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Gerti begleitet den Papa

Unter den Gästen des kleinen, in den niederösterreichischen Voralpen gelegenen Sommerfrischortes bildete Frau Dora Faltis, welche mit ihrem etwa zwölfjährigen Töchterchen Gerti seit Beginn der warmen Jahreszeit hier wohnte, den glänzenden Mittelpunkt. Die Gesellschaft bestand meist aus verheirateten älteren und jüngeren Beamten, die mit ihren Familien hier bescheiden und standesgemäß den Urlaub verbrachten. Einige ledige Männer machten den heiratsfähigen Töchtern auf unverbindliche Weise den Hof. Das ganze Sommerleben spielte sich in den engbegrenzten Formen dieser peinlich auf Wahrung aller möglichen

Rücksichten bedachten Mittelstandsklasse ab. Doch bewirkte Dora Faltis eben unter solchen steifen und ängstlichen Herrschaften eine nicht unwillkommene Erregung der Gemüter. Die Männer empfanden ihren Reiz und ihre Anziehung und näherten sich ihr mit einer achtungsvollen unsicheren Kühnheit, denn die merkwürdige Frau konnte ebensowohl mit einem leuchtenden Auflachen, als mit einem beleidigenden scharfen Worte entgegnen. Die Frauen bewunderten mit zuwartendem Neid und staunendem Verdruß ihre elegante, ein bißchen auffallende Toilette, ihre laute Freiheit des Benehmens. Die jungen Mädchen aber wurden an dieser Dame erst aller Möglichkeiten weiblicher Anziehung inne, wofür sie ihr dankbar mit der Leidenschaftlichkeit dieses glücklichen Alters huldigten. Sie bewunderten jedes ihrer Worte, nahmen ihre Redensarten an, ahmten ihre unbekümmerten, raschen Gebärden nach und vergötterten sie auf jede Weise.

Das etwa zwölfjährige, ein wenig schüchterne Kind, Gerti, blieb aber unbeachtet und wußte sich unter seinen lauten Altersgenossen nicht sonderlich zurechtzufinden, so daß es der Mutter überall unwillkürlich nachging, und wenn diese, mit der Gesellschaft befaßt, sich um ihr Töchterchen nicht kümmern konnte, still zurücktrat und allein blieb.

Gegen Ende des August wurde eines Abends im Gasthofe eine Festlichkeit veranstaltet zu Ehren des angesehensten Hauptes der Sommergesellschaft, eines Landesgerichtsrates, dessen Ferien abliefen. Ein Maler hatte eine Art von dramatischem Scherzspiel gedichtet, worin die Damen die Liebhaberei des alten Herrn für Pilze in entsprechenden Verkleidungen mit allerhand Versen harmlos verkörperten. Sie waren sehr hübsch anzusehen, wie sie in ihren weißen oder bunten Kleidern unter mächtigen, farbigen Schirmen einen anmutigen Reigen aufführten, der damit endigte, daß jede einzelne vor den Gefeierten mit einer besonderen Huldigung trat, welche dieser freundlich erwiderte, indem er mit der schlauen Freiheit, die sich das Alter zubilligt, ihnen die Wangen streichelte und die Hände küßte.

Zum Schlusse erschien Frau Faltis als Muse in einem blutroten Kleide, aus welchem ihre bloßen Arme und ihr schlanker Hals hervortraten, das schwarze Haar war am Hinterhaupte von einem Filigransilberpfeil in einen vollen Knoten zusammengehalten. Aus der einstudierten Rede auf den Gast ging sie zu einer kurzen Improvisation auf den Regisseur der Feier über und krönte den erstaunten Maler, der sich vor ihr auf ein Knie niedergelassen hatte und freudig zu der bezaubernden Gestalt aufblickte, mit einem Lorbeerkranze.

Am andern Ende des Raumes, der allen Ankömmlingen offenstehen mußte, saß in nachlässiger Touristenkleidung ein Unbekannter, der mit einem gewissen mokanten Gesichtsausdrucke belustigt auf die Geselligkeit der übrigen und bald unverwandt auf Frau Faltis sah, mit einem kühlen, doch interessierten Blicke, der sie vor den übrigen unwillkürlich auszeichnete. Nicht ohne Verlegenheit fühlte sie sich dadurch beherrscht und gestört und nestelte hilflos an ihren kurzen Ärmeln und an ihrer Frisur.

Als sich allmählich die geschlossene Gruppe gelöst und die heitere Erregung beruhigt hatte, setzte sich über inständige Bitten der jungen Mädchen einer der Herren ans Klavier und spielte zum Tanz auf; man räumte die Sessel und Tische aus der Mitte des Zimmers weg, und mit Ausnahme der alten Damen, welche wehmütig vergnügt der Jugend zusahen, ergaben sich alle Anwesenden, sogar die würdigen, weißhaarigen Herren dem harmlosen Vergnügen. Der Landesgerichtsrat forderte Frau Faltis auf und tanzte mit ihr in der altfränkischen Manier seiner Jugendjahre, mit weit ausgestrecktem rechten Arm und ausladenden Bewegungen, wobei ihn die Schöße seines schwarzen Rockes umflatterten. Dora Faltis wiegte sich gleichsam in der eigenen Schönheit, sie war fast klein, doch von einer gewissen kräftig beherrschten Fülle der Gestalt, von beweglichen Hüften, sie bog den Oberkörper zurück, so daß ihr Haarknoten den Nacken berührte, die Augen waren halb geschlossen und blickten unter den schweren Lidern gleichsam mit Zagen hervor, als sie neuerdings den ruhigen, spöttisch beobachtenden Fremden trafen.

