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Bubenreise

Dem Andenken eines lieben Verstorbenen

Der kleine Andreas Amersin war dreizehn Jahre alt, als er aus dem Bauernhof in die Fremde kommen sollte. Das bedeutete zu seiner Zeit viel mehr als heute, denn da gab es noch keine Eisenbahn, die das Reisen gewöhnlich und den Raum gering gemacht hat. Es war in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts.

Katharina Amersin, die verwitwete Bäuerin eines weiten Hofes zu Lichtenau, einem offenen, hohen Talorte der oberösterreichischen Landschaft, hauste mit ihrem Vater, zwei ledigen Brüdern und ihrem Buben, dem Andreas, in aller Ruhe und wäre allein wohl niemals auf den Gedanken gekommen, ihr Kind nach Wien zu schicken. Das war vielmehr der Einfall eines Mächtigen, der hier im Mühlviertel herrschte.

Dieser Herr Bodner war vor langen Jahren eben so ein Bauernbub gewesen, wie Andreas Amersin, kam aber in die Welt hinaus und hatte so wohl gewirtschaftet, daß er, in die Heimat zurückgekehrt, ein Grundstück um das andere erwarb, einen großen, mannigfachen Betrieb anlegte und auf diese Weise unmerklich alle Menschen der Gegend in seinen Bereich einbezog. Herr Bodner hatte nämlich Hopfenpflanzungen, wo allein schon etliche hundert Leute im Herbste mit dem bloßen Abbeeren zu tun fanden, eine Mälzerei, welche mächtige Gerstenmassen zu sich nahm und eine Brauerei, die sie wieder zu einem süffigen Biere verbraut, an alle Gasthöfe ringsum herausgab. Ferner besaß er eine ansehnliche Weberei und Bleicherei und tat an die zahlreichen Hausweber Flachs und Lein aus, die er in fertigen weißen Stücken wieder empfing. Kurz, mit seinem Gelde ging es wie mit dem Bumerang der Wilden, sie schleudern ihn, er erschlägt mit einem runden Wurf ein Dutzend Feinde und kehrt fromm, als sei nichts geschehen, in die Hand zurück, die ihn ausgeschickt.

So stand jedermann irgendwie mit Herrn Bodner in Verbindung. Der eine baute Gerste und verkaufte sie ihm, der zweite schloß über seine Hopfenfechsung mit ihm ab, der dritte hatte zu Hause einen Webstuhl, der Herrn Bodners Leinwand webte, einer war in seiner Mälzerei Mälzer, ein anderer in seiner Brauerei Brauer, einer lieferte ihm Holz, ein anderer führte Herrn Bodners Wagen oder fütterte sein Vieh, ein letzter aber, der schon gar nichts für ihn zu verrichten hatte, beschäftigte sich zumindest als Zecher mit seinem Bier, so daß selbst die Unzufriedenen und Murrenden, wie verneinende Engel des Herrn, an den Wirtstischen ihre lästerlichen Reden gegen den Mächtigen nur bei dessen eigenem Gebräu loswerden konnten.

Herr Bodner aber war aus Güte klug oder aus Klugheit gut und wußte darum seine Macht recht grün zu bewahren, so daß sie an der Gegend nicht zehrte, sondern sie wieder stärkte.

Zu den Mitteln, die er aufwendete, um sein Vermögen auf dem schönen hohen Stande zu behaupten, gehörte unter anderem, daß er auf allen Menschenwuchs ringsum ebensogut acht hatte, wie auf die sonstige Konjunktur, denn er wußte wohl, daß die Büblein, die heute auf der Landstraße von Lichtenau den Großen zwischen die Beine gerieten, einmal seine Soldaten werden müßten. Deshalb kümmerte er sich um die Schule des Ortes und half gerne da und dort aus, wo bei kinderreichen Eltern irgendeine Not eingetreten war. Traf er aber einen besonders wohlgeratenen Burschen, so scheute er nicht, einmal ein ordentliches Stück Geld sozusagen in einem blondschopfigen Menschen selber anzulegen.

Derart hatte er auch den Andreas Amersin ins Auge gefaßt, der in der Schule sehr hellköpfig, in der Kirche ein würdiger Ministrant und überhaupt anstellig und munter war.

Da Herr Bodner vermutete, aus dem Knaben ließe sich etwas machen, redete er der Mutter zu, der Hof müsse doch früher oder später in die Hände ihrer Brüder kommen und sei außerdem nicht besonders ergiebig, so gewärtige Andreas, wenn er hier bleibe, das armselige Schicksal eines Knechtes in seinem eigenen Mutterhause. Ginge er aber nach Wien in die Webschule, so könne er es gewiß zu einer ordentlichen Stellung bringen, wofür er, Herr Bodner höchstselbst sorgen wolle. Die Frage sei somit nur, ob sie ja sage. Und wie die Frauen überhaupt lieber ja als nein sagen, tat dies auch die Frau Amersin und die Sache war bald ausgemacht.

Nun kam die erste, letzte große Schwierigkeit: Was kriegt der Bub zum Anziehen mit? Bisher hatte freilich eine Lederhose, ein Hemd und eine kleine Joppe genügt und noch weniger auch, wenn es heiß war und Andreas dem Vieh nachlief. Aber für die Stadt und gar für ein außergewöhnliches Schicksal, dem er entgegenging, taugte diese Tracht nicht. Da mußte etwas geschehen. Der alte Großvater hatte einen rettenden Einfall. Wie wär's, wenn er seinen Mantel opferte? Das war nämlich ein kragenförmiger schwarzer Umhang von rätselhafter Weite, worin, wenn es not tat, nicht nur wie in der alten Toga des Römers Krieg und Frieden, sondern außerdem noch zwei Leute und ein Kalb sich hätten bergen können. Aus diesem unverwüstlichen Tuche nähte Frau Amersin ihrem Jungen nach bestem Können und Wissen einen vollkommenen städtischen Anzug, dazu einen ehrbaren Mantel und behielt immerhin noch die Hälfte übrig, womit sich in Zukunft für alle Fälle sorgen ließ.

Der Reisetag kam also getrost heran, ein Frühwintermorgen, klar, silbergrau. Die Sonne ließ sich hinter einem gleichmäßigen Wolkenschleier nur ahnen, das weite Tal stand hell und kühl mit schwarzen Bäumen da und vor dem großen gelben Hause des Herrn Bodner war schon der offene, viersitzige Wagen, mit zwei Braunen bespannt, in Bereitschaft.

Katharina Amersin führte den Andreas an der Hand von ihrem Hofe zu diesem Hause. Und dieser Weg war eigentlich die einzige Besonderheit des wichtigen Tages, denn wie wäre es ihr in gewöhnlichen Zeiten eingefallen, den Buben an die Hand zu nehmen und auf solche feierliche Weise mit ihm daherzukommen! Freilich machte sie sich nicht klar, daß sie ihn derart wie ein hilfloses Kalb in die Welt hineinleitete, sondern sie hielt es nur eben für selbstverständlich, daß sie den Andreas dem Herrn Bodner zuführen und daß sie ihn aus diesem Grunde dabei an der Hand nehmen müsse.

Außerdem hatte sie ihm noch lange vor dem Aufbruch die erforderlichen Gebote gegeben, die vor allem sehr streng dahin gingen, daß er Herrn Bodner in allen Stücken zu gehorchen und sich durchaus ehrerbietig, dankbar und bescheiden zu verhalten habe. Im besonderen sollte er auf seine Kleider achten, daß er sie erstens nicht verliere, zweitens nicht verderbe und drittens, wenn er sie doch verdorben habe, rechtzeitig irgendwo flicken lasse, daß er nicht vorlaut sein sollte und nur gefragt, aber dann stets bescheiden rede und dergleichen Ratschläge mehr, die, wie Andreas bald erfuhr, nur den einen großen Mangel hatten, daß sie leider zu allgemein gehalten waren. Kam er in eine bestimmte, sehr deutliche Verlegenheit und besann sich auf die empfangenen Lehren, so war es jedesmal höchst zweifelhaft, wie er sie befolgen sollte. Aber darum waren es eben Lehren, weil sie nicht so leicht angewendet werden konnten. Doch davon soll jetzt nicht weiter die Rede sein.

