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Die Botschaft

Ludwig Mainone las in der Zeitung die Anzeige vom Tode des Hofrates Amlacher. Unter den trauernden Hinterbliebenen waren die beiden Töchter Regina und Charlotte mit ihren unverlorenen Mädchennamen angeführt. Als Mainone sie kennen gelernt hatte – vor etwa fünfzehn Jahren, da er noch im Gymnasium sich vor der Matematik fürchtete – waren beide sehr hübsche Jungfern gewesen. Heute mochten sie schon ledig angesäuert sein. Das standesgemäße Einkommen des Herrn Hofrates war wohl immer standesgemäß verzehrt worden, da floß nichts überflüssiges über, geschweige denn etwas so notwendiges, wie eine Mitgift. Und nun, da der Amtsgewaltige dahingegangen ist, erkennt man: Ein Hofrat ist nur vor dem Tode glücklich zu preisen. Seine Töchter sind sitzen geblieben.

Die Regina war damals schon reif zum Abpflücken. Bei Gott! sie hing an ihrem Zweig nur so: nimm mich, oder ich falle! Sie konnte eindorren, wenn man sie nicht pflückte. Ihre Schuld war es nicht. Die zweite, Charlotte, wartete damals noch auf den nächsten Sommer, aber er, Mainone, hatte sie zu der Zeit sehr geschätzt mit ihren großen, glanzvollen Tollkirschenaugen. Also auch sie hatte vergeblich auf ihrem Zweige gewartet! Seine Schuld war es nicht. Der Verkehr brach so plötzlich ab.

Erst lang nachher kam er auf den Grund: er hatte, ohne es zu wissen, den Helfershelfer eines übeln Streiches abgegeben, dieweil der Anstifter irgend wo anders in der Welt sicherlich noch mehr dergleichen Schandtaten in aller Seelenruhe weiterverübte. Mainone, der ein Gewissen für zwei hatte, schämte sich manches Jahr im Stillen, so oft er an die Geschichte dachte. Aber da er mittlerweile wahrlich Schwereres zu tragen bekommen, durfte er an dieser ersten unschuldigen Schuld nun auch sein bißchen Vergnügen haben. Also:

Seine Eltern führten ein zwischen Familiensorgen und gesellschaftlichen Veranstaltungen wunderlich geteiltes Haus. Die Sorgen kamen auf seinen Vater, den medicinae doktor Wilhelm Mainone, der von Natur auf das stille begnügte Leben eines Gelehrten verwiesen, mit einer dürftigen, wenig einträglichen Vorstadtpraxis sich abplagen mußte. Das Vergnügen aber kam auf seine Mutter, eine ruhelose Frau, die, aus sogenanntem gutem Hause stammend, im glänzenden Wolleben einer Familie aufgewachsen, welche bereits mehrere große Vermögen verpraßt hatte, zuerst ihre eigene Schönheit in der Bewunderung festlicher Leute zu sonnen liebte, nun aber, da dies bei reiferen Jahren nicht mehr als Selbstzweck anging, für ihren Sohn zu walten vorgab, wenn sie lustige Geselligkeiten aller Art veranstaltete. Der Junge sollte nämlich bei solchen Gelegenheiten Verbindungen anknüpfen und befestigen, die ihn später vorwärts und in eine bessere Laufbahn brachten, als dem weltunkundigen Vater vergönnt gewesen. Und sei es, um ihrem Drängen nachzugeben und bis zum nächsten Sturm des Vergnügens Ruhe zu finden, sei es, weil ihre Scheingründe einiges für sich hatten, ließ der Doktor Mainone sie gewähren.

Vor jedem solchen Feste gab es heillose Verwirrung im Hause, da wurde die Tafel gerüstet, hohe Trachten blaublumiger Teller und Schüsseln wurden als einer Armee der Eßbereitschaft auf Damast und Zierlinnen verteilt, festliche Platten mit verschiedenem kalten Aufschnitt und buntem Gemüse ausgelegt, in Silberaufsätzen türmte sich Obst und süßes Backwerk, alles in allem ein ausgedehnter Scheiterhaufen, der an einem Abend in einem Prachtfeuerwerk aufzugehen bestimmt, nichts hinterlassen sollte, als ein bißchen moralischen Qualm.