Dieser war auch sonst nicht unbemerkt geblieben, und da man bei der allgemeinen Heiterkeit keinen Unbeteiligten dulden mochte, knüpfte einer der jungen Leute alsbald ein Gespräch an, stellte sich vor, erfuhr Namen und Stand des Unbekannten, der, ein Ingenieur, hier einige Wochen der Ruhe nach einer angestrengten Bauperiode zubringen wollte und es lächelnd geschehen ließ, daß man ihn der Gesellschaft, insbesondere den Damen präsentierte. Der Ankömmling kümmerte sich aber nicht weiter um alle übrigen, sondern schloß sich unverweilt an Frau Faltis an und brachte sie durch sein zugleich zurückhaltendes und forschendes, spöttisches und eindringliches Wesen zu einer unsicheren Heiterkeit, sie ließ alle Kräfte ihres Naturells spielen, um ihn aus der Fassung zu reißen. Dabei brachte sie jedoch nicht ihn aus seiner sicheren Ruhe, sondern vielmehr sich in eine gewisse Erregung, der er befriedigt zusah.

In ihrem Gesichte zeigte sich im Verlaufe des Gesprächs ein Zug von Verlegenheit und zugleich von übler Laune, doch stand ihr eben diese hilflose Bosheit recht wohl an. Schließlich forderte sie der Fremde zum Tanz auf. Sie verneinte erst. Aber auf seine Frage, warum sie sich denn weigere, da sie doch sicherlich tanzen wolle, erhob sie sich achselzuckend und trat mit ihm an. Er faßte sie fest um die Mitte, sie spürte den Druck seines Armes um ihre Hüften, es war heiß im Zimmer, die übrigen wirbelten durcheinander. Der Klavierspieler hackte unablässig auf dem alten Flügel seinen banalen Walzer. Der Fremde tanzte langsam und mit der schleppenden Leidenschaftlichkeit, die in mäßigem Tempo sich besser gehen lassen kann als im stürmischen. Dora Faltis schmiegte sich seinem Schritt und Tritt an und atmete die Lust der sanften, sinnlichen Bewegung mit halbgeöffnetem Munde, so daß ihn, dessen Lippen fest geschlossen waren, ihr Hauch berührte, wenn sie zu ihm aufsah, sie lächelte und schien ringsum nichts mehr zu bemerken, wie sich denn auch die übrigen zurückzogen, so daß der Tänzer immer weniger wurden und die beiden endlich in dem Zimmer allein und fast auf einer Stelle sich langsam in einem kleinen Kreise drehten. Ihr weißer Arm ruhte leicht auf seiner Schulter, und da er viel größer war als sie, blickte er auf ihren Kopf herab und bewahrte sein gewohntes, zweifelndes Lächeln mit dem Bewußtsein des zufälligen abenteuerlichen Geschehens. Man kommt in eine fremde Wirtsstube unter eine gleichgültige Gesellschaft, die sich belanglos unterhält und ist auf einmal mit einem Weibe allein wie auf einer Insel.

Die Damen und Herren umstanden das tanzende Paar, flüsterten und tauschten leise Bewunderungsrufe, der alte Landesgerichtsrat blickte mit der faunischen Erfahrenheit des Alters auf diese jungen Sünder. Der Klavierspieler hackte unverdrossen weiter, bis ihm endlich, früher als den Tanzenden, die Geduld ausging und er mit einem dröhnenden Fingergetrommel schloß, was aber die beiden nicht hinderte, auch ohne Musik im gleichen, sicheren Rhythmus sich gelassen und von der gewohnten Bewegung getragen, weiter im Walzer zu wiegen. Plötzlich fand sich Frau Faltis mit ihrem Tänzer allein in der unerwarteten Stille, löste sich mit verlegenem Gesicht aus seinem Arm und eilte auf ihren Platz, während er sich, leicht dankend, nach ihr verneigte. Das Publikum applaudierte jubelnd.

Ihr kleines Mädchen aber war an dem verlassenen Tische unversehens eingenickt. Als sie dies bemerkte, rief sie bestürzt:

»Mein Gott, das Kind schläft mir ja ein.«

Rasch weckte sie es. Gerti rieb sich verlegen die Augen und sagte: »Nein, ich habe gewiß nicht geschlafen.«

Aber die junge Frau hüllte das Kind und sich eilig in die Mäntel und nahm von der Gesellschaft Abschied. Der Ingenieur erklärte, sie nach Hause begleiten zu wollen, denn sie wohnte etwa eine Viertelstunde weit am Ende des Dorfes in der Hammermühle. So hieß eine alte Mühle, die nur mehr leer lief, während der Hammermüller sich durch einen Fuhrwerksbetrieb und das Vermieten von Sommerwohnungen erhielt.

Dahin gingen sie in der klaren, sternenhellen, kühlen Nacht. Der Ingenieur hatte Frau Faltis seinen Arm geboten. Sie sprachen nur wenig und scheinbar gleichgültiges, doch spürte die Frau eine eigentümliche leichte Kraft in allen Gliedern. Gerti hielt sich müde an ihrem Rock fest und ließ sich beinahe nachziehen; wenn sie zu schnell gingen, seufzte das Kind leise.

So kamen sie vor das Haus. Der Bach stürzte vom waldigen Berge, an dessen letzter Wiesenstufe abseits und erhöht die Mühle lag, in einer breiten und etwa metertiefen Holzrinne oberschlächtig geleitet, sein weißes, schäumendes Wasser über die moosbewachsenen Holzräder, um unten in der Talsohle nach einem harten Fall sich mit einem größeren Flüßchen, das längs der Straße lief, zu vereinigen. Er rauschte so stark und laut, daß sein Lärm jedes Wort verschlang. Sie gingen den steinigen und steilen Seitenweg zu dem weiträumigen, aber verwahrlosten Anwesen hinan, oben öffnete Frau Faltis mit dem unförmlichen Schlüssel, den sie bei sich trug, die versperrte Haustür, und ehe sie mit dem Kinde in den dunkeln Flur eintrat, wandte sie sich freundlich nach ihrem Begleiter zurück, der ihren Arm freigegeben hatte. Dieser sah sie mit seinem wunderlichen, geraden Blicke an, worüber ihr Lächeln einen unsicheren Ausdruck annahm, dessen sie sich zugleich schämte und den sie verbergen wollte, obgleich er in der Dunkelheit doch kaum erkennbar sein mochte. Aber zwei Menschen, die einander ins Gesicht sehen, wissen oft in der tiefsten Finsternis um den Ausdruck ihrer Züge. Sie sagte leise:

»Dank und gute Nacht.«

Er erwiderte »gute Nacht« und blieb stehen.

