Otto Stoessl
Nachtgeschichten
Otto Stoessl

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Geli Tassai

Bruchstück aus einem Alltagsleben

»Romantik der Banalität« –

»Das ist mein Unglück, daß ich von Wien nicht fortkann, sonst hätte ich es gut in der Welt draußen,« sagte die junge Näherin, indem sie mit ihren langen, schmalen, braunen, gepflegten Fingern ein Stück Stoff unter die Maschine schob. Dann entzündete sie eine Zigarette, im Rauchen begann sie zu treten und unter dem gleichmäßigen Surren der Räder, zwischen einem Zug und Dampf und dem nächsten, oder beim Abhaspeln oder Einfädeln, oder beim Einklappen des Füßchens erzählte sie weiter, ohne dabei die Arbeit zu lassen. Wenn sie aufblickte und einen voll ansah, erkannte man, wie hübsch sie eigentlich war. Sie hatte den schweren Augenaufschlag der Langbewimperten mit einem gutmütig heiteren, gelassenen dunkeln Blick. Ihr bleiches, bräunliches, wohlgebildetes, ein wenig gepudertes Gesicht, ein richtiges Stadtgesicht, schien mehr zu wissen, als sie selbst wußte mit ihren drei- oder vierundzwanzig Jahren. War sie über ihre Näherei gebückt, so nahm man von ihrem Kopfe nichts, als einen zusammengehaltenen schwarzen Haarknoten wahr, der unter einem Sammetbande an die Schläfen je eine glatte schmale Welle hinabließ, hinter der das flüchtige Profil, die 276 ein kleines bißchen eingesattelte, vorne zu breit ausladende Nase und die stets zu einem Lächeln entschlossenen vollen Lippen mit ihren gekräuselten Winkeln wie aus einem Versteck hervorlugten. Beim Lachen zeigte sie die unregelmäßigen, früh angegriffenen Zähne mit den prahlerischen Goldplomben, zeigte aber auch eine unverkümmerte frische Jugend, die bei den Arbeitsgeschöpfen immer wieder überrascht. Übrigens war sie hochgewachsen, schlank, eine schöne Figur und beweglich und gelenkig.

»Vor dem Krieg bin ich viel herumgekommen, wohin ich wollte, und wo ich etwas verdienen konnte, denn arbeiten hab' ich immer müssen, als Kind den ganzen Tag lernen und dazwischen der Mutter helfen in der Küche, beim Geschirrwaschen, Wege machen, einkaufen, besorgen und später erst recht nichts als arbeiten. Und der Mutter muß ich auch jetzt helfen. Bevor ich nähen gehe, hab' ich schon zwei Stunden in der Früh mit ihr beim Zahnarzt aufgeräumt, den sie bedient, Zimmer gebürstet, Teppich geklopft, Staub abgewischt, und wenn ich abends nach Hause komme, muß ich meine zwei Hunde, zwei echte schottische Schäferhunde, spazieren führen, beim Nachtmahl helfen, meine eigenen Sachen flicken und putzen. Es wird immer zwölf, eins, bis ich ins Bett komme. Die Hunde schlafen längst oder sind wieder wach und raufen schon. Um meine Papiere hat sich vor dem Krieg kein Mensch gekümmert. Gehts denn jemand an, gibt mir doch keiner was! Jetzt nimmt einem aber noch jeder was! Das ist das Wahre! 277 Im vorigen Herbst hätte ich einen schönen Vertrag gehabt für die Schweiz als Tänzerin. Tanzen ist feiner, als Maschinenähen. Ich habe einen Tanz mit einer Kollegin einstudiert gehabt: sie als Pierette, ich als Pierrot. Für die männlichen Rollen braucht man große Personen wie mich. Man geht zu einem Tanzprofessor, der erfindet einem schon immer etwas Passendes und Neues und die Bewegungen studiert man dann zur Musik. Ich tanze sehr gern, aber nicht so besessen wie meine Freundin. Sie ist eigentlich Sprachlehrerin und gar nicht besonders hübsch, aber eine wunderbare Figur und herrliche Beine hat sie. Sie kennt keine andere Freude als Tanzen. Dabei ist sie eine kalte Person und will von den Männern nichts wissen. Das schadet aber einer Tänzerin in den Kaffeehäusern oder Bars. Ich bitte Sie, in den Pausen schicken einem die Leute doch Karten oder winken einen an den Tisch. Da muß man hingehen, nicht wahr? Sich ein bißchen zu ihnen setzen, ein Glas Wein trinken, eine Zigarette rauchen, plaudern oder so. Was weiß ich! Das gehört sich, man braucht sich darum mit den Männern nicht viel abzugeben, aber man darf sie auch nicht vor den Kopf stoßen. Ich bin mit den Gästen immer recht gut ausgekommen. Nach einer Weile steht man auf und empfiehlt sich. Aber meine Kollegin will von der Gesellschaft gar nichts hören, sie will bloß tanzen. Sie kümmert sich auch nicht weiter um ihr Äußeres, was sie trägt ist ihr gleich, sie hat kein Geld, sich schöne Kleider anzuschaffen, so lange sie von ihren Sprachstunden 278 leben muß. Der Bar-Wirt wollte sie überhaupt nicht aufnehmen, weil sie so schäbig war. Er sieht doch die Tänzerinnen vor allem auf ihr Gesicht an, natürlich auch auf ihr Auftreten. Sie aber geht erst auf, wenn sie tanzt; in ihrem Kostüm erst geht sie auf. Dann brennt sie ordentlich! »Lassen Sie sie doch, wenn sie nicht will! Lassen Sie sie nach dem Tanz weg, ich bleibe dafür länger und unterhalte mich mit den Leuten,« hab' ich ihm angetragen. Er hat's aber nicht erlaubt, daß sie nach ihrem Tanz verschwindet, und ich habe ihr in Gottes Namen eine Toilette nähen geholfen. Was soll man tun? Sie haßt die Männer und reizt sie doch irgendwie – mein Gott, dazu ist ja der Tanz – und wenn einer unter dem Tisch ihr Bein berührt, ist sie imstande und gibt ihm eine Ohrfeige. Welcher Wirt duldet solche Auftritte in einem ordentlichen Lokal! Aus ist's mit dem Engagement und sie kann wieder ihre Lektionen suchen. Sie hält's aber ohne Tanzen nicht lang aus, sie versucht's von Neuem, sie wird in dem Punkt freilich nie gescheiter und darum wird sie auch nie beim Tanzen bleiben können, trotzdem sie eine wirkliche, richtige Fußspitzentänzerin ist, technisch vollkommen ausgebildet, fast schon von Natur und dann mit aller Übung. Ich kann lange nicht so viel, woher denn auch! Der Fußspitzentanz ist grausam. Man bekommt vorn in den Schuh ein Stück Gips, damit das Gewicht den Zehenstand stützt. Das tut anfangs bei jeder Bewegung furchtbar weh – können Sie sich denken – bis sich die Zehen endlich verhärten. 279 Man gewöhnt es schwer, aber dann sieht es aus, als wenn man fliegen möchte.

