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Prinzeß Goldhaar.

In dem alten Stollen, der vor Hunderten von Jahren fleißigen Bergleuten Einlaß in das Innere des Berges gestattete und so lange befahren wurde, bis die reichen Erzadern versiegten und der Schlägel nur noch taubes Gestein traf, saßen die geheimnißvolle Frau und der Ozonhasser, gar ernste Dinge mit einander besprechend. Sie waren beide Kurgäste des kleinen Badeortes Klarenbach, der abseits von der großen Heerstraße mitten im Gebirge liegt und so gerne eine Weltstadt werden möchte, ohne es jemals werden zu können, trotz des neuen Kurhauses, der gut gemeinten, aber schlecht gereimten Inschriften an Felsen und Bäumen und der vielen Anzeigen in gelesenen Zeitungen. Eine Großstadt aber will Platz haben und das Klarenbacher Thal ist nur schmal und eng. Wenn man aber von den Bergen in das Thal hinabblickt, möchte man glauben, man sähe in eine Schachtel Nürnberger Spielzeug, so niedlich nimmt sich das Städtchen aus der Vogelperspective aus, fast wie ein rothgekochter Krebs in grüner Petersilie.

Die geheimnißvolle Frau wohnte mit ihrer Tochter bei dem Gewürzkrämer, dessen Garten zu dem Stollen führte, der Ozonhasser logirte bei dem Barbier, dessen Gemüseanlagen an den Garten stießen und ebenfalls an dem Stollen participirten, der den jeweiligen Badegästen in seiner Eigenschaft als Naturpavillon mit aus die Rechnung gesetzt wurde. Anfangs wechselten die fremden Nachbarn nur die allgemein üblichen Grüße, aber bald wurden die Grüße zu längeren Unterhaltungen und man fand Gefallen aneinander.

Die bleiche Frau mußte einst sehr schön gewesen sein. Zwar hatten sich Kummer und Leid viele Mühe gegeben, diesem Antlitz ihre verheerenden Spuren aufzudrücken, aber es war ihnen nicht möglich gewesen, die Anmuth zu verwischen, welche den milden Zügen eigen war und die großen herrlichen Augen zu trüben, aus denen die Seele einer stillen Dulderin wehmüthig und mitleidserweckend hervorschaute. Man sah dieser Frau an, daß ein großes Leid ihr Herz beschwerte, aber sie war schweigsam und wich neugierigen Fragen aus. Und da sie sich von dem geräuschvollen Badeleben fast ganz zurückzog, hatte man ihr den Beinamen der »geheimnißvollen« gegeben.

Der Ozonhasser, ein wohlhabender Fabrikant, galt als der große Unart des Bades. Die Krähwinkeleien, an denen Klarenbach fortwährend Neues lieferte, fanden in ihm einen schonungslosen Satiriker; der Wirth des Kurhauses war ihm ein geschworener Feind, weil Herr Otten seinen eigenen Weinkeller hielt, und der Badearzt wünschte ihn dahin, wo der Pfeffer wächst, weil der naturwissenschaftlich wohl unterrichtete Fabrikant die Wunderwirkungen der ozonhaltigen Atmosphäre Klarenbachs, die im Prospekt mit großen Lettern figurirten, nicht nur in Zweifel zog, sondern das Ozon geradezu für ein Gift erklärte. Der ganze Anhang des Badearztes erblickte in Herrn Otten daher eine Art von Frevler am Heiligsten, und gab seiner Entrüstung in dem Spottnamen »Ozonhasser« erwünschten Ausdruck.

Das kümmerte den jovialen alten Herrn jedoch blitzwenig, da er Klarenbach weder des Ozons noch des Gebirgswassers wegen, mit welchem Kaltwasserunfug in ausgedehntester Weise getrieben wurde, besuchte, sondern sein Augenmerk auf die geologischen Schätze richtete, an denen Klarenbach und Umgebung reich sind. In den letzten Wochen hatte er jedoch die geologischen Exkursionen auf ein Geringstes beschränkt und leistete der blassen Frau Gesellschaft, die gar bald Vertrauen zu dem Manne gewann, dem die übrige Badegesellschaft keineswegs hold gesinnt war, während er seinerseits die innere Nothwendigkeit fühlte, der alleinstehenden Frau, die sich von dem ganzen Getriebe des Bades abschloß, seinen Schutz angedeihen zu lassen. Man trank am Morgen den Kaffee gemeinschaftlich und brachte den Nachmittag und Abend ebenfalls gemeinschaftlich zu, entweder auf Spaziergängen, oder in dem alten verfallenen Stollen, in den die sengenden Strahlen der Sonne nicht dringen konnten, denn ein dichtes Geranke von wildem Wein bildete einen natürlichen Vorhang vor dem Eingang, der das Licht dämmergrün färbte, ehe er es einließ und der flimmernden Wärme der Mittagszeit nicht gestattete, ihren Einfluß auf die erquickende Kühle da drinnen geltend zu machen. Zu den zeitweiligen Bewohnern der Felsenhöhle gehörten auch noch zwei Personen: Elisabeth, die Tochter der blassen Frau, und ein junger Student, seines Zeichens Techniker, mit dem der Fabrikant auf geologischem Wege innige Freundschaft geschlossen hatte. Der alte Herr schätzte den jungen Mann sehr hoch, sowohl des Wissens, als des Charakters wegen und machte ihn mit den beiden Damen als einen »Menschen« bekannt, der als löbliche Ausnahme von der modernen Affenwelt hingestellt werden könne. Diese feierliche Einführung konnte jedoch durchaus nicht verhindern, daß der junge Mann sich sterblich in Elisabeth verliebte.