Auf dem Wege begegnete Frau Amersin manche Bekannte, die ja sämtlich wußten: Herr Bodner würde mit seinem eigenen Sohn und mit Andreas Amersin und Peter Breier, einem zweiten gleichalterigen Schützling, heute nach Linz und von dort weiter nach Wien fahren. Und weil dieses Ereignis längst vorausgesagt war, erregte der Gang des Knaben und der Mutter kein besonderes Aufsehen, vielmehr nickte man ihr nur freundlich oder gleichgültig oder neidisch zu und rief ihr höchstens ein paar Worte über die Schulter nach.

Andreas war freilich aufgeregt, ließ es aber auch nur unwillentlich durch seine roten Ohren und durch den Glanz seiner blauen Augen merken und sagte nichts weiter, ebensowenig wie seine Mutter, die sicherlich manche Zuversicht oder Angst, Hoffnung oder Bangigkeit verschwieg.

Nun waren sie, eine geraume Weile vor der verabredeten Stunde, auf dem Platze vor dem Herrenhause angelangt. Ein frischer Wind fuhr in ihre Kleider und rötete ihre Wangen. Andreas schaute auf die schönen Pferde und war stolz, mit diesem Prachtfahrzeug in die Welt hinauszuziehen. Die Rosse dampften und machten ihrer Ungeduld manchmal durch ein heiteres Wiehern, Stampfen und Schweifschlagen Luft, wovon ihr blankes Geschirr klirrte und die Kutsche in ihren Federn knarrte und schaukelte. Im Herrenhause war alles in Bewegung. Außer dem gewöhnlichen Her und Hin einer großen Wirtschaft, eines ausgebreiteten Betriebes, wo es immer ein unablässiges Kommen und Gehen gibt, bot die bevorstehende Reise des Chefs zu besonderer Geschäftigkeit Anlaß; ein Diener brachte allerhand Gepäck und belud den Bock des Wagens, ihm reichte Frau Amersin auch ihres Sohnes bescheidenes Bündel, das sie bisher unterm linken Arm verborgen gehalten hatte. Eine Magd schleppte Pelzdecken herbei, die für den offenen Wagen in dieser Jahreszeit erforderlich waren. Und dann stand auf einmal Peter Breier, der Reisegefährte neben Andreas, freilich nicht an der Hand einer Mutter, denn er hatte längst keine mehr, sondern nur einen Vater und dazu einen außerehelichen, der von ihm gar nichts wußte, weshalb er von einer Schwester seiner Mutter aufgezogen worden, die bei Herrn Bodner diente. Peter Breier war also eine Art Hauskind. Aber auch er war sorgfältig und als Zukunftsstädter gekleidet und besaß sogar einen steifen Filzhut. Er stellte sich neben Andreas auf und nun schwiegen beide zweistimmig.

Endlich öffnete sich die Tür des Herrenhauses und Herr Bodner erschien, im Pelz, ein stattlicher, beleibter Vierziger mit einem glattrasierten Bauerngesicht, das sich doch als solches bei allem Reichtum und guten Gewohnheiten verriet. Da waren gewisse Falten um den Mund und an den Schläfen, die nur in einem Bauerngesicht so stehen und hinkommen, wenn es dem Manne noch so gut geht, denn sie gehören zu seinem Geschlecht und sind keineswegs von Sorge oder bösen Jahren, sondern von der arbeitsamen Zeit in das Antlitz gepflügt, wie die Furchen in den Boden. Und über der Lippe starrten graue Stoppeln, der Schnurrbart wollte dem Herrn Bodner nicht eben zierlich wachsen. Seine Haut war rot und braun und am Halse faltig. Kurz, Frau Amersin brauchte sich ihres Gönners nicht zu schämen, denn er war ihresgleichen. Aber um seine Lippen lag doch ein Lächeln, das ihr fremd sein mußte, ein huschendes, das gleich wieder verschwand und einer Spannung oder Lässigkeit wich, ein Lächeln, das jetzt gut, jetzt gleichgültig, jetzt bewußt freundlich oder schlau, jetzt ganz fern und fast hilflos schien, ein Lächeln, das nur des neuen Mannes, nicht des Bauernsohnes war. Dieses Lächeln kannte sicher Herrn Bodners Vater noch nicht und hatte es seinem Sohne nicht vererbt, das hatte der mit seinem Reichtum und seinen Erfahrungen draußen in der Welt selbst erworben und gelernt. Er wußte sicher nicht wie, vielleicht war es zuerst schüchtern auf seine Lippen getreten, als er um seine vornehme Frau gefreit, die ihn jetzt auf die Stiege hinaus begleitete, zart, noch ziemlich jung und seltsam hilflos, in einem spitzenbesetzten weiten Morgenkleide, einen blauen Kragen um die Schultern geworfen. Die war fremd im Lande. Sicherlich schadete das Lächeln dem Herrn Bodner nicht weiter, denn er stand sehr fest auf seinen Beinen und die Zähne, die bei seinem Lächeln hinter den schmalen Lippen erschienen, blinkten recht weiß und gesund. Aus dem ganzen Manne sprach Sicherheit und Herrschaft, und nur das arme bißchen Lächeln kam vielleicht von einer heimlichen, unterdrückten Schwäche. Aber hätte er dieses wunderliche Lächeln nicht besessen, so wäre ihm wohl niemals eingefallen, sich des kleinen Andreas anzunehmen.

Herr Bodner rief laut und vergnügt Frau Amersin an, die mit Andreas und Peter Breier, der unwillkürlich alles mittat, um den Wagen herum zur Stiege näher trat. Hier begrüßte Frau Bodner freundlich die drei, reichte der Mutter und den Buben die Hand und sagte: »Das ist schön, daß Sie uns Ihren Jungen anvertrauen, wir werden schon auf ihn achtgeben.«

»Ja, du wirst schon, Agnes, du hier in Lichtenau auf den Andreas in Wien. Du wirst schon achtgeben. Sie können sich darauf verlassen, Frau Amersin.« Frau Bodner errötete bis über die hohe Stirn und lachte verlegen über den Spaß, den ihr Mann trieb, so daß ihr dieser tröstend unter das Kinn griff und den widerstrebenden Kopf hochhob, bis er ihrem unwilligen Blick begegnete. Da kam rasch wieder der Ernst in sein Gesicht und er sagte ganz geschäftsmäßig: »Nun Frau Amersin, wir haben ja alles ausgemacht, hoffentlich hält sich Ihr Bub recht brav und es wird uns beide nicht gereuen. Also Ferdinand, steig ein!«

Das war sein eigener Sohn, ein hochaufgeschossener, blondlockiger, junger Herr von vielleicht fünfzehn Jahren, aber schon durchaus weltgewandt. Der küßte seiner Mutter die Hand. Sie aber umschlang ihn zärtlich und küßte ihn lange auf Wangen und Mund, Stirne und Haare und hatte im letzten Augenblicke noch so viel zu sagen, daß Herr Bodner ihn durch ein sanftes Klopfen auf die Schulter neuerlich zum Aufbruch ermahnen mußte.

Schließlich bestieg Ferdinand den Wagen, Herr Bodner küßte seine Frau auf die Stirne: »Schön brav sein, Agnes, auf Wiedersehen, Allons!«

Er nahm neben seinem Sohne den Rücksitz ein, während Andreas und Peter sich auf dem Vordersitz breitmachen durften.

Frau Amersin stand vor dem Wagen, indes Frau Bodner auf der Stiege blieb, lächelte und winkte. Dagegen verweilte Frau Amersin ganz ruhig und sah Andreas an, welcher ebenso still ihr entgegenblickte. Und während Herr Bodner und Ferdinand und die umstehenden Dienstleute und die verlegen lächelnde Dame auf der Stiege einander alle möglichen Abschiedsworte, Wünsche, Aufträge, Grüße zuriefen und auf diese Weise einen heiter-wehmütigen Lärm vollführten, sagte Frau Amersin nur ganz leise: »Leb wohl und sei ordentlich.« Andreas nickte und dies war alles.