Richtig, unser Tanz: Der Pierrot wirbt um die Pierrette. Sie will erst gar nichts von ihm wissen, sie schwebt allein, er im Kreis um sie herum, er bittet, er schmeichelt, das muß man alles richtig ausdrücken, und sie wird allmählich geneigt. Sie tanzen zusammen, endlich hebt er sie hoch auf und wirbelt mit ihr davon. Das macht sich sehr schön. Diese Szene und noch einige andere hätten wir in der Schweiz aufführen sollen, meine Freundin auch noch Solotänze. Aber was nützt das alles: ich habe keinen Paß bekommen. Ich bin nämlich nach Jugoslawien zuständig, das heißt nach Ungarn, oder eigentlich jetzt nach Kroatien, nach dem abgetretenen Gebiet, nach Agram, aber in Wirklichkeit gehöre ich seit dem Krieg nirgends hin. Ich bin nämlich ein uneheliches Kind. Mein Vater war aus Agram und auch meine Mutter kommt von dorther. Ich habe mich beworben, daß sie mich in Agram einschreiben. Sie finden aber nichts in den Matrikeln, haben sie geantwortet. Heute ist meine Mutter nach ihrem Manne zuständig, den sie nach dem Tod meines Vaters geheiratet hat, na, sie lebt halt mit ihm, aber das hilft mir gar nichts, denn ich gehöre ja meinem Vater zu. Eine schöne Wirtschaft, muß man sagen! Überhaupt mein Vater! Hat sich gut aufgeführt! Wie er siebzehn war, ist er mit meiner Mutter zusammengezogen und außer mir sind noch zwei Kinder gekommen, aber Gott sei Dank ist keins am Leben geblieben. Er war 280 lungenkrank und dabei ein Mordslump. Mit meiner Mutter war er jede Weile verzankt wegen seiner Untreue. Bei der Versöhnung, zweimal, hat er ihr wieder ein Kind angehängt. Aber zum Schluß hat er sich weder versöhnt, noch überhaupt um uns gekümmert. Er hat damals eine neue Geliebte gehabt, und wie er im Spital gelegen ist, hat mich meine Mutter hingebracht, damit er mich doch sehen soll, und auch die andere war dort. Er hat uns, aber auch die andere verleugnet. Es war ihm wohl vor den Spitalschwestern nicht angenehm. Er kennt uns gar nicht. Meine Mutter ist nicht seine Frau, sagt er. Er dreht sich zur Wand um. Aber meine Mamma läßt sich nichts gefallen. Oho! schupft sie den Kopf und hält mich in meinen Deckerl in die Höh': »Ich bin nicht die richtige Frau? Möglich! Aber das ist schon das richtige Kind!« Beim Leichenbegängnis hat sich seine Mutter, auch so eine Wilde, vor Verzweiflung nicht halten können. Sie reißt mich meiner Mamma weg und hebt mich – in Windeln und Steckpolster – hinauf, als möchte sie mich ihm gleich in die Erde nachwerfen: »Die da soll auch nicht leben.« Meine Mamma hat mich ihr weggerissen, können Sie sich denken, und so haben sie fast gerauft und dann geweint, wie es halt so gekommen ist, was weiß ich! Also, kurz und gut, ich habe keine Papiere, und ohne Urkunde nehmen sie mich nirgends auf. Auch hier in Wien nicht, wo wir schon zwanzig Jahre leben. Meine Mutter hat jetzt einen Eisendreher, der hat sie schon geliebt, bevor sie meinen Vater hatte und 281 nachher hat er sie in Gottes Namen mitsamt dem Kind genommen. Er ist auch sehr gut zu mir, überhaupt ist er ein anständiger Mensch, nur ein bisserl wunderlich, er will bloß Ruhe haben, niemand darf zu ihm sprechen, meine Mutter darf ihn nicht berühren, nicht einmal zufällig, er lebt mit uns, aber ganz allein. Weiß ich, warum er eigentlich mit der Mamma lebt? Es gibt solche Männer. Meine Mutter ist mit mir viel strenger als er. Oft muß er mich vor ihr schützen. Sie ist sehr jähzornig, ein Wort bringt sie oft in Wut. Sie kann sich nicht daran gewöhnen, daß ich doch schon erwachsen bin, und wenn sie über irgend etwas böse wird, schlägt sie mich wie ein kleines Kind. Noch heute setzt's Ohrfeigen genug! Sie meint's nicht so arg, aber sie sagt immer: man muß streng sein, sonst arten die Kinder aus, und meinem Verehrer sagt sie vor mir, ich bitte Sie – er soll mich nur schlagen, wenn ich ihm nicht folge. Das könnte mir noch gerade fehlen. Da schlage schon eher ich! Aber sie ist doch eine gute Person und hat mich sehr lieb. Sie hat viele Opfer für mich gebracht und mich immer ordentlich erhalten und erzogen. In Wien verlangt man für die Zuständigkeit diese elenden Papiere, so wird's ewig nichts damit. Heiraten geht eher, darum will ich, daß mich mein Verehrer heiratet, der ist ein Wiener, dann bin ich frei, bin nach Wien zuständig, kann jederzeit einen Paß bekommen und fort, wohin ich will. Aber dem paßt's wieder ganz gut, daß ich hier eingesperrt bin, denn er möchte lieber so mit mir leben. Das ist einfacher, bequemer, 282 natürlich! bevor man sich bindet, muß man eine Frau erst kennen lernen, sagt er, und das kann man nur, wenn man mit ihr lebt. Ausprobieren wie ein Kleid! Und dazu ist er noch so eifersüchtig, als wenn er mich gekauft hätte. Kommt er mir auf was, sagt er, so schüttet er mich mit Vitriol an, daß mir der Spaß vergeht. Untreue! Untreue! Ich gebe nichts auf die Männer, aber zwingen laß ich mich schon gar nicht. Er soll mich erst ordentlich halten wie eine Frau! Aber er zieht die Sache herum, bis mir einmal die Geduld ausgeht, oder bis ich was Besseres finde. Ich steh nicht auf ihn an. Er eifert mir zu viel. Warum auch gerade er? Den Sommer probier' ich's noch mit ihm. Er ist Photograph. Kein gelernter, wissen Sie! Er hat reiche Eltern gehabt, die haben ihn verwöhnt. So hat er nichts Ordentliches gelernt, der Strick, aber solange die Eltern gelebt haben, immer gut gegessen und getrunken und alles gekauft und getrieben, was ihm Spaß macht. Nun, da war er auch Amateur. Im Krieg hat er sich damit gut durchgeschwindelt. Alle Offiziere hat er aufgenommen und ihre Weiber und hat sich wirklich, wie man sagt, bei allen ein »Bildel« eingelegt. Er hat sich ganz durch den Krieg durchgeschwindelt. Und jetzt nützt ihm der Apparat. Er braucht nichts anderes. Er stellt sich auf, wo viele Leute hinkommen oder vorübergehen, zum Beispiel im Prater vor dem dritten Caféhaus, oder in der Freudenau vor dem Rennen oder in Maria Taferl vor der Wallfahrtskirche oder so, und er schickt auch ein paar Agenten herum, 283 mit denen er sich teilt. Die sprechen die Leute an. Kommt ein Automobil, so kann man die Herrschaften aufnehmen. Oder einen eleganten Hund, den man hineinsetzt. Das gibt ein sehr spaßiges Bild. Oder eine Hochzeitsgesellschaft oder einen Heurigentisch, was es halt für Gelegenheiten gibt. Er verlangt eine Angabe und dann macht er das Bild. Er ist sehr anständig. Nur wenn die Aufnahme gefällt, verlangt er den ganzen Rest, sonst behält er nur die Angabe. Wenn die Leute ordentlich verdienen und Geld haben, geht das Geschäft recht gut. Er selber muß freilich auch aufhauen und bei den Wirten Zechen machen, damit sie ihm helfen. Darum trinkt er überhaupt so viel. Was weiß ich. Im Sommer grast er einen Kurort ab oder mehrere. Ich werde ihm beim Entwickeln helfen. Ist er dann nett mit mir, na, meinetwegen, in Gottes Namen, aber wenn nicht, dann viel lieber nicht. Er ist der letzte, auf den ich fliege, trotzdem er nicht übel aussieht: groß, weiße Haut, gutmütig, solange es nach seinem Sinn geht. Überhaupt die Männer, sie können mir gestohlen werden, man findet immer wieder einen, das wäre das wenigste! Ich möchte tanzen! Mit dem Maniküren und Violinunterrichten geht es ja nicht auf die Dauer. Das Nähen ist auch nicht das Schönste. So gebückt dasitzen den ganzen Tag! Ich habe genug gelernt und angefangen. Immer war die Mamma dahinter. Schon als Kind habe ich mich plagen müssen, jeden Tag mit etwas anderem. Einmal hat sie in der Operette einen Chor gehört, der ihr gefallen hat. Gleich hat 284 sie mich in eine Chorschule gesteckt, damit ich singen lerne. Nach der Volksschule habe ich geigen angefangen, leider nicht fertig, es war doch zu teuer, aber bis zur fünften Lage bin ich gekommen und jetzt gebe ich Stunden. Ich habe auch meinen Stiefvater soweit unterrichtet. Wenn er einmal ohne Arbeit ist, trete ich ihm meine Lektionen ab. Er ist sehr musikalisch und hat überhaupt sehr geschickte Finger. Aber jetzt sind die Zeiten zu schlecht, nur für das Flicken und aus alten Sachen neue machen, haben die Leute Geld – so muß ich in den Häusern arbeiten. Vielleicht, wenn ich als Näherin einen regelmäßigen Erwerb nachweisen kann, macht mich die Gemeinde doch zuständig, und dann plagt er mich weniger mit seiner Eifersucht. Als wenn das Hausnähen ein Hindernis wäre!

Zufällig hat mich gestern wieder einer angesprochen, wie ich auf die Tramway gewartet hab', ihm hat's zu lang gedauert, er winkt ein Auto und ladet mich ein und bringt mich hierher. Am Abend erwartet mich mein Verehrer mit Vorwürfen, er schläft die Nächte nicht mehr vor Aufregung, bei Tag kann er nicht mehr arbeiten, weil ich so bin. Ich bin gar nicht – das heißt er: so sein. Jeder will mich abhalten, mich mit Gewalt beschützen, lauter Vorsichten und Ängste! Was hilft's, wenn ein Mädel doch Geld verdienen muß! Arme Leute dürfen sich vor nichts grausen. Der Bauer muß auch den Mist anrühren. Meine Mutter wird das nie einsehen und glaubt, sie kann mich noch heute behüten und 285 erziehen. Was ich alles erfahren muß, das ist ihr einerlei. Da macht sie die Augen zu und glaubt, es ist nicht auf der Welt. Aber was sie sich unnütz einbildet, das wirft sie mir in den Weg. Sie tut mit mir wie mit einer Prinzessin. Aber die Prinzessin darf Schweine hüten. Komisch sind die Menschen, was? Wie ich dreizehn alt war, hat ihre Angst angefangen. Mit keinem Manne gehn! Keine Berührung dulden! Nicht einmal reden! Um Gotteswillen! Nur keinen Kuß! Das ist das Ärgste. Davon bekommt man ein Kind. Der Bauch wird einem aufgeschnitten, fürchterliche Schmerzen muß man ausstehen und so weiter. Ich Afferl hab ihr natürlich alles aufs Wort geglaubt mit meinen dreizehn Jahren und hab mich in acht genommen wie vor dem Teufel. Nett war ich immer angezogen, hübsch für mein Alter, auch ganz gut gebaut, fast schon so groß wie heute. Nachmittags, im Frühjahr, bin ich spazieren gegangen, mit Freundinnen, aber auch allein, selbstverständlich, die Mamma hat mich nicht von ihrer Arbeit weg begleiten und ausführen können. Man muß doch ins Freie kommen. So hat sie mich mächtig gewarnt und angepredigt und dann hab' ich in Gottes Namen gehen dürfen. Am liebsten in den Stadtpark wegen der vielen schönen Toiletten. Dabei unterhält man sich und lernt auch selber was. Einmal hab' ich mich auf einer Bank beim »Donauweibchen« ausgeruht. Neben mir sitzt ein Offizier ganz prächtig, macht mir freundliche Augen. Ich schaue zurück und lach'. Was ist dabei? Nun, es ergibt sich ein Gespräch. Man muß doch 286 antworten. Ich bin ohnehin bald aufgestanden. Er fragt, ob er mich begleiten darf. Er geht mit mir. Davon bekommt man gewiß noch kein Kind. So viel hab' ich schon verstanden. An einem anderen Abend sitzen wir wieder auf der Bank. Er rückt ein bißchen näher zu mir, ich weiche aus bis an die Seitenlehne. Wie ich nicht mehr weiterrücken kann, umarmt er mich auf einmal und will mich küssen. Da hat er schon eine Ohrfeige mitten ins Gesicht. Er weiß nicht, was er sagen soll. Er zieht sich zurück. Er lacht, als ob es nur ein Witz gewesen wäre, zuerst bittersüß, dann immer süßer, er war nicht einmal bös'. Er hat mich später noch manches Mal gesehen und immer freundlich gegrüßt und angelacht, aber gesprochen haben wir nicht mehr miteinander. Ich habe mich damals sehr geschämt, und er hat vielleicht Respekt vor mir gehabt, wenn er mich auch gewiß eine dumme Gans geheißen hat. Um diese Zeit habe ich meinem Onkel in seinem Friseurgeschäft geholfen. Er hat es ohne Gehilfen versorgt, und weil ihm die Arbeit doch zu viel war, hat er mich zum Einseifen angelernt. Dafür hat er mir auch das Frisieren und Maniküren beigebracht. Meine weichen Patscherln haben sich die Herren ganz gern auf den Wangen gefallen gelassen. Ich habe gute Trinkgelder bekommen. Da war immer auch ein junger Bursch unter den Stammkunden, der mir schon längst nachgestiegen war und liebe Augen gemacht hat, der ist jeden Tag zum Rasieren erschienen. Er hat's wirklich noch nicht gebraucht mit seinem Milchgesicht. Aber 287 ich hab den eingeseift wie jeden andern. Abends, wenn wir geschlossen hatten, war er auch pünktlich da, hat mich an der Ecke erwartet und wir sind miteinander spazieren gegangen. Er war Lehrling bei einem Feinmechaniker und hatte sogar schon einen ganz hübschen Verdienst. Er war lieb zu mir. So zärtlich hat er mich angeschaut! Ich habe mich gern mit ihm unterhalten, man hat bei ihm gar nichts schlechtes denken können, er war unschuldig wie ich, vielleicht, o ja, noch unschuldiger. Aber um so erfahrener hat er sich aufgespielt. Er hat mir viel gute Lehren gegeben. Ich soll nur ja mit niemand in ein fremdes Haus gehen, auch nicht mit Damen, die mich freundlich einladen. Ich soll mich auf keine Bekanntschaften einlassen – die seinige natürlich ausgenommen – alle Gefahren hat er mir beschrieben, von denen er gewußt hat, und vielleicht habe ich schon mehr davon gewußt als er. Zu Hause soll ich ja nichts naschen und den Eltern kein Geld aus der Lade stehlen, damit ich nicht in die Besserungsanstalt komme. Daran hätte ich wieder nicht gedacht. So haben wir uns recht gut vertragen. Einmal in einer dunkeln, stillen Gasse bittet er mich recht innig und anständig um einen Kuß. »Nein, lieber Fritz, nur das nicht! Was nützt es! Wenn ich mich von Ihnen küssen lasse, so merkt's doch die Mamma gleich zu Haus, und ich habe den ärgsten Verdruß, weil ich ihr was verheimlichen will. Spazierengehen, meinetwegen, das sieht sie mir nicht an. Aber nur keine Heimlichkeiten.« »Gut, wenn Sie mir keinen 288 Kuß geben dürfen, Fräulein Geli, so müssen wir was anderes unternehmen.« Ich habe nicht verstanden, was er damit meint, er ist mit mir nach Hause gegangen, hat sich nicht abhalten lassen, ich habe gezittert und geweint, ihn hat das gar nicht gerührt, er hat mich nur stolz angelacht. Er tritt mit mir ein. Die Mamma schaut ihn groß an, er macht ein Buckerl, er bittet um die Hand des Fräulein Tochter. Wir sollen uns mit Erlaubnis verloben. Jetzt stellen Sie sich meine Mamma vor. Sie kommt in die größte Wut, ganz rot im Gesicht: sie dankt für die Ehre. Was fällt ihm denn ein? Ob er sie verhöhnen will, ob er sich einen Spaß mit uns erlaubt? Was er sich von mir denkt? Der arme Fritz ist leichenblaß. Solche Kinder wollen Mann und Frau spielen! Die Geli mit fünfzehn und der Herr mit den ernsten Absichten mit sechszehn Jahren? Was sollte daraus werden! Verloben? Sonst hat er keine Schmerzen? Er möchte nur brav weiterlernen und ordentlich arbeiten, empfehle mich sehr, habe die Ehre! Damit steht sie auf und winkt ihm einen Abschied. Dem armen Teufel hat es die Rede verschlagen, er bringt kein Wort mehr heraus, langsam geht er rückwärts und schaut mich dabei an, bis er zur Tür draußen ist. Ich habe wohl auch ein dummes Gesicht gemacht, und dann hat sie gegen mich losgelegt. So schaut meine Erziehung und mein Gehorsam aus! Auf solche Dinge hätte ich meine Gedanken, statt auf meine Arbeit! Noch einmal sollte sie so was hören! Dabei macht sie eine Bewegung, so von rechts nach links, 289 mit ihrer rechten Hand. Nicht einmal zu weinen hab' ich mich getraut, solange sie im Zimmer war. Eine Woche hat sie mich nicht angeschaut, kein Wort zu mir geredet. Am ganzen Leib hab' ich gezittert, wenn sie so stumm umeinandergegangen ist. Zum Friseur hab' ich natürlich nicht mehr dürfen. Den Fritz hab' ich dann auch nur mehr sehr selten gesehen, bloß ganz von weitem und dann hab' ich mich kaum hinzuschauen getraut. Wie der Krieg ausgebrochen ist, hat er einrücken müssen. Das hat er mich noch wissen lassen. Damit war die Geschichte zu Ende, ohne Abschied, ohne alles.