Zu den übrigen, längst bekannten Gästen des Hauses sollten diesmal die Mädchen Amlacher und ein neuer männlicher Teilnehmer eingeführt werden. Die Mädchen, weil sie hübsch waren und wegen ihres hochangesehenen hofrätlichen Vaters, Josef Pramer, Ludwigs Schulkollege, der Primus unter den Abiturienten, als notwendige Vermehrung des Tänzerpersonals. Dieser Jüngling, schlank, von gefälligem Äußern, Sohn eines armen Bürgerschullehrers, war auf eine tunlichst musterhafte Haltung verwiesen, weil er sich durch Lektionen fortbringen mußte und ein Stipendium genoß. Doch verstand er es, sich mit bescheidenen Mitteln zierlich zu kleiden, wie er auch in der Schule aufs genaueste seine Pflicht erfüllte, so daß er nicht um einen Haarstrich mehr leistete, als nötig war, aber beileibe nicht um einen Haarstrich weniger. Beim Anschein treuherziger Kollegialität jederzeit bereit, seinen lieben Nächsten um eine gute Note zu verraten, wußte er dies zugleich so geschickt anzustellen, daß er immer geehrt blieb, als die schlechthin gymnasiale Vollkommenheit. Dabei war er jedoch ohne weiteres zu einem verheißungsvollen Seitensprung und Abenteuer geneigt, wofern es sich nur ohne Gefahr und auf fremde Kosten machen ließ. Kurz ein besonnener, fester, früher Ehrenmann. Der Josef Pramer nahm Ludwigs Einladung entzückt an, hatte ihm doch der Schneider glücklicherweise just tags zuvor den neuen tadellosen schwarzen Salonrock geliefert.

Am Abend kamen in den Wintermänteln und in Spitzenhauben oder Mützen gemummt die jungen Fräulein samt den zugehörigen Müttern und Vätern. Welch ein liebliches besorgtes Flüstern, Lachen vor den Spiegeln im Vorzimmer, wo die Frisuren geprüft, die lichten Kleider zurechtgezupft wurden, ehe man in den Salon eintrat! Dort standen zuerst die jungen Damen in einem beständig schwirrenden Häuflein, wie Schwalben vor dem Abflug durcheinander zwitschernd, während die Mütter sich für ein ausgiebiges Zuschauen zusammensetzten und die Väter sich im Hintergrund als aufrechte schwarze Gestalten aufpflanzten. Die Tänzer wiederum bildeten ihrerseits ein Fähnlein. Aber bald schwenkte der erste zu den Fräulein hinüber, der zweite folgte und der dritte, und rasch stellte sich die richtige Mischung her. Die schlanke Regina Amlacher überragte die jungen Damen und blickte mit ihren Augen verlockend, gebieterisch hierhin und dorthin. Flugs trat der Josef Pramer zu ihr wie das bestimmende Zeitwort zum wichtigen Satzgegenstande und sprach mit ihr und machte ein über alle Maßen freundliches Gesicht. Der Sohn des Hauses, unser Ludwig, fand nicht lange Zeit, ihn zu beobachten, denn er hatte seine eigenen Sorgen, gab es doch drei junge Damen, unter die er sein Herz gerecht teilen mußte, während er sich verpflichtet glaubte, es ungeteilt einer von den dreien zu schenken. Nur wußte er leider nicht, welcher er es ganz bieten sollte, welche es etwa angenommen und am ersprießlichsten verwaltet hätte. Die eine war die Elisabeth May, ein zierliches, halb kühles, halb spöttisch leidenschaftliches goldblondes Fräulein, mit einer überraschenden tiefen, schmeichelnden Altstimme, die wie das Locken eines schattendunkeln Wassers im Sommer klang. So jung sie war, so umworben war sie, und man erzählte sich, daß sie schon einen Studenten als verlobten Gesellen ganz und gar gefangen habe, doch ließ sie sich immerhin mit Vergnügen den Hof machen, aber so spöttisch und kritisch, daß man nur eben wußte, man sei recht als ein Garn um ihren Finger gewickelt, während das Lachen dieser tiefen Stimme dazu mit vergnügter Schadenfreude läutete. Liebte Ludwig die Elisabeth May? Da er es nicht genau wußte, oder sich dessen nur schwer unterfing, wollte er es erfahren, indem er sich heute mit den beiden anderen abgab, welche sein Herz als nicht minder liebenswürdig schätzte. Irgendein Orakel würde heute schon sprechen.

