre seinen Reichtum und seine Fülle, seine wundervolle Klarheit durchleuchtet mich ganz.

O, – du mein heiliges Leben!

Und wieder tauchen meine Blicke zurück in das Dunkel vergangener Jahre; hat sich der Blick erst an die Tiefe gewöhnt, blitzen funkelnde Stunden aus ihr hervor wie Sterne.

Der Weltenbau wiederholt sich in jedem Menschenleben; unter Gestirnen wandelnd, tragen wir das Abbild des Himmels in der eigenen Brust. – –

 

Nach dem Tode meiner Mutter erkrankte ich schwer. Mit rührender Güte pflegte mich Franz. Mein Hausarzt aus Ruppin wurde berufen, der auch meiner Mutter viel Linderung gebracht hatte, der treffliche Dr. Antor. Sein Besuch gab an jedem Krankenbette Trost. Man wußte nicht zu sagen, worin dies lag. Vielleicht nur in der Liebe, die aus dem Blick des Arztes strahlte. Kranke sind ja bedürftig der Liebe wie arme kümmernde Pflanzen der Sonne.

Dr. Antor hatte eine hohe breite Gestalt und einen Sokrateskopf mit leicht ergrautem langen Bart. Seine Stimme war weich und immer sprach er deutlich, ohne zu schreien, so daß auch ein Schwerhöriger ihn leicht verstand – und dadurch schon Vertrauen zu sich und ihm faßte.

Dr. Antor fesselte jeder Krankheitsfall, in dessen Geheimnisse er sich mit der Liebe eines Forschers und eines Priesters versenkte. Kein Gedanke hatte in dieser Stunde Raum in seinem Kopf, der nicht dem Kranken galt, kein Gefühl in seiner Seele, das sich nicht mitleidsvoll mit ihm beschäftigte.

Hatte Dr. Antor mit tiefem Ernst die Krankheit erforscht, mit jenem Ernst, der dem Kranken wohl tut, weil ihn nichts mehr verletzt, als »leicht« genommen zu werden, – so kehrte das gütige Lächeln auf Dr. Antors Antlitz zurück. Die Wangen rundeten sich, das Sokrateshaupt nickte, der warme Blick tauchte in die Augen des Leidenden, aufmunternd. Und sagten dann noch die Lippen ein gütiges:

»Na also – es steht nicht schlimm – ganz gut wird es bald!« Dann empfand der Kranke, als würde ihm schwer lastendes Leid mit einem Mal von der Seele genommen.

Dr. Antor war kein Spezialist und das war seine Spezialität. Er war ein echter Arzt in einer Zeit, da es schon von Doktoren zu wimmeln begann.

Dr. Antor sah mir tief in die Augen. »Viel Schlimmes ist es ja nicht«, sagte er und dabei blickte er mich durchdringend an. »Aber es ist etwas da, neben der Magenverstimmung, die eine Folge Ihres früheren schwelgerischen Lebens sein dürfte. Die raffinierte Küche war nicht günstig für sie. Ich täusche mich selten. Es nagt etwas an ihrem Gemüt, eine Erinnerung vielleicht, die Linien zwischen den Augenbrauen sprechen dafür.«

»Halten Sie mich für gemütskrank?« fragte ich erschrocken.

»Nein, aber Sie sind nicht recht glücklich!«

Mein Gott, um das zu wissen, hab' ich keinen Arzt gebraucht. Ich wendete mich von ihm ab, um meine Tränen zu verbergen und hätte ihm doch weinend um den Hals fallen mögen. Ich habe es immer für eine Schwäche gehalten, sich nicht glücklich zu fühlen und in den schwierigsten Lagen meines Lebens war es mir gelungen, mich mutig zu zeigen und jetzt mußte ich plötzlich einsehen, daß es ein Glück gibt, daß außer uns liegt, das unsere schwache Hand nicht erhaschen kann ... Und wie kurz sind die Augenblicke des Glücks im Vergleich zu den Jahren, die wir glücklos durchleben müssen!

Glücklich wer vergessen kann, dachte ich – doch nein! schrie es in mir auf: Glücklich wer lieben kann!

Dr. Antor bestimmte, daß ich nach dem Süden gehe. Meine polnische Freundin, Frau von Oronska, war wie alljährlich an der Riviera und hatte mich eben zu sich eingeladen. Da Lilli ein französisches Kinderfräulein hatte, konnte ich beruhigt abreisen. Vater und Mann wußte ich in Tante Sophies Hut. Franz bestand darauf, daß mein jetziges Stubenmädchen mich begleite. Sie war die Nachfolgerin der schlauen und ränkevollen Nini. Die zwanzigjährige Anna kam aus den Sudeten, schweigsam und fleißig gehörte sie zu der Sonderart, die immer seltener wird und deren Empfinden ein Volksdichter mit den Worten schildert:

»Das kann ich halt amal ni' verstehn,
Daß die Mädel so gern mit Bursche rumgehn.
Da schlaf' ich lieber und lieg' im Bett,
Da friert's mi ni' und's wird ni' g'redt.«

 

Lilli wollte mich nicht weglassen, sie hing sich an mich, umhalste mich und bat: »Nicht fortfahren – hier bleiben!« Und ich fuhr doch. So bereitete ich selbst ihr den ersten großen Schmerz. Wie oft leiden Kinder um ihrer Eltern willen!

Meine Ankunft auf dem Bahnhof in Monte Carlo steht mir lebhaft in Erinnerung. Frau von Oronska erwartete mich und sah entzückt die hohe schlanke Gestalt meiner Begleiterin. »Sie ist mager wie ein Bleistift!« rief sie begeistert und flüsterte: »Die kann man zur Rückfahrt ganz mit Spitzen umwickeln.«

Als Frau von Oronska, die sich hier Gräfin nennen ließ, im Wagen saß, ergriff sie meine Hände mit der anmutigen Herzlichkeit der vornehmen Polin und sagte zu meiner größten Verwunderung: »Vor allem, meine Liebe, hier sind Sie Baronin –.«

Sie duldete keinen Widerspruch. In dem kleinen Hotel in Condamine, in dem sie für mich und meine Jungfer Zimmer bestellt hatte, stellte sie mich bei Tisch ihren Bekannten gleich als Baronin Schellenburg vor. Wir saßen in einem kleinen niedrigen Speisesaal. Der Oberkellner, ein Greis, hinkte ein wenig und jeder Gast fragte teilnehmend nach seinem Befinden.

»Er leidet an Hühneraugen«, erläuterte mir Frau von Oronska und Jean hinkte weiter.

Lebhaft erinnere ich mich einer geistvollen Belgierin, einer Marquise St. Cyr. Sie war in dem Alter, das die Frauen wieder zu einer Art Backfischchen macht – sie gehören nicht mehr zu den Jungen und noch nicht zu den Alten. Noch immer hatte sie ihre koketten Launen, ihre Schmetterlingsstunden, erzählte häufig von Eroberungen, nannte alle Männer Feiglinge – immer ein sicheres Merkmal des herannahenden Alters – und konnte bei keiner Sternblume vorübergehen, ohne sie mit der neugierigen Frage zu belästigen »ob er mich liebt?«

Frau von Oronska sagte mir: »Mit fünfundvierzig Jahren wissen die Frauen nie, ob er sie liebt, da zupfen sie noch die Maßliebchen wie die Marquise. Mit vierundfünfzig wissen sie es dann schon ganz genau ...«

Die Marquise trug stets drei Bilder bei sich, die sie vertraulich zeigte; man lernte so ihren Seligen kennen, ihren Mops und ihren ersten Geliebten. Sie war immer in Liebesnöte verwickelt und um sie zu vergessen, trank sie einen »Kirsch« um den andern. Am liebsten ritt sie Remonten zu, allein dazu hatte sie an der Riviera keine Gelegenheit. Ihr Mann war General gewesen wie auch ihr erster Liebhaber und mit verhimmeltem Blick gestand sie mir: »Wenn ich eine rote Hose sehe – muß ich an beide denken!« Frau von Oronska ließ mich ungern mit der Marquise allein, sie fürchtete einen bösen Einfluß auf meine Sitten – sie ahnte ja nicht, welche Meisterschule der Liebeskünste ich in Mähren mit Vorzug durcheilt hatte. Einmal, als wir von Monte Carlo den Hügel nach Condamine hinabschritten, gelang es mir doch, neben der Generalin zu bleiben. Rasch flüsterte ich ihr zu: »Ich muß Ihnen etwas verraten – Marquise – ich bin gar keine Baronin –.«

»Aber, meine Liebe – ich war niemals in meinem Leben Marquise – doch wir müssen unserer Freundin, die wahrscheinlich auch keine Gräfin ist, die Freude lassen – – –«

 

25. März.

Ich beobachte einen Schatten, den eine freischwebende Weinranke auf das Haustor wirft. Der Schatten scheint ganz selbständig, er regt sich, die einzelnen Blätter sind scharf abgegrenzt – sie sind da – man kann sie nicht leugnen und doch tauchen sie auf und verschwinden, je nachdem die Sonne oder die Wolke herrscht. Sind sie auch da, wenn die Wolke herrscht? Sicher – aber sie bleiben unsichtbar, d. h. unser Auge ist an der Grenze seiner Wahrnehmungen angelangt, der Schatten ist die transzendentale Zone, die sich nicht ohneweiters erschließt. Dazu bedarf es der Materialisation, die die Sonne vermittelt. So sehe ich im Schatten das Bild einer Geisterwelt ...

 

Frau von Oronska hatte große Taschen in ihren Kleidern und sammelte stets für die Armen. Sie nahm hier Weißbrot, dort Käse, bei Kaufleuten erbettelte sie Abfälle und alles verteilte sie unter das Volk, das an die Pforte ihrer am Wege liegenden Wohnung pochte. Einmal schnitt sie blühende Glycinienzweige von einer Gartenmauer. »Seht die gute Gräfin«, murmelte der Besitzer, »jetzt sammelt sie sogar Blumen für ihre Armen.« Doch ehe sie die Blumen verschenkte, behielt sie sie doch noch ein paar Tage in ihrem Zimmer. Freigebig bot sie mir stets Tee und das beste Gebäck. Bei andern hielt sie auf Gegengaben. Beschenkte sie einen Bettler, dann unterließ sie es nie, ihn zu ermahnen, daß er für sie bete. Sie hatte die Lust des Schenkens, die selten bei Frauen ist. Ihre Frömmigkeit war mit tiefer Weltklugheit verbunden. In jedem Jahre ging sie zuerst nach Lourdes und dann entsühnt und entsündigt nach Monte Carlo.

In Lourdes betete, in Monte Carlo spielte sie.

Die Seelengröße meiner Mutter hatte sie erkannt und sprach oft von ihr. »Daß Sie mit Mann und Kind wieder zu Ihren Eltern zurückgekehrt sind, hat mich nicht überrascht«, sagte sie mir. »Als ich bei Ihnen in Ruppin war und sah, daß Ihr Mann im Ochsenstall eine Wachtelzucht anlegte und aus dem Kassier seinen Weinkellermeister gemacht hatte – und als ich die fünfzig Hüte in seinem Bücherschrank statt Büchern sah, und im Stall sieben Pferde, wußte ich, wie alles kommen mußte. Auf die Dauer lassen sich das die Aktionäre doch nicht gefallen. – Aber, wer weiß, wozu es gut ist, daß alles so kam. Jedes Geschehen hat einen tiefen Sinn. Der Rahmen von Ruppin schien mir auch zu klein für Sie. Der von Gudrichau ist größer. – Und übrigens, Kind, jede von uns hat eine Wunde im Herzen, die immer blutet.«

Eines Tages nahm Frau von Oronska mich ins Kasino mit. Wir gingen den Berg hinan. »Mein Gesicht ist alt, aber meine Füße sind jung«, sagte sie und machte mich auf zwei Pferde aufmerksam, die einen schweren Wagen bergauf führten. Das eine, ein Braun, ließ den Kopf hängen, teilnahmslos, wie niedergebeugt von schwerem Geschick. Das andere, ein Fuchs, behielt eine stolze freie Haltung und triumphierte über die Last, die man ihm auferlegt. »Sie sehen, wie leicht man auch eine schwere Bürde tragen kann!« Bei manchen Menschenpaaren habe ich seither an die beiden Pferde von Monte Carlo denken müssen.