Daß es aber mit der Liebe und mit den Männern anders aussieht, und daß man sich schon darum kümmern muß als junges Mädel, das hab' ich schließlich ohne meine Mamma selbst gelernt. Man interessiert sich immerhin dafür. Den Fritz aber hab' ich gestern wieder gesehen. Denken Sie sich. Nichts ist ihm im Krieg geschehen. Groß und stark ist er geworden. Ich war mit meinem Verehrer im Gasthaus Nachtmahl essen. Mein Herr Fritz sitzt uns gegenüber mit einem Frauenzimmer. Nun, sie war nichts Besonderes, aber er sieht sehr erwachsen und männlich aus, elegant. Schöne Goldzähne hat er, englischen Schnurrbart, er hat mich immerfort fixiert, ich hab' ihm gut gefallen, vielleicht ebenso gut wie damals. Aber er erkennt mich nicht.

Bald nach dieser Geschichte habe ich wieder einen Erwerb gesucht. Ich habe mit einer Freundin den »kleinen Anzeiger« in der Zeitung studiert. Da war 290 eine Annonce: Kopfmodell gesucht. Das hat mich interessiert. Die Freundin war bucklig. Sie hat zwar ein ganz hübsches Gesichterl gehabt, aber daß sie als Modell nicht zu brauchen war, konnte ich mir gleich denken. Aber es war ganz gut, daß sie mich hinbegleitet, damit ich nicht allein zu dem Maler ins Atelier muß. Meine Mamma war auch einverstanden; ein Kopfmodell, das geht schon! Geld haben wir auch gebraucht. Also muß man nehmen, was es gerade gibt. Wir zwei kommen hin. Es war in einer großen Villa in Grinzing: schöne Teppiche, Waffen, Bilder. Eine ältere Dame mit grauen Haaren empfängt uns und schaut uns an und ist freundlich mit uns. Dann führt sie uns in das Atelier. Der Maler ist auch schon ein älterer Mann, sein Schnurrbart war schwarz gefärbt. Er schickt meine Freundin höflich fort, aber mich kann er brauchen. Ich bin dann jeden Tag hingegangen, er hat mich gut bezahlt und anständig behandelt. Er hat kein unrechtes Wort zu mir gesagt und auch die Frau war lieb zu mir. Nur hat die Geschichte wieder nicht lange gedauert. Eines Tages sagt er, er will ans Meer, nach Dalmatien reisen, jedenfalls nach dem Süden und möchte mich mitnehmen. Es sollte mir an nichts fehlen. Er und seine Frau werden mich wie ihre Tochter behandeln, aber er braucht mich als Aktmodell. Ich wäre gerne mitgegangen. Ich hätte mich nicht gefürchtet. Ich hätte ein Stück Welt gesehen, ich wäre gut verpflegt und aufgehoben gewesen, bezahlt auch noch, es waren anständige Leute, nichts wäre mir 291 geschehen und vielleicht wollten sie dem Krieg aus dem Wege gehen, denn sie waren gewiß sehr reich. Aber das hat meine Mamma nicht mehr erlaubt. Aktmodell! Ich bitte Sie! Als ob er mir hätte etwas wegschauen können! So bin ich eben leider noch in Wien geblieben. Da ist es nun von Tag zu Tag schlechter gegangen. Das können Sie sich denken. Nichts als Hunger. Kein Geld! Keine Arbeit, keine Verwandten oder Bekannten, die uns hätten helfen können. Alle haben selbst gehungert. Endlich kommt meine Mamma auf die Idee, ich soll in die Heimat, nach Agram, fahren. Dort lebt noch die Großmutter, die Mutter meines Vaters, bei der könnte ich gewiß wohnen, in Ungarn gibt's Lebensmittel genug, dort braucht niemand zu hungern, und wo es Brot gibt, da gibt's auch Arbeit. So bin ich gleich hingefahren. Meine Großmutter hat mich richtig aufgenommen. Erst hab' ich im Theaterchor gesungen, dann war ich Näherin in Häusern, zusammen mit einer Kusine, die auch bei der Großmutter gewohnt hat. Eine Vermittlerin hat uns Arbeit verschafft. Einmal gibt sie uns eine Adresse in eine Villa, eine Stunde weit weg von der Stadt. Dort sollen Ballkleider und ganze Ausstattungen für Damen gemacht werden. Arbeit für ein paar Wochen, Kost und Quartier und recht anständigen Lohn. Wir haben uns also auf den Weg gemacht. Eine sichere Arbeit für lange Zeit war damals schon eine recht gute Sache. Da wir die Gegend nicht kannten, mußten wir uns oft nach dem Wege erkundigen. Ein Herr, an den wir uns wandten, 292 fragte erstaunt: Was haben die Damen denn dort zu tun? Wir sollen dort arbeiten. Er zuckt die Achseln und beschreibt uns den Weg. Endlich kommen wir in eine ganz einsame Gegend: Felder, kleines Gehölz, an der staubigen Landstraße nur mehr einzelne Häuser Eine Herrschaftsvilla mitten in einem großen Garten. Ein Portier läßt uns ein. Im Garten ging es recht munter zu. Auf einer Bank sitzt eine Dame in einem ganz leichten roten Gewand, wie ein Hemd, und kämmt ungeniert ihr schönes, langes, blondes Haar und lacht uns dabei an. Andere Damen sind paarweis untergefaßt gegangen mit Lachen und Singen. Vom Fenster haben welche heruntergeschaut und gewunken und denen im Garten unten zugerufen, andere haben sich vor dem Spiegel geschminkt und das Haar gebrannt und gewickelt und die alten Papilloten hinuntergeworfen. Im Haus ist uns gleich die Dame entgegengekommen und hat uns begrüßt. Aus den Türen – im Vorzimmer waren lauter Türen – gucken zerzauste Köpfe, lachen, tuscheln, fragen, die Dame schreit sie auf ungarisch an, da schlagen die Türen zu. Krach! Uns führt man in ein lichtes geräumiges Arbeitszimmer, gibt uns schöne Stoffe, zwei vorzügliche Nähmaschinen stehen da. Kleider für viele Personen in allen Größen waren zu machen. Dann sind die Damen zum Probieren gekommen, und es hat sich herausgestellt, was für ein Haus es war. Es ist in seiner Art dort ganz ordentlich und anständig hergegangen. Uns hat niemand belästigt. Die Mädchen haben sich über uns gefreut, daß endlich 293 jemand Unbekannter, Neuer da war, mit dem man sprechen konnte. Sie haben uns allerhand erzählt. Manche waren lustig, manche waren traurig, manchen war alles eins. Sie haben zum Verdienen schauen müssen und von ihrem Geld dem Hausherrn für Kost und Wohnung, für Kleider, Wäsche und Bedienung recht viel abliefern. Das übrige hat ihnen gehört, und jede hätte sich schon was ersparen und eines Tages weggehen können, wenn es ihr gar nicht mehr gepaßt hätte. Keine war gefangen, keine ist gezwungen hingekommen, im Gegenteil, man hat sie hingebracht oder sie haben sich angeboten und sind nur nach einer Prüfung aufgenommen worden. Auch zum Trinken hat man sie nicht gezwungen, sie mußten bloß am Abend, bei Nacht im Salon sein, mit den Gästen plaudern, tanzen. Viele haben dort auch ihre Liebhaber empfangen. Den Hausherrn habe ich oft mit einer zanken hören, daß sie zu wenig verdient. Welche werden immer von demselben Herrn besucht und manche heiratet ihn, wenn er sie lange und gut genug kennt. Eine war recht traurig, eine junge Adlige aus einer sehr bekannten Familie. Der Verführer, ein Offizier, hatte sie selbst hier untergebracht. Sie hat mir alles erzählt. Ich habe sie gefragt, warum sie nicht von hier fortgeht. Sie antwortet: gelernt hat sie nichts, womit soll sie sich ihr Brot verdienen, harte Arbeit kann sie nicht leisten, wenn sie geht, bleibt ihr auch wo anders nichts anderes übrig.