Der Student wußte sich außerordentlich zu beherrschen, so daß Niemand ihm den Verliebten anmerkte; wollte er doch selbst es sich kaum eingestehen, daß er liebe. Wenn er in Elisabeths Nähe weilte, so war die ganze Welt eitel Glück für ihn, dann half Frau Hoffnung ihm Kunststraßen und Brücken über Abgründe und Flüsse bauen, auf denen er Arm in Arm mit Elisabeth zu wandeln gedachte, damit ihr Fuß keinen Stein berühre und ihr Herz keine Sorge treffe. Wenn er aber allein war, dann stand die Wirklichkeit vor ihm, dann wurden aus den Chausseen ungangbare Holzwege und die wundervollen Viadukte stürzten in Trümmer zusammen. Dann kam er sich wie ein Nichts in der Schöpfung vor und war der arme Student, der nicht einmal für sich selbst sorgen konnte, geschweige denn für eine Frau. Er hätte allerdings schon weiter vorgerückt sein können in der menschlichen Rangordnung, das war nicht zu leugnen, aber daran, daß er seine Studien nicht absolvirt hatte, trug er keine Schuld, sondern ein kleines Stück Blei, das seinen rechten Arm traf, als er während des großen Feldzuges in Frankreich tapfer mitfocht. Da mußte er umlernen, damit die linke Hand ebenso geschickt würde, wie früher die rechte war. Das gelang auch, kostete aber Zeit, und um diese Zeit war er zu kurz gekommen, denn anstatt jetzt wohlbestallter Aspirant mit wenig Gehalt, aber brillanten Aussichten auf spätere Zeiten zu sein, war er nur noch Student, dem der Arzt Klarenbach zur nothwendigen Erholung von vieler Arbeit und den Strapazen der Campagne auf das Dringendste empfohlen hatte. Was sein Aeußeres anbelangte, so wich es von dem allgemeinen Studententypus in jeder Beziehung ab. Kein Kennzeichen der wissenschaftlichen Flegeljahre war an ihm zu bemerken, er trug weder Cerevis, Band und Kanonen, noch bediente er sich des studentischen Jargons, sondern hielt sowohl in der Kleidung, wie in der Sprache auf sich. Sein ganzes Wesen zeichnete sich trotz seiner Jugend durch eine gewisse Ruhe aus, im Gespräch aber konnte er lebhaft und erregt werden und wenn seine Züge sich im Eifer belebten und die dunklen Augen klar und hell leuchteten, dann mußte Jeder, der ihn sah, bekennen, daß der junge Mann kein gewöhnlicher Beau, sondern eine interessante Schönheit sei. Wie Elisabeth über ihn dachte, das sagte sie nicht, er war ihr willkommen als ständiger Gefährte des Herrn Otten, den sie kindlich verehrte und dem zu Gefallen sie sich auch mit geologischen Studien abgab. Wenn sie mit dem Alten zuweilen auszog, um in den Steinbrüchen auf Felsarten, Krystalle und Petrefakten zu fahnden und sich Mühe gab, mit dem Berghammer brauchbare Handstücke zu gewinnen, so konnte man glauben, eine mitleidige Waldelfe hülfe einem vom strengen Erdfürsten ausgesandten armen Gnomen bei seiner Arbeit. Ihre schlanke Gestalt, die herrlichen blonden Haare, welche lose herabfielen, und das feingeformte jugendfrische Antlitz berechtigten vollständig zu einer solchen Annahme. Herr Otten nannte sie Prinzessin Goldhaar und sie titulirte ihn dafür Papa Rübezahl. Den Studenten redete sie stets mit aller Förmlichkeit als Herrn Mansfeld an; selbst, wenn er abwesend war, kam sein Vorname Richard nicht über ihre Lippen. –

An dem heutigen Nachmittage saßen Herr Otten, der Ozonhasser, und die geheimnißvolle Frau in dem verfallenen Stollen, der mit einigen Gartenstühlen und einem einfachen Tischchen zweckentsprechend möblirt worden war, und redeten über ernste Dinge. Elisabeth war spazieren gegangen, um auf eigene Hand eine geologische Excursion zu unternehmen. Der Student hatte, wie er sagte, Briefe zu schreiben und ließ sich nicht blicken, und so kam es, daß die blasse Frau dem Freunde ihr Herz ungestört ausschütten konnte.

»Ich habe Elisabeth gebeten, sich heute eine Zeit lang ohne meine Gesellschaft zu behelfen, um Sie, verehrter Freund, um einen Rath zu ersuchen, den Sie mir gewiß nicht verweigern werden. Der Zufall hat uns hier in Klarenbach zusammengeführt – ich segne diesen Zufall – denn er sandte mir in Ihnen einen Beschützer, dessen ich um so mehr bedarf, als ich recht wohl fühle, daß mein zurückgezogenes Leben den Unwillen der übrigen Badegäste gegen mich heraufbeschworen hat!«

»Ich theile ein gleiches Loos mit Ihnen,« erwiderte der Fabrikant lächelnd, »nur mit dem Unterschiede, daß meine zu aufrichtigen Bemerkungen über den Unsinn, dem man hier auf Schritt und Tritt begegnet, die Ursache sind, weshalb man mich mit Bann und Interdikt zu belegen geruht, während Sie weder den Wein im Kurhause für ein Gemansch, noch das Ozon für ein Gift erklärt haben, mithin die Hauptpersönlichkeiten des Bades, den Arzt und den Wirth, in keiner Weise kränkten. Vielleicht nimmt man Ihnen übel, daß sie weder Krankengeschichten erzählen, noch selbige anhören, sondern sich vornehm von jeglichem Geklatsch und Geträtsche zurückziehen. – Sie sind den Leuten unnahbar und das verzeiht der hier herrschende kleinstädtische Geist einer einfachen Frau Müller nicht!«