Wir standen im Speisesaal. Sein Anblick verwirrte mich. Ein dichter Knäuel Menschen drängte sich zur Rechten und zur Linken um große Tische. Und aus dem Gewirr gedämpfter Stimmen tönte, unterbrochen von einzelnen klaren Rufen, ein heller, feiner Ton, die Musik des Geldes, der modernen Sirenen. Alles Schieben der Sessel, Flüstern, Rauschen der Gewänder, die Rufe der Croupiers überklang der feine Sang.

Meine Freundin machte mich auf die Schönheit des maurischen Saales aufmerksam, ich aber achtete auf nichts, vor mir wogte und flirrte und schwirrte es. Wir blieben an einem Tische stehen. Die grüne Tuchplatte mit ihren Linien und Runen und ihren weithin sichtbaren Zahlen von eins bis sechsunddreißig war besät mit Gold- und Silberstücken.

In der Mitte des Tisches, in das Holz tief eingesenkt, befand sich die Roulette; hier zog die kleine Höllenkugel ihre Kreise. Von der Hand des Croupiers geschnellt, flog sie blitzschnell im weitesten Umkreis der runden, sich nach der Mitte zu vertiefenden Scheibe dahin, die in der entgegengesetzten Seite sich drehte, glitt in die Mitte hinab und hüpfte über die Zahlen, deren jede eine kleine Zelle zu ihrer Aufnahme bereit hielt. Sie wählte und zögerte noch ein Weilchen, als freue sie die Folter der Spieler, dann gewann sie mit einem Sprung ihren Ruheplatz, den sie im letzten Augenblick noch einmal gegen einen andern wechselte. Sofort setzten die Rechen der Croupiers ein, zogen die gewonnenen Summen an sich und schoben die verlorenen den gierig ihrer Harrenden zu. An jedem Tisch saßen sechs Croupiers und Inspektoren, die mit kurzem Blick den Vorgängen folgten, Unredlichkeiten enthüllten, Streitigkeiten schlichteten und sich wie Halbgötter dünkten, Gnaden austeilten, die in halben Worten bestanden, an bevorzugte Sterbliche gerichtet.

»Ist die Marquise St. Cyr im Saale?« fragte Frau von Oronska einen dieser Halbgötter. – »Gewiß nicht, sie wäre sonst gekommen, mir guten Tag sagen«, lautete die Antwort.

Schon rollte die Kugel. Da stürzte eine Frau herbei, drängte sich zwischen Frau von Oronska und mich, warf ein Goldstück einem Beamten zu und bat hastig: »Nummer fünfunddreißig!« Im nächsten Augenblick rief der Croupier sein »Rien ne va plus« – und gleich darauf »Nummer fünfunddreißig!«

»Que je suis bête«, sagte eine alte Dame zu ihrer Nachbarin. »Wenn jemand herbeistürzt mit einer Nummer, dann soll man diese Nummer besetzen; denn es ist zwanzig gegen eins zu wetten daß sie herauskommt.« Mit haßerfülltem Blick streifte sie die Gewinnerin, die fünfunddreißig Luis in der Tasche barg und dabei ärgerlich knurrte: »Hätt ich doch nur mehr gesetzt!«

Wir gingen von Tisch zu Tisch. Überall sah ich die Bank gewinnen und verschwindend war, was sie zahlte. Die Spieler trugen den gleichen Ausdruck von Gleichgiltigkeit oder heftiger Erregtheit. Vielen sah man es an, daß es für sie außer dem Spiele nichts Wichtiges, nichts Interessantes, nichts Großes auf der Welt mehr gäbe. Ich hatte das Gefühl, als ob ich dem gemeinsten aller Laster in die Augen sähe, und ich war glücklich, als Frau von Oronska mich aus der drückenden, schwülen Luft fortführte auf eine Terrasse, die einen herrlichen Ausblick über das Meer bot, an dessen blauen Ufern sich weithin die Berge zogen, als wollten sie es begleiten in seine Unendlichkeit. Hell leuchtete Bordighera zu uns herüber und das steinige Roquebrune schmiegte zärtlich sich an seine Felsen. Zu unsern Füßen erhoben üppige Palmen ihre Wipfel, blühende Büsche und lauschige Winkel forderten zum Träumen auf, oder luden zum Selbstmord ein.

 

10. April.

Ich war heute in Kronstadt im Kaffeehaus. Die Büffetdame stopfte einen alten schwarzen Strumpf. Eben war sie an der Ferse. Wer solche Strümpfe stopfte, hatte keine sündigen Gedanken.

An den Tischen saßen sie, der Reisende, der seinen Fahrplan studierte, zwei Studenten, die Schach spielten. Ein Fremdling schrieb einen Brief. Ein paar Pensionisten lasen die Zeitung. Das Mädchen stopfte und blickte zeitweilig auf. Es war jung, schwarzhaarig und beinahe begehrenswert. Alles schien schwarz an ihr, auch der Hals, auch die Finger. Wie in eine tiefe ungeheure Trauer war sie getaucht.

Ein Fräulein vom Lande trat ein. Sehr verlegen; als ihm der Kellner behilflich war, die Jacke abzulegen, fragte es schüchtern: »Bekommt man hier Kaffee?« und schien durch die Bestätigung überrascht.

Durch drei Säle blickte ich in einen fernen verdämmerten Raum, über dem Wolken wie Schleier lagerten. Dort drängte sich um eine Tafel Mann an Mann. Verschob sich manchmal die aufrechte Mannesreihe, sah man Sitzende hinter ihr, kahle Schädel, von Haarkränzen dürftig umsäumt. In ewiger Stille schienen dort Götter zu walten. Von der Mitte der Decke flutete das Licht über sie – wie aus goldener Schale.

»Kellner!« flüsterte ich, »sagen Sie mir, was dort vorgeht! Sind das die Gralsritter, die sich um den heiligen Gral versammeln?«

»'s is' halt 'ne kolossal scharfe Partie. – A paar spielen Karten und die andern sein Kiebitze –.«

»Kiebitze! Ja, was spielt man denn, Tarock?«

»Aber nein – Preferanz!«

Ich blickte beruhigt durch das hohe Fenster. Eben ging ein Zug Gefangener vorbei, von einem Aufseher geleitet. Sie kehrten von der Arbeit heim. Selten habe ich so fröhliche Gesichter gesehen; viele schwatzten und lachten, einzelne hatten sich die Hüte mit Blumen geschmückt. Der Letzte trug einen Strauß Vergißmeinnicht in der Hand. Das Sträflingskleid schien hier eine Uniform der Glücklichen. – – –

 

Frau von Oronska war nicht nur geistreich, sondern auch klug. »Es kommt alles auf eine gute Einteilung an«, sagte sie mir oft. »Ich hasse die Frauen, die keine Einteilung kennen, ihr Geld hinauswerfen ohne zu rechnen und im beständigen Kampf gegen die Unordnung leben, die sie selbst angerichtet haben. Eine Frau muß klug und praktisch sein, klug für die Gesellschaft, praktisch zum Vorteil ihrer Familie und für sich selbst.«

Mein erster Gang des Morgens galt stets meiner gütigen Freundin, die ich immer tätig fand. Während sie Zigaretten drehte, oder Wäsche ausbesserte, sprach sie in ihrer köstlichen, belehrenden Weise. »Ich bediene mich immer selbst, mein Kind«, sagte sie einmal, »und glaube mir, je weniger man von den andern abhängt, je einfacher man wird, umso glücklicher ist man. Ich bin früher alljährlich mit meiner ganzen Familie, mit Köchin und Bedienten an die Riviera gekommen. Wir haben in Nizza oder Menton große Villen bewohnt, aber ich versichere dich, seitdem ich allein reise und mich selbst bediene, weiß ich erst, wie angenehm man reisen kann. Ich ärgere mich nicht über eine nachlässige Jungfer, über keinen eselhaften Bedienten. Ich nähe mir Knöpfe und Bänder selbst an und habe es nicht verlernt, mich zu bücken. Es gibt Frauen, die sich nicht selbst die Decke über die Ohren ziehen können – auch das muß ihre Jungfer besorgen!«

Täglich ging ich mit der schweigsamen Anna in die Gärten des alten Monaco. Vom Serpentinenweg war die Aussicht auf das maurische Schloß mit seinen Zinnen besonders schön. Über steinige Felsen hüpften wie junge Gazellen alte Amateurphotographen mit ihren Apparaten und kopierten mit glückstrahlenden Gesichtern die Landschaft. In ewiger Bewegung träumte das blaue Meer, wie in einer unstillbaren Sehnsucht. Weiße Möwen netzten die Brust in den Fluten im rasch hingleitenden Flug. Die Einsamkeit hob noch die Schönheit der Natur. Hierher verirrte sich kein Spieler von Monte Carlo ...

 

Einsame Gartenwege führten bergauf, an steilen Abhängen vorüber auf einen freien Platz in der Burghöhe von Monaco, wo aus dem Gelde der Bank eine fromme Kirche gebaut ward. Auf schmalem Steg, der Küste entlang, kam man in ein monagaskisches Winkelwerk von engen Wohnungen und schmutzigen Kindern, die jenes Kauderwelsch von Französisch und Italienisch plapperten, das der Einwohner von Monaco stolz seine Sprache nennt.

Auf einer kleinen Terrasse mit einem Ausblick auf das Gewirr rotblühender Pelargonienbüsche, die die Felsen überwucherten, fand sich eines Tages ein armer Maler ein, ein schwindsüchtiger Franzose. Er malte, ich dichtete. Aber während ich die Rückschritte, die sein Bild machte, genau beobachtete, war es ihm nicht möglich, den meinen zu folgen. Einst erfaßte ein Windstoß unsere Werke und warf sie durcheinander. Das kleine Naturereignis vermittelte unsere Bekanntschaft. Wir sprachen einige Worte, dann begann er wieder zu malen und ich zu dichten. Er sagte, er habe sich seine Schule selbst gemacht – er machte sich seine Religion und seine Philosophie und, wie ich glaube, auch seine Kleider selbst. Er hat mir viel Rührendes aus seinem Leben erzählt, das darum gescheitert war, weil seine Mutter ihn zu zärtlich, zu unselbständig erzogen hatte. Als er dazu gelangte, sich alles selbst zu machen, war seine Lernzeit, d. h. seine Jugend vorbei. In Monte Carlo hatte er einen großen Teil seines Vermögens verspielt und dann der Roulette ewige Feindschaft geschworen. Doch war er wieder zu ihr zurückgekehrt und lebte jetzt von einem System, mit dem er täglich zehn Franken gewann. Er hat später aus seinem malerischen Unvermögen Schule gemacht und ist einer der berühmten französischen Impressionisten geworden.

Während der Reise hatte ich geträumt, daß ich die Nummer siebzehn setzen müßte. Als Frau von Oronska mich ermunterte, bei der Roulette mein Glück zu versuchen, fiel der Traum mir ein, ich setzte fünf Francs auf Nummer siebzehn und – gewann. Später setzte ich ziellos, ohne innere Beziehung, und verlor. Frau von Oronska hatte ihren Tisch, ihren Sitz und ihr System. Die Croupiers grüßten sie, ihr erzählten sie ihre Familiennachrichten und schoben ihr das gewonnene Geld lächelnd zu. Ihr faltiges Gesicht, das dem Voltaires glich, ihre Augen, die von Geist und Witz blitzten, wußten überall Zusammenhänge zu finden. Die bekanntesten Persönlichkeiten zeigte sie mir, – hier der ruhige Spieler bei Trente et quarante mit Paketen Banknoten vor sich, war der Pariser Rothschild – dort die ehemals schöne blonde Frau mit dem häßlichen geldgierigen Ausdruck im gespannten Gesicht – die schwedische Nachtigall, die Sängerin Nielson – dort Herzöge und Fürsten und berühmte Pariser Theaterdamen, so ins Jungfräuliche übertragen, daß man ihnen jede Mädchenrolle zumutete. Ein Rachen gähnte mich an, als wollte er eine leere Hirnschale weisen. Als er sich schloß, erkannte ich – Baron Brück aus Mähren. Er bemerkte mich nicht und das war mir lieb. Was hätte ich ihm unter diesen veränderten Lebensverhältnissen sagen sollen? Ich war die kostbar gekleidete Modedame nicht mehr, die er gekannt. Mein bestes Kleid hatte die Hausschneiderin genäht aus einem alten Stoff meiner Mutter, der bunte Streifen über weißem Grund wies. Wie ein Zebra ging ich umher. Frau von Oronska war es recht so, sie lebte in Schwarz.