Wir haben in Wien eine Bekannte, schon vierzig Jahre alt, noch heute ein schöne Person, die ist als 294 ganz junges Mädel aus Passion in ein solches Haus gegangen, wegen der Männer. Von dort hat sie einer weggeheiratet. Sie hat's aber weiter getrieben. Er hat sich müssen von ihr scheiden lassen. Ein zweiter heiratet sie, der selbst ein solches Haus führt. Sie hätte sollen als anständige Frau das Geschäft beaufsichtigen. Statt dessen hat sie es ärger getrieben, als ihre Mädel. Eines Tages aber war es aus. »Nie mehr«, sagt sie, geht davon, kommt nach Wien – sie war in Ungarn zu Hause gewesen – sie macht einen Gemüsestand auf und will von keinem Mann mehr etwas wissen. Lieber einen Strick um den Hals. »Nur keine Männer, Gela«, sagt sie mir immer. – Vier Jahre war ich in Agram, bis zu Ende des Krieges. Ich habe bei meiner Großmutter gewohnt. Die war ein merkwürdiger Teufel. Sie hat mich gern gehabt und bewundert. Bei Nacht hat sie mir im Schlaf die Haare aufgelöst und ausgebreitet und Blumen dareingesteckt. Dabei war sie aber streng und oft wild mit mir, und wie ich von der Näherei in dem gewissen Hause zurückgekommen bin, hat sie mich eine dumme Gans geheißen, weil ich nicht dort geblieben und selbst zu diesem Geschäft gegangen bin. Ich hätte das beste Leben gehabt, viel Geld, keine Sorgen, Verwöhnung und so weiter. Sie war wohl sehr arm und deshalb mag ihr dieser Erwerb ohne Plage schon recht gut vorgekommen sein. Auch eine Kusine hat noch bei uns in dem Zimmer gewohnt mit ihrem kleinen Kind. Ihr Mann war im Feld, dann gefangen, sie wußte nicht, ob er noch lebte und mußte sich und 295 den Wurm erhalten. Solange der Krieg dauerte, haben wir uns durchgefrettet, damals ist noch die Großmutter gestorben und beim Umsturz waren wir zwei Frauen allein ohne Arbeit, ohne Geld. Was sollten wir jetzt anfangen? Ich hörte, daß Leute mit Schmuggeln Geld verdienen. Es sollte nicht gar zu schwer sein. Die Grenzen waren noch nicht sicher, jedenfalls – hieß es – nicht vollständig bewacht, man konnte schon durchkommen, wenn man nicht zu unvorsichtig war. In Ungarn sollte es nahe der Grenze zu mäßigen Preisen Leinwand geben, die in Kroatien sehr gebraucht und gut bezahlt wurde. Wir kaufen also drüben mit unserm letzten Geld ein Stück gute Hauswebe, wir teilen sie. Jede wickelt sich zwanzig Meter um den Leib, sehr eng unter dem Rock, damit man nichts bemerkt. Mager waren wir ohnehin. Es hat wie ein Panzer oder wie ein Mieder gedrückt. In der kleinen Stadt, wo wir die Leinwand loswerden wollten, sind wir schön angekommen. Alle Juden waren schon damit versehen. Leinen? fragen sie, wozu Leinen? Saccharin hätten sie brauchen können. Kann man mit Leinen den Kaffee zuckern? Verzweifelt schleppen wir uns herum. Wir haben nur noch Geld für diesen einen Tag. Meine Kusine trägt noch das Kind und wenn es trinken will, hat sie die größte Not, sich aufzuwickeln. Endlich hat uns ein Jud', der uns schon am Vormittag abgewiesen, aber auf die Leinwand spekuliert hat, am Abend um Gottes willen weniger dafür gegeben, als sie uns gekostet hat und wir durften noch froh sein, daß wir 296 sie überhaupt angebracht hatten. Fahrgeld, Übernachten, Essen abgerechnet sind wir zum Schluß mit einem Viertel des Geldes nach Agram zurückgekommen, das wir vorher gehabt hatten. Feines Geschäft! Damals war ich mit Paul verlobt, das war noch mein Glück, sonst wäre ich verhungert oder zugrunde gegangen, er hat uns gern geliehen, so konnten wir etwas Neues suchen. Der Paul war ein hübscher Mann, jung, Bezirkskommissär oder so etwas bei der politischen Behörde, schlank, elegant, gut angezogen, aus einer angesehenen Familie. Er hatte mich kennen gelernt, er liebte mich leidenschaftlich, er könnte ohne mich nicht leben, sagte er. Er war eifersüchtig auf mich, er zitterte, jemand könnte mich ihm wegnehmen, dabei hat er nichts von mir gehabt, als höchstens ein paar Küsse und auch die nur nach einem verzweifelten Bitten und Neinsagen. Ich hab' mich gewehrt wie gegen das Messer. Vielleicht, weil ich ihn auch gern gehabt habe, weil ich wollte, daß er etwas von mir hält, weil ich so ganz allein dort war, weil ich mich an meine Mamma erinnert habe oder bloß aus Dummheit, Gott, was weiß ich. Gerade, weil er mir gepaßt hätte. Also er hat mir Geld gegeben, ich habe es zwar nicht annehmen wollen, aber die Not war groß, meine Kusine hatte das Kind, wir wollten doch leben und hofften, wieder zu verdienen. Mit diesem Geld wollten wir bosnischen Tabak schmuggeln. Dafür haben wir uns eigene Hosen genäht, zwei übereinander. Dazwischen würde man die schmalen Schachteln einlassen. Natürlich 297 mußte man so erst gehen lernen, sonst merkt man das Gewicht gerade bei den Knieen. Der Schmuggel ist auch nicht besser geraten, als der mit der Leinwand. Die Zigaretten hat man nicht gemerkt, aber wegen einer Quarantäne mußten wir für ärztliche Untersuchung und Grenzaufenthalt allen Nutzen hergeben, den wir vom Verkauf der Ware erwarteten. Alles haben wir versucht. So habe ich mich in Agram durchgeschlagen, verlobt wie ein Fräulein, aber hundsmiserabel mit Arbeiten, Arbeitsuchen, mit Angst um den Verdienst und ewigen Schwierigkeiten. Tausend Verlegenheiten hab' ich ja dem Paul verheimlicht, oder ihm einen blauen Dunst vorgelogen, damit er mich nicht verachtet, denn Armut ist eine Schande, man kann sagen, was man will.

Eines Tages klopft es an meiner Tür. Wer tritt ein? Meine Mamma. Vier Jahre hatten wir uns nicht gesehen. Sie hat's ohne mich nicht mehr aushalten können. Wir haben uns umarmt und geweint, eine Stunde lang. Sie wäre schon längst gekommen, wenn sie Geld aufgebracht hätte. Seit Monaten hatte sie keine Nachricht von mir. Alle Briefe sind verloren gegangen. Sie dachte daran, ob man mich nicht per Schub nach Wien zurückbringen lassen könnte, zuständig war ich ja nicht in Agram, minderjährig auch noch. Wenn mich die Mutter verlangte, konnte man mich vielleicht hier ausweisen. Die Wiener Polizei gab die Auskunft, man könnte mich schon von Agram verlangen, aber dann käme ich von einer Schubstation zur andern und müßte immer 298 solange warten, bis wieder genug Material für die Weiterbeförderung beisammen ist. Dieses Warten im Arrest müßte aber bezahlt werden, von den Flöhen und Läusen gar nicht zu reden. Das kam wiederum meiner Mutter zu hoch und sie hat darauf verzichtet. In der letzten Zeit, als die Briefe ausblieben, wurde es ihr ganz unheimlich um mich, überall Soldaten, Umsturz überall, Schießerei, Grenzstreitigkeiten, Durcheinander. Nicht einmal, ob ich noch am Leben war, hat sie gewußt. Endlich wollte sie mich selbst suchen. Sie sehnte sich nach mir. Monatelang hatte sie bei Nacht nicht mehr geschlafen aus Angst um mich. Was konnte mir alles passiert sein! Sie hatte eine Photographie im Kabinettformat von mir, wie ich vor vier Jahren ausgesehen hatte, eben erwachsen. Die ließ sie vergrößern und hing sie in einem schönen Rahmen über ihrem Bett auf, genau gegenüber dem Spiegel an der andern Wand. So konnte sie mich bei Tag entweder im Bilde oder im Spiegel sehen, wo immer sie im Zimmer war. Und bei Nacht machte sie Licht, so oft sie erwachte und suchte mich über ihrem Bett oder drüben im Spiegel. Jetzt war sie endlich glücklich bei mir. Arm wie ich, hatte sie ihre Wirtschaft, ihren Erwerb, den Mann, das Haus verlassen müssen, um herzukommen. Lange hatte sie aufs Reisegeld gespart, auch mit dem Paß lauter Scherereien, bis alles so weit beisammen war. Der Paß lautete nur auf wenige Tage. Jetzt wollte sie mich abholen und gleich mitnehmen. Sie konnte doch ohne mich nicht länger leben. In Wien würde 299 alles gleich besser gehen, wir würden beide verdienen. Es gab immer etwas, dort waren wir doch zu Hause. Ich müßte mit ihr zurück und gleich, denn zum Bleiben und Warten reiche der Paß und das Geld nicht. Wenn sie meine Mamma sehen möchten, würden sie nicht glauben, daß sie eine Arbeiterfrau ist, eine Bedienerin oder Wäscherin. Sie sieht gut aus, wie meine ältere Schwester, keiner möchte sie für meine Mutter halten. Sie hat auch schöne Kleider, Ringe, Uhr und Kette, so kam sie daher wie eine Dame. Und dann drückt sie sich auch gut aus, ganz nach der Schrift. Sie schimpft mich immer aus, daß ich so nachlässig rede. Sie spricht genau wie ein Buch. In ihrem Koffer hatte sie mir allerhand mitgebracht, was mir hier vielleicht fehlte. Es war schon gut, sie wieder zu haben: das Weinen, das Lachen, das Erzählen, das Fragen, das Antworten! Ja, aber fortgehen von hier! Ich war verlegen. Ich wollte anfangs nicht mit der Sprache heraus. Aber wenn meine Mamma fragt, kann ich ihr nichts verbergen, sie sieht es mir am Gesicht an. Also kommt gleich die Geschichte mit dem Paul heraus. Ich bin verlobt. Die Mamma macht große Augen. Ich kann mir denken, was sie sich denkt. Nichts ist geschehen! Nichts! Nun, sie kann es meinem Gesicht glauben, also gibt's ja weiter keine Schwierigkeiten. Nach Wien mit uns! Aber was wird der Paul sagen? Ich traue mich gar nicht vorzubringen, daß ich ihn gern habe, in dem Augenblick war er mir ja auch wirklich weniger wichtig. Sie hatte mehr ausgestanden um mich. Zu 300 ihr habe ich ja immer gehört, ich kann das nicht so sagen, aber mit der Mutter hängt man zusammen. Was weiß ich! An den Paul habe ich nur wegen der Auseinandersetzungen gedacht. Und vor denen habe ich mich gefürchtet. Heute kommt's mir selber merkwürdig vor, denn er war so lieb zu mir, so anständig, viel besser als ich, nie werde ich so sein, daß mich einer noch so gern haben kann, wie er damals. Gerade, weil wir nichts miteinander hatten. Aber die Mutter hat nur mich, sie kann für mich zugrunde gehen, verkommen, sie spart und hungert und bettelt und reist zu mir und ist schlau und eifersüchtig um mich. Ist das besser oder mehr, oder weniger, als wenn ein Mann ein Mädel haben will? Ist es nur anders? Aber mir kommt es irgendwie anständiger vor, irgendwie ist es doch das Höhere. Wegen einer Mutter kann man fromm sein, wegen eines Geliebten nur vielleicht schlecht. Was weiß ich! Nun, sie wollte selbst mit Paul reden.