Die blasse Frau sah den Fabrikanten freundlich an. »Sie mögen recht haben,« antwortete sie. »Ihnen will ich gerne sagen, daß der Name Müller nur mein augenblicklicher Reisename ist, unter dem ich Schutz suche für – Elisabeth. In Wirklichkeit bin ich die Gattin des Commerzienrath Hainberg in H. Wir machen in der Wintersaison ein großes Haus, denn der Commerzienrath liebt äußeren Glanz, und sehen die hervorragendsten Persönlichkeiten der Stadt an unserer Tafel: Beamte, Gelehrte, Künstler, Militairs – was Sie wünschen. Daß die Tochter des reichen Mannes von Manchem zum Weibe begehrt wird, können Sie sich vorstellen, um so mehr, da Sie Elisabeth kennen; Prinzessin Goldhaar, wie Sie das Kind scherzend nennen, ist nicht allein mit dem Geschenke der Schönheit begabt, sie besitzt einen noch viel kostbareren Schatz an ihrem engelgleichen Gemüth. – Verzeihen Sie der Mutter das warme Lob ihres Kindes, aber sagen Sie selbst: habe ich übertrieben?«

»Hätten Sie mich zum Lobredner Ihrer Tochter aufgefordert, mir hätten ganz andere Farben zu Gebote gestanden, ihr Conterfei zu entwerfen,« entgegnete der Alte. »Ich hätte dem schönsten Frühlingstage all' seinen Zauber entliehen und ausgerufen: seht, das ist Elisabeth!«

»Und dies mein Kind – der Frühlingstag, wie Sie eben sagten,« erwiderte die blasse Frau erregt, »soll einem Menschen angehören, der trotz seiner jungen Jahre doch dem wandelnden Herbste gleicht, der entweder nie einen Lebensfrühling besaß, oder, wenn er ihn je besessen, elend vergeudete. Er trägt einen stolzen Namen, das ist Alles, aber nicht genug, um mein Kind glücklich zu machen. Mein Gemahl, der Commerzienrath, wünscht diese Verbindung, es schmeichelt seinem Ehrgeize, einen Schwiegersohn mit klingendem Namen zu besitzen, und diesem Ehrgeize soll Elisabeth geopfert werden!«

»Mir scheint die Sache sehr einfach zu liegen,« warf Herr Otten ein. »Elisabeth verweigert ihre Einwilligung und der junge Herr zieht mit dem niedlichsten Korbe ab, der jemals geflochten wurde!«

»Das geht nicht,« antwortete die Frau. »Elisabeth wird einwilligen, weil auch ich wollen muß, was der Commerzienrath wünscht, und sie gewohnt ist, meinen leisesten Bitten zu willfahren. Sie liebt mich so innig, daß sie mir zu Liebe ihr Leben hingeben würde, wenn die Forderung an sie heranträte. Und nun, da sie noch ein Kind ist und Neigung zu einem Manne ihr Herz nicht berührte, folgt sie blind meinem Willen und entsagt einem Glücke, das sie nicht kennt, um an der Seite eines unliebenswürdigen Gatten für das ganze Leben unglücklich zu werden.«

»Aber ich bitte Sie, verehrte Frau!« rief Herr Otten aus, und in dem Tone, in welchem er redete, klang etwas wie Unwille hinein, »wenn Sie das Unglück Ihrer Tochter vor Augen sehen, so haben Sie als Mutter die Pflicht, alles Mögliche zur Verhütung desselben zu thun. Ist Elisabeth noch ein Kind ... gut, so muß die Erfahrung erwachsener Leute für sie in Anspruch genommen werden, und wenn es Ihnen recht ist, so übernehme ich die Stelle eines Vormundes und sage ihr einfach: Fräulein Elisabeth, es giebt einen Menschen, der Sie heirathen will. Da dieser Mensch aber lange nicht gut genug für Sie ist und eine Heirath mit demselben das Thor zur Hölle auf Erden für Sie öffnen würde, so verlange ich, daß Sie dem betreffenden Bewerber in zierlich verblümter Rede auseinandersetzen, daß Sie ihn nicht ausstehen können! Ich gebe Ihnen mein Wort, das Mittel wird helfen!«

»Und ich wäre gezwungen, meine Tochter zu bitten, zu beschwören, ihr Jawort zu geben, und ... sie wird es geben,« entgegnete die Commerzienräthin ernst.