Während der Wagen sich in Bewegung setzte und der Sand knirschte, zog Herr Bodner seinen Hut und rief noch: »Grüß Gott, Frau Nachbarin,« winkte seiner Frau, die mit ihrem Taschentuche wehte, Ferdinand schwenkte seine Mütze und stand im Wagen aufrecht, Andreas aber wandte nur seinen Kopf nach der Mutter zurück und blickte nach ihr, wie sie nach ihm, ohne ein anderes Zeichen des Abschiedes.

Peter Breier aber, der niemand hatte, sah vor sich hin auf die Straße und war neugierig, wohin sie führen sollte.


Der Wagen fuhr nun eine holperige weiße Landstraße entlang in hübschem Trabe, an Gehöften vorbei, längs eines schwatzenden, dunkel hinströmenden Wassers, unter Bäumen, dann im Freien an schwarzen winterlichen Feldern vorüber, bergauf und -nieder, die Hufe der Pferde klapperten munter und Andreas schaute umher. Freilich kannte er längst diese Gegend weit und breit. Da gab es keinen Bauernhof, wo er nicht hingekommen war, von den meisten Obstbäumen hatte er Äpfel genossen, im Fluß gebadet, auf den Wiesen sich umgetrieben, aber wie groß sah alles von dem Wagen aus, in welchem er fürstlich daherfuhr! Mit den bloßen Wanderfüßen hatte sich die Gegend wahrlich anders angefühlt!

Jedenfalls gedachte Andreas, was immer kommen möge, sich von nichts anfechten zu lassen und brav zu halten. Deshalb bemühte er sich auch, möglichst wenig zu denken und beileibe nichts anzustellen. Darauf hatte er am meisten acht, keine Dummheit zu reden, schwieg daher ganz und vermied es am leidenschaftlichsten, etwa eine Ungeschicklichkeit sich zuschulden kommen zu lassen, besonders sich zu schneuzen, was er für den Gipfel der Ungezogenheit hielt. Daß er in einem Wagen mit Herrn Bodner reisen durfte, nahm sein ganzes Denken in Anspruch, es war nicht anders, als säße er dem Kaiser gegenüber. Soweit er die Welt kannte und so viel Landes hier das Himmelreich umspannte, war Herr Bodner der Reichste.

Nach etwa zwei Stunden Fahrt hielten sie vor einem großen Einkehrgasthause. Der Wirt stand barhaupt und ehrerbietig grüßend vor dem Tore und fragte Herrn Bodner, ob er nicht auf dieser Rast ein kleines Frühstück beliebe.

»Der Herr Sohn wird gewiß Hunger haben und die Buben schon gar.« Damit deutete er auf Peter und Andreas.

Wie der Kutscher sich bei den Pferden zu schaffen machte, verriet Herrn Bodner mit Bestimmtheit, daß dies für sie einen Sack Hafer und einen Trog Wasser, für den Lenker einen halben Liter Wein und eine große Wurst, für ihn aber eine gute Stunde Aufenthalt bedeute, er entschloß sich darum, auszusteigen, verließ den Wagen und trieb seine Schützlinge vor sich her, an dem dienernden Wirte vorbei, durch den Flur in die Stube.

Dort war in weiser Voraussicht schon ein Tisch gedeckt und bald allerhand Essenswertes auf dem weißen Linnen reichlich angeordnet. Herr Bodner und Ferdinand bedienten sich nur mit wenigem, so daß Andreas, der ihnen in allem nachzutun des unbedingten Willens war, schon einige Furcht empfand, bis ihn Herr Bodner ermunterte: »Eßt nur, Kinder, wir beide haben schon gefrühstückt, bis Linz müßt ihr ohnehin aushalten und der Weg ist noch weit genug.«

Also durfte gegessen und getrunken werden, war es ihnen doch sogar befohlen. Inzwischen hatte sich mit dem Wirt eine angelegentliche Unterhaltung angesponnen über alle Neuigkeiten und Nachrichten der letzten Zeit, und so kam das Gespräch auf einen Brand, der ein dürftiges hochgelegenes Gehöft am gestrigen Tage betroffen. Der Wirt zeigte vom weißgegitterten Fenster den nahe gegenüberliegenden Höhenzug, auf dessen Gipfel man in der Tat einen geschwärzten Mauerrest sah, den alle noch unlängst als reinliches kleines Anwesen gekannt hatten. Die fleißige arme Familie sei schwer betroffen und wüßte sich nicht zu helfen. Herr Bodner erkundigte sich eingehend um alles Nähere und dies so dringlich und sachkundig, daß der Wirt schließlich sagte, ganz genau wisse er selbst nicht Bescheid, doch könne die Frau des Abbrändlers über alles wohl am besten Auskunft geben, die bei der seinen vorläufig Unterschlupf gefunden habe. Damit eilte er gleich auch fort, sie zu holen. Bald kam er dann mit einer früh gealterten, gebeugten, noch jetzt vor Aufregung ganz bewegten Bäuerin wieder, die nur unter Tränen von dem Unglück berichten und ihren großen Schaden schildern konnte. Herr Bodner hörte ihr zu, ohne viel zu sagen, unterbrach sie gelegentlich mit den erforderlichen Fragen, sein Bedauern durch angebrachte Ratschläge betätigend, schließlich zog er unversehens und ohne daß die Frau ihn gebeten oder auch nur an solche Hilfe gedacht haben mochte, seine Brieftasche hervor und entnahm ihr ein feierlich bedrucktes Papier, welches Andreas von weitem las und ehrfürchtig als »Hundert Gulden Schein« erkannte.

Mein Gott, hundert Gulden! Andreas sah Herrn Bodner, sah diesen Zettel als ein braunes Papiernichts aus der Brieftasche geholt und hergeschenkt, sah die Frau, welche schluchzende Beteuerungen überraschter Dankbarkeit hervorstieß, den Wirt, der staunend über diese Großmut seines Gastes entzückt die Serviette schwenkte und umherschwänzelte, sah dies ganze mächtige Ereignis voll Ehrfurcht, als hätte er die rätselhafte Vorsehung selbst zum ersten Male vor Augen bekommen.

Kaum war die beschenkte Unglückliche fortgegangen, um ihren Mann und alle Teilnehmenden von dem hohen Zufalle zu unterrichten, als sich das Gerücht von der Anwesenheit und beglückenden Gnade des Herrn Bodner schon ringsum offenbart hatte, wie sich namentlich die zahlungswillige Laune eines Großen recht eigentlich sympathetisch verbreitet, so daß alle Betroffenen es plötzlich in Armen, Händen, Beinen, Augen jucken fühlen: Ha, da beißt mich Geld!

Und siehe! Mit einem Male schob sich ein verwahrloster, nachlässig gekleideter, einarmiger Mann mit einer Kriegsmedaille und einem sehr verdächtig roten Gesicht, gleichsam in einer Dunstwolke von allerhand Spiritus ins Zimmer und trat auf Herrn Bodner mit einer Verbeugung zu. Dieser aber schrie ihm – einem im ganzen Lande wohlbekannten Landstreicher – ohne erst eine Anrede abzuwarten, mit rauher Bauernstimme entgegen: »Schau er aber augenblicklich, daß er hinauskommt, du stinkender Weinlümmel, dir will ich's einschenken, wenn du dich nicht gleich davon machst.«

Der auf diese Art unversehens Verdonnerte geriet dadurch jedoch keineswegs außer Fassung, sondern richtete sich in die militärisch stramme Positur des Ehrenbeleidigten, zeigte eine gekränkte und gebührend verstimmte Miene und sprach mit vornehmer Zurückhaltung: »Aber Sie entschuldigen schon, Herr von Bodner! Ich komme in aller Güte zu Ihnen und will Sie ganz freundlich um ein kleines Darlehen ersuchen und Sie benehmen sich so!«

Da mußte der Herr Bodner freilich lachen, daß es ihn schüttelte, ehe er antwortete: »Nun, wenn Sie in aller Ruhe kommen, Verehrtester, so gehen Sie gleich auch in aller Ruhe, wenn ich Ihnen ganz freundlich raten darf.«

Der Bettler entfernte sich kopfschüttelnd, nicht ohne daß Herr Bodner dem erschrockenen, die Unverschämtheit des Eindringlings aufgeregt bejammernden Wirte den Auftrag gab, den weltgewandten Vagabunden draußen mit einer kleinen Mahlzeit abzufüttern.