Eines Abends sah ich mich unerwartet dem Ministerresidenten Baron Renke gegenüber. Er zeigte seine weltmännische Art, zeichnete mich aus, als wäre ich noch die Dame, bei der er zu Gaste sei, begleitete mich lange, klagte über den Tod der armen Baisée, erzählte mir, daß der trostlose Witwer in seinem Zimmer einen Altar aufgebaut habe, der Erinnerung seiner Frau gewidmet, zu der er an jedem Tage bete. Er lebe nur ihrem Gedächtnis und der Erziehung seiner reizenden zwei Töchter – »die leider die vollen roten Lippen des Großvaters haben ...« Von diesem wußte er manches. Er sei so dick gewesen wie eine wandelnde Maschine und habe mit dem dicksten Künstler Wiens, einem Architekten, täglich bis zum Morgen gezecht. Fast zu gleicher Zeit habe beide der Schlag getroffen. Die Gräfin Mimerl stehe haltlos da mit ihren Kindern, das Vermögen sei auch stark zusammengeschrumpft.

»Sie kannten ja auch sehr gut den Baron Alphonse Kollins, Gnädigste?« lauerte der Resident.

Eine Glutwelle schoß mir in die Stirn. »Ja – so einigermaßen. – Wissen Sie etwas von ihm?«

»Nicht mehr als die Andern. Er hat sich von aller Welt zurückgezogen und in tiefster Einsamkeit in der Nähe von Ruppin im Walde ein großes Schloß gebaut, wo er nur seinen Bildern und seinen Büchern lebt. – Die Leitung seiner Fabriken überläßt er seinen Beamten.«

Im Walde, – vielleicht an der Stelle der alten Eichen. – Es durchzuckt mich mit schmerzvollem Erinnern, und es tat mir wohl. – So war vielleicht ich seine letzte Liebe gewesen – sein letzter Zusammenhalt mit der schillernden Seifenblase – Gesellschaft – –.

Während ich noch mit dem Ministerresidenten sprach, fühlte ich einen leichten Schlag auf der Schulter und eine girrende Stimme rief: »Ein Wunder – findet man dich hier!« – Meine Schwägerin, die schöne Baronin Gina stand zwischen Gatten und General vor mir. Lebhafte Begrüßung. Der Ministerresident verabschiedete sich rasch. Er vermied es stets, neben hochgewachsenen Männern zu stehen.

»Großartig – du im Spielsaal von Monte Carlo – wo ist denn der Franz?« –

»Auf Bärenjagden – ich bin übrigens zu meiner Erholung hier.«

»Wir auch – wir erholen uns auch!« rief der Gatte. »Unsere Göttin hat es so bestimmt und da gibt's keine Widerrede –.«

Die Baronin lachte ihr lockendes Turteltaubenlachen. »Es tut ihnen aber sehr gut«, schmeichelte sie.

»Unsere Reise verfolgt nämlich noch einen eminent praktischen Zweck«, sagte der strategische General und warf sich in die Civilbrust. »Wir suchen die ersten Hotels an der Riviera nach den besten Küchen ab. Da wird Buch geführt, da wird Gericht gehalten. Es ist keine leichte Aufgabe – gnädigste Frau –.«

»Wir fressen uns gewissermaßen durch die blaue Küste durch!« gurrte die Baronin. »Also ihr lebt jetzt bei deinen Eltern?«

»Ja –.«

»Ein Glück für Euch – aber der Vater soll den Franz beschäftigen, ihm nicht so viel Freiheit geben – gejagt hat er genug in seinem Leben, jetzt soll er arbeiten!«

Mit der bekannten Offenheit der Verwandten gurrte sie lächelnd die bittern Worte hervor. Die Männer hüstelten und alle suchten die ärmlich gekleidete Begegnung wieder los zu werden.

»Mit wem sind Sie denn im Spielsaal gestanden?« fragte mich später Frau von Oronska.

»Mit Verwandten aus Österreich –.«

»Welche Genußmenschen! Das sah man ihnen von weitem an. Der Himmel bewahre mich vor Lieblingsspeisen, die machen dick, dumm und krank.« Sie hatte nicht unrecht. Bald nach seiner Rückkehr erkrankte Ginas Gemahl an einem verfetteten Herzen und starb. Der General schleppte seinen ungeheuren Leib noch durch ein paar Jahre.

 

18. April.

Nur ins Grün sehen und Ruhe in sich fühlen – wer so wirken könnte wie die Natur – ausgeglichen und doch unaufhaltsam, immer neue Blüten treibend, immer neues Leben formend. Ein stetiges Wachstum, auch durch Frost und Eis nur für kurze Zeit gehemmt, dann umso froher und herrlicher emporsprießend. In einem Tage merkst du den Fortschritt nicht – erst Wochen geben die Fülle. Die Natur ist geduldig, nur der Mensch will es nicht sein. Er möchte die Welt in seinem Innern in einem Tage schaffen ...

Die Natur denkt nicht an morgen, denkt nicht an gestern – sie lebt im Augenblick und genießt ihn voll. Darum ist diese Ruhe in ihr, die kein Menschengeist jemals erringen kann. Ihr fliegen nicht hundert Gedanken durch das Wipfelspiel der Stirne – sie hat nur einen Gedanken und darum eine wunderbare Gleichheit in ihrer Entwicklung. Sie ist die allzeit Klare, die Unerbittliche, die schweigsam Gebärende, die rastlos Schaffende und rastlos Zerstörende, sie ist die Gewaltige, die Ungeheure, die Ewige, Anfang und Ende alles Seienden. Sie ist Gott, Verdammnis und Erlöser zugleich. – – –

Ich sah einen jungen Amerikaner hunderttausend Francs an der Roulette gewinnen, – er machte Aufsehen, man hob sich auf die Fußspitzen, um ihn besser zu sehen und einzelne törichte »Bravos« wurden laut.

Am nächsten Tage sah ich ihn alles und noch sechzigtausend Francs dazu verlieren. Als er gewonnen hatte, verließ er den Tisch mit ernster Miene, eine tiefe Falte auf der jungen Stirn – als er verlor, schwebte ein fast kindliches Lächeln auf seinen Zügen – so spielte er für die Menge.

Ich kannte nun schon alle Gäste in den Spielsälen, die leidenschaftlichen und die gleichgültigen, die schönen und die häßlichen, den mageren Spieler, der mit »Sapristi« kam, die Notizen der andern studierte, mit »Sapriste« verlor und wenn er das Verlorene zurückgewonnen hatte, mit der Miene eines glücklichen Siegers sein »Sapristi« vor sich hinjubelnd, zu einem andern Tisch ging. Wie gut kannte ich auch den alten Aristokraten, den Grafen Jaromir aus Mähren. Die Hände in den Hosentaschen, schlenderte er von Tisch zu Tisch, mit einem Gleichgesinnten einen Laut tauschend, oder einer Kokotte einen feurigen Blick zuwerfend.

Neben der ernsten, leidenschaftlichen Schar verbissener Spieler sah man wie große bunte Schmetterlinge durch die Säle flattern die schönen Frauen von Paris. Sie trugen Diamantstaub auf den Flügeln. O über diese reizenden Französinnen! Wie die Schlangen glitten sie hierhin und dorthin – mit ihrer unnachahmlichen Anmut. Man fühlte sich versucht, zu glauben, daß nicht die Schlange im Paradies, daß das Paradies bei der Schlange gewesen sei. Entzückend war die kleine Alençon mit dem Stumpfnäschen und den ewig fragenden Augen – als ob es noch etwas auf der Welt gäbe, das sie nicht wüßte! – Sie spielte so gern und wenn sie verlor, dann lachte sie. Schöne Frauen lachen immer, wenn sie verlieren. Oft standen mehrere nebeneinander – dann lachte stets die am fröhlichsten, die das kostbarste Kleid trug. Und wie unschuldig, wie rührend harmlos sie plaudern konnten! Ich hörte einmal die berühmte Alençon einem Fremden die Carnevalsfeste von Nizza beschreiben. Das war so prickelnd, so amüsant, so kokett, so raffiniert, – der Fremde hörte vergnügt lächelnd zu und bot dann den Arm seiner Frau, die unbeobachtet neben ihm gestanden war. Wie sich da die schöne Alençon zornig auf dem Absatz umwandte!

Frau von Oronska bekam Gäste, eine Schwägerin aus Polen, Frau von Grimasnicka, erschien eines Tages mit zwei hübschen jungen Töchtern, Muscha und Mimuscha. Sie wurden sofort zu Gräfinnen erhoben. Beide waren klein, hatten rosige runde Gesichter und braune gelockte Haare. Die schwarzen Augen blitzten neugierig unter niedrigen Stirnen hervor. Sie hofften sich an der Riviera königlich zu unterhalten, aber die griesgrämige Mutter verdarb ihnen jede Freude. Ihr Bruder, ein österreichischer Rittmeister, Sigismund Ritter von Gwalkowski, Muschu genannt, begleitete die Damen, ein Hagestolz mit einem wie aus braunem Leder gegerbten Gesicht. Er war immer übler Laune.

Frau von Grimasnicka verzehrte nur eine Sorge: wie mochte es dem Hühnerhof daheim ergehen! Wir konnten die jungen Polinnen wohin immer führen, in Spielsäle, Konzerte oder Ausstellungen, verdrießlich wankte die Mutter hinter ihnen her und stöhnte: »O mes poulets! O mes poulets! O meine Hühner!«

Der gesunde natürliche Sinn Frau von Oronskas empörte sich gegen diese weinerlichen Klagen, sie wünschte ihre Gäste bald über alle Berge.

Rittmeister Muschu stand täglich um 12 Uhr mittags auf und massierte zwei Stunden lang sein braunstruppiges Haar mit vier Bürsten. Wenn sich eine Fliege auf sein Tageswerk setzen wollte, war seine Laune für lange verdorben. An jedem Abend ging Muschu ins Kasino, doch seine Einsätze waren gering. Er wagte überhaupt nichts, weder Börse, noch Leben, noch Liebe. Frau von Oronska war während seiner Anwesenheit ängstlich um mich bemüht, vielleicht aus Furcht, daß ich mich in ihn verlieben könnte.

Mein Appetit wuchs mit jedem Tag. Die Seeluft macht hungrig – kein Wunder, daß die Haifische so gefräßig sind. Nun hatten meine Tischgenossen allerlei Voreingenommenheiten. Die Marquise aß nichts, was mit Zwiebeln zubereitet war; eine kleine Gräfin aus Berlin haßte den Hammel und der Rittmeister vertrug kein Öl. So pflegte ich darnach bei Tisch meinen Feldzugsplan zu entwerfen. Kam die Lieblingsspeise des Rittmeisters, so bemerkte ich: »Abscheulich – schmeckt ganz nach Öl –«, wurden Filets geboten, das Entzücken der Marquise, so zeigte ich in meiner Angst, daß sie alles aufessen könnte, meinem Nachbar die Zwiebeln, die ich aus der Sauce gefischt haben wollte, und um für alle Fälle vor dem Appetit der kleinen Gräfin sicher zu sein, fand ich an jeder Speise einen durchdringenden Hammelgeschmack. Verhallten jedoch meine Worte wirkungslos und drohte der Hunger der Gesellschaft alle meine Vorkehrungen über den Haufen zu essen, dann erzählte ich von der Unreinlichkeit in der Küche – das half immer. Als aber eines Tages der Rittmeister mich entlarvte, da hätte mich die Gesellschaft beinahe gelyncht.

 

Die letzte Carnevalswoche kam. Plakate verkündeten die Festlichkeiten, die Nizza vorbereitete. Frau von Oronska, ebenso gütig wie vergnügungssüchtig, führte uns alle am Sonntagmorgen nach Nizza. Die Generalin, Mamuschka, Mimuscha, Muscha, sowie wir andern drängten uns, von Freude und Erwartung fiebernd, um den Rittmeister Muschu, der die strategische Leitung übernahm.

Die Stadt machte den Eindruck einer wahnsinnig Gewordenen. Alles strömte der Place Massena zu, wo Prinz Carneval Hof hielt. Welcher überraschende Anblick! Den Häusern entlang zogen sich arabische Ornamente hin mit großen Lampions in den zartesten Farben. In der Mitte des Platzes, in einem für ihn erbauten prächtigen Tempel im maurischen Stile saß auf einem Elefanten Prinz Carneval. Eine lebendige Leibwache von Söldlingen zu Fuß und zu Roß umgab ihn. Gebietend blickte er aus gläsernen Augen auf sein Volk nieder. Man spannte Pferde vor den Elefanten, ein Schieben, Drängen, Schreien, Jubeln, endlich trat Seine Majestät im Gewoge seiner Völker den Umzug durch seine getreue Stadt Nizza an.