»Ich war nie stark im Räthsellösen,« sagte Herr Otten, »und bin daher außer Stande, in diesem Falle klar zu sehen. Verzeihen Sie das Wort, gnädige Frau, wenn ich Sie in diesem Augenblick mit der Sphinx vergleiche und mich mit einem Vorgänger des Herrn Oedipus, mit einem jener Bedauernswerthen, die wegen Mangels an Scharfsinn zu Grunde gingen: ich bin nämlich mit meiner Weisheit zu Ende!«

Die Frau schwieg einen Augenblick, dann richtete sie ihr seelenvolles Auge fragend auf den alten Herrn. Dieser verstand den Blick. »Sie wollen mir etwas vertrauen und möchten wissen, ob Sie einem Würdigen Vertrauen schenken, wenn Sie rückhaltslos zu mir sprechen? Es gilt das Glück Ihres Kindes und meines Lieblings, wir haben gemeinsame Interessen!«

»Nun wohl,« antwortete die Frau, deren Züge verriethen, daß sie einen schweren inneren Kampf durchkämpfte, »es gilt das Glück meines Kindes und deshalb fort mit aller falschen Scham. Sie sollen erfahren, was außer mir nur noch zwei Menschen auf Erden wissen, damit Sie mir rathen, mir und dem Kinde. – In einem kleinen Orte an den Ufern der Weser lebt ein alter Mann, abgeschieden von der Welt, das Ende seiner Tage abwartend. Einst nahm dieser Mann eine Stellung im Staate ein, Ehrenzeichen bedeckten seine Brust und er galt viel in den Augen seiner Mitmenschen. Was einst diesen Mann veranlaßte, seine Pflicht zu verletzen, weiß ich nicht, aber es war geschehen. Er hatte öffentliche Gelder veruntreut, ohne sie jemals ersetzen zu können, und die Schande drohte ihm. In seiner Verzweiflung, als er sich verloren glaubte, versuchte er einen letzten Rettungsweg. Er legte einem reichen Manne seine Verhältnisse dar und bat ihn um Hülfe. Und diese Hülfe ward ihm, seine Tochter war der Preis, die wurde an den reichen Mann verkauft, an den Mann, den sie in Tagen des Glückes von sich gewiesen hatte. – Kein Fremder hat jemals erfahren, daß es sich um die Ehre meines Vaters handelte, als ich dem reichen Manne willenlos zum Altare folgte, Niemand sah meine Wunden, als der Priester über diesen Bund den Segen sprach, der mir in die Ohren klang wie Fluch und Frevel. – Mein Vater war gerettet und ich die Gattin eines Mannes, den ich nicht liebte. Zwischen diesem Tage und heute sind Jahre verflossen. Mein Vater ist alt geworden – alt in äußeren Ehren – er hat mich gelehrt, dem Manne dankbar zu sein, der ihm den Namen erhielt, ich habe es nach Kräften versucht zu sein. Ich habe nicht geklagt, ich habe schweigend geduldet, sah ich doch, daß das Opfer nicht vergebens war: die letzten Tage des alten Mannes gleiten ruhig dahin. Sein Gewissen hat im Laufe der Zeit Ruhe gefunden, weil er mich glücklich wähnt, weil er, wie die übrige Welt, das Scheinleben, welches ich führe, für Glück hält. So folgte der einen ersten Lüge ein ganzes unwahres Leben. – Und nun Elisabeth! Der Himmel schenkte mir dieses Kind zum Trost, ein Zeichen seines Erbarmens. Ich habe es behütet, wie einen Schatz, ich habe ihm mit Sorgfalt verborgen, daß mein ganzes Dasein nichts ist, als tiefes Elend, das in bunten Füttern seine wahre Gestalt verhüllt. Wenn Elisabeth Alles wüßte, Alles, ich würde das letzte Gut verlieren, das ich besitze ... die Achtung meines Kindes. Es würde fragen: ist Deine Liebe zu mir Wahrheit ... oder ist sie Schein wie Dein übriges Leben? – Weigere ich mich, dem Wunsche meines Gatten Folge zu leisten, Elisabeth zu bestimmen, daß sie jenem Manne die Hand reicht, ihr vorzustellen, daß der Glanz eines Namens alles Glück der Welt in sich berge, so kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen, Elisabeth wird erfahren, was Sie jetzt wissen, und sich von mir wenden, wie Sie es auch werden!« Die bleiche Frau verhüllte ihr Antlitz mit dem Taschentuche und weinte.

Der Alte schwieg einen Augenblick, dann begann er in mildem freundlichen Tone: »Wie doch lange getragenes Leid ebensowohl den Blick des Menschen trübt, wie unerwartetes Glück oft den Klügsten blind macht. Könnten Sie wirklich denken, gnädige Frau, Ihr alter Freund würde Sie auch nur einen Augenblick weniger schätzen, weil Sie ungesehen eine Dornenkrone tragen, die Ihnen die Kindesliebe auf's Haupt drückte? Nein, er bewundert Ihr stilles Dulden und den fortwährenden seelischen Kampf, den Sie allein auskämpfen mußten, ohne jeglichen Beistand, und nun, da Sie diesen suchen, wird der Alte Ihnen beistehen nach seinen besten Kräften. Freilich ist er so unerfahren in den Geheimnissen des Frauenherzens wie ein alter Sonderling und Junggeselle nur sein kann, aber er glaubt doch, daß dem ganzen Leid ein Ende gemacht werden kann!«

Die Commerzienräthin blickte den Alten fragend an; Erwartung und Zweifel prägten sich in ihren Zügen aus. »Reden Sie, reden Sie! – Zeigen Sie mir den Ausweg zur Rettung!«

»Wir müssen zunächst feststellen, um was es sich handelt,« sagte der Alte.

»Um das Glück meiner Tochter,« rief die Commerzienräthin.

»Und um das Ihre!« fügte der Alte hinzu.