Sie war sicher, er verweilte noch vor dem Haustore, als sie bereits im Flur geborgen, mit der Kleinen über die vertraute Holzstiege nach ihrer Wohnung tastete.

In den nächsten Tagen schloß sich der Fremde, unbekümmert um die übrige Gesellschaft, an Frau Dora Faltis an, begleitete sie und ihre Kleine auf dem Morgenspaziergang, rastete mit ihr auf einer stillen Bank im Walde oder auf dem Rasen einer einsamen Wiese, speiste an ihrem Tisch und wanderte nachmittags mit ihr auf den üblichen Promenaden längs der hellen Landstraße oder über Waldwege. Die anderen Sommergäste fanden sich sofort in die geänderte Lage und überließen das merkwürdige Paar seiner zugetanen Einsamkeit, wobei sich wohl das übliche Deuteln, Hinweisen, Flüstern anspann, welches einen Schleier von Verachtung, Spott, Verurteilung und Neid zu wirken pflegt, der nicht einmal recht bemerkbar, doch dauerhaft und undurchdringlich, die Unbekümmerten von der sehr sittenfesten, bürgerlichen Welt scheidet.

Gerti blickte den Fremden oft verwundert und neugierig an und erwiderte die Scherze, mit denen er das schweigsame Kind aus der Stille zu locken und zu erheitern suchte, nur zaghaft und spröde, aber die Mutter zeigte eine ungewöhnliche Munterkeit und ging, durch den Spott des Ingenieurs über die ehrlichen Spießbürger zu Lachen, Zustimmung und überbietender Erwiderung angeregt, auf alle Scherze übermütig ein, besonders als sie merkte, daß sich die Gesellschaft zusehends von ihr zurückzog, daß die Herren mit besonderer Höflichkeit grüßten, die Damen mit ausgesuchter Kühle, daß die jungen Mädchen, offenbar auf mütterliche Weisung, ihr nur mehr aus der Ferne und verlegen huldigten, aber sich nicht mehr zutraulich um sie drängten.

Auf den Spaziergängen pflegte Gerti zurückzubleiben und langsam, den Kopf gesenkt, hinterdrein zu wandeln, wobei sie unversehens für sich zu singen begann, doch nicht etwa Lieder nach bekannten Melodieen und Worten, sondern zusammenhanglose Töne, ohne Freude, ohne Trauer, wie das klingende Selbstgespräch eines unwissenden, jungen Geschöpfes.

Der Ingenieur hörte erstaunt und nicht ohne Rührung zu, während Frau Faltis, daran gewöhnt, sagte, so sei die Kleine immer gewesen, man müsse sie sich selber überlassen, dabei gehe das Kind am zufriedensten und ausdauerndsten. Unterdessen erzählte sie selbst dem Fremden, mit dem sie rasch und erstaunlich vertraut wurde, allerhand aus ihrem eigenen Leben, wobei sich ihm ihr Charakter enthüllte, mehr als sie wußte und wollte, denn bei aller Form und Sicherheit des gesellschaftlichen Umgangs kannte sie doch eigentlich keine Zurückhaltung, sondern benahm sich mit unbefangener aber friedloser Aufrichtigkeit, redete, was ihr die Laune des Augenblicks und die Gelegenheit der Aussprache eingab.

Bald wußte er ihre kleine Geschichte, wie sie als Kind reicher Eltern verwöhnt und in üppigen Verhältnissen aufgewachsen, frühreif, vergöttert und von mannigfachen Gaben in einer Luft von Müßiggang und Behagen, jeden Wunsch – noch ehe sie sich seiner recht besonnen – erfüllt sah. Sie betrieb mancherlei mit Eifer, um es unbefriedigt zu verlassen, wenn sich irgendeine andere Verheißung zeigte, eine ausgebreitete Bildung bot ihr eine gewisse Lockung, hielt sie aber nicht fest, so daß sie bei rascher Auffassung doch nur im äußeren Schein des Wissens eine Befriedigung ihrer Eitelkeit suchte, nicht die Einsicht um ihrer selbst willen. Früh in die Welt eingeführt, stürzte sie sich in die Mitte aller Vergnügungen, von den Eltern, bald aber auch von allen Leuten, mit denen sie zusammenkam, angebetet, verwöhnt, gereizt. Doch fand sie mehr Versprechungen als Erfüllung, denn über das gewohnte Spiel seiner Verlockung und Huldigung hinaus bot sich kein Ziel, wenigstens fand sie niemand, der ihre Leidenschaft reizte oder zu verdienen schien. Und was noch merkwürdiger war, weder ihr Vermögen noch ihre Schönheit zogen ernsthafte Bewerber an, vielmehr begnügten sich die Huldigenden mit einer scherzhaften Bewunderung, ohne tiefer von ihrer Natur erfaßt und festgehalten zu werden. Bei diesem Treiben, wovon ein junges Mädchen trotz ermüdender Enttäuschung ganz eingeschlossen und festgehalten zu werden pflegt, kam sie in die Zwanzigerjahre, noch immer frei, noch immer ihres eigentlichen Schicksals harrend, das sich ihr Tag um Tag entzog. Dabei wurden ihre Sinne gereizt, ihr Gemüt leidenschaftlich verwirrt, eine gegenstandslose Sehnsucht erfüllte sie mit Launen und Verdruß. Endlich entschlossen sich ihre Eltern, selbst ihr Schicksal zu bestimmen. Sie führten ihr einen älteren, bekümmerten Mann zu, der zwar nicht reich, doch durch seinen Charakter und seine Führung ihre Tochter glücklich zu machen verhieß. Das war Faltis, der in schwierigen, armseligen Verhältnissen sich durch eigene Kraft endlich selbständig gemacht und eine bescheidene Fabrik begründet hatte. Mit dem verheißenen Vermögen des Mädchens hoffte er einen Aufschwung seines kleinen Unternehmens herbeizuführen. Aber wie so oft bei solchen planvollen Heiratsabmachungen wurde die Berechnung von der Leidenschaft überwältigt, und der besonnene, karge Mann faßte eine starke Liebe zu dem schönen Wesen. Dora, die bisher enttäuscht und unbefriedigt, zum ersten Male eine solche wahre Neigung erweckt hatte, stimmte zu, ohne selbst wärmer für den Freier zu empfinden, was sie wohl nicht mit Unrecht einer Ungenügsamkeit ihrer Natur zuschrieb. Da sie doch heiraten müsse, wie sie dachte, möchte es nun endlich geschehen, so nahm sie ihn.