Er stellte diese beiden andern Umworbenen mit einer Geschicklichkeit, die ihn überaus weltmännisch dünkte, zusammen ins Gespräch: Hedwig Obermann, die angehende Lehrerin und Charlotte Amlacher, die jüngere Hofratstochter. Hedwig Obermann, ein mutterloses Mädchen, führte ihrem Vater die Wirtschaft und über fünf jüngere Geschwister Aufsicht und bereitete sich dabei auf den Lehrberuf vor. Diese Sorgen und das eigene früh bestimmte, ernste mütterliche Wesen gaben ihrer Anmut etwas eigentümlich feierliches und frauenhaftes, so daß selbst die Heiterkeit des Festes ihren Ernst nur überglänzte, nicht aufhob. Sie antwortete ruhig und mit bescheidener Klugheit auf seine Reden, wobei er im Stillen die reinen Linien dieses sanft gerundeten Gesichtes, das feste, ein wenig breite Kinn, die gerade Nase, den schöngeschwungenen Mund mit dem reizenden Ungefähr von Lotte Amlachers launenhaft unfertigen Zügen verglich, aus denen die unwissenden, lachenden Tollkirschenaugen ganz und gar töricht blickten.

Den Beginn machten verschiedene Gesellschaftsspiele und Scherze. Die jungen Herren boten allerhand Kunstfertigkeiten und Taschenspielereien auf, einer ahmte die ganze Burgmusik nach mit Tschinellen, Bombardon, großer Trommel, Trompete, ein anderer sang Kouplets wie ein Volkssänger.

Dann kam die Tafel. Ludwig Mainone führte die Hedwig Obermann. Es gefiel ihm gar wohl, daß sie sich nicht zierte, sondern ordentlich aß nach Lust, aber mit feinem Maß, wie es sich gehört und dabei ein gutes Gespräch führte, welches ihn sogar die Charlotte Amlacher aus dem Auge verlieren ließ, die mit einem andern Herrn zu Tische gegangen war. Ihm gegenüber aber saß Elisabeth May, die goldschimmernden Zöpfe zu einem Krönlein auf das Haupt gesetzt, das sich heiter und huldreich neigte und hierhin oder dorthin wandte, wobei es ihm zuweilen schien, als treffe ihn ein verwunderter, fragender Blick aus ihren blauen Augen, was er mit Genugtuung feststellte. Dies sollte wohl bedeuten, daß sie seine Huldigungen vermißte.

An der Tafel ging es lebhaft her. Gelächter, Reden und Geberden flogen hin und wieder, wie das Zwitschern von Vögeln über einen vollen Baum, ein Lärm, der immer ungeduldiger wurde, je rascher die Vorräte schwanden und je lebhafter sich der Tanztrieb all der jungen Beine rührte, die solange scharrten, bis endlich auf das Kommando der Hausfrau sich alles erhob und in den mittlerweile ganz ausgeräumten Empfangssaal zurückströmte.

Nur die Mütter und Väter verharrten bei Krachmandeln, Likör und Zigarren an der Tafel, bei allerhand Gesprächen, da das gesetzte Alter von rechtswegen einen behaglichen Sitz und Tisch zu schätzen weiß und behauptet.

Nun begann das Tanzen. Regina Amlacher eröffnete es mit dem Josef Pramer. Ihre schlanke Figur drehte sich in der Mitte unter dem Kronleuchter gemessen und mit schmachtend zurückgebogenem Halse, ihr Tänzer, ein Stück kleiner als sie, blickte ihr froh in die irrenden Augen. Allmählich umringten die übrigen Paare dieses erste und ließen es in der Menge der Mädchen und Jünglinge gleichsam untertauchen, doch hob es sich, wie aus einer bewegten Flut zeitweise immer wieder hervor: der triumphierende Bursche, einen gewissen dreisten Zug um die schwarzbeflaumten Lippen und Regina Amlacher, welche auf eine Bemerkung, die er ihr zuflüsterte, gelegentlich mit einem kecken Lachen den Lärm durchblitzte. Sie tanzte geflissentlich, wie es schien, fast unaufhörlich mit diesem neuen Gaste. Denn da war noch ein anderer, älterer Student, den man für ihren Anbeter hielt, und es schien, als wolle sie gerade den damit reizen und verspotten, daß sie sich durchaus mit einem so jungen Frechling abgab. Doch hatte Ludwig wahrscheinlich nicht Zeit und Lust, sich um dieses Paar genauer zu kümmern, erstens war ihm die Regina zu alt und er wollte seinen Kollegen nicht stören, zweitens hatte er seine Aufmerksamkeiten zwischen der Hedwig Obermann, der kleinen Charlotte und der Elisabeth May gerecht zu teilen. Diese schattendunkle Altstimme sollte es nur wissen, daß noch andere da waren, die ihn besser zu schätzen verstanden. Allmählich mischten sich sogar die unternehmenden Väter in den Tanz und die Mütter, die Hausfrau mit dem General Hebenstreit. Und sein Vater, der stille, altfränkisch-behäbige Doktor Mainone führte nach Schicklichkeit jedes einzelne der jungen Mädchen zum Walzer, wobei er nach der Sitte längst vergangener Zeit den rechten Arm weit ausstreckte, so daß er einen schützenden Kreis um sich und seine Dame zog, während die Schöße seines schwarzen Jacketts im Winde des Walzers flatterten.