So hatte Andreas Amersin in einer Stunde das freundliche und das grimmige Gesicht der leibhaftigen Vorsehung angeschaut.

Bald nach diesem Zwischenfalle war der Kutscher wieder bereit und unsere Reisegesellschaft bestieg neuerlich den Wagen, der nun in einem Zuge bis nach Linz fuhr, wo er nachmittags anlangte.


Linz gehört ja selbst heute noch eben nicht zu den Großstädten, damals aber umfaßte es kaum viel mehr als den Hauptplatz, um den einige Gassen liefen, die sich bald ins Freie verloren. Aber wie mächtig erschien selbst diese kleine Landeshauptstadt unserem jungen Lichtenauer, welcher bisher nur sein Dorf und ein paar andere Dörfer gesehen hatte, etliche Bauernhäuser mit freien Ellenbogen, durcheinander gelümmelt um eine hochgelegene weiße Kirche. Hier aber wohlgeordnete, hohe, ziervolle Gebäude mit mehreren schön gegliederten Stockwerken, unten mit Läden besetzt, auf gepflasterten Straßen ein lebhaftes Treiben von Fuhrwerken aller Art, auf den Bürgersteigen städtisch gekleidete Männer und Frauen in eiligem, doch nicht anmutlosem Durcheinander, ein brausender Lärm, den er noch nie vernommen, furchterregend, anders wie das Sausen der Wipfel, das ihm vertraut war, auf dem breiten, glänzenden Strome Boote, Menschen, auf dem Wasser zu Hause, welche auf- und ausluden, Holz- und Steinlasten auf Flößen beförderten oder am Ufer schiffziehende, schwere Pinzgauer antrieben. Und darüber mit einem Male ein breiter, goldener, ausschwingender Hall von mächtigen Glocken. Andreas konnte nur Augen und Ohren öffnen, staunen und wiederum schweigen, was jetzt freilich das Schwierigste war.

Der Wagen hielt vor dem »Kaiser von Österreich«, dem größten, ältesten und stattlichsten Gasthof der Stadt und da sprang nicht der Wirt, sondern ein Mann mit Livree und goldbordierter Kappe vor und half, wie ein General dem Kaiser, den Ankömmlingen aus der Kutsche.

Als Herr Bodner, auch hier wohlbekannt, den Flur betrat, wurde er von einem zweiten Herrn in schwarzem Rock mit fliegenden Schößen, von einem dritten, vierten, fünften unter ehrfurchtsvollen Gebärden bekomplimentiert, der dritte war jünger, kleiner und dünner als der zweite, der vierte schmächtiger als der dritte, jeder zeigte mit einladender Handbewegung anderswohin, ob es da gefällig wäre und jeder wartete ab, was der andere mit seiner Aufforderung für ein Schicksal haben werde. Herr Bodner beachtete indessen diese fünffache Artigkeit gar nicht weiter, sondern ging unbeirrt tiefer in den Flur hinein, bis aus der Küchentüre die Frau Wirtin trat, eine rundliche, heißrote, liebe Frau, der die Gesellschaft so hochwillkommen schien, daß sie mit ganzem Gesichte lachte und ihr Lachen gluckend und kichernd emporsteigen ließ, wie einen Flug Tauben:

»Ah, das ist aber schön, Herr von Bodner, daß Sie uns wieder einmal beehren, schon lange nicht das Vergnügen gehabt, wie steht das werte Befinden, das ist gewiß der Herr Sohn, was für ein großer, lieber junger Herr, der ganze Vater muß man sagen, mein Gott, bereits so groß!«

Herr Bodner entgegnete behaglich: »Wenn Sie den Buben nicht sehen würden, möchten Sie gewiß nicht glauben, daß ich schon so alt bin, wie es leider wahr ist, denn dem Ansehen nach bleiben wir beide, Sie und ich, immer Kinder, ja wir beide werden sogar immer jünger.« Dabei faßte er die würdige Dame unterm Kinn, wobei sie abermals einen Ruck Tauben emporlachte.

Andreas staunte.

Schließlich wurden Zimmer bestellt, aber da es noch früh am Tage war, sagte Herr Bodner, er habe mit seinem Sohne manches in der Stadt zu besorgen, Andreas und Peter Breier könnten derweilen sich vor dem Hotel umherbewegen und die Stadt ansehen, doch ohne sich so weit vorzuwagen, daß sie sich etwa verirrten.

So gingen die beiden denn spazieren, der eine nach der rechten, der andere nach der linken Seite, um nach einer Weile sich wieder besonnen zurückzuwenden und einander zu begegnen. Kaum war Andreas einige Schritte vorwärts gekommen, als er einen geistlichen Herrn sich nähern sah. Da mußte er sich wundern, daß niemand den würdigen Mann grüßte oder ehrerbietig behandelte, während man doch in Lichtenau dies schon von weitem und innig tat. Als daher der schwarze Herr vor ihm war, stürzte Andreas, wie gewohnt, auf ihn zu, packte seine Rechte, drückte sie an die Lippen und sprach: »Küß die Hand, Hochwürden!« Der war etwas erstaunt und verlegen, entzog ihm rasch die ergriffene Hand, murmelte beinahe unwillig einen Gruß und eilte gesenkten Hauptes weiter. Bald kam ein zweiter daher, dem Andreas dieselbe Ehrenbezeugung leistete, ja noch ein dritter. Schließlich dachte der Knabe: »Jeden Augenblick gibt's aber bei uns zu Hause nicht einen neuen geistlichen Herrn.« Niemand tat wie er, sondern jeder ging ganz gleichgültig an den Kirchenmännern vorüber, so durfte man sich hier wohl gar nicht um sie kümmern, denn keiner der Geistlichen sagte ihm, wie er es doch gewohnt war, etwas Freundliches, vielmehr beeilte sich nur ein jeder, seine Hand in Sicherheit zu bringen. Darum grüßte er dann den vierten bloß scheu von weitem und da dieser nicht einmal das zu bemerken schien, schaute er endlich dem fünften getrost ins Gesicht, ohne den Hut zu ziehen und auch ohne weiter von einem Unheil betroffen zu werden.

Als er auf dem Rückwege seinem Kameraden begegnete, bestätigte auch Peter Breier, daß hier die Geistlichen ganz gewöhnliche Menschen seien.

Vom Spazierengehen und Schauen müde, waren beide froh, als es Abend und Essenszeit war und Herr Bodner mit Ferdinand wieder kam: »Da sind ja meine Buben!«

Jetzt nahm er mit ihnen im Speisesaale Platz. Andreas bewunderte den glatten Fußboden, die gemalten Wände, das glänzende Geschirr, das blendende Licht, die vielen, gut gekleideten Leute, insbesondere die Kellner, welche weit vornehmer schienen als die Gäste und doch lange nicht so freundlich behandelt wurden, wie der Wirt in Lichtenau. Herr Bodner bestellte für sich und seine Gefolgschaft Essen und Trinken: »Wenn Ihr sonst noch etwas wollt oder braucht, so sagt mir's nur, Buben!«

Im übrigen unterhielt er sich gelegentlich mit seinem Sohne, während dieser kaum ein Wort an die jungen Tischgesellen richtete, da er sie weder kannte, noch sich für sie sonderlich interessierte. Und wäre ihnen nicht ohne ihr Zutun reichlich vorgesetzt worden, so wären sie sicherlich still dagesessen und im größten Gasthause von Linz lieber Hungers gestorben, als aus freien Stücken ein Wort verlauten zu lassen und einen Bissen zu verlangen. Die Speisen mit Messer und Gabel ordentlich zu bewältigen, machte Andreas immerhin einige Mühe, da er an den Löffel gewöhnt war. Aber es ging.