»Um das Meine? Ich verzichte schon lange auf Glück!«

»Nicht ganz; die Liebe und die Achtung Ihrer Tochter, das ist Ihr Glück, und Sie bangen vor dem Verluste desselben. Auf der andern Seite fürchten Sie, daß Elisabeth das gleiche Schicksal haben werde, wie Sie, ungeliebt durch das Leben zu gehen, eine Abkartungs-Ehe der schlimmsten Sorte zu schließen. Wollen Sie das Glück Ihrer Tochter, so müssen Sie sich zu einem zweiten Opfer entschließen und das Kind vor den Plänen des Commerzienrathes schützen, indem Sie es vor jeder erzwungenen Verbindung warnen!«

»Ich sollte meiner Tochter mein jahrelanges Elend enthüllen, ihr Alles, Alles sagen und aus ihrem eigenen Munde meinen Richterspruch erwarten? Ich sollte ihr sagen: siehe, ich bin die erkaufte Sklavin Deines Vaters und der alte Mann, den auch Du liebst, ist der Schande nur dadurch entgangen, daß ich geopfert wurde und ihm ein Glück heuchelte, das ich nie besessen habe? Das kann ich nicht, das vermag ich nicht!«

»Brechen Sie mit den alten Verhältnissen, gnädige Frau. Sie haben gelitten für das Trugbild der Ehre, nicht für die Ehre selbst; die war verloren, als der Mann, der jetzt zurückgezogen an den Ufern der Weser lebt, seine Pflicht verletzte, was übrig blieb, war die Furcht vor dem Aufsehen, vor den Reden der Welt, aber nimmermehr die Ehre. Und diesem Gespenst, diesem Schein sollte auch Elisabeth – Prinzeß Goldhaar – hingeopfert werden? Nie und nimmer. Die Schuld blieb den Augen der Welt verdeckt und wird es ferner bleiben, auch der Friede Ihres Vaters soll nicht gestört werden. Sie müssen sich mit Ihrem Gemahl aussprechen, er muß einsehen lernen, daß seine Macht eine Grenze hat, daß die Zukunft seines Kindes etwas Anderes ist, als die Erfüllung ehrgeiziger Wünsche!«

»Ich habe keinen Muth, ihm gegenüberzutreten, der jahrelange Zwang hat mich scheu und furchtsam gemacht. Und er ist gewohnt, daß geschieht, was er will, da er sieht, wie Alles sich vor seinem Gelde beugt, da einst das Geld auch mich in seinen Besitz brachte. Ich kann nicht mit ihm reden!«

»So schreiben Sie ihm. Es läßt sich brieflich Manches bequemer abmachen, als im mündlichen Verfahren. Und so wird es gehen. Sie, verehrte Frau, nehmen Feder und Papier und suchen auf Ihren Gemahl einzuwirken, daß er von seinen Plänen absteht. Ich für meinen Theil werde mit Goldhaar sprechen und ihr sagen, daß bald eine Zeit kommt, in der ihre Zukunft entschieden werden soll und daß sie muthig allen Vorschlägen widerstehe, die ihr gemacht werden. Es sieht das freilich aus, als wollte ich einem Kinde Ungehorsam gegen seine Eltern predigen, aber wohin allzu großer Gehorsam führt, das wissen Sie am besten, gnädige Frau. Und sollte es zum Aeußersten kommen, so nehme ich Elisabeth ganz in meinen Schutz. Ist es Ihnen recht, so spreche ich mit Elisabeth – –«

»Sie würde Alles erfahren?« fragte die bleiche Frau angstvoll.

»Keine Silbe,« war die Antwort. »Nur im Allgemeinen werde ich ihr andeuten, daß ein übereilter Schritt sie unglücklich machen würde. Sie ist klug genug, um später von dem Allgemeinen auf das Besondere zu schließen!«

»Und wenn mein Gemahl auf seinen Willen besteht, wenn Alles vergebens sein sollte?«

»Dann tritt irgend eine Katastrophe ein, die wir nicht abwenden können, aber je nach den Umständen zum Besten des Kindes benutzen müssen. Versuchen wir zunächst das Unheil abzuwenden. Schreiben Sie mit bewegten Worten an den Commerzienrath, ich spreche mit Elisabeth und schließlich und zuletzt bauen Sie auf den alten Rübezahl, der läßt seine Prinzeß Goldhaar nicht im Stiche.«