Sie können sich die Unterhaltung vorstellen. Er wollte mich heiraten. In dieser Zeit heiraten, wo alles Geld wertlos, jede Stellung unsicher ist? Und dann bin ich noch viel zu jung. Wie lange war ich schon viel zu jung! Für sie werde ich immer zu allem zu jung sein. Was er denkt! Wenigstens ein Jahr möchte er sich noch gedulden, bis überall eine gewisse Ordnung ist. Gut, wir sind verlobt; das könnten wir ja bleiben in Gottes Namen. Niemand hätte was dagegen, aber um so weniger dürfte ich allein in Agram leben, das müsse er doch einsehen. Ich gehöre zur 301 Mutter, deswegen ist sie ja gekommen. Warum habe sie mich denn vier Jahre hier allein gelassen? Nun, weil sie gehofft hat, es geht mir hier besser, ich brauche nicht zu hungern. Aber jetzt ist es in Wien sicherer, und sie hält es ohne mich nicht mehr aus. Paul kam gegen ihren Willen nicht auf. Er hatte auch Respekt vor ihr. Meine Mamma benimmt sich ja und spricht sehr gut, und so oft er mich angeschaut hat, wenn ich etwas sage, hat sie mich auch gleich angeschaut. Da habe ich kein Wort hervorbringen können und ich habe mich gar nicht getraut, den Paul anzusehen. Ich habe mich vor der Mamma mehr geschämt als vor ihm. Ich habe geweint, als sie so über mich verhandelten, aber ich wollte es mir nicht merken lassen. Was blieb ihm endlich übrig, als schweigen, zustimmen, weil man ihn zwingt und weil ich nichts sage. Wir sollten verlobt bleiben, sollten uns schreiben und warten und jetzt sollte ich in Gottes Namen mit der Mamma fortfahren. Er hat mir sogar noch heimlich Geld zugesteckt, damit ich nicht in Verlegenheit komme, ich hatte ja auch Schulden in Agram. Einiges mußten wir noch kaufen. Zum Schlusse stellte es sich heraus, daß wir die Uhr meiner Mutter samt Kette, einen Ring und ein paar Schmucksachen von mir versetzen mußten, um genug Geld für die Reise zu haben.

Der Abschied von Paul war knapp – die Mamma war ja dabei. Er hat sich nicht einmal getraut, mich zu umarmen. Da bin ich ihm doch wenigstens anstandshalber um den Hals gefallen und habe ihn 302 schnell auf den Mund geküßt. Dann bin ich ihm und der Mutter davon in den Waggon gerannt.

Im Zuge waren wir so weit ganz gut untergebracht. Der Revisor fragte zwar nach dem Passe, aber in unserer Aufregung beachteten wir das gar nicht weiter, sondern sagten bloß: ja, ja. Erst auf der Fahrt fiel es uns ein, daß ich überhaupt keinen Paß hatte, denn nur meine Mutter hatte in Wien einen genommen und dabei vergessen oder gar nicht gewußt, daß sie hätte sollen vermerken lassen, sie hole die Tochter von Agram ab. Dann wäre die Sache in Ordnung gewesen, weil ich minderjährig war und zur Mutter gehört hätte. Das alles stellte sich in Marburg bei der Grenzkontrolle heraus.

Dort stand nämlich ein ekelhafter Kerl, der mich mit einem gemeinen Gesicht anstarrte und sich an meiner Verlegenheit freute, als ich auf seine Frage nach meinem Paß gestehen mußte, ich hätte keinen. Was nutzte es, daß ihm die Mamma erklärte, sie holt mich ab, ich bin ihre Tochter und so weiter? Das könnte jeder sagen. Er glaube es, aber er müsse es nicht glauben, er dürfe es gar nicht glauben, von Amts wegen habe er auf dem Paß zu bestehen. Was sollten wir also tun? Er zuckte die Achseln: zurück! Ohne Paß keine Durchfahrt! Schöne Geschichte! Wir berieten uns. Wir standen ein wenig abseits. Ein Kondukteur sah uns mitleidig an. Wir getrauten uns gar nicht, ihn zu fragen. Da meinte er, er könnte uns einen Rat geben, aber er könnte es doch nicht, denn es sei ihm schon einmal übel ausgegangen. Er meinte vielleicht: 303 Bestechung. Woher sollten wir das Geld dazu nehmen? Da fiel uns ein, wir kämen vielleicht zu Fuß über die Grenze und, erreichten wir nun den ersten österreichischen Ort, so war alles gewonnen. Also stiegen wir in den Gegenzug, nahmen Karten nur bis zur nächsten jugoslawischen Station, stiegen dort aus und sahen uns in der Gegend um. Ein Beamter war höflich mit uns. Wir gestanden ihm unsere Verlegenheit, er hörte uns mitleidig an. Ob wir denn nicht hier, nicht von ihm einen Paß, eine Durchreiseerlaubnis für mich bekommen könnten. Nein, so etwas dürfe er nicht ausstellen, aber vielleicht kämen wir anders durch. Er schien auf meine Absicht anzuspielen. Es war wohl nichts Ungewöhnliches, daß man hier schmuggelte, und wir konnten uns vielleicht selbst über die Grenze paschen. Nun, so schleppten wir uns mit unseren schweren Koffern zu Fuß fort. Den Weg kannten wir nicht, aber wenigstens die Richtung. Gar zu weit konnte es doch nicht sein. Es war ein Nachmittag, bedeckter Himmel. Wir hatten anständige Reisekleider, leichte Schuhe mit hohen Stöckeln, die schlechteste Ausrüstung für einen Fußmarsch. Wir stiegen über Wiesen, durch Gehölz, manchmal über Sumpfboden. Dann über Steine, denn es war nicht geheuer, auf der Straße zu bleiben. Darum konnte man auch keinen Wagen benützen, selbst wenn es einen gegeben hätte. Wir gingen immer mühseliger. Alle paar Minuten wechselten wir den Koffer von der rechten in die linke Hand und umgekehrt. Er wurde immer schwerer und stieß an die Kniee, an die Waden. Es half nichts, 304 wir mußten weiter. Es dunkelte schon, und auf einmal begann es noch zu regnen. Die Füße klatschen in den Schuhen. Wir weinten vor Müdigkeit und stolperten weiter. Wo sollten wir denn bleiben? Da war kein Ort zu sehen, kein Haus, nichts als Nacht. Nur gut, daß wir bei unserer Anstrengung keine Kälte spürten. Aber endlich waren wir mit unseren Kräften fertig Die Mamma stellt den Koffer nieder, setzt sich darauf, so, weiter kann sie nicht! Und wenn sie hier sterben muß! Wir machten einen kurzen Aufenthalt, aber als es immer stärker regnete, naß und durch bis auf die Haut, nahm sie doch ihr Gepäck auf und wir gingen weiter. Wir sahen nicht, wo wir waren, ob es der richtige Weg war. Wir konnten den Kopf nicht heben vor Müdigkeit, wir wären sicherlich umgefallen. Da stießen wir auf ein großes hohes dunkles Haus, es schien ganz aus Holz. Fast wären wir mit dem Kopf dagegen gerannt. Ein Glück! Wir setzten die Koffer nieder. Kein Licht brannte im Hause, aber als wir ganz still horchten, glaubten wir Stimmen drin zu hören und ich tastete mich nach der Türe. Sie stritten drin oder sprachen wenigstens laut, ich glaubte deutsch. Ich klopfte an der Tür. Als niemand antwortete, schlug ich mit den Absätzen ans Holz, bis endlich jemand über eine Treppe herunterpolterte und, ohne zu öffnen, fragte, wer da war. Beide zugleich antworteten wir: zwei Frauen allein, bitten um Unterstand für die Nacht. Nachher haben wir, meine Mutter und ich, davon gesprochen, was wir in diesem Augenblick und noch später, bis zum Morgen für Angst 305 ausstanden. Was hätte man uns dort alles tun können, Ausrauben wäre das wenigste gewesen. Totschlagen, ins Gehölz schleppen, nachher was weiß ich! Alles eins, nur Rasten! Die Tür öffnete sich, ein riesiger Mensch stand da und sagte nichts. Er hatte auch kein Licht. Wir wiederholten unsere Bitten. Ob wir nicht übernachten könnten. Er schüttelte den Kopf, er weiß nicht. Wir bitten dringend. Er mußte an unserem Weinen hören, wie es mit uns ausschaute. Schließlich brummt er etwas, das man so verstehen kann, wir sollen ihm folgen. Wir schlüpften durch die Tür. Sie schlug zu, wie eine Falle. So, jetzt mußten wir uns in der Stockdunkelheit ihm nachtasten. Wir gingen behutsam, aber unsere Koffer polterten bei jedem Schritt an die Holztreppen und machten einen Höllenlärm in der Finsternis. Wir tappten einen Stock hoch, dann durch einen schmalen Gang, dann wieder Stufen hinab, dann abermals hinauf, wieder durch Gänge. Endlich öffnete er eine Tür. Wir riechen: aha! eine Küche. Er brummte wieder: Hier könnten wir warten. Bett ist keines da. Aber hier sind zwei Holzstühle. Er führt uns hin. Ich habe an den Menschenfresser denken müssen, der zwei Frauenzimmer zum Braten herrichtet. Er war so maulfaul und riesengroß. Ein Stuhl war vor dem Herd, der andere an einem Schrank. Jetzt spürten wir auch ordentlichen Hunger. Ein Stück Brot! »Nichts zu Haus!« Wir seufzten. »Gute Nacht!« brummt er, verschwindet, schlägt die Tür zu. Wir sind allein. Wir schoben die Koffer an die Stühle und legten die Füße darauf. Den Oberleib lehnten wir 306 an den Herd, an den Schrank, so kauerten wir, und begannen jetzt erst zu frieren, wo wir langsam abtrockneten. Draußen hörten wir wiederum Stimmen. Was die besprachen oder berieten! Ob es uns anging? Aber sie wisperten nur und verstummten allmählich ganz. Das war noch viel unheimlicher. Wenn nur eine Ratte genagt hätte! Es war still wie in einer Gruft. Wo waren wir? Bei was für Leuten? Wohnten sie hier? War's eine Scheune? Feuergefährlich, baufällig oder verdächtig mit dieser Küche ohne ein Stückel Brot? Räuber? Schmuggler? Bauern? Was wird mit uns geschehen! Mit allen unsern Sachen? Bald war uns wieder alles gleich. Wir haben uns fast schon ohne Angst von allem unterhalten, was hier mit uns möglich war. Nur ausruhen! So schliefen wir auf unsern Stühlen zusammengehuschelt ein und es war schon hellster Tag, als wir erwachten. Das Haus war leer. Wir riefen zuerst leise, dann immer lauter. Niemand antwortete. Wir hätten gar zu gern wenigstens eine Schale Milch gehabt. Wir hungerten ja schon einen ganzen Tag und eine ganze Nacht. Endlich schlich ich selbst auf den Zehen durch die Gänge über die Stiegen und fürchtete mich, so oft es knarrte. Ich klinkte jede Tür vorsichtig auf. Es war ein großes Holzhaus, aber ganz ohne Einrichtung, verlassen, es gab wirklich kein Bett, und vielleicht waren unsere beiden Stühle in der Küche die einzigen im ganzen Gebäu. Wahrscheinlich war das Haus nur ein Unterschlupf für schmuggelnde Bauern, und heute waren sie längst davon. Als ich von ganz 307 oben bis ganz unten gegangen war und erst nur leise wie eine Katze, nachher immer freier gerufen hatte, aber ohne Antwort, fing ich vor Wut, aber auch erleichtert, laut zu lachen an, daß es nur so schallte und meine Mutter herauslockte. Dann haben wir freilich wieder geseufzt, als wir unsere Koffer anpacken mußten. Wir stolperten über die Stiegen ins Freie und machten uns von neuem auf den Weg.