Wie der Ingenieur bald erriet, bald auch von der jungen Frau erfuhr, wurde die Ehe nicht eben glücklich.

Der ungeschickte, praktisch nicht besonders befähigte, wenn auch höchst rechtliche und fleißige Faltis wußte mit dem erheirateten Vermögen nicht zu schalten, er ließ sich in Unternehmungen ein, die er nicht beherrschte, büßte alles Geld ein und stand nach kaum zwei Jahren vor einem völligen Zusammenbruch, aus dem ihn nur die höchsten Aufwendungen ihrer Eltern erretteten, die ihr ganzes übriggebliebenes Vermögen einsetzen mußten, um den Schwiegersohn vor dem Konkurs zu bewahren. Bald darauf starben sie, zuerst der Vater, kurze Zeit danach die Mutter und ließen Dora in einer ökonomisch engen, drückenden Ehe zurück, aus der es für sie keinen Ausweg gab.

So sollte sie nun in eingeschränkten Verhältnissen sich zurechtfinden, sparen, ein Hauswesen führen, wozu sie weder Lust noch Pflicht spürte, und sollte einem ungeliebten Manne helfen. Sie hatte alle Mühe, vor der Welt die bisherige stolze Haltung ihrer Wirtschaft zu behaupten, denn darauf legte sie besonderes Gewicht, und so mußte sie, die wahrlich an Besseres gewöhnt war, sich durchaus alles versagen, worauf sie ein Anrecht hatte, mußte ihre Kleider umändern, statt sie wegzuwerfen, nach glanzvollen Abendgesellschaften, die sie dem Stande schuldig zu sein sich einredete, an gewöhnlichen Tagen ein bescheidenes Mittagessen zusammenstellen, Schulden machen und mit dem kärgsten Wirtschaftsgeld hier eine Lücke verstopfen, um dort eine klaffendere aufzutun. Dabei wuchs ihr einziges Kind auf, dessen sie wieder nicht recht froh wurde, weil es mehr ihrem Manne als ihr gehörte, denn die Kleine wich ihr mit einer leidenden Ruhe aus, während sie mit hingebendem Gefühle an dem versorgten, früh gealterten Vater hing. Weder ungemessene Zärtlichkeit und Verwöhnung, noch rücksichtslos ausbrechende Anfälle mütterlicher Eifersucht, mit denen Dora das verängstigte Kind oft genug zur Verzweiflung brachte, konnten an dem ungleichen Verhältnis Gertis zu den beiden Eltern etwas ändern.

Die Natur gibt eben jedem Wesen eine Seelenwage mit, in deren Schalen sich Liebe und Schuld, Recht und Unrecht der Eltern messen und zeigen.

»Wenn Gerti nicht wäre,« sagte Frau Faltis offenherzig, »möchte längst alles auseinandergegangen sein. Denn ich kann mich nicht beherrschen. Wenn ich zornig bin, wenn mich meine Leidenschaft ergreift, halte ich mich nicht zurück, ich sage alles heraus und mehr als ich fühle, Schlimmeres als ich will, es muß gesagt sein, und ginge es ans Leben. Dann ist das Kind da, schaut mich an und ich kann mich nicht fassen, bis ich endlich bei Besinnung abbitte, obgleich ich auf meine Art im Recht bin. Aber so oft ich mir auch vornehme, mich vor dem Kinde zu mäßigen, wenn mich die Laune ankommt, fange ich immer wieder an. Ja, das Kind reizt mich gerade dazu mit seiner Ruhe, weil es so ist wie mein Mann, nicht wie ich, so daß ich mich oft frage, ob es denn mein ist.«

Alles dies erzählte sie mit ihrer reizvoll befremdenden Aufrichtigkeit und mit einer gewissen Freude, während ihr der Fremde zuhörte und sie dabei neugierig und vertraut ansah, denn alle diese Dinge, welche von einem tiefen Gebrechen ihrer Natur zeugen, ließen sie dabei um so begehrenswerter erscheinen, da sie noch in dem Alter war, welches selbst aus Schuld und Fehlern seinen Reiz schöpft.

Eines Morgens kam Frau Faltis mit einer gewissen Aufregung, Gerti strahlend vor Freude, zum gewohnten Spaziergang. Der Ingenieur, der gleich erkannte, daß etwas Besonderes vorgefallen sei, sah beide fragend an, worauf Gerti ihm jubelnd entgegensprang: »Der Papa kommt morgen.« Die Mutter bestätigte, ihr Mann habe seine Ankunft für ein paar Tage der Erholung angezeigt. Während sie mit dem Ingenieur langsam bergauf wanderte, eilte die Kleine, munter lachend wie noch nie und ganz verwandelt, in ihrer erregten Freude voran, von Zeit zu Zeit stieß sie ein lautes oder leises Jauchzen aus, pflückte Blumen, rannte mit dem Strauß unversehens zurück, hielt ihn der Mutter entgegen: »Schau, Liebe, das ist alles für den Papa,« und lief wieder rasch davon.