Man schob uns rechts, man schob uns links, man drängte uns vor, man stieß uns zurück. Hatten sie von rückwärts uns nach vorne gepreßt, dann kam eine berittene Wache und ritt so knapp an uns heran, daß die Roßschweife uns um die Nasen flogen. Mit einem Schrei flüchteten wir mitten in das Gedränge zurück. Endlich – die Generalin als Leuchtturm voran – gelang es uns, unter den Arkaden Platz zu finden, und wer sich auf die Fußspitzen des Nächsten stellte, konnte die bis zum zweiten Stockwerk der Häuser reichenden Wagen sehen. Wie ein indischer Gott auf seinem Elefanten thronend, den Kopf nach rechts und links wendend, von modernen Baalpriestern umtanzt, nahte der Prinz, gefolgt von einer endlosen Reihe Chars. Allen voran der violette Wagen der Musik, ein rollendes Orchester, das blasend, paukend, schmetternd seinen Weg durch die Menge nahm. Ihm nach wankten die Wagen Tartarins, der Köche, der Republik. Letztere, durch einen Riesentambourin dargestellt, von republikanischen Soldaten umgeben, machte wenig Aufsehen. Ein Wagen der Monarchie wäre wirkungsvoller gewesen. Immer wieder tauchten neue Chars auf und ihnen jagte die unabsehbare Menge von Masken nach, johlend und schreiend, lachend und hüpfend, in allen Gestalten, in allen Farben. Fahnen flatterten, Lampions schillerten, Blumen wurden von Balkonen herabgeworfen und die Masken balgten sich um sie.

Frau von Oronska faßte nach meiner Hand und wies zur Ferne. Dort blickte der Campo Santo herüber. Es war, als hätte der tolle Maskenlärm die Toten geweckt. In weißen Wolkengewändern, von der Sonne wirr beleuchtet, glitten sie vorüber in phantastischen Formen, neigten sich und schwangen sich, ein bleicher Carnevalszug der Geister, und die sausenden Lüfte pfiffen die Melodie.

»Die Toten tanzen mit«, flüsterte die Polin.

»Welch ein Sturm!« jammerte die Generalin. Es war trübe und kalt geworden. Wir wanderten auf die Promenade des Anglais. Hier tummelten sich die Masken noch toller, jauchzten und lärmten und umarmten sich – die Generalin zitterte vor Erwartung – aber es geschah ihr nichts. Sie war tief verdrossen und schob ärgerlich einen Mann zur Seite. Der rächte sich, indem er rief: »Seht da, eine Dame von fünfundzwanzig Jahren – wenn man nur die Sonntage zählt!«

 

20. April

Heute nachmittag hatte ich eine eigentümliche Empfindung. Ich saß im Garten auf einer Bank und die Leute arbeiteten um mich her. Da war es mir, als müßten sie mich hassen und verachten und als gehörte ich als Nichtstuerin nicht in ihren Kreis. – Ich fragte mich: kann noch eine Frau durch ihren Garten spazieren gehen oder reiten zu ihrem Vergnügen, ohne den quälenden Ruf in ihrem Herzen zu hören: das darfst du nicht – so hinleben im Nichtstun vom Fleiß der Dienenden, darfst du nicht mehr. Auch du hast Pflichten zur Arbeit, die größer noch als die der andern sind, denn du hast für sie zu sorgen. Jedes Tier arbeitet, indem es sein Futter sucht – und du willst andere für dich arbeiten, für dein Futter sich mühen lassen?

Ich schämte mich vor jeder vorbei schreitenden Magd. Während ich früher herrisch auf sie niedergeblickt hatte und sie demütig zu mir aufsah, fühlte ich jetzt den Vorwurf ihrer stillen Augen: Was taten wir dir, daß du uns beherrschen willst? Und während sie es einst als ihr unabwendbares Schicksal angesehen, mir zu dienen, fürchte ich, daß heute manche sich fragt: Muß es so sein? Kann ich nicht auch einmal Dame spielen und du die Magd? – – –

 

Eine Faschingslust, wie wir Nordländer sie nicht in zehn Jahren genießen, drängt sich in Nizza in den Rahmen von acht Tagen zusammen. Nur im Süden vermag ein ganzes Volk von den Niedrigsten bis zu den Vornehmsten sich an einer langen Reihe von Festen zu berauschen. Alle Unterschiede der Klassen gehen auf in einem unendlichen Jubel, alle öffentliche Anteilnahme wendet sich den Umzügen zu, in deren Dienste sich Monate vorher die klügsten Köpfe und die fleißigsten Hände gestellt haben. Rascher pulsiert hier das Blut, glühender ist die Phantasie, flammender die Lebensfreudigkeit und die Lust an festlichem Gepränge. Der Südländer sieht den blauen Himmel so häufig über sich, kein Wunder, daß er fröhlicher wird, als wir Kinder des Nordens, über die nur zu oft ein düsteres eintöniges Grau sich wölbt, und doch hat auch unser Volk das Bedürfnis, Umzüge zu halten, und es ist vielleicht dasselbe Streben, das den Wallfahrer wie den Carnevalfahrer erfüllt, – die Sehnsucht, das Joch des täglichen Einerlei zu durchbrechen.

»Sie wollen zur Confettischlacht nach Nizza?« fragte mich ein alter Holländer mit einem langen weißen Spitzbart. »Da schauen Sie meine Frau an! Im vergangenen Jahre hatte sie nach so einer Confettischlacht neun Tage lang drei Ohren. Und eine Bekannte von uns ist auf einem Auge erblindet.«

Das klang recht aufmunternd. Trotzdem fuhren wir nochmals nach Nizza. Das bekannte jubelfrohe Straßenbild, nur noch ausgelassener, noch wilder und ungezähmter als sonst umfing uns. Wir stürzten in einen Laden; menschlich haben wir ihn betreten und als Vogelscheuchen verlassen, in formlose weiße Kleidungsstücke aus leichtem Stoff gehüllt, Drahtlarven mit aufgemalten blöden Gesichtern und Kapuzen über den Kopf gezogen, Säcke voll Confetti umgehängt, in den Händen Blechschaufeln auf spanischem Rohr, deren Inhalt man durch kräftiges Zurückbiegen und Vorschnellen bis in die höchsten Stockwerke hinaufschleudern konnte.

Jetzt erdröhnte der von Tausenden sehnsüchtig erwartete Kanonenschuß, der den Beginn der Schlacht anzeigte, und im nächsten Augenblick hagelte es von allen Seiten Confetti auf uns nieder. Wir wehrten uns, der Rittmeister begann einen Kampf mit einer hübschen Maske, er eilte ihr nach – wir stürzten hinter ihm her. Er warf uns wütende Blicke zu. Immer größer ward das Gewühl, auf Tribünen und in Fenstern drängte sich Kopf an Kopf, von allen Seiten flogen Confetti durch die Luft. Sie wurden von Dächern und Balkonen auf die Fußgänger geworfen, alles schlug zu, kämpfte, rief, lachte, jauchzte. Es klopft dich jemand vertraulich auf die Schulter, du wendest dich um – paff, hast du eine Sammlung der schönsten »Bonbons« im Gesicht, die, an dem Eisengitter der Maske zerschellend, als Gipserbsen dir in die Augen sprühen. Du willst die Sendung zurückgeben, aber längst ist der Attentäter entwichen.

Wieder ziehen die schweren Triumphwagen des Carnevals durch die Straßen. Unermüdlich rufen die Gassenjungen ihr »Bonbons! Bonbons!« in die Menge. Kobolde und Teufel, die Tartarin umhüpfen, werfen die härtesten Geschoße umher. Die Jury auf dem Wagen der Köche hat Menu und Monocle fallen lassen und schleudert in ausgelassener Lustigkeit die Bomben ins Volk; Ochs und Hirsch halten sich umarmt und tanzen. Tierreich und phantastische Menschentypen tollen durcheinander in leidenschaftlicher Bewegung. In dichtestem Gedränge trieben wir uns umher, schwatzten und lärmten, als wären wir unter Confetti aufgewachsen, in denen wir bis an die Knöchel wateten.

»Laß mich in Ruhe – siehst du nicht, daß ich achtzig Jahre zähle?« rief Mimuscha übermütig einer sie bedrängenden Maske zu. Die Generalin und den Rittmeister hatten wir längst verloren. Ich hätte mich auch gern ein wenig verloren, doch Frau von Oronska hielt mich fest und sicher an der Hand. Spät abends fanden wir uns alle auf dem Bahnhof. Mamuscha war aufgelöst in Verzweiflung, wurde von Muscha und Mimuscha geführt und rief nur: »Nie wieder – Nie wieder! Oh mes poulets!« Als letzte kam die Generalin am Arme des verstört dreinblickenden Rittmeisters, schrie nach einer Remonte und war nur schwer zu besänftigen.

Am nächsten Morgen ließ Mamuscha ihre Töchter die Koffer packen. Sie hatte von der Riviera genug. Noch betäubt von der Confettischlacht, halbblind von den ihr ins Auge geschmetterten Gipskügelchen, lahmend durch das ungewohnte Pflastertreten, hatte sie nur den einen Wunsch: zurück nach Hause!

Mimuscha und Muscha weinten bitterlich. Der Rittmeister tröstete sie mit dem Versprechen eines Balles in Wien, doch er dachte gar nicht daran, es zu halten.

 

5. Mai.

Der Mond blickt durch dichte Wolken. Schwere Schattenmassen bedecken den Boden. Kein Lichterspiel umzittert die Wurzeln der Bäume.

Doch ein Duften ruft durch die Luft, das die Seele betäubt. Woher kommt dieser wonnenatmende Hauch – ist es die Nacht, die duftet?

Den blühenden Flieder, die gelbe Azalee, du siehst sie nicht. Nur die Magnolie hebt ihre weiße Geisterpracht dem Mond entgegen. Ihre großen schimmernden Kelche sind völlig geöffnet und mir ist, als höben sich bleiche Hände dem Himmel entgegen mit leicht zueinander gebogenen Fingern. Zarte Kinderhände, schlanke Jungfrauenhände, Greisenhände auf dürren Armen – Tausende von Händen, die tief aus dem Erdreich langen, die nur einmal im Jahr sich aufrichten Zu einem wahnsinnigen Flehen, das niemand versteht. – – –

 

Ich hatte mich in den sechs Wochen so trefflich zu erholen begonnen, daß ich meinen Aufenthalt noch um vierzehn Tage verlängerte. Lilli schrieb mir allerliebst. »Es ist schon sehr schön bei uns«, berichtete sie, »aber nur in der Luft, denn auf der Erde ist es sehr schmutzig. Ich schreibe dir, weil ich dir gern schreibe und schließe diesen Brief, weil ich nichts zu schreiben habe –.« Franz schrieb spärlich und nichtssagend. Tante Sophie beruhigend.

Eines Tages nahm ich Abschied von meiner gütigen Freundin. Schmerzlich enttäuscht sah sie meine Jungfer an, die während der sechs Ruhewochen so dick geworden war, daß ihre Formen keine Möglichkeit mehr boten, auch nur die feinsten Spitzen unbemerkt über die Grenze zu bringen. Die Haupttätigkeit Annas hatte im Essen bestanden.

Bangend fuhr ich nach Hause. Lilli freute sich über meine Ankunft in ihrer stillen sanften Art. Sie schmiegte sich an mich wie ein Kätzchen, das durch dies sanfte Anschmiegen seine große Liebe verrät. Mademoiselle übersprudelte: »O, wie Madame gut aussieht!« rief sie. »So rosig und gesund. Früher war Madame einen Tag grün, einen Tag gelb und einen Tag grau.«

»Genug!« rief ich, die Tonleiter genügte. Der Vater umarmte mich mit Liebe. Tante Sophie stand neben ihm und lächelte durch vergrämte Züge.

Franz kam erst abends heim, frostig, kühl, ganz Herrenmensch. Es stünde gut mit der Pachtung, sagte er, der Verwalter sei tüchtig, man könne sich ganz auf ihn verlassen. Franz wollte in den nächsten Tagen einen größeren Jagdausflug in die Karpathen machen, um auf Wildschweine zu jagen. Halb gnädig, halb geringschätzig blickte er auf mich nieder wie in der ersten Ruppiner Zeit.