Nach vielen Stunden waren wir richtig über die Grenze in der ersten österreichischen Station. Wir bekamen etwas zum Essen. Wir stärkten uns. Wir stiegen in den österreichischen Zug. Wir glaubten uns schon gerettet und sicher. Ja, was nicht gar! Bei der zweiten österreichischen Station schau ich zum Fenster hinaus. Genau in die zwei Augen von dem Scheusal von Marburg mit dem Teufelsgesicht. Er schaut mich scharf an, erkennt mich sofort, geht zum Zugführer. Ich habe mich sogleich in meiner Ecke geduckt und zu zittern angefangen. Der Zug hält. Alle Fahrgäste wundern sich, daß er nicht weiterfährt. Endlich erscheint der Teufel mit dem Revisor im Coupé. »Die Pässe, meine Herrschaften, wenn ich bitten darf.« Dieselbe Geschichte wie in Marburg! Der Revisor bedauert, er darf mich nicht weiterfahren lassen. Die Mutter kann nach Wien reisen. Ich muß zurückbleiben. Was soll ich denn tun? fragte ich verzweifelt. Der Teufel zuckt die Achseln: drüben in Jugoslawien einen Paß holen, anders gebt es nicht. Wieder will die Mutter mit mir aussteigen und zurück. Der serbische Teufel besichtigt noch einmal ihren Paß. 308 Das Visum gilt nur noch bis morgen. Morgen könnte also auch sie nicht mehr durch. Wir schauen uns an. Ich sage der Mutter, sie soll weiterfahren. Ich werde allein zurück, noch einmal mein Glück versuchen, was weiß ich. Es bleibt ja nichts anderes übrig. Ich steige also mit meinem Koffer aus, sie winkt mir verzweifelt aus dem Fenster. Ihr Zug fährt ab. Ich bin allein auf dem kleinen Bahnhof. Mein Geld war knapp. Ich wollte sparen und nicht noch einmal eine Karte nach dem verfluchten Marburg lösen. Ein Lastzug stand dort mit angeheizter Lokomotive: Richtung Marburg. Ich bat einen Kondukteur, er möchte mich so mit ihm zurückfahren lassen. Er nahm mich in Gottes Namen mit. Es war ein Zug mit vielen zerbrochenen, verdorbenen, beschmutzten Personenwagen, die nach Jugoslawien gebracht wurden. Er schob mich in einen, in ein verfallenes, verwahrlostes Coupé ohne Fenster mit Bänken ohne Überzug, aus den Kissen war sogar die Füllung herausgerissen. Schön sah es aus! Der Wind pfiff durch. Ich war da so elend, selber so ruiniert, daß ich auf einmal am liebsten nicht mehr leben wollte. Während der Fahrt wollte ich mich von einem Wagen zum andern nach dem Zugende schleichen und von dort – wir fuhren ja langsam – abspringen. Geschah mir nichts, so konnte ich in Österreich noch um eine Station weiter gehen und am Ende vielleicht doch durchkommen, starb ich aber oder brach mir die Glieder, so blieb ich liegen, und es war mir auch recht. Nur nicht wieder zurück! Ich schleppte mich also wirklich durch, ich komme 309 wirklich zum letzten Wagen. Ich öffne die Tür auf's Trittbrett. Wer steht auf der Plattform und schaut mich an: der serbische Teufel! Ich wollte schnell an ihm vorbei und abspringen. Er hält mich fest. Wir rangen eine ganze Weile. Wir hätten beide herunterfallen können. Er war stärker. Er fesselte mich, indem er meine beiden Hände mit seinen zusammenhielt. Dabei schaute er mich höhnisch und böse an. »Sterben? Nichts da«, sagte er und hielt mich so lange, bis wir wieder in Marburg einfuhren, ich weiß nicht, wie lange es war, mir kam es wie viele Stunden vor. Ich knirschte mit den Zähnen, ich sah zu Boden, ich sprach kein Wort. Ich hätte es nicht über mich gebracht, ihn zu bitten. Nur gestorben wäre ich gern. Endlich kommen wir in Marburg an. Er läßt mich aussteigen und führt mich in die Paßkontrolle.

»Was wollen Sie eigentlich von mir?« fragte ich.

»Einen Paß, Fräulein, das wissen Sie doch.«

»Sie sehen ja, daß ich keinen habe und keinen bekommen kann.«

Er schupft die Achseln.

»Was soll ich also anfangen.«

»Nach Agram fahren, einen besorgen.«

»Ich habe dazu nicht genug Geld, ich will nicht nach Agram. Wie soll ich mir denn dort genug verschaffen, um zu leben und einen Paß zu bezahlen?«

»Nun, es gibt ja gewisse Häuser. Sie brauchen es nur zu versuchen«, grinst er.

»Den Rat geben Sie Ihrer Schwester«, sage ich. Da senkt er den Kopf und redet nichts mehr. Ich gehe 310 fort. Wiederum landeinwärts bis zur nächsten serbischen Station. Dort treffe ich wiederum den anständigen, mitleidigen Beamten, der mich gleich erkennt und fragt. Ich heule statt jeder Antwort. Er soll mir um Gottes Willen ein Papier mit seiner Unterschrift geben, daß man mich durchläßt. Er hat gewiß die Macht. Wenn er mir das Papier gibt, wird man mich passieren lassen. Er lacht. So einfach ist die Geschichte nicht. Aber er lacht mitleidig. Ich werfe mich ihm zu Füßen. Wirklich. Ich kniee vor ihm, er muß mir ein Papier ausstellen. Um mich zu beruhigen, schreibt er endlich etwas und setzt seinen Namen darunter. Ich stecke den Zettel ein wie eine Heiligkeit und mit meinem Koffer mache ich mich abermals davon, wieder über Feld und Wald, um wieder auf demselben Wege durchzubrechen. Diesmal kam ich ohne Übernachten über die Grenze und ging nun eine Station weiter nach Österreich hinein. Der Stationsbeamte fragte mich um den Paß, denn er sah mir an, daß ich von drüben kam. Ich sagte ihm gleich, ich hätte nichts, als dieses Papier. Er las es und lachte: »Wissen Sie was darauf steht? – »Bestätigung, daß Fräulein Angelica Tassai am so und so vielten in der Station . . . angehalten worden ist. Unterschrift.« Der Stationsbeamte, der schließlich keine besondere Verantwortung für meinen Paß hatte, ließ mich einsteigen, aber er warnte mich, die serbische Grenzkontrolle könnte den Zug noch bis nach Graz revidieren und mich beanstanden, wenn sie mich erkenne. Das müsse ich riskieren. Ich riskierte ja längst alles und auf alles gefaßt, 311 duckte ich mich in den dunkelsten Coupéwinkel. Hätten sie mich noch einmal gefunden und zurückgestellt, dann wäre es aus gewesen. Dann hätte ich mich bestimmt unter die Räder geworfen oder sonstwie umgebracht und kein serbischer Teufel hätte mich mehr gehindert. Zum Glück fuhr der Zug unbehelligt weiter. In Graz war mir leichter, aber ganz erlöst war ich erst in Wien. Ich kam einen Tag nach der Mutter an. Sie hat mich begrüßt, wie wenn ich von den Toten gekommen wäre.

Nun, in Wien war ich bald wieder zu Haus. Damals wollte ich durchaus tanzen und damit mein Glück machen, wenn ich in ein Land mit guter Währung komme. Ich nahm wieder Unterricht bei einem Professor und er studierte mit mir und mit einem jungen Mann eine Szene ein. Der junge Mann war der Maler, ich war die Nymphe. Er saß an seiner Staffelei und malte. Die Nymphe kommt und lockt ihn, tut verliebt und fliegt solange um ihn, bis er seine Kunst vergißt. Er tanzt mit ihr, er faßt sie an, er hebt sie hoch in die Luft und auf und davon. Damit wollten wir reisen und ein Engagement suchen. Aber der Kerl war gar zu dumm. So etwas Hölzernes können Sie sich nicht vorstellen! Er traut sich nicht, mich anzurühren. Der Professor redet ihm zu: So fassen Sie das Fräulein doch an, sie tut ihnen doch nichts, sie brennt ja nicht! Aber so oft er mich ergreifen soll, hält es ihn zurück, er lacht blöd und kann nichts anfangen.

Um diese Zeit, abends, wenn ich zu Haus am Fenster sitze und hinausschaue, glaube ich: auf der Straße 312 geht einer herum und spioniert uns aus. Am ersten Tag lach ich darüber: Einbildung! Am zweiten geht der Jemand wieder auf und ab, eine geschlagene Stunde lang. Er trägt einen weichen Hut, darunter eine schwarze Binde überm rechten Aug, etwa, damit man ihn nicht erkennt. Aber ich weiß es doch gleich am Gang: das ist der Paul. Ich will auf der Stelle sterben, wenn's nicht der Paul ist. Ich renne hinunter, er merkt, es kommt wer und stelzt davon. So habe ich ihn zweimal versäumt und erst beim drittenmal gefaßt. Er war's!

Heimlich ist er nach Wien gekommen. Er hat mich auskundschaften wollen, bevor er mich besucht, ob ich ihm wirklich treu bin. »Und was ist's mit dem Tänzer?« »Mit was für einem Tänzer?« An den Haubenstock habe ich wirklich gar nicht gedacht. »Was fragst Du!«, sagt er ganz bös. »Ach den? Ich muß doch einen Partner haben, wenn ich auftreten will.« »Du darfst nicht tanzen. Meine Braut kann doch nicht in einer Bar tanzen, an die Tische gehen, was fällt Dir ein?« Ich antwortete, ich sehe nichts weiter dabei, wenn ich nur anständig bleibe. Ich bin ihm ja treu, aber ich muß mich doch selbst erhalten. So geht es niemand an, was ich tue. Ich finde tanzen hübscher, als nähen. »Ja, weil Du dabei so vielen Männern den Kopf verdrehen kannst.« »Deiner ist schon verdreht, aber ich kann nichts dafür.«

Kurz und gut, wir haben uns auf der Stelle vollkommen verzankt. Ich habe mir seine Eifersucht, seine Befehle nicht gefallen lassen. Ich war doch 313 wirklich kein kleines Kind mehr. Plötzlich läßt er mich stehen und rennt ohne Abschied auf und davon. Nichts mehr hab' ich von ihm erfahren. Ich weiß nicht, lebt er noch, oder hat er sich umgebracht. In seiner Verzweiflung war er schon fähig dazu. Ich habe nach Agram an seine Mutter geschrieben. Sie hat mir verzweifelt geantwortet, sie weiß auch nichts von ihm, sie hat mir Vorwürfe gemacht. Ich habe alle Schuld. Dann habe ich nichts mehr seinetwegen versucht. Vielleicht ist er doch wieder zur Vernunft gekommen und hat sich die Sache aus dem Kopf geschlagen. Besser für ihn!

Der Tänzer aber, der Holzstock, war so blöde, so ungeschickt, daß er mich überhaupt im Stich gelassen hat und einfach von der Probe ausgeblieben ist. Der Professor hat geflucht, und ich stehe da ohne Tänzer und ohne Verlobten.