Der Ingenieur sah seine Begleiterin an und sagte nicht ohne Rührung: »Wie gern sie ihn hat.«

Frau Faltis lächelte:

»Ja, wenn sie von ihrem Vater spricht, wenn sie an ihn denkt, vergißt sie alles andere. Er hängt ja auch an ihr.«

Der Ingenieur sagte leise:

»Kinder wissen am besten, wen sie liebhaben dürfen, besser als wir Erwachsenen.«

»Faltis ist gewiß ein guter Mensch,« sagte Dora, »aber ich weiß nichts mit ihm anzufangen. Doch hält er alles, was einmal zu ihm gehört, eisern fest, da hat er eine Willenskraft, die ihm sonst fehlt. Er würde mich nicht von sich lassen, wenn ich es wollte, und müßte er darüber zugrunde gehen. Dabei tauge ich doch nicht zu ihm, er brauchte eine brave Frau, fleißig und bescheiden. Aber das weiß er gar nicht einmal, und ich mag ihn noch so sehr quälen, er meint, ich gehöre zu ihm.«

»Ich bin neugierig, wie ich mich mit ihm vertragen werde.«

»Gewiß sehr gut, er ist unter Leuten harmlos und freundlich, nur will er nicht viel von ihnen wissen, er macht sich nichts aus dem Verkehr, und ginge es nach ihm, so lebten wir wie die Einsiedler. Sein Kind und ich, damit ist der Kreis seiner geselligen Interessen beschlossen.«

»Soll ich mich zurückziehen oder in Ihrer Gesellschaft bleiben, während er hier ist?«

»Sie bleiben, ich lasse mir meinen Verkehr nicht vorschreiben.«

Am Abend, Dora und Gerti hatten ihn zu Wagen von der etwa eine Stunde entfernten Bahnstation abgeholt, erschien Faltis mit seiner kleinen Familie zum Nachtmahl und lernte den Ingenieur kennen, die übrigen Gäste grüßte er bloß von weitem.

Bei Tische gab es eine langsame Unterhaltung, an welcher der Ingenieur launig, Frau Faltis munter erregt, Gerti glücklich teilnahmen, während Herr Faltis sich auf freundliches, höfliches und zurückhaltendes Zuhören und Antworten beschränkte. Er war ein stattlicher, etwas beleibter, blonder Mann von ernstem Gesichtsausdruck, seine blauen Augen blickten kurzsichtig hinter Brillengläsern hervor und auf seiner hohen Stirn, die eher einem Lehrer, als einem Kaufmann zu gehören schien, über der breiten, großen Nase zeugten drei starke, stete Falten von dauerndem Sorgen und Grübeln. Sein Mund, durch den Vollbart halb verdeckt, hatte einen zarten, weichen Zug und ein verlegenes Lächeln, welches seinen Ernst und seine Schweigsamkeit gleichsam zu entschuldigen suchte. Gerti saß dicht an ihn geschmiegt, indem sie ihren Stuhl eng an den seinen geschoben hatte. Während die übrigen noch aßen, hatte sie nach ein paar Bissen aufgehört, um ihren Arm unter dem ihres Vaters zu bergen; sie sah unverwandt auf ihn, und er, der vor dem Fremden seine Zärtlichkeit nicht als Schwäche ausgelegt wissen wollte, beteiligte sich an der Unterhaltung und strich nur, wenn ihn das Kind ansah und ansprach, zuweilen leise über dessen blonden Scheitel. Frau Faltis sagte: »Nun, Gerti, jetzt bist du zufrieden, wenn du deinen Papa hast, gelt?«

Gerti errötete und lächelte glücklich. Der Vater sagte:

»Lange darf ich ohnehin nicht hierbleiben. Ich habe mir kaum die drei Tage herausschlagen können.«

»Nicht vom Fortgehen reden!« bat die Kleine. »Jetzt bist du da, jetzt bleibst du da.«

Bald nach Tisch wanderten die vier langsam im Scheine des Mondes nach Hause, wobei Herr Faltis, sein Töchterchen an der Hand, still die stille Berglandschaft betrachtete, tief atmete – den Hut hatte er vom Kopf genommen – und die Schönheit, den Frieden, die Ruhe des Tales genoß. Für den nächsten Tag wurde ein gemeinsamer Ausflug verabredet, und vor der Hammermühle verabschiedete sich der Ingenieur mit einem verbindlichen Händedruck von dem Ehepaar, mit einem Scherze von Gerti.

Vor dem Schlafengehen fragte Herr Faltis beiläufig nach dem Fremden. Seine Frau antwortete:

»Das ist der einzige nette Mensch unter diesen Spießbürgern. Ohne ihn wäre es hier unerträglich.«

Faltis, der das Fenster geöffnet hatte, so daß das wilde Rauschen des Mühlbaches und der Bäume eindrang, meinte: »Es ist doch wunderbar hier!«

»Ja, aber die Leute können einem das Nest schon verleiden!«

»Was gehen mich die Leute an? Ich begreife nicht, daß du dich um sie kümmerst, und daß du so sehr auf Verkehr bedacht bist. Auch dieser Ingenieur ...«

Sie unterbrach ihn unwillig:

»Jetzt möchtest du mir wieder den einzigen Umgang verleiden. Du kommst auf drei Tage her, da brauchst du freilich niemand, aber ich muß hier in der Langweile drei Monate aushalten. Du verbannst mich irgendwohin, und ich soll mich mutterseelenallein wohlfühlen, und habe ich nun doch einen besseren Menschen gefunden, so mußt du mir ihn gleich verekeln.«