Die Frau stand auf. »Ich will Ihnen vertrauen,« sagte sie, »nun, da ich weiß, daß ich wackren Beistand habe, wird mir es nicht an Kraft fehlen, für das Glück des Kindes zu sorgen und zu handeln. Ich flüchtete in dies abgelegene Bad, um allein zu sein, und nahm einen andern Namen an, um Elisabeth vor den Nachstellungen jenes Menschen zu schützen, der schon glaubt, sein Ziel erreicht zu haben; wie hätte ich wohl jemals gedacht, hier in meiner Noth einen uneigennützigen Freund zu finden? Es giebt keinen Zufall, es ist vorherbestimmt gewesen, daß ich Sie hier treffen mußte.« Sie reichte dem Alten die schmale, weiße Hand und blickte ihn dankend mit den milden schönen Augen an, die von Hoffnung verklärt, erglänzten. »Der Weg aus dem Leid kann nur über Dornen führen, ich will ihn wandeln!« Sie schritt aus dem verfallenen Stollen in den hellen Tag hinaus, durch den Garten des Krämers, in dem die Blumen wundersam dufteten, aus das Haus zu. Der Alte blieb noch eine Weile in der Höhle, und sann darüber nach, wie wohl Alles zum Besten gewendet werden könnte. Er war unendlich weich gestimmt und hätte selbst dem Badearzte in der Ozonfrage recht gegeben, wenn dieser plötzlich zu ihm hereingekommen und zu einem wissenschaftlichen Streit aufgelegt gewesen wäre. Ihm hatte sich Leid und Kummer offenbart, von dem er früher niemals Kunde gehabt, und das ihn tief ergriff. Sein Blick fiel auf die großen Baumwurzeln, welche an der einen Seite des alten Stollens herabhingen, die Elisabeth Klingelzüge für Rübezahls Gnomen nannte, an denen sie einst herzhaft gezogen hatte, ohne jedoch etwas Anderes zu erreichen, als daß der Student mit bröckelndem Gestein und verwittertem Erdreich überschüttet wurde. Da dachte er: würde Prinzeß Goldhaar wohl je im Leben wieder froh sein, wenn sie, wie ihre Mutter, lieblos einem Gatten folgen müßte? Er schüttelte das Haupt und murmelte vor sich hin: »Sie wird erfahren, was vorgeht und was vorgegangen ist und einsehen, daß es keine Gnomen und gute Geister giebt, sondern nur Menschen, die sich mit ihrer Niedertracht gegenseitig quälen.« – Er verließ den Stollen und schlug den Weg nach seiner Wohnung ein, der durch den Gemüsegarten des Barbiers führte. In dem Hause selbst roch es nach verbrannten Zwiebeln und der Barbier zankte mit seiner Frau über die verdorbene Speise für den Abendtisch. »Mir gefällt weder der hier herrschende Ton, noch der Geruch!« sagte der Alte, »ich will den Badearzt auf eine neue Ozonquelle aufmerksam machen, sintemal Ozon auf gut Deutsch Gestank heißt. Es kommt mir übrigens so vor, als wenn meine scheltenden Hausleute die gewohnte Spottlust in mir wachrufen und sich in der Gallenblase taurocholsaures Natron in reichem Maße absondert, dessen Ueberhandnahme, nach dem Ausspruche des Ozondokters, die Bosheit der menschlichen Creatur auf das Unglaubliche steigern soll. Auf nach dem Kurhause, ich werde dem Doktor und seiner Sippe einen Beweis von der Richtigkeit seiner Theorie geben.« Er rückte die goldene Brille zurecht und steuerte auf das Kurhaus zu. – »Nun ist es aus mit der Gemüthlichkeit,« dachte der Badearzt, der von seiner Umgebung als helle Leuchte der Wissenschaft angestaunt wurde, je unverständlicher er sich ausdrückte, »aber kann dem Alten der Zutritt gewehrt werden, da er alle Taxen prompt bezahlt?« Herr Otten grüßte die Gesellschaft auf das Höflichste, aber schon nach einer kleinen Viertelstunde verabschiedete sich der Badearzt mit der Entschuldigung, daß ein Patient ihn erwarte. Das taurocholsaure Natron mit seiner Wirkung auf die Bosheit des menschlichen Gemüthes hatte ihn fortgetrieben. – –

Wo aber war Elisabeth? Es dämmerte bereits und noch immer war sie nicht von dem geologischen Spaziergange zurückgekehrt. Die Commerzienräthin saß auf ihrem Zimmer und schrieb. Bald zerriß sie das Schreiben, um wieder von Neuem zu beginnen, bald mußte sie ein frisches Blatt nehmen, weil schwere Thränen auf die Schrift fielen und sie auslöschten und nur zögernd formten sich die Worte auf dem Papier; sie dachte nicht an Elisabeth in diesen schweren Stunden. Herr Otten behandelte die Badegäste im Kurhause mit liebevoller Kränkung, er bedurfte einer seelischen Abwechslung nach dem ernsten Gespräch mit der bleichen Frau in dem verfallenen Stollen und vermißte Elisabeth ebenfalls nicht, obgleich er noch vor Kurzem feierlich versprochen, sie in Schutz zu nehmen. Das hatte auch noch Zeit bis morgen, übermorgen, vielleicht eine ganze Woche noch. Die Gefahr lag ja nicht nahe. –

Elisabeth ging am frühen Nachmittag hinaus auf die Berge, nach dem Steinbruch, allwo sie schon oft mit dem Alten Jagd auf merkwürdige Gesteinsbildungen gemacht hatte. Die Mutter wünschte allein zu sein und sie war folgsam wie immer gewesen.

Der Weg stieg langsam an, hin und wieder luden Bänke, welche die Badeverwaltung hatte aufstellen lassen, zum Ausruhen ein, Elisabeth aber schlug einen Seitenweg ein, um Spaziergängern nicht zu begegnen. Dichtes Unterholz wölbte ein Dach über diesen Pfad, kein Blatt rührte sich, unbeweglich standen die hochaufgeschossenen Waldblumen an den Seiten des Weges und entfalteten ihre Kronen in der lauen Wärme des Sommertages, luftige Schenken für die bunten Schmetterlinge, die fleißig dem gastfrei dargebotenen Honigsafte zusprachen.

»Hier ist Friede,« flüsterte Elisabeth. »Hier ist es so ganz anders wie zu Hause. Dort muß ich froh sein, wenn Gäste bei uns sind, hier bin ich froh, so recht von Herzen froh. Niemand sagt mir hier abgeschmackte Schmeicheleien. – Ob mir wohl einer von all' den Cavalieren hier im Walde ein Compliment machen würde, wenn ich in Wirklichkeit Fräulein Müller wäre, das weder einen reichen Papa hat, weder Diamanten besitzt, noch große Toilette machen kann, sondern tagtäglich in Waschkleidern umherläuft?« Sie lachte laut auf. – »Papa Rübezahl schmeichelt nicht, der spricht wie er denkt, und sein Freund ist ebenso wie er, nur jünger und viel hübscher! Die Beiden sind mir lieber als die andern.«

Sie stand einen Augenblick still. »Ich kann mir Papa Rübezahl gar nicht ohne Herrn Mansfeld denken, sie gehören zusammen. Er nennt ihn Richard und hat ihn lieb wie einen Sohn. So sagte er einmal zur Mama.« Elisabeth ging sinnend weiter.