Schließlich saßen alle behaglich an dem abgeräumten Tisch und im Nachgenusse der erheblichen Mahlzeit. Herr Bodner blies aus seiner dicken Zigarre den schönsten Rauch empor und teilte seine Aufmerksamkeit so lange zwischen den blauen Wolken und dem roten Weine, bis er müde wurde, vernehmlich gähnte und sagte, man müsse zeitig schlafen gehen, denn die neue Kutsche nach Wien sei für sieben Uhr morgens bestellt.

So begab sich die kleine Karawane in den ersten Stock, wo für Herrn Bodner und Sohn zwei große Zimmer, für die Knaben zwei kleine Stübchen bereit waren.

Der Herr Bodner nickte seinen Schützlingen, ehe er in seinem Raume verschwand, noch freundlich zu: »Legt nur Eure Kleider auf einen Sessel vor die Tür.«

Über diesen Befehl erstaunt, blieben die beiden Knaben ratlos eine Weile auf dem Gange stehen. Was sollte das nur wieder heißen?

»Unsere Kleider müssen wir hinauslegen?«

»Warum?«

Andreas sagte voll Sorge: »Da können sie ja gestohlen werden.«

»Das wird er nicht gemeint haben.«

Peter erklärte zwar mit sehr leiser Stimme, aber höchst bestimmt: »Ich tu's nicht.«

Andreas überlegte: »Er hat es angeschafft. Da muß ich folgen.« So tat er denn mit schwerem Herzen die Kleider hinaus und gedachte der widerspruchsvollen Lehren seiner Mutter. Er sollte auf sein Gewand achtgeben und doch wieder Herrn Bodner unbedingt gehorchen. Jetzt hatte er die Bescherung. Er war nicht schuld, wenn er morgen ohne Hose dastand.

Bekümmert schlief er ein und war in aller Frühe wach, noch lange vor Sonnenaufgang. Sein erstes war, aus dem Bette zu springen und vor die Tür nach seinen Kleidern zu sehen. Richtig waren sie weg! Das Weinen stand ihm näher, als das Lachen. Und während er überlegte, was nun zu tun sei, pochte es an die Tür.

»Ich bin schon auf,« rief er.

»Bitt' um die Schuh,« rief der draußen.

Jetzt sollte er die Schuhe auch noch abliefern, das war zu viel, von denen war auch gestern keine Rede gewesen.

»Ich hab' ja schon mein Gewand hergegeben,« sagte er halblaut.

Draußen auf dem Gang entfernten sich die Schritte. Andreas wartete eine geraume Weile, ehe er sich rührte, dann wagte er sich wieder behutsam vor die Türe und sah, mit welcher Freude, sein Gewand sorgfältig zusammengelegt auf dem Stuhle liegen. Jetzt stellte er seine Schuhe unbesorgt hinaus, um sie glänzend gewichst nach einer Weile wiederzufinden. Welche merkwürdigen Reisebräuche!

Trefflich ausgeruht fand sich unsere Gesellschaft beim Frühstück, es gab einen wohlriechenden, dampfenden Kaffee, mit krachenden weißen Semmeln, für Andreas, der immer nur eine Schale Milch und ein Stück Schwarzbrot als Morgenessen bekommen hatte, eine königliche Mahlzeit.

Auch Herr Bodner schien guten Mutes, denn er lachte seinen Schützlingen wiederholt zu und fragte Andreas: »Nun, wie gefällt's dir in der Welt?«

»Gut, Herr von Bodner.«

»Wir werden sehen, ob dir das Weben auch so wohl schmecken wird, mein Lieber, das geht schwerer als der Kaffee.«

Andreas und Peter bekamen noch ein zweitesmal eingeschenkt, indes Herr Bodner nach der Kutsche sehen ging. Endlich rief er seine Schützlinge.

Die wischten sich gehorsam und schleunig noch den Mund und eilten vor das Haus, wo die Kalesche reisefertig bereitstand.

Diesmal war es ein geschlossener, großmächtiger, schwarzgelber Wagen, denn Herr Bodner wollte für die weite Fahrt seine feinen Pferde nicht strapazieren und konnte natürlich auch sein leichtes offenes Gefährte nicht brauchen. Nur der Kutscher war ihnen treu geblieben.

Man stieg also ein, vom Hausdiener, den fünf Kellnern, dem Wirt und der Wirtin begleitet. Diese war wieder besonders freundlich – einerlei ob einer ankommt oder wegfährt, Wirtsleute zeigen immer ein vergnügtes Gesicht, sei es im Vorgefühl der Erwartung oder im Nachgeschmack des Verdienstes – sie ließ zum Abschied den hellsten Taubenflug von Gelächter in die Höhe steigen.

Dem Andreas und Peter steckte sie sogar ein Stück Backwerk zu, damit sie etwas zum Naschen hätten.

Endlich setzte sich der Wagen in Bewegung, rollte lärmend über das Pflaster und war nach einigen Minuten auf der freien Landstraße.

Heute ließ sich der Frühwintermorgen prächtig an, die Sonne glänzte unverhüllt vom blauen, hellen Himmel auf die bereiften Bäume und Wiesen herab und schimmernde leichte Reisewolken wanderten oben ihres Weges.

Als man sich auf den ledergepolsterten Sitzen häuslich eingerichtet hatte, gab es ringsum vielerlei zu sehen und zu bewundern, bald aber wurde die Gegend alt im ewigen einerlei von Feldern, Wäldern und Wiesen, in der Einsamkeit weiter Strecken, wo man nur zuweilen und weit von der Straße einen Bauernhof sah. Bloß an den Schlagbäumen gab es jezuweilen beträchtlichere Zerstreuung, denn der invalide Zöllner, welcher an jedem die Mautkreuzer einzog, fing mit dem Kutscher ein Gespräch an, und ein paar Bauern und Weiber standen immer dabei und schauten in den Wagen hinein, und die neugierigen Augen des Andreas begegneten fremden neugierigen Augen und wußten nicht, was sie davon halten sollten.

Aber auch daran gewöhnte man sich schließlich und wurde müde vom ewigen Rütteln und Schütteln.

Andreas erwehrte sich der Schläfrigkeit so gut es ging, denn er hielt es nicht für schicklich, etwa zu schlummern, wenn es Herrn Bodner am Ende einfiele, an ihn eine Frage zu richten. Der weniger wohlerzogene Peter Breier war längst in seine Ecke gedrückt und schlief.

Aber schließlich begann Herr Bodner selbst einzunicken, was Andreas zuerst respektvoll als tiefes Sinnen deutete, bis ihn ein merkliches Schnauben, Rasseln, Blasen, Sägen und Seufzen unzweifelhaft belehrte, daß sein Gönner schnarchte.

Nun überließ auch er sich der Ruhe, bis er zu Mittag vor einem Gasthause an der Landstraße erwachte, wo man Gott sei Dank etwas zum essen bekam, freilich minder bestaunt und bewillkommt als zu Linz, denn hier war man längst außerhalb des Machtbereiches des Herrn Bodner, der mit einem Male nur als ganz gewöhnlicher Reisender galt, wie viele andere, die hier Tag aus und ein verkehrten.

Nach Tisch hatte sich das Wetter getrübt, die Sonne schimmerte nicht mehr durch die dicht und grau gewordenen Wolken, um die Höhenzüge wallten Nebel, die kahlen Pappeln der Landstraße drohten schwarz gegen den Himmel und in den Lüften zog ein Krähenschwarm mit bekümmerten, heiseren Rufen.