Damals habe ich wegen eines Engagements in einem Artistencafé verkehrt. Da war ein Zauberer und Hypnotiseur, schon ein älterer Mann, aber sehr schön, er war glatt rasiert und hat prachtvolle große Augen gehabt, mit denen er auf alle Leute recht verächtlich von oben heruntergeschaut hat. Ich bin traurig dagesessen, weil mir ja alles und alles schiefgegangen war. Da hat er mich fixiert. Endlich kommt er auf mich zu, stellt sich vor: Diabelli heißt er, fragt mich, was mir fehlt, was ich wünsche, was ich suche, ob er mir vielleicht behilflich sein darf. Ich kann nicht anders, als ihm die Schererei mit dem Tänzer erzählen. Er meint: »Machen Sie sich nichts daraus. Sie können 314 eine andere Nummer einstudieren. Es muß ja nicht gerade ein Tanz sein. Ich brauche bei meinen Arbeiten eine Gehilfin. Sie sind schön« – ich schaue ihn dabei verlegen an – »ich darf es schon sagen und mir dürfen Sie es schon glauben, denn ich brauche eine schöne Person, die das Publikum beschäftigt, während ich meine Trics vorbereite. Sie passen mir gut. Einverstanden?« Er hat mich dabei wiederum so tief angesehen wie zuerst und hat mir die Hand hingehalten, bis ich eingeschlagen habe. Ich war doch froh, daß ich wenigstens dieses Engagement hatte.

Diabelli lehrte mich zwei Kunststücke, die ich selbst als eigene Nummern produzieren sollte. Einmal: ein großes Seidenpapier so künstlich zerreißen, daß es wie eine feine Spitze aussieht. Das andere: mich gefesselt in einen Sack stecken lassen und daraus befreien. Ich habe selbst aus schwarzem Serge einen Sack genäht und oben eine reiche weiße Halskrause. Er hat meine beiden Hände gefesselt, und so mußte ich in den Sack hinein. Die Krause wird zugezogen, und man steckt eigentlich doppelt gefangen. Es sieht nicht leicht aus, sich da drinnen zu befreien. Wenn man aber die Kunstgriffe kennt, gelingt es in ein paar Minuten. Man öffnet dann die Halskrause, man hebt die beiden Arme aus dem Sack. Voilà. Ein drittes Kunststück ist leider nicht zustandegekommen. Das wäre gewesen: sich mit den Zähnen an einer stockhoch frei schwebenden Stange festhalten, dabei ausziehen und zum Schluß in einem schönen fleischfarbenen Trikot beten. Ist das nicht ergreifend? Ich habe keine 315 starken Zähne, aber das hätte nichts gemacht, denn man arbeitet mit einer magnetischen Trense, die an der magnetischen Stange von selbst festhält. Wir haben diese Nummer leider aufgegeben, weil wir sie in einem Varieté von einer anderen Artistin gesehen haben. Man will doch nichts nachmachen.

Diabelli hat sich meiner angenommen, er hat sich mit mir Mühe gegeben. Wie das Auftreten schon nähergekommen ist, hat er mich mit zwei Prachttoiletten überrascht. Eine war vorn tief ausgeschnitten: rote Seide, die andere war rückenfrei: gelber Atlas. Nach den Proben sind wir immer miteinander nach Hause gegangen, und er hat oft gesagt: ich sollte doch lieb mit ihm sein. Aber wenn einer weich und sentimental mit mir ist, dann mag ich ihn gar nicht, und ich muß ihn auslachen. Den Diabelli mußte ich freilich schonend behandeln, weil er mir ja gefällig war, aber lieb war ich nicht mit ihm. Wenn er mich begleitete, erzählte er mir von sich. Er war verheiratet gewesen, aber seine Frau hatte ihn betrogen. Er war von ihr geschieden. Seitdem verachtete er die Frauen. Die Verachtung ist komisch, wenn einer dabei immer die Frauen braucht. Ich gefiel ihm. Ob er mir gefallen hat – damals – das weiß ich jetzt nicht. Ich habe Respekt, vielleicht sogar heimlich Angst vor ihm gehabt, nicht weil er schon ein älterer Mann war, das macht mir gar nichts. Ich brauche ja keinen jungen. Ein älterer ist mir schon recht, der mich belehren kann, von dem ich etwas von der Welt erfahre, der mich beschützt. Aber er hat mich beherrscht. Ich habe seinen 316 Willen wie eine Hand gespürt. Dagegen habe ich mich gewehrt. Wie er gesehen hat, daß er mit Seufzen, Schmeicheln, Bitten, mit Schmachten nichts erreicht, er hat es in ein paar Tagen gesehen, er war ja sehr gescheit, so hat er im Augenblick vollkommen den Ton gewechselt: er hat streng und hart zu mir gesprochen, er hat getan, als liegt ihm gar nichts an mir. Er hat mich nur als das Werkzeug für seine Versuche behandelt, schmissig. Jetzt hab ich mich schon gar nicht mehr bei ihm ausgekannt, denn bös machen durfte ich ihn doch nicht. Er hat mich als Medium abgerichtet. Ich war dafür geeignet, ich führte seine Befehle gehorsam und genau aus, alles geriet gut. Ich verfehlte nichts. Als wir auftraten, machten wir mit unsern Séancen Aufsehen. Dabei hatte er natürlich Gewalt über mich, auch außerhalb der Arbeit. Wie es gekommen ist. weiß ich nicht: eines Tages war ich seine Geliebte. Ich bin zu ihm gezogen. Er wollte mich heiraten. Aber wir bekamen die Dispens nicht – er war ja katholisch verheiratet gewesen – und ich hatte keine Papiere. So war nicht daran zu denken, daß wir miteinander reisten. Das bloße Verhältnis aber war auch wieder nicht sehr angenehm. Meine Mamma machte mir große Vorwürfe. Das Varieté war ihr schon recht, sie möchte ja am liebsten selbst etwas anfangen und reisen. Sie dressiert unsere beiden Hunde, der eine kann schon Pfeife rauchen, sie machen Fortschritte. Sie möchte mit mir auftreten und reisen. Aber sie fragt, warum sie mich denn so lange erhalten und beschützt hat, wenn ich dann bei einem alten Zauberer hängen bleibe.

317 Das alles hätte nichts genützt, ich wäre dem Diabelli nicht ausgekommen, wenn ich nicht eifersüchtig auf ihn gewesen wäre. Sehen Sie, ich war anständig, keinen andern hab ich angeschaut. Ich wollte den Diabelli nicht verraten und betrügen. Aber er war's, der immer auf Vergnügungen gegangen ist. Er hat mir zwar angetragen, ich soll mitkommen, aber nachdem ich den ganzen Tag gearbeitet hatte, abends noch aufgetreten war, hatte ich nie Lust dazu. Er aber hat dann seine galanten Abenteuer aufgesucht. Man erfährt alles. Diabelli hatte doch seine guten Freunde, die es mir brühwarm überbracht haben. Was spricht man denn anderes im Caféhaus, als solchen Tratsch? Ich hab mir gedacht: wart nur, mein Lieber, es kommt schon meine Gelegenheit. Richtig: einmal gehe ich an seinem Arm im Korso auf der Ringstraße spazieren. Ich sehe, wie eine hübsche junge Person zwei, dreimal an uns vorüberstreift und mich dabei anschaut. Gleich will der Diabelli mit irgendeiner Ausrede nach Hause. Seine Verlegenheit hat mir gefallen. Ich habe ihn freundlich gehen lassen und nichts dergleichen getan, und wollte langsam über den Stadtpark in unsere Wohnung nachkommen. Auf einmal ruft mich wer an: das bewußte Fräulein. »Entschuldigen Sie sehr«, sagt sie, »daß ich Sie belästige, aber ich möchte Sie um Auskunft über Herrn Diabelli ersuchen, mit dem Sie eben auf dem Korso spaziert sind.«

»Ich kann Ihnen dienen, Fräulein, ich bin mit Herrn Diabelli verlobt, wir wollen heiraten, aber wir leben einstweilen zusammen.«

318 »Ich danke Ihnen vielmals«, sagt sie, blaß und rot und rot und blaß, »ich habe nichts anderes vermutet. Herr Diabelli hat nämlich auch mir einen Antrag gemacht.« Wir haben uns recht freundlich vor einander verbeugt. Am Abend habe ich ihm eine ordentliche Szene gemacht und bin gleich zurück zur Mamma schlafen gegangen.

So einfach war es aber nicht aus. Er hat mich nicht freigegeben, auch jetzt nach einem Jahr noch nicht. Er läßt mich nicht aus. Er ist in meine Wohnung betteln gekommen, drohen, meine Mutter hat ihn angeschnauzt, er hat es gar nicht gehört, wenigstens gar nicht geantwortet. Ich hab ihn nicht angesehen. Er ist fort und plötzlich war er wieder einmal da. Ich habe mich gefürchtet, in der Wohnung allein zu bleiben. Damals hat meine Mutter einen Grünzeughandel angefangen, sie hat einen Stand bei der Radetzkybrücke gehabt. Um drei Uhr früh hat sie die Ware am Hof einkaufen und dann den Karren zur Radetzkybrücke führen müssen. Ich habe damals keine andere Arbeit, als Nähen gehabt. Meine Varietéproduktionen waren ja aus, nachdem ich mich mit dem Diabelli verzankt hatte, so habe ich der Mamma geholfen und bin um drei Uhr früh mit ihr losgezogen, Gemüse führen. Bei Nacht und Nebel schieben wir den Karren. Auf einmal steht einer neben mir und schiebt mit: der Diabelli. Er sagt nichts, ich sag' nichts, die Mutter, die vorne zieht, bemerkt ihn nicht. Später hat sie ihn wohl erkannt, aber auch nichts gesagt; wenn er so dumm ist und Karrenziehen hilft, 319 kanns ihr schon recht sein. So hat er nun vielleicht eine Woche lang geholfen, ohne was zu sagen. Das Geschäft war der Mutter zu schwer, sie hat es aufgegeben, und damit war dem Diabelli diese Gelegenheit wieder genommen. Aber er hat seine Macht über mich gehabt, er hat mich festgehalten wie mit den Zähnen. Ich war in seiner Hand, und ich habe es gespürt und es kommt manchmal so stark über mich, daß ich glaube, ich kann nicht anders, ich muß zu ihm zurück. Ich habe damals zu Haus genäht. Ich halte dieses Gebücktsitzen den ganzen Tag nicht aus, ich brauche Bewegung. Einmal war seine Wirkung auf mich so stark, daß ich aufgesprungen und geradeaus zu ihm gerannt bin. Das war gar nicht gut, denn es hat ja nur wieder eine Auseinandersetzung gegeben. Er wollte mir schön tun, als sei nichts gewesen. Nur gut, daß zufällig sein Bruder, auch ein Hypnotiseur, dabei war. Sonst wäre ich für nichts eingestanden. So haben wir herumgeredet, der Diabelli hat mich schön angeschaut, ich bin ihm ausgewichen und habe mich mit aller Kraft zusammengenommen, um wegzugehen. Da sagt mir der Diabelli aber wie ich bei der Tür bin: »Daß Du mir nicht zu den Séancen vom N. N. gehst! Laß Dich um keinen Preis von ihm hypnotisieren.« Mir braucht man so etwas zu sagen! Schon brenne ich. »Wer ist denn der N. N.?« Es war ein Hauptkonkurrent vom Diabelli, ein Amateur, der damals großes Aufsehen gemacht hat mit Hypnose an Leuten aus dem Publikum. Das Verbot vom Diabelli war für mich wie eine Aufforderung, wie ein Befehl. Jetzt weiß ich genau, er 320 hat es in dieser Absicht auch ausgesprochen, er wollte mich dort haben, er wollte, daß ich mich hypnotisieren lasse. Ich stand ja unter seiner Macht. Also: ich mußte den N. N. sehen. Der Teufel war los. Ich erzählte meiner Mutter von N. N. Ich überredete sie, mit mir zu gehen. Das war sehr leicht, denn sie interessierte sich ja für diese Sachen fast noch ärger, als ich. Sie macht die Geschichte schön: »damit ich auf andere Gedanken komme. Damit ich mich zerstreue«. Wir gehen also. Die Vorstellung war interessant. Nichts geht mir so nahe wie das Wunderbare: ich lese am liebsten Gespenstergeschichten, Verbrecherabenteuer, Geistererscheinungen und -beschwörungen. Wie es gekommen ist, weiß ich nicht: auf ja und nein standen meine Mutter und ich in der ersten Reihe, und wie der Hypnotiseur fragt, wer sich aus dem Publikum zu einem Versuche meldet, hab ich auch schon die Hand in der Höhe. Er hypnotisiert mich. Ich schlafe ein und gleich so tief, daß er mich nicht aufwecken kann. Das Publikum war zuerst neugierig, dann hat es sich in Angst verlaufen. Er hat alles mögliche versucht, mich zum Leben zu bringen. Meine Mutter hat geweint, geschrieen, gebetet, hat ihn angeflucht, hat allerhand Ratschläge gegeben, hat mich gerieben, mir Riechsalz unter die Nase gehalten, mich an der Fußsohle gekitzelt und wieder geweint. Drei Stunden bin ich wie ein Stein gelegen. Endlich hat man die Rettungsgesellschaft geholt, man hat mich ins Spital gebracht. Dort bin ich zu mir gekommen. Ich war hin und zerschlagen wie nach einer Todeskrankheit.