»Schade, daß wir uns trennen müssen, wenn die Saison vorbei ist; es wird recht ungemüthlich zu Hause sein. Wie oft werde ich an Klarenbach zurückdenken, wenn daheim die vielen fremden Menschen bei Papa zu Gaste sind und er sich seines Reichthums freut und die Gäste mir so viel Albernes sagen. – Ich würde ihn hassen, wenn er so spräche wie die andern Alle, ich würde ihm sagen, daß er mir gleichgiltig wäre, wie sie Alle. – Ob er sich meiner wohl erinnern wird, wenn wir fort sind? O, wenn er das thäte! Aber was bin ich ihm? Er ist klug und hat viel gelernt, das fühle ich, wenn er spricht; ich weiß eigentlich gar nichts. – Einmal in meinem Leben möchte ich ihn Richard nennen, aber er dürfte es nicht hören! Nun muß der Steinbruch bald kommen.«

Elisabeth bog um die Ecke, allein der Bruch war nicht zu sehen, die Wege kreuzten sich, sie schlug auf gut Glück einen andern Pfad ein, der aber führte auch nicht zu dem Steinbruch, sondern tiefer hinein in den Gebirgswald. Elisabeth kehrte um, verfehlte aber den rechten Pfad, immer fremder wurden ihr Weg und Steg und zu dem bangen Gefühl des Verirrtseins gesellte sich gemach Ermattung der Kräfte. Es kam ihr vor, als wenn sie erst vor Kurzem aus Klarenbach fortgegangen sei, und doch war die Sonne schon ziemlich tief am Horizont herabgesunken. Sie setzte sich auf einen Felsblock und begann zu weinen: »Ich kann nicht weiter,« klagte sie, »und mich durstet, als sollte ich verschmachten. Wer giebt mir nur einen Trunk Wasser?« Und immer stiller ward es um sie herum und sie ängstigte sich in ihrer Verlassenheit.

Die Rettung kam jedoch und zwar in der Gestalt des Studenten, der gesehen hatte, daß Elisabeth mit dem Gebirgshammer allein den Weg nach dem Steinbruche einschlug. »Es könnte ihr irgend etwas Unangenehmes zustoßen,« dachte er, »ich werde mich in ihrer Nähe aufhalten und sie nicht aus den Augen lassen.« Das war obenhin betrachtet ungemein edel, aber bei Licht besehen, eitel Egoismus der Liebe, denn folgte er ihr nicht, so würde er für heute wohl um den Anblick des holden Mädchens betrogen sein, und um die Träume, die der Frau Hoffnung Laternamagica ihm vorgaukelte. Etwas Selbstsucht ist immer mit der Liebe verbunden, und wenn auch noch so wenig, wie zum Exempel in diesem besonderen Falle.

Man konnte auf verschiedenen Wegen zu dem Steinbruch gelangen, den Herr Otten eine geologische Schatzkammer zu nennen beliebte. Elisabeth war einen falschen gegangen und hatte sich schließlich verirrt, der Student kannte den rechten und fand sehr wohl den Bruch, nicht aber die Erwartete. Stunde auf Stunde verrann, ohne daß Elisabeth erschien, so emsig er von seinem Versteck, hinter dichtem Buschwerk, auch das ganze Terrain recognoscirte, bis er schließlich auf den Gedanken kam: sollte sie fehlgegangen sein? Es überlief ihn siedendheiß, und rasch sprang er von dem weichen Moose auf, alle Zufälligkeiten mit umsichtiger Schnelle erwägend. Er kannte die Umgebung Klarenbachs und die Irrwege des Gebirges, denen jede Bezeichnung fehlte, während die beliebten Spaziergänge des Bades mit Wegweisern und poetischen Inschriften von Nichtdichtern auf das Reichste versehen waren, es war also die Möglichkeit nicht nur vorhanden, sondern sehr wahrscheinlich, daß Elisabeth mutterseelenallein im Gebirge umherirrte. Ohne Zögern machte er sich auf den Weg. Nach langem Suchen fand er den Gebirgshammer, den Elisabeth von sich geworfen hatte, weil er ihr zu schwer wurde. Nun achtete er auf jeden verbogenen Grashalm, auf die geringste Spur im Sande, und so gelang es ihm, die Gesuchte zu finden. Da erblickte er sie auf dem Felsblock, von grünem Farrenkraut umgeben, goldig von der Sonne umleuchtet wie ein Feenkind.

»Elisabeth!« rief er.

»Richard, Sie sind es, Richard!« antwortete sie jubelnd. »Sie sendet mir der liebe Gott!« Dann brach sie zusammen.