Als sie weiterfuhren, fielen auf einmal dicke, schwere Flocken. Das Unwetter zog immer dichter, der Schnee wehte immer stärker, schließlich flirrte und wirrte alles vor den Augen und die Gegend wurde still und weiß, die Bäume standen als undeutliche und unförmige Haufen da, die begegnenden Häuser schienen seltsam in die Ferne gerückt, machte man vor einem Mautschranken Halt, so vernahm man die Stimmen nur gedämpft, wie von weitem, die ganze Welt war gedrückt, eingeschränkt und zum Schweigen gebracht, gleich einem Vogelbauer, worüber man ein Linnen gelegt.

Früh wurde es dunkel, der schwarze Himmel lag sternenlos über der Weite, die angelaufenen Wagenfenster glitzerten matt in ihrer blühenden Eiskruste, man sah nicht einmal mehr die Reisegefährten in der Kutsche deutlich, sondern nur schwarze Massen, welche sich leise bewegten, ab und zu ein Wort flüsterten, einen tiefen Atemzug und Seufzer taten, oder ein herzhafteres Schnarchen.

Und der Wagen bewegte sich stetig, langsam, fast unwillig. Die frühe Nacht stemmte sich ihm gleichsam entgegen und Andreas glaubte, man käme überhaupt nicht mehr weiter in der furchtbaren Öde und Unendlichkeit. Und so oft er aus dem Halbschlaf aufsah, fühlte er die gleiche schwere, drückende, dumpfe Luft, das gleiche schwarze Dunkel. Die weite Welt hatte sich wie eine Hölle aufgetan und sie lagen alle wehrlos in ihrem Maul. Da war kein Mensch ringsum, kein heller Laut, kein Licht. Fast hätte er aufgeschluchzt, wenn er nicht vor Herrn Bodner Angst gehabt hätte, der ruhig ihm gegenüber saß und schnarchte. Zu Zeiten zählte er von eins bis hundert, oder sagte das Vaterunser, oder stieß leise den Peter Breier, bis dieser knurrend erwachte, aber bald sich wieder umdrehte und weiterschlief.

Noch später gegen abend schien der Wagen fast gar nicht mehr weiterzukommen, die Pferde klirrten bei mächtigen vergeblichen Rucken im Geschirr, der Kutscher fluchte. Endlich blieben sie stehen. Herr Bodner schüttelte sich, gähnte freundlich und sagte noch im Halbschlaf: »Was gibt's?«

Dann klopfte er ans Wagenfenster. Der Kutscher öffnete den Schlag mit der Meldung, er bringe die Rosse nicht weiter, die Höhe sei zu steil. Da hieß es aussteigen und zu Fuß gehen, bis der Berg überwunden und der nächste Ort erreicht würde. Durchfroren machten sie sich im Stockdunkel auf den Weg. Weit in der Ferne sah man ein Licht. Langsam mit Hüh und Hott trieb der Fuhrmann hinter ihnen die Pferde an. Sie aber gingen wohl eine gute Stunde im tiefen Schnee. Herr Bodner an der Spitze, hinter ihm Ferdinand, Peter und Andreas zum Schlusse. Es schneite nicht mehr, aber es windete laut und heulte wunderlich um sie mit allen wilden, drohenden, knarrenden Stimmen der Weite, als seien ringsum Gewaltige aufgebracht, die sich über ihren Häuptern stritten.

Und das ferne Licht schwankte im Winde, so daß man gar nicht wußte, ob man ihm näher kam, bis man plötzlich davorstand und beim Orte war. Eine Türe wurde aufgerissen, man sah einen hellen Raum, roch eine warme Welle Küchengeruchs, welche gebratenes Fleisch und Bier und Wein verriet. Da spürte man plötzlich wieder Hunger und Kälte und die lauten, groben Stimmen drinnen klangen wie eine wahrhaftige Erlösung. Es gab Abendbrot und Nachtquartier, freilich keine befrackten Kellner, sondern nur einen Bauernwirt und nicht vier Zimmer, sondern nur eine große Schlafstube, in die man sich teilen mußte.

So wurde es wieder Morgen und beim Frühstücken sah Herr Bodner recht unwillig aus. Er fragte Ferdinand: »Hast du geschlafen ?« »Nein,« sagte dieser, »ich habe kein Auge zugemacht, sie lärmten drunten die ganze Nacht, und im Bette war es auch nicht geheuer.«

»Ja, das kam mir auch so vor, ich bin am ganzen Leibe zerstochen, hol' der Teufel das Quartier, heute und morgen nachten wir im Wagen, ich danke für die Betten.«

Nun reisten sie also ununterbrochen zwei Tage und zwei Nächte durch ein gähnendes, großes, nebliges Land. In der Frühe blickten sie einander fremd in die halb verschlafenen, blassen, müden Gesichter. Andreas schien es, als sähe er in feindliche Augen. Der Tag war mürrisch und hart und wurde nur zutraulich, wenn man zu einer Mahlzeit in irgendeinem Wirtshaus einkehrte, und verschwand früh hinter einer fahlen Dämmerung, diese hinter einer sternenlosen Nacht. Zwei Tage und zwei Nächte! Die Zeit und die Weite, die Stille und die Einsamkeit, der Wind und das Wetter preßten sich an den langsam vordringenden Wagen wie ein ungeheures, nicht zu bändigendes, wildes Tier, das sich mit ihnen vorwärts wälzte. Man schlief und wachte auf, sah und hörte, dachte und versank wieder in Taumel und sprach höchstens abgerissene, zwecklose Worte. Andreas glaubte, nimmermehr ans Ziel zu kommen, als sei er verdammt, in dieser Kutsche in der unendlichen Welt zu reisen, die groß und fürchterlich lauerte. Wohin hatte man ihn gelockt, wohin trug ihn dieser unerbittlich rollende Wagen, was wollte Herr Bodner von ihm, der ungeheure Mann, der ihn weggenommen hatte, und der allein wußte, was mit ihm geschehen sollte! Der Tag schleppte sich zur Nacht, die Nacht schob sich zum Morgengrauen, durch den Nebel drangen Hahnenschreie. Zwei Tage und zwei Nächte!

Am vierten Morgen endlich fuhr man durch immer dichter aneinander gerückte Ortschaften, welche endlich die nahe große Stadt verrieten. Man begegnete vielen Wagen, Lastfahrzeugen, Fußgängern, Reitern, und schließlich kam eine weite, offene Gegend, beherrscht von einem langflügeligen, gelben Schlosse, hinter welchem eine wohlgeordnete Gartenlandschaft anstieg, bekrönt von einem stattlichen Lusthause.

Da rieb sich Herr Bodner die Augen, setzte sich aufrecht, brachte seinen Kragen und Anzug in Ordnung und sagte tief atmend: »Das ist Schönbrunn, da wohnt der Kaiser, dort oben ist die Gloriette, da werdet ihr auch einmal hinkommen. Jetzt sind wir bald in Wien.«

Nun hieß er Ferdinand, der diese Reise schon mehrmals mitgemacht, sich auf den Bock zum Kutscher setzen, der zum ersten Male nach Wien fuhr und daher den Weg durch die Stadt nicht kannte, damit sein Sohn ihm zeige, wohin er lenken solle.

Nun rasselte die Kutsche über ein Pflaster, daß es nur so klirrte, das war Rudolfsheim. Neben ein paar größeren Häusern sah man ein abenteuerliches Gebäude, bedeckt mit farbigen Anschlagzetteln, Laternen, Fahnen aller Art: »Schwenders Kolosseum«, dann wieder einen unbebauten Lehmplatz, beschneites Feld, schließlich ein alleinstehendes, niederes, geräumiges Einkehrgasthaus »Zur alten Hühnersteige«. Dies bot, unmittelbar vor dem Tore des Linienwalles gelegen, von Käse- und Wurst-, Lebzelt- und Holzwarenbuden umringt, einen Sammelplatz für den vielfältigen, täglichen Verkehr, der von den westlichen Wienerwalddörfern durch diesen Stadteingang seinen Weg nahm. Da kamen die Bauern mit ihrem Vieh her, und vor der »alten Hühnersteige« quickten Schweine, grunzten Ochsen, muhten Kühe, während ihre Herren noch rasch ein Glas Bier tranken oder einen Schnaps genehmigten. Da verweilten Bäuerinnen mit Butten und Körben, mit vollen oder ausgeleerten, und ließen sich von den Krämern beschwatzen, die alle möglichen städtischen Waren feilhielten. Eine Schmiede stand da mit weitausragendem offenen Dach und glühender Esse, an der man einem Pferde rechtzeitig den Huf besorgen lassen konnte, daneben hatte ein Riemer seinen Laden, ein Büchsenmacher seinen Schild, damit der Fuhrmann das verdorbene Zaumzeug, der Jäger sein Gewehr herstellen, kurz jeder, der vom Lande kam oder ins Land hinausging, sich noch mit dem nötigsten versehen konnte.