Schon am nächsten Morgen merkte ich, welches gespannte Verhältnis sich zwischen meinem Vater und Franz entwickelt hatte. Der alte Herr war auf den gepachteten Meierhof gefahren und wollte seinem Schwiegersohn einige Ratschläge geben. Doch die Art, wie diese aufgenommen wurden, hatte meinen Vater tief verletzt und er sagte mir, daß er die Pachtung nie wieder betreten werde. Franz bilde sich ein, alles zu verstehen, er werde schon sehen, wie weit er käme.

Eine freudige Überraschung brachte mir aber doch meine Rückkehr. Lilli zeigte mir ein kleines Zeichenheft. Darein hatte sie allerhand Gegenstände, Blumen, Schränke, Papas Stiefel, sogar Köchin und Stubenmädchen so klar und treffsicher gezeichnet, daß ich sofort eine künstlerische Begabung in dem Kinde erkannte. Die wollte ich entwickeln, wenn die Zeit käme; sie sollte nicht verkümmern wie die meine einst verkümmert war an der Einsichtslosigkeit und den Vorurteilen meiner Umgebung. Hatte doch meine Mutter gesagt: »Kind, du reitest, du jagst, du dichtest – wenn du auch noch malst, kriegst du sicher keinen Mann –« und so erdrosselten sie in mir die Kunst, die mein Leben geworden wäre. Als Ersatz kriegte ich – den Mann.

 

8. Mai.

Ich ging durch Kronstadt. Junge Frauen tragen schwarze Seidenkleider auf der Straße und ziehen ihren Kindern rote Röckchen an. Junge Mädchen wandeln in weißen Blusen mit einer feinen Stickerei, der man die verstichelten Winterabende der Beamtentochter ansieht.

Auf der Straße traf ich den alten pensionierten Inspektor Tagweh. Alle pensionierten Inspektoren der gräflichen Allodialgüter irren wie Fledermäuse im Zickzackflug durch die Straßen, wenn es zu dämmern beginnt. Den Sicherheitswachleuten wachsen die Bärte um die Laternenpfähle.

Eine liebe alte Tante wollte ich besuchen. Es war sechs Uhr. Die bejahrte Dame hatte schon die Zähne abgelegt, als ich kam und legte die Zopfpatience. Schnell sprang sie auf: »Jessus nein – die Valerietscherl! – aah –«, sie zog den Atem lange durch den Kropf – aber so gütig war sie wie immer, und noch immer blond, ein bischen kahl, aber auch noch ein bischen zopfig. Und ein grünes Kleid trug sie – seit ich sie kenne, trägt sie grüne Kleider. »Ja, wie geht's dir denn?« fragte sie liebevoll. »So viele sind gestorben – die Spielvogel und der Schneider und der Kopp – 's sterben gar so viele Leut'! Was das nur is' heuer! Wie die Fliegen sterben sie –. Und heut' hat man den Kaufmann Christel begraben –.«

»Ich komm' grad vom Begräbnis«, log ich ein bischen.

»Ja, ja«, kropfte sie. »Ich geh' gar ni' mehr aus – ich war schon ni' in der Stadt ... Nur in Garten geh' ich –.«

»Was machen die Papageien?«

»Tot sind sie, der Eine konnt' ni' mehr fliegen – er is immer umgefallen – das war schrecklich und da hat der Fritz ihn im Käfig erschossen. Und der Zweite starb ihm nach. – Ja, ja – aaahhh«, stöhnte der Kropf, der noch immer ein wenig länger sprach als sie. Alle waren tot – ihre Töchter, ihre Söhne, der Gatte – alle Freundinnen, die Papageien – sie nur lebte.

»Jetz' bin ich schon hoch über achtzig«, lächelte sie so verschämt, wie sie vor zwanzig Jahren gefragt hatte: »Wollt's ni' noch a Stückl Mehlspeis'?«

»Wie alt ist dein Mann geworden, Tante?«

»Das weiß ich schon selber ni' mehr – 71 oder 79 –.«

So vieles hat sie vergessen und das allein macht ihr Leben möglich. Sie weiß auch nicht mehr, wie ihre Söhne gestorben sind – und wie viele – nur über ein Enkerl freut sie sich.

Ballast auswerfen – heißt es, hinaus mit allem Überschuß des Gedächtnisses, wenn der Ballon nicht sinken soll – wenn er hochsteigen will in die luftigen Regionen der leuchtenden Freude.

Was sucht Ihr Lethe? Getrost – jedes Jahr bringt viele Tropfen mit sich – und so ein paar Jahre geben einen tüchtigen Schluck. Heiter und friedlich lebt die Tante, sie lächelt fröhlicher als sie je in der Jugend gelacht. Alles Herbe ist weggeweht von ihr, der milde Schnee des Alters hat sie weich gemacht.

Als ich fortgegangen war, ging sie sicherlich zu ihrer Zopfpatience zurück und hatte schon in einer Stunde vergessen, daß ich sie besucht. – – –

 

Lilli hatte ein tiefes weiches Gefühl und eine überzarte Empfindlichkeit. Wenn ihr etwas mißlang, kränkte sie sich bitterlich. Unter den Tieren liebte sie besonders die Ziegen und die Dohlen. Starb eine, mußte sofort Ersatz herbeigeholt werden, damit der Faden des zu pflegenden Lebens nicht abgerissen bleibe.

Ich ging mit Lilli oft in den Wald, wir hatten unter den Blumen unsere Freunde und sahen den Käfern zu, wenn sie über das Moos liefen. »Wenn sie Grashalme sehen, glauben sie, Wälder stehen ihnen im Wege und ein Steinchen ist ein Dach, unter das sie kriechen, wenn es regnet«, rief Lilli eifrig. »Weil sie so klein sind, kommt ihnen alles so groß vor – und wir sind groß und da kommt alles uns klein vor«, spann sie weiter.

Immer schlug ihr rechtliches Empfinden durch, das sie vom Großvater hatte. Wenn der Hund den Fasan jagte und ich klagend ausrief: »Nun wird der arme Papa keine Fasanen haben!«, sagte sie ruhig: »Es ist aber auch nicht schön, wenn er sie totschießt.«

Gatte und Vater sprachen nicht miteinander. Bei Tisch kam Franz nicht über ein Hm ... hm ... hinaus, so sehr ich mich auch mühte, ein Gespräch in Fluß zu bringen. Er fühlte sich beleidigt, der Vater gekränkt und die wirklich Leidtragenden waren Lilli und ich. Nach Tisch klagte mir dann Franz in dem Bedürfnis, sich auszusprechen, das schwache Männer stets haben, und ich nahm meinen Vater in Schutz.

Ärgerte dieser sich über Franz, dann verteidigte ich meinen Mann. Nur wenn Gäste kamen, hielten wir den Schein der Eintracht aufrecht. Wie zwischen zwei Mühlsteinen kam ich mir vor, in ihre kreisenden Bewegungen eingeklemmt. Immer wieder mußte ich schlichtend und versöhnend einwirken. Ich sagte meinem Vater, daß Franz ihn um Verzeihung bitten lasse und überbrachte Franz das Bedauern meines Vaters. Ich spann zwischen beiden die Fäden der Lüge, um sie immer wieder zusammenzuführen.

Mir war ja das Lügen so vertraut, ich glaubte, daß es die Welt zusammenhalte und man ohne Lügen überhaupt in unserer Zeit nicht auskommen könne, da alte Vorurteile mit neuen Lebensauffassungen im Kampfe lagen.

Die neue Lebensauffassung hielt ich für das, was uns bequem ist, und die Vorurteile für das, was uns hinderte, uns nach Gefallen auszuleben.

In Nizza, in der Spiegelung eines Auslagenfensters hatte ich die ersten Fältchen in meinem Gesicht entdeckt. Im äußeren Winkel der Augen knitterten sie sich, wenn ich lachte. Ich beschloß weniger zu lachen – aber es half nichts. – Zu Hause sagte mir lächelnd mein Vater: »Nun hast du die ersten Krähenfüße um die Augen.« Es war ihm recht so. Er sah mich nicht ungern älter, gereifter werden. Ich aber suchte sorgenvoll in jedem Spiegel nach den Fältchen und immer waren sie da. Später hat mir das Schicksal noch andere eingeknittert. Kreuze der Sorgen – sie zeichnen den Weg des Lebens. – –

 

Ich fühlte mich grenzenlos einsam in jenen Tagen. Im Dichten nur fand ich Erlösung aus meiner Wehmut.

Oft, wenn ich auf einer Bank saß, in Träume versunken, kam mein Vater vom Felde herüber. Und während er sich dachte: Was macht sie da wieder Dummes? lächelte er mir gütig zu, denn er liebte mich trotz meiner unfruchtbaren dichterischen Einfälle – er, der nur die Früchte seiner Felder schätzte, – und ich folgte ihm dann nach Hause.

Manchmal lief ich zu ihm ins Zimmer: »Vater, ich hab' einen Erfolg!« jubelte ich.

»Was bringt er dir?«

»Die Ehre!«

Das schien ihm herzlich wenig, der jedes Korn zum Geldwert eintauschte. Es mochten wohl die Körner, die mein Erdreich trug, gar wenig gelten auf der Börse der Geister, meinte er. Doch er tastete nicht an meine vermeintlichen Schrullen.

Immer leidenschaftlicher wandte ich mich der Literatur zu; meine Erfolge mehrten sich. Jedes Erlebnis wandelte sich mir zur Kunst. Noch immer leitete mich mein alter philosophischer Freund, doch auch andere Literaten übernahmen meine Führung und berieten mich. Mein Mann hatte wenig Freude darüber.

»Diese literarische Richtung von dir is' mir a Gräuel!« sagte er mir. Gräuel oder nicht – sie war nicht mehr aufzuhalten.

 

6. Juni.

Eine Frühlingsnacht im Vollmondglanz – welch ein Fest für die Rosen! Die roten ziehen sich in das Dunkel zurück, doch die weißen tauchen umso voller aus ihm hervor. Ruhevoll geben sie sich dem Lichte hin mit ihrem unsagbaren Duft und der feinen Regelmäßigkeit ihrer Blätter. Andere scheinen von tausend Wünschen zerglüht und verwirrt, sie krümmen und kräuseln sich, um ihren Hauch umso versengender zu veratmen. Die Nacht ist trunken von all der Schönheit – die dunkle, mondbeglänzte Rosennacht ...

Welche geheime Kraft geht schweigend durch die Welt und erfüllt die Blüte mit Leben, das Leben mit Blüten? Mir ist manchmal, als stünde ich in einem Zaubergarten. Ich lege meine Wangen an die Rosenlippen und fühle ihren duftenden Kuß, wie eine zärtliche Milde umwebt es mich und langt nach meiner Einsamkeit. Für Augenblicke versinkt für mich die Welt, ich fühle mich Schwester zwischen Schwestern, blühende Seele zwischen blühenden Seelen und alte Bäume nicken liebreich zu uns herüber. – – –

 

Franz fuhr auf Jagden – genau wie in den mährischen Tagen. Der vorzügliche Jäger war überall gern gesehen und immer bewundert. Es gab keinen zweiten, der so blitzschnell den Fuchs erlegte, wenn er durch die Schleuße sprang, keinen, der den Fasan so vornehm niederholte, wenn er im Zug über hohen Bäumen herüberstrich, keinen, der im Feld den Hasen auf unerhörte Entfernungen roulierte. Franz hatte die besten englischen Gewehre, die Pachtung trug es. Die Jagdherren waren freilich von schlichter Herkunft, aber das schädigte nicht den Bestand des Wildes.

Einmal lud der Oberförster eines fürstlichen Nachbars Dr. Schellenberg zu einem Bekassinenabschuß ein – ohne Wissen seines Jagdherrn. Und Franz brachte in zwei Stunden fünfundzwanzig Bekassinen zur Strecke. Der Oberförster, der einem Passionsspieler von Oberammergau glich mit seinem blonden Vollbart und dem ehrenvollen Ausdruck seiner Augen, schilderte Valerie seinen Schrecken: »Denken nur, gnädigste Frau – fünfundzwanzig Bekassinen – und wie schwer sie zu schießen sind! Ich hab's verheimlichen müssen, denn es hätte mich meine Stellung gekostet beim Fürsten! Fünfundzwanzig Bekassinen von einem Gast! So viel hat ja Seine Durchlaucht nicht in fünf Jahren erlegt!«

Mein Vater gab seit Jahrzehnten alljährlich eine große Jagd.

Sie war stets die gleiche und doch wirkte sie jedesmal mit dem Reiz der Neuheit auf uns.