»Aber nein, Dora, meinetwegen magst du gerne mit ihm umgehen, ich dachte nur, wir bleiben lieber unter uns.«

Gerti schlüpfte im Nachthemde aus ihrer Kammer, um Schlafwohl zu sagen. So antwortete Frau Faltis nichts mehr und küßte das Kind flüchtig auf die Stirn, während der Vater das kleine Mädchen lächelnd hinaufhob: »Geht's dir gut, Gerti? Freust du dich, daß ich da bin?«

»Ja, ja, Papa, mein Papa!«

Sie beugte sich über seine Stirn und küßte sie leidenschaftlich, wobei sie ihn so eng mit ihren Armen umschlang, daß ihm der Atem ausging.

Er setzte sie dann behutsam wieder ab und sagte ihr: »Jetzt geh schön schlafen, mein Kind, schlaf gut, morgen ist auch noch ein Tag.«

»Aber du mußt mich in mein Bett tragen!«

»Nun, so komm, meinetwegen.« Sie schmiegte sich, die Beine ganz zusammengekauert, in seine Arme, und so trug er sie in ihre Kammer.

Rasch waren die drei Urlaubstage verstrichen, und am Abend des dritten hieß es an die Abreise denken. Als davon gesprochen wurde, schluchzte Gerti tief auf, von Tränen ganz erschüttert, so daß der Ingenieur und Frau Faltis ratlos ergriffen das traurige Kind ansahen und vergeblich zu beschwichtigen suchten, während der Vater ruhig blieb und sagte: »Aber Gerti, was fällt dir ein, wer wird denn so weinen! Du bist doch ein großes Mädchen, schämst du dich nicht?«

»Nein, Papa, du darfst nicht weg!

»Ich war doch keinen Sommer noch länger bei euch. Ich habe mich ja immer nur für ein paar Tage frei machen können, das weißt du doch.«

»Ja, Papa, aber das war ganz anders, als Heuer. Du mußt noch bleiben« ...

Sie ließ sich nicht beruhigen und lehnte weinend den Kopf an des Vaters Seite. Endlich machte man aus, daß er den nächsten halben Tag zugeben und erst nach Tisch fahren werde, Gerti durfte ihn begleiten. Nur als man ihr versprochen hatte, sie sollte mit dem Vater allein und im kleinen Salzburger Wägelchen des Hammermüllers zur Bahn fahren, ließ sie sich beruhigen. Aber noch, als Faltis sie zu Bette trug, schluchzte sie, und schluchzend entschlief sie.

Am nächsten Morgen machte man noch einen Spaziergang, wobei Gerti einen schönen, großen Strauß pflückte, und nicht genug Blumen bekommen konnte, als wollte sie den ganzen Wald und alles, was blühte in diesem Tal, dem Vater mitgeben.

Der Ingenieur und Dora waren einsilbig und ein wenig verstimmt, ohne zu wissen, weshalb, während Herr Faltis verhältnismäßig heiter, durch die paar Ruhetage erquickt, sich mit ihnen und dem Kinde unterhielt. Auch Gerti schien gefaßt und freute sich auf die ungewohnte Fahrt, daß sie den Vater allein noch eine Stunde länger bei sich haben durfte.

Endlich stand das Wägelchen, mit einem kräftigen Braunen bespannt, vor dem Wirtshause, um die zwei Fahrgäste zu erwarten. Herr Faltis trat mit Gerti heraus, küßte seine Frau freundlich auf die Stirn und sagte ihr, sie möchte es sich die paar Wochen bis zur Rückkehr in die Stadt noch wohl gehen lassen, dem Fremden reichte er mit verbindlicher Verbeugung die Hand und dankte ihm, daß er sich der Frau und des Kindes freundlich angenommen. Der Ingenieur erwiderte, dies sei eine Ehre und ein Vergnügen gewesen, wofür er keinen Dank verdiene, sondern schulde und verabschiedete sich mit einem kräftigen Händedrucke. Darauf bestieg Herr Faltis mit Gerti den Wagen, der Hammermüller, ein gedrungener, kleiner Mann mit weingerötetem Gesichte, der auf dem Bocke saß, schnalzte mit der Peitsche und das Rößlein fing zu traben an. Dora Faltis winkte mit dem Taschentuche, solange ihr Mann zurücksah, bis das Fahrzeug um eine Ecke der Landstraße bog und verschwand.

Vater und Kind sprachen wenig, sondern freuten sich nur der letzten Stunde des Beisammenseins. Gerti schmiegte sich eng an Faltis an. Dabei blickte er auf die schöne, grüne Landschaft, durch welche der Wagen an einem schnellen, klaren Gebirgswasser entlang, auf einer holprigen Straße dahinrollte, an vereinzelten Bauernhöfen vorüber, an Wehren, über welche der Fluß silbern hinabstürzte, bald schien die Sonne hell und heiß, bald zogen weiße und graue Wolken vorüber und ein heftiger kühler Wind wehte um die Stirnen. Das Kind freute sich an der gleichmäßigen Bewegung des Fahrens und vergaß darüber allen, früher so heftigen Schmerz des Abschieds, zugleich sah es mit Neugierde auf den breiten Rücken des stetig trabenden Pferdes, dessen Schenkel im Laufen sich strafften und wieder glätteten und im Schweiß schimmerten. Es hob und senkte den Kopf und schüttelte zuweilen die grobe Mähne und schnaubte. Der Hammermüller auf dem Bocke trieb es mit leisem Schnalzen an.