Inmitten dieses Feldlagers aber hielt sich fest, breit, behaglich und ansehnlich die »alte Hühnersteige«, die von dem schreienden Durcheinander wohl ihren Namen haben mochte, wie Andreas es sich zurechtlegte.

Hier machten sie die letzte Reisestation, um sich nochmals zu restaurieren. In den niederen Gasträumen gab es einen Heidenlärm, beizenden Qualm, Wein- und Bierdunst. Nirgends schien ein Tisch frei, die Leute hockten dicht zusammengedrängt und schwatzten und schrieen. Die Ankömmlinge mußten sich durch den schmalen Mittelgang durchdrängen, Herr Bodner voran, die Jugend hinterdrein. Mitten in diesem Gange saß ein Mann auf einem Stuhl und sang mit mächtiger Stimme und hatte auf seinen Knieen eine prächtig angezogene, mit silbernem Schmuck behängte Frauensperson, die kreischte und weiß und rot im Gesichte war und einen wunderbar lachenden Mund mit blinkenden Zähnen zeigte.

Sie mußten alle vor ihr Halt machen, da sie und ihr Mann den Weg versperrten. Sie rief dem Herrn Bodner lachend zu: »Servus Kleiner, sieht man dich auch einmal, trink' was und zahl' was.«

Aber auf diese freundliche Anrede antwortete Herr Bodner gar nichts, sondern schob das bezechte Paar mit mächtigem Griff beiseite, räumte den Weg frei und sah sich nach den Seinen um: »Kommt, Kinder.«

Die Gekränkten riefen ihm etliche Schimpfworte nach.

Endlich fand Herr Bodner in einer Ecke einen kleinen freien Tisch, wo sie sich niederließen und eine Weile in das Treiben hineinsahen. Bauern schoben sich mit Säcken auf dem Rücken durch das Gedränge, Fuhrleute saßen bei dampfenden Tellern, unablässig wanden sich Kellner durch das Tosen, auf ausgebreiteten Armen zwanzig Schüsseln balanzierend, einschmeichelnd, drohend, flehend riefen sie dabei immer: »Erlauben schon« und übergossen nur im Vorüberfliehen den einen oder anderen mit Suppe, Juden boten ihre Schätzbarkeiten aus, die sie auf einem offenen Brett an Tragriemen hielten, es wurde Karten gespielt, gesungen, eine Ziehharmonika musizierte, Herr Bodner rief jeden Kellner an, der sich von weitem zeigte, keiner nahm sich die Mühe, seine Wünsche anzuhören, schließlich raubte Herr Bodner selbst dem einen etliche Bierkrügel, dem anderen zwei Schüsseln, und so bekamen sie mit Mühe und Not zu essen und zu trinken.

Andreas starrte mit gleicher Angst in das wilde Treiben, wo sie ohnmächtig waren, wie draußen in der verlassenen Weite.

Das Gebrüll der zechenden, schwatzenden, dampfenden Menge, das Klirren der Teller und Gläser, das Rufen, Feilschen, Locken, Fluchen, Lachen, Höhnen, Schimpfen, Drohen dünkte ihm nicht minder furchtbar, als das Ungeheuer Nacht und Sturm und Winter.

Herr Bodner saß aber ganz gelassen inmitten des Getümmels wie zu Hause.

Andreas fühlte sich erst erlöst, als sie ins Freie hinaustraten und zum letzten Male ihren Wagen bestiegen, dessen Ecke nun wieder als vornehmliche Zuflucht erschien.

Jetzt fuhren sie durch das lärmende Gewirr der breiten Mariahilferstraße, über das Glacis, durch das Kärntnertor in immer dichterem Wagen- und Menschenverkehr, bis sie schließlich an einem stillen dunklen Platze Halt machten, der wie ein unbedeckter Saal dalag. Das war die sogenannte »Brandstätte«, heute längst von hohen, neuen Häusern gänzlich verbaut, damals aber ein großer Platz im Herzen der alten Stadt Wien, in unmittelbarer Nähe des Stefansdomes, rings gebildet von ehrwürdigen, behaglich aneinander gelehnten, gegiebelten, zweistöckigen Häusern und nur wenig befahren. Zwei Gasthöfe lagen da lauernd einander gegenüber, so daß, wer nicht in den einen ging, unfehlbar dem anderen in die Arme lief; der eine hieß »Zur Ente«, der andere »Zum goldenen Stern«. In diesem zweiten kehrten sie ein.

Vom Fenster seines kleinen Zimmers schaute Andreas auf die gegenüberliegende, dunkle, graue, gleichförmige Mauerfläche, die keinen Blick in die Weite freigab. Da sah er keinen Baum und keinen Berg, er hörte kein Wasser strömen, kein Vieh brüllen, keinen Wind brausen, ein viereckiger Himmelsausschnitt lag als trübe Decke über dem Platze. Aber gleichmäßig, eigentümlich murmelnd und surrend drang das Geräusch der großen Stadt an sein Ohr, ein verhaltener, leidenschaftlicher, steter Lärm, fremd und unvertraut, der gleiche, nahe, drohende Ruf der kalten, harten, weiten Welt, anders als das offene, vertraute Rauschen des Flüßchens, als das behagliche Muhen der Herden, als das Gezeter der Hühner, anders als das Sausen der Bäume, anders, anders, anders als seine Heimat.

Bevor er schlafen ging, blickte er nochmals hinaus und sah nun drei Reihen gelber Lichter übereinander, die unterste Straßenlaternen, die beiden oberen erhellte Fenster von Wohnungen. Da saßen überall Menschen zu Hause. Mein Herr und Gott, bis er die Leute alle kennen würde!

Und niemand durfte er anreden und befragen, nur sprechen, wenn er angesprochen wurde. Wie sollte er da etwas erfahren und lernen, der zu Hause ein richtiger »Fragaus« gewesen.

Betäubt ging Andreas Amersin zu Bett und vernahm noch in Schlaf und Traum das ferne, gleichmäßige Summen der Stadt.

Die Gewohnheit und Aufregung weckte ihn des Morgens so zeitig, daß er in seinem Zimmerchen noch völlig im Dunkeln nach seinen Kleidern tappen mußte. Als er, rasch angezogen, aus den Fenstern blickte, sah er draußen eine dicke, fahle, neblige Trübe. Aber es litt ihn nicht mehr in dem dumpfen Raume. Er wollte sich doch allein auf der Straße ein wenig umsehen und schlich über die leeren Gänge und Stiegen des Hotels und stand endlich ratlos auf dem toten Platze. Er maß das weite Rechteck. Ein Leiterwagen rasselte vorüber und zwei schwarze Wanderer, den Kragen über die Ohren gezogen, eilten an ihm vorbei.

Ein großer Schwibbogen schloß eine Schmalseite des Platzes ab, dahinter lag sicherlich die weitere Stadt. Aber er getraute sich noch nicht, ihn zu durchschreiten, denn er wollte sich nicht gleich verirren. So ging er einmal nach rechts, ein andermal nach links die »Brandstätte« ab, wobei er jedes einzelne Haus von oben bis unten betrachtete und sich einzuprägen suchte, um es ein für alle Mal zu kennen. Keines aber sagte ihm etwas, sondern sah ihn nur still, grau, kühl an, und er verstand nichts davon.