Im September begann sie langsam aus der Flut künftiger Ereignisse emporzutauchen. Sie bildete die große Zeitscheide. Alle Dinge wurden in »vor der Jagd« und »nach der Jagd« eingeteilt.

Ihr Tag ward bestimmt. Es war stets der 26. oder der 27. November seit zwanzig Jahren. Aber es tat wohl, wenn wieder einmal das Datum festgelegt war.

Die Aufregung im Schlosse stieg immer höher. Es wurde soviel geputzt, gefegt, gelüftet, bis wir alle erkältet waren. Endlich kam der Polterabend des großen Tages. In der Küche lagen Hühner, Kalbsköpfe, Rinderzungen, Rehrücken und Forellen. Es ist unglaublich, wie viele Tiere das Leben lassen müssen, wenn mehrere Menschen sich zu einigen gemütlichen Stunden zusammenfinden wollen.

Als erste Gäste erschienen sieben Neffen meines Vaters, junge blonde Riesen, Professoren der Landwirtschaft und der Jagd, wie mein Vater sie nannte. Man schüttelte sich die Hände und sah auf den Barometer. Ein kleines Festmahl erhöhte die Hoffnung auf günstiges Wetter.

Manche hatten nicht übel Lust, die ganze Nacht ihre Wetterbeobachtungen fortzusetzen, allein um elf Uhr wurde alles streng zur Ruhe geschickt. »Frühstück um sieben Uhr!« lautete meines Vaters Befehl.

Jagdmorgen! Vor dem Schlosse balgten sich die glücklichen Treiber, ausgerüstet, als ging es nach Sibirien, mit Stöcken, groß genug, um Wölfe zu erschlagen.

Etwas entfernt von dieser Horde standen die erwachsenen Männer aus dem Dorfe, deren jeder hoffte, einem Schützen die schwere Patronentasche zu tragen. Sie nannten sich »Büchsenspanner«, spannten auf die Büchsen der Gäste und hielten es für unziemlich, ihre Freude über den Tag anders als durch gemessene Würde zum Ausdruck zu bringen.

Mein Vater rief mit der Jagdpfeife die noch immer frühstückenden Gäste auf. Die Wagen fuhren vor. Damen und einige Herren, denen es weniger um das Jagen als um das Plaudern zu tun war, fuhren bis zum ersten Trieb.

Die ernsten Jäger gingen zu Fuß, gefolgt von den »Büchsenspannern« und den Treibern.

»Nur leise, ganz leise!« mahnte der alte gebückte Förster, dem die Tabakspfeife immer im linken Mundwinkel hing.

Jeder Schütze hatte seinen Platz. Jetzt gab der Förster das Zeichen, der Trieb ward angeblasen.

Wie eine wilde Horde stürzten sich die Treiber in das Dickicht. Vergebens wurden sie zur Ruhe gerufen, beschimpft, bedroht. Ach was, ein Jahr lang freuen sie sich auf das Fest und jetzt sollen sie sich still verhalten? Fällt ihnen nicht ein! Sie johlen, brüllen, quietschen, jauchzen, gurren, pfeifen, singen mit solcher Lust, daß die aufgeschreckten Fasanen nicht nur das Bereich des nächsten Triebes, sondern sogleich die fernsten Weiten suchen und das Wild auf mehrere Kilometer in der Runde flüchtig wird.

Der Vater ärgert sich fürchterlich; der Förster flucht; selbst die »Büchsenspanner« geben ihre Entrüstung über das ungeartete Volk, zu dem mancher von ihnen noch vor einem Jahr gehörte, mit lautem Unwillen zu erkennen; nur die Schützen lächeln überlegen.

Gegen Ende des Triebes stehen plötzlich jene Fasanen, die sich dicht bis an die Schützen herangeflüchtet hatten, zu gleicher Zeit auf, im »Bukett«.

Es hebt ein Knallen, ein Knattern an, man glaubt, daß hundert der seltenen Vögel fielen und siehe da! kaum zehn sind zur Strecke gebracht.

»Ein verfluchtes Schießen zwischen den Bäumen!«

»Und so hoch kommen einem diese Kanaillen!« wüten die Schützen.

Man beruhigt sich endlich. Es beginnt die Aufstellung zum zweiten Trieb.

Nach vier Waldtrieben folgt der erste Kreis. Die munteren Söhne des Dorfes »laufen« nach zwei entgegengesetzten Seiten aus. Nach je zehn oder zwölf Treibern folgt ein »Herr Schütze«, wie der Herr Förster ruft.

Jetzt schreiten alle langsam dem Mittelpunkt des Kreises zu. Die aufgeschreckten Hasen jagen angstvoll durcheinander. Piff – paff! knallt es um unsere Ohren. Dazwischen ertönt das Johlen der Treiber und das seltsame Weinen des zu Tode getroffenen Häsleins, das der Hund erfaßt ... Es klingt wie die klagende Stimme eines ganz kleinen Kindes.

Seltsam, daß dem Tiere in seinem Schmerz menschliche Töne zu Gebote stehen, indes der qualvoll gemarterte Mensch tierische Laute ausstößt ...

Nach jedem Trieb wird die Strecke der erlegten Hasen besichtigt.

Sonderbar, wie sich alle gleichen auf den ersten Blick und doch haben sie unzählige kleine Merkmale, die die kleine Häsin gewiß sofort bemerkt.

Die Jagd dauerte für die ernsten Schützen bis zum Anbruch der Dunkelheit. Um sechs Uhr begann das Festmahl und bald ließ man alles leben, nachdem man so viel totgeschossen hatte. Beim schwarzen Kaffee hatte die Unterhaltung ihren Höhepunkt erreicht. Einzelne Paare umarmten sich, zumeist die älteren, den jüngeren war es nicht gestattet.

Dann trat jene ruhige Abspannung ein, die der Langeweile vorauszugehen pflegt. Es drohte der tote Punkt und die Uhr zeigte kaum neun!

Die Mehrzahl der Herren setzte sich zu den Kartentischen, um endlich etwas Vernünftiges zu tun. Was aber sollte ich anfangen mit der Schar köstlich gekleideter Damen und den wenigen Herren?

Man hat immer zu wenig Herren.

Meine Freundin, die lustige Witwe Nini Wimberg mit dem Stumpfnäschen und dem aufregenden Muttermal auf der linken Wange, schlug in so schweren Augenblicken stets das Orakelspiel vor, ein Kartenscherz, der mühsam über die nächsten fünf Minuten hinweghalf. War die Gesellschaft besonders gut gelaunt, dann hielt sie das Spiel auch zehn Minuten aus. Nun kam das Watteblasen an die Reihe. Wieder fünf Minuten gerettet. Der Zeiger stand auf halb zehn. Was nun? »Nur nichts Geistreiches!« riefen alle.

Dumme Gesellschaftsspiele langweilen zumeist, geistreiche immer.

Ein rettender Gedanke! Ein alter Festredner war ein vorzüglicher Klavierspieler. Rasch ward er vom Spieltisch geholt und vor das Klavier gesetzt. Er hob den greisen Kopf mit der mächtig vorspringenden Nase und fiel aus Schrecken über die unerwartete Veränderung mechanisch in den Dreivierteltakt ein.

Hei, wie das elektrisierte!

Die hübschen Füßchen in den durchbrochenen Strümpfen trippelten hin und trippelten her ...

Die spärlichen Herren, die bei den ersten Takten, Schlimmes ahnend, flüchtig werden wollten (keiner kann das Tanzen leiden), wurden von mir mit beschwörenden Blicken festgehalten. Sie mußten Tische und Stühle wegräumen, die Teppiche zurückschieben und endlich in leidenschaftlichem Tanz über die Eichendielen fliegen.

Die Gesellschaft machte nun wieder für kurze Zeit den Eindruck, als ob sie sich vortrefflich unterhielte.

So täuschte ich sie bis zur Mitternachtsstunde. Nun war alles gewonnen; der Morgenhunger kam über sie und jetzt schien es, als ob sie an ein Auseinandergehen vor Ablauf des nächsten Vierteljahres nicht denken wollte. Die Langweiligsten entwickelten plötzlich gesellschaftliche Talente.

So emsig ich wenige Stunden vorher mich mühte, die Gäste wach zu erhalten, viel emsiger mußte ich nun sorgen, die ungebärdigen Geister in ihre Zellen zu bannen. Dort tobten die sieben Riesen noch lange fort, zum Schrecken ihrer Nachbarn.

Am Morgen erklärten alle, daß die Jagd glänzend ausgefallen sei. Der Abschied brachte die letzten Verwicklungen: Gewehre, Röcke, Pelze, Koffer, Jagdsessel, alles wurde vertauscht und ich durfte während der nächsten Tage mich vergnügt mit dem Lösen der großen Verwirrung beschäftigen.

 

Allmählich änderte sich der Stand unserer Jagdgäste. Die vornehmen Verwandten von Franz fanden sich als Schützen ein, und die altgewohnten Freunde meines Vaters blieben einer um den andern aus. Der adelige Geist, der auf Gudrichau zu herrschen begann, störte ihre Behaglichkeit. Viele auch wurden auf Franzens Wink nicht mehr eingeladen. Bald sah sich der Vater von Fremden umgeben, die ihn nicht beachteten; seine treuen Freunde dagegen blieben unsichtbar. Er fühlte sich an die Wand gedrückt und sprach oft von Bismarck, der das Reich gegründet hatte und dafür vom Nachfolger seines allergnädigsten Herrn davongejagt worden war. Eine immerwährende Kränkung zerwühlte ihn. Dazu häuften sich die geschäftlichen Sorgen. Tante Sophie teilte seinen Kummer und schimpfte auf alle, denn mitzugrollen war sie da.

Oft kam er zu mir, schwankend, mit dem vielhundertjährigen Blick – die Augen so trüb, die Lider so schwer – die Haut von schweren Furchen durchkreuzt. Sein weißes Halstuch war verschoben.

Klagen kam er. Und ich gab ihm jetzt in allem recht.

 

8. Juni.

Welche unendliche Fülle, von Gedanken durch ein Menschenhaupt zieht im Laufe eines reichen Lebens! Und wie sprunghaft die geistige Entwicklung bleibt – so sprunghaft, wie die Entwicklung der Menschheit.

Ich habe heute in meinen alten Tagebüchern gelesen. Wie oft nahm ich einen Schwung ins Große und ward von irgend einem Gefühl – einem Erlebnis vielleicht, zurückgeworfen, wie die Menschheit zurückgeworfen wird – und kroch langsam vor und schwang mich wieder empor – um abermals niederzusinken – doch nicht ganz so tief mehr. Jeder Flug brachte mich höher und jeder Sturz wurde weniger tief. – –

 

Die Jagd in Gudrichau hatte Franz durch sachgemäße Pflege auf eine unerwartete Höhe gebracht, man sagte damals, nun könnte mein Vater einen Erzherzog einladen, so reich war der Wildstand.

Ein Jagdtag sollte ein besonderes Prunkstück bieten. Franz hatte einen jungen Prinzen Lohenstein eingeladen, der in Kronstadt bei der Regierung angestellt war. Nur wenige Gäste außer ihm, ein paar schöne Frauen und drei Schützen. Der Prinz sollte eine erlesene Jagdbeute erringen. Allein der Prinz schoß schlecht, ihm lag überhaupt nichts an dem Jagen, umsomehr an den Frauen, die für ihn das erlesenste Wild bedeuteten. Er verliebte sich sogleich in die reizende Nini Wimberg, die ihre Unbedeutendheit hinter einem entzückendem Lächeln zu verbergen wußte.

Der alte Förster und der junge Heger waren durch die Anwesenheit des Prinzen aus allem Gleichgewicht geraten. Schurda keuchte mit rotem Kopfe und wünschte den erlauchten Gast tausend Meilen weit und der Heger mit dem Gemsbart aus prächtigen Schweinsborsten führte in einem Anfall von Schwachsinn den Prinzen aus den Gemarken hinaus auf die Bauernfelder, wo ihn ein fremdes Jagdpersonal zu verhaften drohte. Eilend erreichte die überraschte Hoheit mit ihrem Führer wieder den angestammten Jagdplatz, mehr belustigt als verärgert. Eine Verwirrung folgte nun der andern. Mein Vater, außer sich, in seiner Jagdehre getroffen, stellte meinen Mann zur Rede. Außer der Gehörweite des Prinzen spielte sich jener furchtbare Zusammenstoß ab, den ich seit Monaten gefürchtet und zu vermeiden gesucht hatte. Mein Mann rannte nach Hause und zeigte sich nicht mehr.