Eine eigentümliche Rührung ließ den jungen Mainone seinen Vater immer wieder mit den Blicken suchen, wie er so ehrbar und freundlich mit allen den Mädchen seine ziemliche Runde tanzte. Der junge dachte dabei und verwies es sich zugleich: »Wer weiß, wie lange ich dich noch habe, mein lieber Vater und Kamerad.« Hingegen schämte er sich im Stillen der über und über roten, vergnügten und allzulaut lachenden Mutter, welche wie die jüngste lärmte und keinen Tanz ausließ. Und indem er der Mutter zürnte, die ihm ungebundener sich zu gehaben schien, als ihrem Stand gebührte, schämte er sich wieder dieser Beobachtung selbst.

Am Klavier saß die Frau Generalin Hebenstreit, auch nicht viel älter als seine Mutter und spielte unverdrossen zum Tanz auf, hackte einen Walzer nach dem andern. Sie machte den Tappeur, weil ihr Sohn, ein öder langer Laban auch unter den übrigen sich rührte, nicht ohne, so oft es nur möglich war, allen Damen auf die Zehen zu treten, die Ordnung zu stören, oder irgendwie unliebsam aufzufallen. Die Generalin trug große Hornbrillen, welche ihr sonst feines, und noch liebliches Gesicht arg entstellten. Und als der junge Mainone von einer Tour erschöpft, mit Hedwig Obermann am Arm zufällig vor dem Klavier stehen blieb, an dem die gutmütige Frau geduldig und unermüdlich den Übrigen aufspielte, sah er, wie es um ihre Lippen seltsam zuckte, gleichwie ein Säugling den Mund zu einem kommenden Weinen kläglich herabzieht und bewegt. Das war wohl die Kehrseite der Festschaumünze, daß das mütterliche Alter bei leiser aber streng verhaltener Lebenslust den andern aufspielen mußte.

Der Kotillon machte zugleich auch den Kehraus des Festes mit spaßhaftesten Einfällen und Figuren, deren letzte darin bestand, daß die ganze Schaar, Hand in Hand von dem hellen Saal durch das Speisezimmer in alle dunklen Stuben der Wohnung zog, sich als ein Menschengewinde um alle Möbelgruppen, flüsternd durch die finstern Winkel schlang, selbst in die Küche zu den lachenden geschmeichelten Mägden kam und durch das Vorzimmer schließlich wieder in den Tanzraum zurückkehrte, wo sich die Ordnung mit Verbeugungen und Scherzen auflöste. Ludwig und die Obermann hatten just Elisabeth May als Gegenüber, die sich nicht versagen konnte, ihrem ungetreuen Bewunderer anläßlich der Abschiedskomplimente mit ihrer beim Lachen in der Höhe leicht abbrechenden Altstimme zu sagen: »Sie scheinen sich ja sehr gut zu unterhalten.«

»Gewiß, das tu ich,« antwortete Ludwig geschmeichelt keck und glaubte, seinen Haupterfolg erreicht zu haben, daß die May eifersüchtig sei, indes seine eigne Dame, die Hedwig Obermann ihn verwundert ansah.