Plötzlich bemerkte er vor seinem Gasthof eine Art Wagen mit Rauchfang, von einem Manne vorwärts geschoben. Eilig ging er darauf zu und machte ein paar Schritte vor dem wunderlichen Fahrzeug halt. Von dem Eisenrohr stieg ein blauer Rauch auf, und nun gewahrte er auch einen verschlossenen Kessel, aus dessen Messingdeckel ein ungemein wohlriechender, verlockender Dampf sich vorzwängte. Er roch mit Bestimmtheit eine Wurst von seinem Geschmacke. Seine Vermutung wurde bestätigt, als zuerst ein Gassenkehrer, dann ein Lastträger vom Inhaber des Fahrzeuges nach kurzer Anrede und Entrichtung eines Geldstückes ein Paar Würstel und ein Gebäck bekamen und aßen. Da schien ihm der Wohlgeruch endlich so beseligend, daß er beschloß, so etwas müsse er auch und um jeden Preis haben. Er holte denn sein Beutelchen hervor, worein ihm die Mutter eine bescheidene Summe als Zehrpfennig gesteckt hatte, ehe er vom Hause wegging. Das Geld hatte er also, aber damit war es ja noch nicht abgetan. Er mußte doch den Mann erst anreden. Und wer weiß, ob ihm der etwas zukommen ließ, da er ihn doch nicht kannte. Aber seine Lust war zu groß, er mußte es wagen.

Als er endlich den Mann wieder allein dastehen und warten sah, faßte er sich ein Herz, trat auf ihn zu, grüßte gar höflich und blieb, den Hut in der Hand vor ihm stehen und fragte: »Ich bitte, könnte ich auch so etwas bekommen?« »Warum denn nicht? Ein Paar Würstel und eine Gschradi? Macht einen Sechser.«

Was eine »Gschradi« sei, erfuhr er gleich, indem ihm das Paar Würstel auf einem braunen Wecken reitend dargeboten wurde. Und da er noch immer den Hut vorhielt, fragte ihn der Mann, ob er ihm die Sachen da hinein tun sollte.

Nun aß er mit innigem Genusse. Leider war er schon nach drei, vier Bissen fertig und hatte jetzt erst recht Appetit. Ein zweites Mal hätte er den Wohlgeschmack ganz gewürdigt. Er mußte ihn noch einmal verkosten. Aber ob er dem Fremden noch einmal mit seinem Anliegen nahetreten dürfte und nicht etwa eine Zurechtweisung gewärtigen müsse, daß er schon einmal das Seine bekommen, und daß es damit sein Bewenden habe. Schließlich übermochte die große Begierde seine Schüchternheit und er sagte: »Lieber Herr, die Würstel und auch die »Gschradi« waren so gut, sie haben mir so wohl geschmeckt, ich möchte gerne noch ein Paar haben.«

»So viel Sie wollen, meinetwegen den ganzen Kessel voll, ich stehe ja nicht zu meinem Vergnügen hier. So da haben Sie, macht nur einen Sechser.«

Auch das zweite Paar schmeckte vortrefflich, aber nun beschloß Andreas, sich aus der verführerischen Nähe dieses Eßfahrzeuges zu flüchten und endlich aus dem dunklen Schwibbogen in die jenseitige Stadt zu treten.

Auf diese Weise fand er sich plötzlich vor der Stefanskirche, deren ungeheurer Turm, deren weites Tor in der Morgendämmerung groß und finster vor ihm emporstarrte. Er empfand indes vor der Mächtigkeit des Baues keinen sonderlichen Respekt, die dunkle Steinmasse erweckte nur eine Art Unbehagen in ihm, er ging an ihren steilen Wänden entlang und blickte von allen Seiten daran empor, bis er wieder vor dem Haupteingang stand, und entschlossen sich bekreuzigend, ins Innere der Kirche trat.

Das lange Schiff war bloß zart und schwankend beleuchtet von den brennenden Kerzen des Hochaltars, deren Lichter aber nur eine zaghafte, blaue Dämmerung verbreiteten. Doch er, an eine frisch geweißte, helle, heitere Kirche gewöhnt, meinte, daß man in einer so großen Stadt das Gotteshaus wohl ordentlich hätte weißigen können und es nicht so schwarz und finster hätte daliegen lassen müssen. Darum ging er bald wieder hinaus und beeilte sich, zur »Brandstätte« zurückzufinden, um nicht etwa vermißt zu werden.

Mittlerweile war es auch lichter geworden und »Sauers Kaffeehaus«, ein altes Stadtlokal neben dem Hotel »Zum goldenen Stern«, stand bereits offen. Es hatte einen glasgedeckten Vorraum, in welchen man von der Gasse her gut hineinsah.

Dort weilten die Leute beim Frühstück, hielten lange bedruckte Papiere vor die Gesichter und lasen, indem sie gelegentlich und gedankenlos mit der linken Hand die Kaffeeschale zum Munde führten, oder ein Kipfel hielten, als ob sie mitten unterm Essen verzaubert worden wären.

Was lasen sie denn da so eifrig? Andreas beschloß, es müßten wohl neuartige Gebetbücher sein, die er noch nicht kannte.

Eben als er so neugierig in die Fenster schaute, hörte er Herrn Bodners Stimme: »Da haben wir dich endlich, Ausreißer, ich dachte schon, du bist uns gestohlen worden.«

Hinter dem Herrn Bodner stand auch dessen Sohn und der gehorsame Peter Breier, welcher kein Abenteurer und sohin zu Hause geblieben war, und alle gingen in das »Café Sauer« frühstücken. So ward auch der Wunsch des Andreas erfüllt, in dieser Glashalle sitzen zu dürfen.

Er nahm an einem der runden Marmortische Platz, bekam Kaffee, während auch Herr Bodner eines der großen Gebetbücher vor das Gesicht zog und las.

Vor den Gästen stand ein Körbchen mit frischem, duftenden Gebäck. Andreas konnte sich nicht entschließen, nach dem größten und verlockendsten Stücke zu greifen, und so begnügte er sich mit einem von mittlerer Beschaffenheit, während dem skrupelloseren Peter Breier richtig das größte zufiel. Den hatte keine besorgte Mutter Bescheidenheit gelehrt, darum erging es ihm auch in aller Zukunft wohl auf Erden.

Nach diesem letzten gemeinsamen Frühstück bestiegen sie alle wieder einen Wagen und fuhren weit hinaus nach Mariahilf in die Stumpergasse zum Schalweber Herrn Stuchlik, zu welchem die beiden Jungen in die Lehre gebracht werden sollten.

Und damit war es aus mit der Bubenreise, mit allen stummen und lauten Wundern des Schauens und des Wünschens, mit dem vergnüglichen Speisen und müßigen Lernen. Jetzt begann die Arbeit, und was Andreas nun von Welt und Menschen erfuhr, mußte er sich recht mühselig aneignen, von fünf Uhr morgens, wo er sich in einer finsteren Kammer vom Bett erhob und an den Webstuhl trat, die Kette vorrichtete, bis spät in die Nacht. Zwischen jedem Schub der Lade spielten freilich, wie es Knabenart ist, allerhand Fragen und Gedanken und hingen sich an den wandernden Faden, wurden unbarmherzig an das wachsende Gewebe geschlagen und derart unmerklich in die Seide eingewirkt. Sicherlich schimmert sie zum Teil von solchen Weberträumen. Aber die Käufer wissen davon nichts und meinen, dies sei nur den Puppen zu verdanken, welche in einem so glänzenden Gespinnst auf den Tag warten, wo sie als freie Sommervögel in die leuchtendere Welt der Sonne und des blauen Himmels schweben wollen. Am wenigsten aber wußten von derlei Knabengedanken die schönen Frauenzimmer, die damals solche kostbare Tücher als Schmuck und Schutz um die zierlichen Hälse legten.

Rasch und selbstverständlich war die schöne, kurze Bubenreise, Andreas Amersins Knabenfahrt vorüber.


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