321 Das Malheur hatte für den Hypnotiseur üble Folgen. Er wurde wegen Kurpfuscherei angeklagt oder was weiß ich, wie das heißt. Er verteidigte sich: noch nie ist ihm so etwas geschehen. Er hat doch schon viele hundert Versuche gemacht. Alle waren gelungen. Der erste und einzige mit mir war verunglückt. Aber daran sei er ganz unschuldig. Er konnte es beschwören! Jemand hat mir vorher suggeriert, so sagte er, daß ich mich nicht aufwecken lassen darf. Bestimmt ist jemand dahinter, versicherte er. Heute glaube ich es selbst. Der Diabelli hat mir das angetan: er hat den Konkurrenten blamieren und mir seine Macht zeigen wollen. Seine Warnung war nur eine Spiegelfechterei. Dahinter hat er mir im Stillen befohlen, daß ich hingehe und befohlen, daß ich mich nicht aufwecken lasse. Bei Gericht wollte ich darüber nichts aussagen. Was hätte es für einen Sinn gehabt, den Diabelli hineinzubringen? Die Gerichtsärzte wollten es nun selbst mit mir probieren, um herauszubekommen, ob der Hypnotiseur mit seinem Verdacht recht hatte. »Nein, meine Herren«, sagte ich, »danke vielmals. Noch einmal lasse ich mich nicht tot machen oder halbtot. Ich habe schon an dem einen Mal genug«. Da hat man also den Hypnotiseur verurteilt. Ich aber war körperlich so heruntergekommen, daß ich zur Erholung nach Sauerbrunn fahren mußte.

Meine Mamma, die sich selbst ein wenig Schuld gab an meinem Unglück, ist mit mir gefahren. Im Zuge saß mein jetziger Verehrer uns gegenüber und hat mich immer angeschaut. Die Mamma bemerkt es gleich und 322 flüstert zu mir: »Schon wieder einer. Schaut ganz nett aus. Gefällt er Dir? Nicht? Er ist doch hübsch, nimm ihn Dir!« Ich lachte bloß, denn auf den ersten Blick gefiel er mir nicht, wenn er auch ganz hübsch aussah: größer als ich, modern angezogen, schöne Zähne, kein einziges graues Haar, er ist ja bald fünfzig. Mit den Jungen hab' ich kein Glück. In Sauerbrunn hat er sich galant meiner angenommen, das Gepäck besorgt, ein Hotel empfohlen, man kennt ihn ja dort gut, er war freundlich. Man sieht sich jeden Tag. Ich konnte ihm bei der Arbeit helfen. Ich hatte ja nichts zu tun und war gewöhnt, immer etwas zu machen. Allein waren wir auch. Aus Schwäche, aus Mitleid habe ich mich mit ihm eingelassen. Die Mamma war auch dafür. »Er wird Dich heiraten«, sagte sie, »er fliegt auf Dich, er ist zu alt für ein bloßes Gspusi, er braucht eine Frau, er behält ja keine, wenn er nicht heiratet. Das Herumziehen paßt ihm nicht, er ist verwöhnt, er möchte Ordnung haben. Nimm ihn Dir. Er ist ein Wiener, dann wirst Du nach Wien zuständig, und wenn Du einmal Deinen Heimatschein hast, dann kannst Du immer weggehen, wenn Dir etwas nicht paßt. Aber wenigstens hast Du einen ordentlichen Ehenamen und gehörst wohin und kannst in die ganze Welt. Wo steht es denn geschrieben, daß Du gebunden bist? Du bist frei, nimm ihn Dir.« – Aber er ist ein ganz gewöhnlicher Mensch, für nichts interessiert er sich, als fürs Gasthaus, für Essen und Trinken und für das Geld dazu. Aber dabei ist er auch noch ungeschickt, weil er von der Familie her verwöhnt ist und nichts ordentliches 323 gelernt hat. Von seinem Bruder läßt er sich ausbeuten. Sie hatten von ihren Eltern eine schöne Wohnung geerbt. Der Bruder hat sie, ohne zu fragen, verkauft und nur ein kleines Kabinett behalten. Da müssen sie jetzt miteinander wohnen. Heiraten will er mich aber auch nicht, wozu wäre denn sonst alles? Genommen hab ich ihn nur, wie meine Mutter immer gedrängt hat, und jetzt hab ich ihn am Hals. Wohin mit uns? Er hat ja die schönste Ausrede: wir haben keine Wohnung, ich habe keine Dokumente, ich bin selber daran schuld, nach allem, was gewesen ist, muß er mich doch ausprobieren. Und so weiter. Dafür darf ich arbeiten gehen und mir selber mein Leben verdienen, ganz wie früher, wie immer. Ihm muß ich zur Verfügung stehen, wann er will und treu bleiben soll ich ihm auch. Und ob! Er quält mich mit Eifersucht, er droht mir, er spioniert mich aus. Wenn er mich heiratet, gut, ich werde ihn schon nicht betrügen, vielleicht, es lohnt sich nicht: ist einer wie der andere. Aber er soll sich endlich darum kümmern! Diesen Sommer warte ich noch ab, dann wird es sich zeigen.

Der Diabelli läßt mich aber nicht los. Es zieht mich zu ihm. Ich kann nicht sagen, wie es zugeht. Ich war richtig noch einmal bei ihm. Zum Glück war er nicht daheim. Die Hausbesorgerin hat mich gleich begrüßt: »O, Fräulein Geli, Sie waren aber schon lange nicht bei uns.« – Am nächsten Tag hat sie mir ein Brieferl gebracht: »Es gibt nur eine Geli auf der Welt.«

Ich war gerade dabei, meine Sachen aufzuräumen. Auf meinem Tische steht eine große Photographie 324 von meinem Verehrer. Ein gutes Bild, ich habe es selber entwickelt.

Wie ich so Ordnung mache und dabei auf das Bild schaue, packt mich die größte Wut: immer dasselbe fade Gesicht! Geschwind räum' ich das Bild in die Lade. Dabei fällt mir wieder die Photographie des Diabelli in die Hand. In diesem Augenblick ist sein Brieferl angekommen: »Es gibt nur eine Geli auf der Welt.«

Kaum hab ich es gelesen und eingesteckt, ist mein Verehrer da. Er schaut sich mit Verdacht im Zimmer um. Ihm fehlt seine Photographie auf dem Tisch. Er ist ja sehr eitel. »Wo hast Du das Bild?« »Ich muß es verräumt haben.« »So suchs.« Ich muß in der Tischlade kramen und habe Angst, er findet das Bild des Diabelli. Aber so rabiat ist er ja auch wieder nicht, daß er sich nicht beruhigen läßt. Nachtmahlzeit war auch. Wir sind miteinander fortgegangen. – Nachts komme ich zurück. Das Haus ist noch wach. Das heißt, meine Mutter rumort im Zimmer. Die beiden Hunde um sie herum und bellen und balgen. Sie füttert sie und dazwischen müssen sie ihre Kunststücke machen, Pfeifenrauchen, und sich auf die Schultern des anderen stellen und so weiter. Der Vater liegt im Bett und schimpft, daß er keine Ruhe hat. Die Mutter schreit etwas auf ungarisch, da dreht er sich im Bett um, daß alles kracht. »Was ists? Was gibts? So spät seid ihr noch auf?« »Neuigkeiten«, sagt meine Mutter. »Was denn um Gottes Willen?« »Na, der Diabelli!« »Was hats denn mit dem?«

325 »Ich bin ihm begegnet, dem Teufel, er hat mich sehr fein gegrüßt, gefragt, ob er mich begleiten darf. Warum nicht: die Straße gehört allen, sag' ich. Wie es Dir geht? Was Du machst? Ob Du noch bös auf ihn bist? Ach, was Sie sich nicht alles einbilden, die Geli hat an was anderes zu denken. Da schmunzelt er und schaut mich an, so wie er schaut, der Zauberer, der Verfluchte. Dann erzählt er, seine Frau ist gestorben. Er ist jetzt ganz frei: Er denkt immer an Dich, Du brauchtest ihm nur zunicken, meint er. Meine Geli braucht keinem Mann zuzunicken, sag' ich. Er zuckt die Achseln. Dann erzählt er, daß er einen guten Antrag für Rußland hat. Zu den Räubern? frag ich und lach. Alle Räuber haben Geld, sagt er. Wo Räuber sind, ist gut sein. Da hat er nicht unrecht. Er könnte wieder eine Gehilfin brauchen, eine Frau. Und nach meinen Hunden hat er sich erkundigt, er könnte mir beim Dressieren helfen, ich soll sie ihm nur bringen, aber natürlich meint er Dich allein. Du bist doch einmal in ihn verschossen, ich weiß es. Kommst Du denn los von ihm? Hast Du nicht sein Bild in Deiner Lade? Glaubst Du, ich weiß es nicht? Ist auch nicht schlechter, als der andere. Vielleicht ist er besser. Warum soll ich Dir im Wege stehen? Mit ihm kämst Du doch in die Welt. Er heiratet Dich gleich. Er hat eine neue Toilette für Dich, läßt er Dir sagen und einen Blaufuchspelz. Du kannst Dir die Sache noch immer überlegen. Wenn Du ihn willst, wenn er Dir gefällt, nimm ihn Dir.« Ich habe nichts gesagt. Ich war zu müde. Ich bin schlafen gegangen. Bei Nacht haben die Hunde zu balgen angefangen, 326 die verfluchten. Sie waren vom Üben her und vom Fressen und von den Schlägen ganz rebellisch. Ich bin dazwischen gefahren, einer hat mich in die Hand gebissen vor Zorn. Sehen Sie diese Wunde hier! Es ist schwer auf der Welt. Keine Ruhe! Bin doch neugierig, was aus allem wird. Gewiß wieder nichts Gescheites. So oder so! Die Sache wird sich nicht halten. Was weiß ich –.

 


 


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