Bevor man Abschied nahm, hatte Ludwig aber wieder die Charlotte Amlacher bevorzugt und trank ihr mit einem Becher Fruchtwasser zu, während sie ihn unbefangen an- oder auslachte. Dann vermummten sich die Fräulein und Mütter in alle ihre Behänge, Mäntel, Hauben, Tücher und Mützen, wie Sterne in Morgennebel. Beim Abschiednehmen sah Ludwig, wie sein Vater sich von der Frau Generalin Hebenstreit, für welche er eine zarte Verehrung hegte, empfahl. Ihre Hand stak in einem Handschuh, der Doktor Mainone mochte das Leder nicht mit seinen Lippen berühren und schob daher sanft den schwarzen Spitzenärmel hinauf und küßte ehrerbietig den weißen Arm der liebenswürdigen Dame über dem Handgelenk.

Das gefiel dem Sohne gar wohl, und er beschloß, das schöne Beispiel nachzuahmen. Zuerst versuchte er es mit der Hedwig Obermann, doch kam er gar nicht dazu, denn sie schüttelte die dargebotene Rechte so kräftig, daß aus einem Handkuß nichts werden konnte, die Elisabeth May wiederum trug Spitzenhandschuhe, die reichten ihr bis zum Ellbogen, und als er ihre Hand trotz ihrem Wiederstreben an seine Lippen führte, mußte er sich begnügen, das zarte Gewebe zu küssen. Die Charlotte Amlacher endlich trug gar keine Handschuhe und wehrte sich auch nicht, da sie seinem Gebühren keine besondere Absicht beimaß und lachte, als er ihr rundliches Kinderhändchen küßte. Aber da diesfalls kein Widerstand zu besiegen gewesen, galt ihm solcher Erfolg nichts, und er sah, daß des Vaters gutes Beispiel erst einer richtigen Gelegenheit bedurfte, um sich lehrreich verwenden zu lassen.

Unter leisem Nachgelächter, verhallendem Abschiedsscherz, Verabredungen für ein nächstes Zusammentreffen auf dem Eislaufplatz oder für sonstige Vergnügungen zog die ganze Gesellschaft über die dunkle Stiege davon.

Am nächsten Tage in der Schule ging ein Austausch lebhafter Bekenntnisse und Erinnerungen zwischen Ludwig und dem Pramer an. Unter dem Siegel der ehrenwörtlichen Verschwiegenheit vertraute der Primus seinem Kameraden dieses: »Du, die Regina Amlacher ist doch das verteufeltste Frauenzimmer, das mir jemals begegnet. Hast du nichts bemerkt?« Ludwig schaute ihn fragend an. »Sie war immer mit mir, den ganzen Abend. Um keinen andern hat sie sich gekümmert und wenn sie beim Gesellschaftsspiel von mir fortgerissen wurde, wußte sie es gleich wieder einzurichten, daß sie an meine Seite kam. Und kaum hatten wir uns eine Viertelstunde lang unterhalten, spür' ich auf einmal, wie sie meine Hand drückt. Ich glaube, ich irre mich etwa, es ist doch nicht gut möglich. Da preßt sie meine Hand so stark, daß ich's bis in die Zehenspitzen spürte. Kein Zweifel mehr an ihrer ehrbaren Absicht. Zum Teufel, das kann ich auch, denk' ich und dann haben wir den ganzen Abend solche Zeichen ausgetauscht.«

Ludwig hörte es entgeistert, ungläubig. »Und was wirst du erst dazu sagen, was nachher kam! Beim Cotillon, als wir durch die dunkeln Zimmer tanzten, da habe ich mich zu ihrem Hals gebeugt, ich durft' es mir schon erlauben. Und wie sie meine Lippen auf ihrem Nacken spürt, dreht sie sich mit einem Ruck um, und kaum hab ich's denken und fühlen können, preßt sie ihren Mund auf meinen! Du! Aber gleich wurden wir von den übrigen fortgezogen und kamen aus dem Dunkel in die helle Küche. Sonst hätte ich sie noch einmal und ausführlicher geküßt; aber dann war leider keine Gelegenheit mehr, als daß sie mir höchstens noch auf der Stiege einmal die Hand gedrückt. Herrgott, welch ein Weib! Was meinst du nun? Eine tolle Person, gelt?« Der Ludwig Mainone war über die Hofratstochter aus den Wolken gefallen und fragte sich nachdenklich, ob wohl auch die Charlotte sich hätte küssen lassen, wenn er daran gedacht hätte. Er überlegte sich freilich einen bescheidenen Handkuß, und der Pramer nahm sich gleich den Nacken und Mund und was ihm nur beikam. Das war ein Kerl! Dann verschwand die Festangelegenheit hinter den täglichen Schulsorgen.