Vor dem Bahnhofe stand schon der Zug bereit, und die Zeit des Abschieds war so knapp bemessen, daß sich Gerti kaum erst besonnen hatte, als der Vater auch schon einsteigen mußte, sie noch umarmte und sagte: »Sei schön brav Kleine, und komme mir recht gesund zurück.« Sie sah dem abfahrenden Zuge nach, winkte mit ihrem Strohhut und ihrem Taschentuche, während ein paar rasche Tränen über ihre roten Wangen eilten.

Nun sollte sie allein zurückfahren, wie eine Erwachsene. Rasch und verlegen abgewandt trocknete sie ihr Gesicht und kehrte zur Straße zurück, wo der Wagen wartete. Lächelnd trat sie dem Hammermüller entgegen und wollte den Rücksitz einnehmen. Der aber sagte:

»Nein, Fräulein, kommen Sie zu mir auf den Bock, da ist's lustiger, da können Sie selber kutschieren. Wir haben's ja nicht so gnädig, wir werden schön langsam fahren und ein bisserl einkehren.«

Gerti bedachte, daß sie den Mann nicht recht abweisen dürfe, zumal das Kutschieren auch nicht zu verachten sei. So nahm sie denn neben ihm Platz, er gab ihr die Zügel in die Hand und das gehorsame Tier setzte sich auf seinen Zuruf munter in Bewegung.

Sie fuhren etwa eine Viertelstunde lang, bis sie zu einem Wirtshaus kamen. Hier machte der Hammermüller halt, um sich ein wenig zu stärken, wie er sagte. Er forderte Gerti auf, mit ihm in die Stube zu kommen, was sie aber ausschlug, sie bleibe lieber auf dem Bocke sitzen und erwarte ihn hier.

Er trat also allein in die Schenke und kam nach einer Weile mit einem Glase Rotwein heraus.

»Jetzt müssen Sie aber auch einen Schluck machen, Fräulein. Das ist gut.«

Gerti weigerte sich lachend, aber als der Hammermüller ein gekränktes Gesicht machte, wollte sie ihn nicht betrüben und griff unschlüssig nach dem Glase und drehte es unwillkürlich so, daß sie nicht die Lippen dort ansetzen mußte, wo er getrunken hatte. Und nun wollte sie eben nur nippen, aber der Hammermüller duldete es nicht.

»Trinkens nur ordentlich. Das ist ein guter Wein, der schadet Ihnen nichts.«

So tat sie einen rechten Zug und merkte, daß es ein kühler, kräftiger Wein war, der gar nicht schlecht schmeckte. Als sie ihm das Glas zurückgab, leerte er es schnell bis auf die Neige, wischte sich mit der Hand schmunzelnd die Lippen ab und sagte: »Alsdann, gehn wir's an«, zog sein Geldbeutelchen aus dem Sacke und zählte den schuldigen Betrag zusammen, um die Kellnerin, die vor der Tür wartete, zu befriedigen. Dann schwang er sich neben Gerti auf den Sitz und rief »Hüh« und das Rößlein begann zu traben.

Nach einer weiteren Viertelstunde kamen sie abermals zu einer größeren Herberge.

»Der Braune muß futtern, er hat seit der Früh nichts Ordentliches bekommen,« sagte der Hammermüller.

Vor der Schenke lief ein Brunnen, und das Tier trat von selbst durstig und entschlossen vor den Steintrog, stand hier still und trank.

Gerti lachte vergnügt und übergab dem Müller die Zügel, dieser ließ dem Pferd eine Schwinge mit Hafer vorsetzen und sah ihm einen Augenblick zu, wie es behaglich zu fressen begann, dann meinte er, »recht hat's, wir müssen aber auch das Unsrige tun«. Da Gerti sich neuerdings weigerte, abzusteigen und in die Wirtsstube zu treten, blieb er höflich bei dem Wagen stehen und bestellte draußen eine Preßwurst und eine Halbe Wein. »Die haben nämlich heute gewurstet, und das versteht die Wirtin am besten in der ganzen Gegend.«

Die Kellnerin brachte einen großen, mit dicken, mosaikartig aussehenden Wurstscheiben ganz belegten Teller, einen Korb mit Hausbrot und die Halbe Wein. Diesmal einen weißen.

»Jetzt müssen Sie aber auch essen. Das Fahren macht Hunger.«

Gerti spürte in der Tat Appetit, insbesondere, weil sie solche Würste noch nie zu kosten bekommen hatte. So griff sie zu, nahm eine Scheibe und aß, biß auch herzhaft in das schöne Schwarzbrot und kaute munter.

Da aber die fette Wurst nach Wein verlangt, trank sie willig aus dem Glase, das ihr der Hammermüller bot, einen vollen Schluck. Ihr wurde warm und wohl zumute, so daß sie allen Kummer vergaß, auf das futternde Pferd, auf den rauschenden Brunnen und das weiße Wirtshaus blickte und laut auflachte, da sie der wunderlichen Fahrt gedachte, die sie tat.

Als es aber zum Zahlen kam, besann sie sich, daß sie sich nicht so gänzlich freihalten lassen dürfe, sondern bestand darauf, diesmal selbst die Zeche für sich und ihren Wirt zu bestreiten.

»Ja, haben's denn ein Geld, Fräulein?«

Stolz zog Gerti ihre kleine Börse hervor, in welcher sie zwei Gulden und einiges Kleingeld verwahrte, bezahlte die Rechnung, freute sich, daß sie wie eine Große dahinfahren, in einem Gasthause absteigen, eine Zeche machen und ein Trinkgeld geben konnte. Ihre Wangen glühten, ihr Haar flatterte im kühlen Nachmittagswinde, und sie, die sich bei der Hinfahrt ängstlich und hilflos an den Vater geschmiegt hatte, saß nun frei, aufrecht und stolz auf ihrem Sitze und schaute in die Welt hinaus.

Als das Wäglein endlich wieder vor der Hammermühle hielt, wo der Müller es abschirrte, eilte Gerti die schmale Holztreppe hinauf und stürmte in die Wohnung.