Niemand bemerkte seine Abwesenheit. Prinz Lohenstein geriet nach Tisch in so frohe Stimmung, daß er den Wunsch nach Gesellschaftsspielen aussprach, worauf sein Begleiter – der Prinz reiste stets mit einem Spaßmacher – die dümmsten Spiele in Schwung setzte, die ich je erlebt. Da wurde Watte geblasen, ein Ring aus einem Haufen Mehl mit den Lippen gesucht und unter der Tischdecke die »kalte Küche« gereicht, bei der einem das Gruseln kam und man die unerhörtesten Dinge in der Hand zu halten glaubte, indes es nur nasse Zwiebeln und Rüben und Badeschwämme waren. Der Prinz jubelte wie ein Kind, freute sich an dem Quietschen der schönen Nini, berührte ihre Hände und in einem Augenblick, da beide sich unter den Tisch neigten, küßte er das Mal auf ihrer Wange. Tief in der Nacht versicherte er, daß er sich noch nie so gut unterhalten habe, dabei warf er der Baronin einen Blick zu von so heißem Feuer, daß sie schon auf ihrem Haupte die Fürstenkrone brennen spürte.

Der alte Franz begleitete den Prinzen auf sein Zimmer und erzählte dann, wie fromm der hohe Herr nach dem fröhlichen Gelage, auf dem Betschemel kniend, den Rosenkranz gebetet habe.

Franz zeigte sich auch am nächsten Morgen nicht. Er holte seinen großen Koffer vom Boden und packte geheimnisvoll ein. Flüchtig nur teilte er mir mit, daß er sich auf seine Pachtung begeben werde, wo er fürs Erste leben wolle. Nach seiner Abreise atmete das ganze Haus auf, wie von einem furchtbaren Druck befreit.

 

15. Juni.

So viel Sonnenschein füllt die Luft, daß alles in Licht getaucht ist, doch da die Schatten fehlen, fehlt auch der rechte Glanz. Silbergrau schimmert die Ferne, sogar der Himmel über mir. Aus seiner Höhe tönt ein Trillieren, das den Äther überleuchtet. Es ist, als sängen die Sterne.

Hoch reckt sich das grüne Korn. Etwas unsagbar Sanftes liegt in seiner Bewegung, wie es sich neigt und wendet und bebt, bald Kranz, bald Wirbel, bald sacht hinwellendes Meer ... Um dieses Kornes willen, das in Mumiensärgen durch Jahrtausende seine treibende Kraft bewahrte, entbrannten die Kämpfe der Völker, ihm entstammt der Reichtum der Welt.

Nicht das Korn gehört den Menschen, der Mensch gehört dem Korn. – – –

 

Ich hatte nur in den Träumen meiner Phantasie und meiner Kunst gelebt in den letzten zwei Jahren und war als Nachtwandlerin durch die Heimat geschritten. Die plötzliche Abreise von Franz hatte diese Träume zerrissen und ich begann die Augen zu öffnen für die Geschehnisse im eigenen Hause.

Da sah ich, daß mein Vater sehr gealtert war und mit ihm seine Pflegerin; er trug den Kummer, sie die Jahre.

Bisher hatte ich mich vom Leichtsinn tragen lassen und darum diese große Veränderung nicht bemerkt, die rings um mich vorgegangen war. Nun gewahrte ich sie staunend, verwundert, ein wenig erschrocken. »Sie müssen jetzt Ihrem Herrn Vater tüchtig zur Seite stehen«, sagte mir der Rechtsfreund unseres Hauses, Doktor Sommer. Allmählich kam es mir jetzt ins Bewußtsein, daß es noch andere Regeln und Gesetze gebe, als die unseres Behagens.

Ich sah immer wieder meinen Vater an. Der hatte sich sein Leben lang gemüht; erst galt es ihm, einen Besitz zu erwerben und jetzt ward die Mühe noch größer, den Besitz zu bewahren, denn von allen Seiten drohten Gefahren, rissen Freunde Stück um Stück herab von dem Dach, unter dem wir alle lebten.

Mein Vater ging in Sorgen umher. »Als ich noch ein junger Pächter war, da ging es mir gut«, sagte er einmal, »da hatte ich keine Sorgen –.« Doch seit er ein ergrauter Besitzer war, konnte er sich ihrer kaum erwehren.

Ich gedachte meiner Mutter. Mit welchem Fleiß war sie ihm zur Seite gestanden. Sie hatte mir oft erzählt, wie arm an Geld und wie reich an Glück ihre junge Ehe gewesen sei, wie emsig sie strebten, schaffen, sparen mußten, um den Pachtschilling zu bezahlen und eine Summe zur Seite zu legen, die es ihnen einmal ermöglichen sollte, einen Eigenbesitz zu erringen. Sie hatten eine gemeinsame Lebensaufgabe und die bildete den wunderbaren Kitt, der ihre Liebe vergoldete und ihre Tage verklärte.

War es das Fehlen einer gemeinsamen Lebensaufgabe, daß meine Ehe von allem Anfang an so leer mir erschien? Franz und ich hatten den Reichtum, den unsere Eltern zu erringen sich bemüht – uns fehlte der Ausblick auf ein höheres Ziel, so kam es, daß wir es schließlich im Vergnügen fanden und darin zu Grunde gingen. Meinen Eltern galt das Vergnügen als die Würze nach Wochen der Arbeit. Wir dagegen hatten nach Wochen des Vergnügens kaum einen einzigen Tag der Arbeit gesucht.

Welch ein Hochgefühl mag meine Eltern durchpulst haben in der Stunde, da sie das seit Jahren sich vorgesteckte Ziel erreicht und ein prächtiges großes Gut gekauft hatten mit Fabriken, Feldern, Schloß und Park!

Wir hatten nichts erstrebt und nichts erreicht, ja sogar das meiste verloren von dem, was unsere Eltern uns anvertraut hatten. So waren wir schlechte Sparmeister und schlechte Lebenskünstler gewesen. Unser Dasein ermangelte der Tätigkeit und der Erfolge. Wir blickten auf Jahre der Freuden, die nur einen schalen Nachgeschmack zurückgelassen. Wir hatten nichts gewonnen und viel verloren.

Ich war reich gewesen und hatte dem Reichtum nichts zu danken als ein paar Feste und kostspielige Kleider und verschwenderische Geselligkeit; ich war arm geworden und hatte der Armut nichts zu danken als neue Lügen, ein kluges Verbergen der Armut, erborgte Feste und erborgtes Glück. Und nun stand ich einsam im Leben, noch jung, noch hinauslauschend mit begehrlichen Sinnen, aber nachdenklich und prüfend. Meine größte Seligkeit war meine Kunst. Doch würden so schwere Ereignisse ihr nicht die Flügel brechen? Schon schrieb sorgend mein alter Freund: »Lassen Sie um nichts in der Welt sich Ihren Humor rauben!« Hatte ich ihn noch?

 

Mein Vater sprach jetzt öfter von seinen Geschäften mit mir. Ich blickte in das tiefe Getriebe seiner Arbeit, seiner Landwirtschaft, seiner Fabriken und sah, wie Vieles umfassend sein Wissen war, wie reich seine Kenntnisse. Und er hatte doch keine Hochschulbildung genossen, aber mehr als diese: die Hochschulbildung des Lebens. Eine Erfahrung, die nach Jahrzehnten zählte, ein klarer scharfer Blick, den er von seinen Eltern geerbt haben mochte, untrügliche Sicherheit im Urteil, rasches Zugreifen im günstigen Augenblick und ein vorsichtiges Zurückweichen bei Gefahr.

So viele Jahre hatten wir nebeneinander gelebt, und ich hatte mir nie die Mühe genommen, über ihn nachzudenken, ihn zu studieren, den gemeinsamen Zügen zwischen uns beiden nachzuforschen. Jetzt fand ich mit einemmal eine Fülle von Ähnlichkeiten in unserem Wesen. Wir sind rasch und heftig im Empfinden und Denken, haben die gleiche starke Kraft, die in der Bejahung des Lebens wurzelt, wir richten uns rasch auf nach jeder Welle, mit der das Schicksal uns niederbeugt. Wir haben einen unerschrockenen Mut, einen Frohsinn, der sich täglich von Neuem durchbricht, eine unerschütterliche Lust an der Tätigkeit und sind letzten Grundes zwei Arbeitsmenschen eines Schlages.

Gehörte Franz zu den Werte verbrauchenden Männern, so war mein Vater einer der besten, Werte schaffenden Menschen. Nie versäumte er seine Zeit mit Klagen um Verlorenes oder mit Träumen, die das Kommende umweben; er lebte dem Tage und was dieser gebot, das führte er aus. Seine Gedanken waren fruchtbar wie sein Acker, der an jedem Morgen tausend neuer Keime emporjagte.

So trug mein Vater viel in sich von der Erdkraft, die immer wieder frisch sich erneut in starken Seelen.

Wie er eifrig und stets in Gedanken durch Haus und Hof lief, hier einen Auftrag erteilte, dort einen Verweis, der oft mit den Worten anfing: »Du bist mir ein prächtiger Mensch –«, wie er rastlos, unermüdlich das vielfache Räderwerk seines Besitzes im Auge hielt, stets die belebende Kraft blieb, die es leitete, das schien mir bewundernswert.

Er mochte nicht reisen – denn er fand es nirgend so schön wie daheim.

Wenn er von den Ärzten gezwungen wurde, seiner gichtischen Anfälle wegen ein Bad aufzusuchen, dann entfernte er sich von seinem Besitz wie der Liebende von der Geliebten. Gleich bei der Abreise zählte er die Tage, die ihn von seinem einzigen köstlichen Schatz trennen sollten. Und mit welcher Freude kehrte er heim, stets um acht Tage zu früh, und man sah ihm den Jubel aus den Augen leuchten. Sobald sein Blick seine Fluren überschaute, war er gesund.

Er war immer fröhlich, wenn er nicht verärgert wurde, denn er hatte nie Zeit, unfruchtbaren Gedanken nachzuhängen.

Franz war glücklich, so lange er jagte. Mein Vater war es vom Morgen bis zum Abend, denn seine Leidenschaft war sein Beruf, von dem keine Stunde des Tages ihn zu trennen vermochte. Selbst die vielen und tiefen Sorgen, die sich jetzt einstellten, vermochten ihm die Freude an der Landwirtschaft nicht zu trüben. Er lief über die Felder, über die Saaten, sah den jungen Klee sprießen und zählte die kaum sichtbaren Körner der Getreideähren, vergaß darüber alle seine Schulden und war glücklich.

Vom Juli bis September wog er täglich eine Rübe ab und zählte die Kartoffeln unter dem Kräutich, freute sich an ihrem Wachstum und glich selber einem Stück köstlichen Erdbodens, der immer neue Saaten treibt und reift.

Alles Schlimme und Peinliche vergaß er schnell. Auch darin glich er der Erde, die von keiner Kümmernis weiß. Was sie tut, ist hinlänglich getan. Vorsätze und Reue sind ihr fremd.

 

Prüfend und innig teilnehmend an allem, was er geschaffen und schuf, ging ich in dem Reiche meines Vaters umher. Ich begann das Leben der Kleinen zu beobachten, der ganz Armen, Genügsamen, der Diebe, die ihn bestahlen, und der Arbeiter, die ihm dienten. Er verfolgte weder die Einen, noch belästigte er mit zuviel Aufsicht die andern. Er war für alle in gleicher Weise gütig.

Einmal sah er, wie eine Diebin in der Dämmerstunde eine schwere Bürde Holz aus dem Hofe forttrug. »Die Arme!« rief er. »So schwer hat sie zu tragen! Warum nimmt sie denn das nicht auf zweimal?«

»Das Stehlen werden wir den Leuten nicht abgewöhnen«, sagte er mir, als ich mein Bedenken aussprach. »Sie haben weniger als wir – also nehmen sie sich von uns, was ihnen fehlt.«

Die tiefe soziale Erkenntnis, die in dem Worte lag, begriff ich nicht. »Schließlich werden sie alles haben und uns wird nichts bleiben«, murrte ich verdrossen.

»Das übertreibst du wieder«, ärgerte sich der Vater, denn das Übertreiben konnte er nicht leiden.

Ich sah, daß manches krumm ging, das leicht hätte gerade gehen können, und ich begann zu tadeln. Anfänglich nur mit Blicken, später mit Worten. In das große Behagen umher warf ich ein paar Funken meines eigenen Mißbehagens. Die Beamten, seit Jahrzehnten daran gewöhnt, daß der Chef für sie denke, rüttelten sich aus ihrem Dämmerzustand auf und fingen an, mich mit Mißtrauen zu beobachten.