Inzwischen wußte es Mainone so einzurichten, daß er die Hofratsleute, die Mutter mit ihren Töchtern möglichst oft zufällig auf der Gasse traf, wobei die Regina mit strengem kühlen Blick und trotzig gerader Haltung neben der Mutter herging, während Ludwig der Charlotte seinen Arm bot, als sei es nur selbstverständlich, daß er in eine junge Dame eingehängt spaziere. Unter den Schulkollegen wuchs sein Ansehen bedeutend, als man ihn in diesem paarweisen Wandel beobachtete.

Zur Revanche sollte schicklicherweise auch die Familie des Doktor Mainone einmal zu den Amlachers eingeladen werden, wovon sich Ludwig der kleinen Charlotte halber viel versprach. Er teilte dem Pramer hoch erfreut mit, daß er am folgenden Tage mit seiner Mutter beim Hofrat eine Antrittsvisite machen werde, welcher eine Einladung zu einer förmlichen Abendgesellschaft hoffentlich nachfolgen müßte.

Der Pramer nickte mit glänzenden Augen bei dieser Kunde und zog ein schönbeschriebenes, zusammengefaltetes Papier aus der Brusttasche, wobei er geheimnisvoll erklärte, dies sei eine halb komische, halb ernste Dichtung, zu welcher ihn die Regina begeistert habe, er bitte seinen Freund, dieses Poem bei den Hofratstöchtern vorzulesen, oder irgendwie sonst in geeigneter Weise zur Kenntnis der Schönen zu bringen. Ludwig versprachs und fand das wunderliche Produkt äußerst spaßhaft. Wie es ihm irgend annehmbar oder möglich erscheinen konnte, blieb ihm nachmals völlig unverständlich, da er doch schon in diesen Jahren alles Schöne und Gute der Literatur gelesen hatte und sonst gar wohl einen Leuen von einem Esel, eine Rose von einem Rhizinus zu unterscheiden verstand. Aber sei es, daß gegenüber eigenen oder den Erzeugnissen der nächsten Zeitgenossen, jedes unbefangene Urteil versagt, sei es, daß das Erlebnis ihn blendete, Ludwig hielt dieses beschriebene Blatt Papier für ein Meisterwerk und es den angebeteten Damen zur Kenntnis zu bringen, für durchaus gerechtfertigt.

Bei der Antrittsvisite wurde Ludwig, der mit seiner Mutter erschien, von der Frau Hofrätin und ihren beiden Töchtern empfangen. Der Herr Hofrat weilte, wie es einem Amtsgewaltigen ziemt, im Ministerio. Die Dame hatte jene zurückhaltende Strenge, die sich sorgenvollem Standesgefühl so gerne mitteilt. Das Gespräch kam natürlich auf das unlängst durchlebte schöne Fest im Mainoneschen Hause, wovon um so schicklicher geredet wurde, als ihm die Hofrätin krankheitshalber ferngeblieben war. Man berichtete von allen Einzelheiten, die Töchter Regina und Charlotte hatten zwar längst schon das Gleiche geschildert, nun aber konnte man es von anderer Seite beleuchten, und Ludwig geriet bald auf das Genie seines Kollegen Pramer, dessen Dichtung er sacht aus der Tasche zog und vorzutragen begann.