Sie war so erhitzt, ihre Wangen glühten, ihr Mund lachte, ihre Augen leuchteten, und so wunderlich fühlte sie sich, daß es ihr gar nicht auffiel, den Ingenieur zum ersten Male in ihrer Wohnung auf dem breiten Sofa behaglich zurückgelehnt neben der Mutter sitzen zu sehen, die in einem weißen Schlafrocke, mit gerötetem Gesicht ihr verlegen entgegenblickte, als sie eilends und mit einem hellen Ausruf eintrat.

Gerti rief den beiden entgegen: »Grüß Gott, es war sehr schön.«

»Wie siehst du denn aus, was hat's gegeben?« fragte Frau Faltis erstaunt.

»Wir sind wunderbar gefahren, ich habe selbst kutschiert, ganz allein, frag nur den Hammermüller, das Pferd hat mir gefolgt. Und eingekehrt sind wir zweimal.«

»Eingekehrt bist du? Mit dem Hammermüller?«

»Ja, in zwei Wirtshäusern auf dem Wege. Wir haben getrunken und gegessen. Ich habe furchtbaren Durst und Hunger gehabt.«

»So! Hast du auch gegessen und getrunken?«

»Natürlich! Eine Preßwurst und roten und weißen Wein, zuerst wollte ich nicht, aber ich habe doch den Hammermüller nicht kränken mögen, er war so nett zu mir und hat mich so freundlich gebeten, so hab ich trinken müssen. Aber der Wein hat mir recht gut geschmeckt. Und auch der weiße war gut.«

»Also gar zweimal hast du getrunken?« »Ja, das zweitemal hab ich selber wollen, denn das Essen macht Durst.«

»Und der Hammermüller hat dich freigehalten?«

»Einmal hat er gezahlt, aber das andere Mal ich.«

»Woher hast du denn das Geld genommen?«

»Aber du weißt doch, Mama, daß ich zwei Gulden habe.«

Der Ingenieur sagte belustigt:

»Mir scheint, die Kleine hat einen Sauser.«

Gerti drehte sich lachend um sich selbst und sang: »Mir ist so leicht, mir ist so gut, das ist der rote Wein und das ist der weiße Wein und das ist ein schöner Tag, Mama.«

Frau Faltis blickte verlegen das lebhafte, völlig veränderte Kind an, aber der Ingenieur freute sich und sprach zur Kleinen:

»Sag mir, Gerti, bist du auch gewiß, daß du schön gerade stehen und gehen kannst?«

»Ei freilich kann ich das, es ist mir ja so leicht, sehen Sie, wie ich ganz gerade gehe.«

Dabei schritt sie überaus zierlich im Zimmer auf und nieder, so oft sie an dem Sofa, wo die beiden saßen, vorbeikam, machte sie eine Verbeugung und knickste lächelnd.

»Nun könntest du aber eigentlich auch noch eine Zigarette rauchen, Gerti. Was meinst du dazu?« fragte der Ingenieur.

»Was fällt Ihnen ein,« flüsterte Frau Faltis.

Gerti klatschte in die Hände: »Freilich, ich habe noch nie eine geraucht! Laß mich nur, Mama, ich will eine Zigarette haben.«

Der Ingenieur bot ihr seine Tasche.

»Du mußt aber schön langsam rauchen, daß sie dir nicht schadet, Gerti.«

»Ja, das will ich. So soll es ein schöner Abend sein. Ihr seid lieb alle. Ich will auf euer Wohl rauchen.«

Sie lächelte, und hatte schon eine Zigarette mit ängstlich und sorgfältig gespitzten Lippen gefaßt und beugte sich behutsam vor, als ihr der Ingenieur das brennende Zündholz entgegenhielt.

Hustend und lachend tat sie den ersten Zug und lachend tanzte sie, zwischendrein nach ihrer Weise singend durch das Zimmer auf und nieder, und tanzte in immer heftigerer, angefachter Bewegung mit fiebernden Wangen und gleichsam entrückt, während die beiden Erwachsenen einander ansahen, wobei die Frau blutübergossen dasaß. Endlich stand Gerti atemlos vor dem Fremden, der sprach: »Nun sag mir nur, wie kommt es, daß du jetzt so lustig bist und warst doch noch vor zwei Stunden so traurig.« Bei dieser Frage schien das Kind plötzlich zu erwachen und in einem Nu, welcher eine ungeheure Wandlung umfaßte, einen tiefsten Sturz des Bewußtseins löste, breitete Gerti die Arme aus, sah mit einem Blicke, der Selbstvergessenheit, Zorn, Scham und Haß in eins glühte, auf den Fremden, ins Weiße seines Auges mit dem ihren und schlug mit ihrer Rechten in sein Gesicht. Dies und besinnungslos hinstürzen ward eins. Man brachte Gerti zu Bett, sie fieberte und redete, sang verwirrt und lachte, dann lag sie wieder mit offenen Augen, in denen aber kein Zeichen der Vernunft mehr stand, sondern nur die Qual eines völlig zerstörten Wesens und kam nicht mehr zum Bewußtsein. Der Arzt vermochte ihr Leiden nicht zu heilen, daß er es einer jener Krisen zuschrieb, welche in diesen Jahren das weibliche Geschlecht zuweilen heimsuchen, ehe das kindliche Alter sich ins jungfräuliche begibt, bot nur eben Worte für das unergründliche Notwendige. Der Tod schloß das Tor der Jugend vor ihr zu, da sie es zu durchschreiten einen Augenblick gezögert. Sie erwachte nicht mehr, zu keinem Lächeln, zu keinem Grauen, zu keinem Vergessen. Gerti starb wenige Tage, nachdem sie ihren Papa begleitet hatte und behielt den strengen Zug des Erkennens, welchen ein Augenblick auf ihr Gesicht geschrieben hatte.


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