Ich war ein Weib, folglich verstand ich nichts, das stand in den verdrossenen Männerblicken zu lesen. Überdies war doch mein bisheriges Leben zumeist fern dem heimatlichen Boden verflossen und was man davon hörte, ließ auch nicht darauf schließen, daß es just geschäftliche Kenntnisse gewesen, die ich mir gesammelt hatte.

Hier war alles jahrzehntelang wunderschön gegangen – wenn ich mich hineinmischte, natürlich, dann konnten sie für nichts haften, dann konnte der ganze schöne Bau meines Herrn Vaters eines Tages in die Luft fliegen oder in sich zusammensinken.

Mit dem Herrn Schwiegersohn hatte es sich noch einigermaßen arbeiten lassen, er strengte die Leute nicht an – aber die Frau jetzt, was wollte denn die? So lange der Chef lebte, ging ja der ganze Kram sie garnichts an – na und daß der mindestens so alt werden konnte wie Kaiser Wilhelm, war sicher. Fünfzehn bis zwanzig Jahre hatte man noch friedlich vor sich. Sie würden vielleicht nicht immer goldig sein, denn der alte Herr hatte sich zuviel verblutet, damals bei den Wechseln für den Herrn Schwiegersohn. Aber so lange der Alte lebte mit seinem Ansehen, seiner Würde, seiner machtgebietenden Persönlichkeit, stand alles gut. An den wagte sich heute kein hungriger Gläubiger heran – was dann geschah, wenn die zwei herrschenden Augen sich schließen würden, das wußte freilich keiner ... Aber seine Gedanken hatte jeder darüber, seine ganz bestimmte Erwartung. »Nach ihm die Sintflut«, hießen sie in das Deutsch der gebildeten Kreise übersetzt.

»Nun – was läge denn schließlich daran«, grübelten die Biedern weiter, »ein Sohn war nicht da und die Tochter hatte ja eigentlich nicht einmal das Recht, in dem alten, schönen, großen Schloß weiter zu hausen. Das gehörte ihm, der es sich durch Hauptes und Hände Fleiß erworben hatte. Die Tochter mochte wieder in die Welt hinausziehen – sie hatte ja viel gelernt und auch feine Manieren sozusagen. Stellungen gab's heute genug für ihre Art. Sie konnte als Empfangsdame bei einem Photographen unterkommen oder als Haushälterin. Vielleicht fand sie noch einen alten Witwer, der auf ihre verblaßten Reize hineinfiel. – O je, der würde sich aber schneiden. Denn vom Hauswesen verstand die doch nichts ...«

Die Verwalterin rümpfte die Nase: »Nicht einmal Kartoffel kann sie kochen, ich wette, von einem Braten hat sie keinen Dunst und eine Mehlspeise bleibt ihr ein spanisches Dorf. – Da kann mein Maritscherl heut mehr als die ganze ›Gnädige‹.«

Der Kassier nickte: »Ja – ja – so eine Bildung, wie die sie hat, is' für die Katz. Von jedem weiß sie 'was und von keinem nix Rechtes. Sie ist so dran wie der Herr Doktor Franz. Der hat auch von jedem a bissel was gewußt und von keinem nix Rechtes. Und so hat er auch ka Stellung kriegen können und mußt' auf Gnad oder Ungnad beim Herrn Schwiegervater bleiben –.«

»Er war aber a guter Herr«, meinte der Förster.

»Sie is aber ka gute Frau!« rief die Verwalterin bissig. »Bei die armen Leut' schmeichelt sie sich ein und gibt hier a Sechser und verschenkt dort einen alten Rock, aber eigentlich is' nix dahinter. Sie hat ka Herz, das hab' ich immer gesagt. Bei ihr is's Herz in den Verstand 'nein gefahren. Mir wirds jedesmal kalt, wenn sie mich anschaut – und – habt's ihr's denn noch nie bemerkt? A Kind, das sie anschaut, fangt gleich an zu weinen. Den bösen Blick hat sie. – Und jetzt tut sie sich auch noch einmischen in alles – und der gnä' Herr wird schwach – ich sag' Euch, das nimmt kein gutes End'.«

»Was kann uns denn weiter geschehen?« fragte der Verwalter. »Mir geh'n halt schließlich und endlich in Pension, wenn's sein muß.«

Ich hörte sie nicht reden. Aber ich sah ihnen solche Gespräche an den scheuen Blicken an und an dem geflissentlich überhöflichem Grüßen.

Sie markierten Anhänglichkeit an mich, die sie nicht empfinden konnten, folglich heuchelten sie und haßten mich.

Und ich ging einsam zwischen ihnen umher, eine Fremde.

 

18. Juni.

Ich schritt den Fluß entlang, hinaus zum Kornfeld. Der Wind blies scharf, die Sonne war hinter Wolken verborgen. In der Nacht hatte es geregnet.

Ein Weib kam des Weges. Sichel und Rechen trug sie und unter dem Arm ein Grastuch.

»Na, wie geht's denn, Bäuerin?«

»Ah was – schlecht geht's! Lauter Verluste, bald a Schwein, bald a Kind, bald a Kuh – wir kommen nie aus'm Begraben 'naus. Und was man alles braucht für Kleidung und für die Kehlen! Kaum machen die Kinder früh die Augen auf, wollen sie alle essen. Sie fragen nicht, woher ich's nehm', danach fragen die Kinder nicht ...«

Wir standen auf einem Hügel. Bläulich dehnte sich das Kornfeld vor uns, der Wind wehte darüber hin. Mit einem Mal gewahrte ich etwas Wunderbares. Die breite wogende Fläche ward unsichtbar. Ein weißer Rauch erhob sich über ihr und überwallte sie in lichten sprühenden Wellen.

»Was ist das?« fragte ich betroffen.

»Das Korn raucht, – wenn nur kein Schaden dazu kommt!« Sie blickte gleichmütig über das Wunder hin. Ich aber wußte, jetzt befruchteten sich die Blüten.

Die weißen Fluten schwebten wie ein Nebel, wie ein Hauch; allmählich verglitten sie, lösten sich auf in der Luft – und wieder wogte das Korn im bläulichen Ährenschimmer. Die seltsame Lichterscheinung war zerstoben.

Ich ging nahe an das Feld heran. Weicher Duft flutete mir entgegen, wie von frisch gebackenem Brot. Auf den Ähren schwebten die kleinen Blütenfasern, leicht flatternd hielten sie sich fest und bebten unaufhörlich wie im Schauer des Erlebens. Ein seltenes Kreisen bewegte die Ähren, sie neigten und bogen sich und drehten die schlanken Köpfe und hoben sie hoch empor und senkten sie wieder. Doch wie ich auch spähte, die Lichtoffenbarung blieb erloschen, die Sekunden heiliger Empfängnis waren verflogen. – –

 

Mein Vater fühlte sich nun wieder Herr in seinem Hause, da die Nebenregierung sich entfernt hatte. Trotzdem sah ich seine Züge oft in einem Ausdruck der Verhärmung und aus tiefem Nachsinnen weckten ihn Lillis oder meine Worte.

Wenn er vom Felde heimkehrte, saß er vor dem Schlosse bei der Toreinfahrt in einem Strohlehnstuhl, der aus Ruppin stammte, stützte die Hand auf den Stock und sah unter dem weißen Schild seiner Mütze gramvoll vor sich hin. Tante Sophie stand dann noch sorgenvoller neben ihm und suchte ihm in ihrer teilnehmenden Art schwere Gedanken auszureden. Immer häufiger hörte ich den Namen Grosser – ich wußte, daß er der Hauptgläubiger meines Vaters sei und der Abnehmer seiner Fabriksware.

Eines Tages vernahm ich schwere Schritte im Vorhaus. Mein Vater trat zu mir ins Zimmer. Ich erschrak. Er kam nur, wenn etwas Böses drohte, irgend eine unheilvolle Gefahr nahe war. Nun setzte er sich nieder, seufzte tief und sah mich an mit seinen ernsten Augen, aus denen so viel Trauer und Güte blickten.

»Du – ich muß dir etwas sehr Unangenehmes sagen –.« Mir stockte das Herz. »Du weißt, der Grosser ist mein Gläubiger, er hat damals die Wechsel gedeckt, die ich für Franz unterschrieben hab'. – Ich hab' ein schlechtes Geschäftsjahr – ich konnt' ihm das Geld noch nicht bezahlen – und jetzt – jetzt halt –.«

»Bedrängt er dich?« rief ich erschrocken.

Der Vater nickte. »Ja – ich werd' mir schon helfen – aber für die nächste Zeit bin ich in Verlegenheit und da wollt' ich dich fragen. – Hast du nicht in Wien dort bei dem Erfinder etwas Geld liegen, mit dem du mir jetzt beispringen könntest?«

Bittend sah er zu mir auf mit dem Jahrhunderte alten Blick. Ich war tief erschüttert. Der Vater, der so viele Opfer für uns gebracht, mußte sich bittend an sein Kind wenden, – es schien mir fürchterlich.

»Ja, Vater – es sind noch 10.000 Gulden dort, die gehören mir – gleich morgen fahre ich nach Wien und hole sie dir!« rief ich.

Da flog ein Leuchten über sein Gesicht, das braun und rissig war wie die Rinde der fünfhundertjährigen Eiche. Der alte Mann streckte wie in plötzlicher Freude die Hände aus und begann zu weinen. Ich sank erschüttert vor ihm nieder und bedeckte seine Hände mit Küssen.

Am nächsten Tage fuhr ich nach Wien zu Karl Strecker.

Der Erfinder empfing mich in seinem Palast. Kostbarkeiten umgaben ihn. Sein Sohn war eben ausgeritten, wie er erzählte, seine Frau in der Oper bei einer Matinée. Er fragte nach meinen Wünschen. Ich brachte nur einen vor, ich bat ihn, mir mein Geld überweisen zu lassen. »Ihr Geld? Was für ein Geld?«

»Das mir noch zusteht von jenem Ausgleich. Sie erinnern sich an unser letztes Gespräch in der Fensternische im Hotel –.«

»Ich erinnere mich an gar nichts«, sagte er kühl und seine Lippen schlossen sich dicht, als wollten sie keinen Hauch freigeben, geschweige denn ein Versprechen einlösen.

»Aber mein Gott, Sie haben mir doch 10.000 Gulden zugesagt außer dem Gelde, das mein Mann schon behoben hat!«

»Dann wird er wohl alles behoben haben –.«

»Nein, ich weiß genau, daß jene 10.000 Gulden noch nicht bezahlt wurden.«

»Dann werden Sie gut tun, sich an seine früheren Kompagnons zu wenden, mir ist, wie gesagt, von der ganzen Angelegenheit gar nichts bekannt –.«

Er wandte sich zur Tür. Durch die trat eben Frau Luise Strecker herein, in kostbarem knallrotem Brokat, mit den Worten der ehemaligen Platzmeisterin. Sie war gnädig und herablassend.

»Setz dich doch!« sagte ihr Mann. Und da kein Sessel in der Nähe stand, erwiderte sie grob: »Wohin denn? Auf'n Daumen, nöt?«

Ich eilte, mich zu verabschieden. »Sie verweigern mir die Herausgabe, Herr Strecker?« fragte ich noch.

»Unbedingt! Übrigens, wie geht es dem Herrn Gemahl?« Dachte er wohl dankbar an ihn, der seinen Reichtum begründet?

»Er ist auf seiner neuen Pachtung –.«

»Eine Pachtung – so, so? Keine Fabrik mehr?«

»Nein – als Versuchskaninchen ist er nicht mehr zu brauchen –.«

Herr Strecker lachte herzlich, meinte, ich hätte einen Witz machen wollen und wünschte mir Glück bei seinen verflossenen Kompagnons ...

Ich suchte sie nicht auf. Ich wußte, daß beide völlig verarmt waren. Mit leeren Händen und verzweifeltem Herzen kehrte ich zu meinem Vater zurück.

Er tröstete mich. »Wenn's halt nicht ist, kann man nichts machen«, sagte er. »Ich hab' mir gedacht, daß du nichts bringen wirst, und hab' beim Grosser wieder einen neuen größern Kredit aufgenommen. Er hat mich dafür im Preis gedrückt, aber es blieb mir schon nichts anderes übrig. – Hoffentlich haben wir ein gutes Spiritusjahr!« Sein goldiger Optimismus schlug überall vor.


 << zurück weiter >>