Da war die Rede von einem armen Flötenspieler, welcher einmal in einem Märchenschlosse spielen durfte und das Herz der schönsten Prinzessin gewonnen hatte, ohne daß der König oder irgendwer im Hofstaate etwas merkte. Nur er wußte darum, denn der Musikus weiß so etwas immer, indem seine Töne geradewegs in das begehrte Herz dringen und von dort zu dem des Spielers mit der Antwort zurückkehren, was ihre eigentliche Harmonie bedeutet. Da beschloß der Flötist mit seinem Wundermundwerkzeuge die begehrte Prinzessin demnächst ganz zu gewinnen, ja zu entführen, weshalb er sich am Donnerstag um vier Uhr nachmittag mitten auf dem Michaelerplatz aufstellte und zu spielen begann. Alles folgte seinen Tönen, aus den Häusern strömte alt und jung, selbst die Greise humpelten ihm auf Krücken zu, die Kutscher fuhren ihm mit ihren Wagen nach, die Hausierer legten ihre Bündel ab und walzten um ihn, Hunde und Katzen tanzten miteinander Zweischritt nach dieser Weise, endlich wurde, wie an einem unsichtbaren Faden die Prinzessin von dieser Melodie aus dem innersten Burggemach hervorgezogen, wie sie war, mit ihrem schwarzen Haar und spöttischen Mund, der nach seiner Flöte gespitzt war, als wollte er selber blasen. Der Musikant aber wanderte, da er sie so weit hatte, unablässig lockend den Kohlmarkt entlang und über den Graben, immer an der rechten Seite der Straße, immer von wachsendem Anhang gefolgt durch die Weihburggasse, bis er im Stadtpark anlangte, wo sich auf den Wiesen und Wegen unter unaufhörlichem Tanzen so viel Volk durcheinandertummelte, daß es gar nicht mehr auffiel, als die Prinzessin sich endlich in seinen Arm hängte und mit ihm verschwand, während er seine Flöte längst an einen Baumast gebunden hatte. Das verzauberte Werkzeug spielte nämlich, wie von einem geheimnisvollen Munde geblasen, auch ohne ihn solange weiter, bis die Tänzer vor Ermüdung und Trunkenheit umsanken und auf allen Bänken, Beeten und Wegen lagen. Als sie sich am anderen Tage ermattet erhoben, suchten sie vergeblich die Prinzessin und hatten das Nachsehen.

Es ging Ludwig eigentümlich beim Vorlesen dieser Geschichte. Je weiter er darin kam, um so törichter, unleidlicher und fragwürdiger erschien sie ihm, er wurde verlegen, konnte aber, wie die verzauberte Flöte, doch aus anderen Gründen nicht aufhören, und als er fertig war, saßen alle Zuhörer in gleicher benommener Stimmung da. Dies Flötenspiel hatte bei ihnen gerade die entgegengesetzte Wirkung getan und sie versteint, statt in Bewegung versetzt. Die beiden Fräulein kicherten etwas, die Frau Hofrätin murmelte: »Ja, recht hübsch, in der Tat, hat ihr Kollege so viel Zeit zu solchen Sachen?« Ludwigs Mutter lenkte schließlich das Gespräch auf andere Dinge, wo es sich eine Weile langsam und ungelenk wie ein leckes Fahrzeug bewegte und schließlich untersank, so daß man sich erhob und Abschied nahm, wobei zu einer Einladung für ein neuerliches Zusammenkommen gar kein schicklicher Anlaß gefunden wurde.

Auch später sah man sich nicht mehr, zudem brachen trübe Zeiten herein, statt Flötenmusik gab es Arbeit und Sorge. So verlor Ludwig Mainone allgemach die Amlachers, seinen Kollegen Pramer, die blonde Elisabeth May und viele andere Zeugen seiner Torheit und Jugend aus den Augen.

Heute, da er die Todesanzeige las, dachte er an den wunderlichen Streich. Freilich war ihm bald, nachdem er ihn verübt, gar wohl ein Licht darüber aufgegangen, daß er gemißbraucht worden war, mit diesem Flötenmärchen eine ersehnte Zusammenkunft unter der Blume zu bestellen. Die genaue dichterisch umwobene Beschreibung des Weges mit Zeit- und Ortsangabe hatte nur er damals nicht gemerkt und verstanden und so das Gelegenheitsgedicht zur Ungelegenheit gemacht.

Er hätte, weiß Gott noch heute was darum gegeben, bei der Regina Amlacher damals eine leidlichere Figur gespielt, oder ein solches Flötenmärchen wenigstens um seiner selbst willen produciert zu haben. Aber einen Narren für fremde Rechnung und auf eigene Gefahr dargestellt zu haben, das war eine üble Rolle.

Nur die Erinnerung hauchte über sein Mißgeschick eine tröstliche rosenrote Beleuchtung: sich selber zum Narren machen und es nicht wissen, das ist recht eigentlich das Beispiel der Jugend. Später erlebt man freilich zuweilen ähnliches, aber darüber kann und will man nicht mehr lächeln, noch sich's verzeihen; die Zeit ist zu kurz, die Schatten sind zu lang.


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