Doch nur einen kurzen Moment dauerte die Abspannung der Kräfte. Sie hörte die Schritte des jungen Mannes, sie merkte trotz der geschlossenen Augen, daß er rasch auf sie zueilte und streckte abwehrend die Hand gegen ihn aus. Richard blieb vor ihr stehen, Elisabeth schlug die Augen auf und sah ihn bittend an. »Wasser,« flüsterte sie, »mich durstet.«

Richard zauderte eine kleine Weile. Der Waldbach, dessen klares Naß unten in dem Badeort angeblich Wunderthaten an Kranken und Gesunden verrichtete, floß in einer Entfernung von etlichen hundert Schritten thalabwärts, aber es gebrach an einem Gefäß, Erquickung für das Wesen herbeizuschaffen, das er über Alles liebte, und das ihn flehentlich um einen Tropfen Wasser bat. »Nicht weit von hier ist der Thaleinschnitt, durch den der Bach fließt,« sagte er, »aber der Weg dorthinab ist beschwerlich.«

»Ich bin nicht mehr müde,« entgegnete Elisabeth und erhob sich rasch. Er wollte ihr seinen Arm bieten, aber sie mied seinen Blick. Sie hatte ihn Richard genannt und dies Wort brannte in ihrer Seele und quälte sie fast mehr, als das Verlangen nach dem Quell. Als sie ihn kommen sah, da sie in Noth war, konnte sie nicht anders, da mußte sie ihn Richard nennen, und als sie dies Wort gesprochen, glaubte sie, eine helle feurige Lohe schlage flackernd über ihr zusammen, daß sie die Augen in Furcht schloß und schier zu vergehen meinte. Nun, da sie erwacht war, wagte sie ihn nicht anzublicken, als hätte sie ein schweres Unrecht an ihm begangen. – Auf dem Wege zum Bach nahm sie alle Kräfte zusammen, um seiner Hülfe nicht zu bedürfen, sie hielt sich fest an den Zweigen, um nicht auszugleiten, vorsichtig schritt sie über Fels und Gestein und redete kein Wort zu ihrem Retter, der schweigend voranschritt und ihr den Pfad zeigte. So erreichten sie den Bach, der umgeben von frischem Gesträuch und saftigen Kräutern, in schmalem Silber über glatte Kiesel dahinrauschte, thalein zu den Menschen in Klarenbach, durch den stillen Wald, in dem sie Beide allein waren und einander so fremd gegenüberstanden, als hätten sie sich niemals im Leben gesehen. Elisabeth versuchte sich hinabzubeugen zum klaren Wasser, die lechzenden Lippen zu kühlen, den Trunk zu thun, nach dem ihr verlangte, aber es fehlte ein Halt, daß sie sich neigen konnte. Da umfaßten sie zwei Arme und hielten sie fest und sicher, daß sie trinken konnte. Und als sie den Durst gestillt aus dem fröhlichen Bach, brannten zwei Lippen auf den ihrigen und sie schlang ihren Arm um den Nacken des jungen Mannes und küßte ihn wieder. Es mochte wohl der Waldeszauber sein, daß sie ihm nicht zürnte, oder war die Liebe, die sie für ihn hegte, jetzt zum Leben erweckt?

»Ich habe Dich geliebt schon so lange Zeit,« flüsterte sie, »aber seit jetzt erst weiß ich, daß ich Dich liebe, das hast Du mir gesagt!« Er hatte freilich kein Wort gesprochen; der Kuß war es, darin lag alle Rede.

»Elisabeth!« flüsterte er kosend und hielt sie umschlungen. Mehr konnte er nicht sagen.

Der Abend begann sich herabzusenken auf Berg und Thal. Wie flüssiges Feuer ergoß sich das Licht der Sonne bereits über die Kuppen des Gebirges und über die Dächer und den Kirchthurm Klarenbachs, das unten zu ihren Füßen lag. Tiefblau färbten sich die Schatten, als dämmerte die Nacht schon leise aus den Schluchten und Thälern hervor. Ehe diese ihre dichten Schleier ganz ausbreitete, mußten sie zu den Menschen im Thal zurückgekehrt sein und das Paradies verlassen haben, zu dem ihnen der schweigende Wald am Gebirgsbache geworden war. Ganz ist das Paradies nicht verloren: wenn sich im Menschenherzen die Liebe rein und schön offenbart, dann senkt es sich mit seinem ganzen Frieden herab und die Blüthen am Baume des Lebens öffnen sich wieder wie einst und hauchen beseligende Düfte aus.

Der Heimweg machte mancherlei Beschwer, denn er führte steil hinab und war ungebahnt. Sie aber achteten der Mühe nicht, denn sie hatten einander viel zu sagen, und liebe Rede hilft über Ungemach hinweg, wie ein luftiges Flügelpaar über Kluft und Abgrund. Sie fragte ihn nach seiner Heimath und welche Herzen ihm dort schlügen, und er begann zu erzählen von froher Kinderzeit, von den Augen, die treu über ihm gewacht hätten, bis sie sich für immer geschlossen, von den Sorgen, die ihm dann das Geleite gegeben und von der Hoffnung, die ihn nicht verlassen, da er nicht von ihr ließe. So kamen sie auf die Zukunft zu sprechen und daß nur ein bescheidenes Loos ihrer warte. Ob ihr das auch genügen werde?

Elisabeth schwieg, als er so fragte, aber in ihrem Innern jauchzte und klang es wie lauter Jubel. Er liebte sie um ihrer selbst willen, er begehrte nicht nach dem Reichthum ihres Vaters, wie die Anderen. Zum ersten Male in ihrem Leben pries sie diesen Reichthum, nun hatte er Werth für sie ... den wollte sie ihm zu Füßen legen, den sie liebte. »Wir richten uns ein!« antwortete sie nach einer Pause. Ihr Antlitz strahlte vor Wonne und Vergnügen und aus ihren Augen lachte es gar schalkhaft. Dann erzählte er weiter von seinen Plänen für die Zukunft, und sie hörte ihm zu, wenn auch nicht mit vollstem Interesse, wußte sie doch, daß alles ganz anders kommen werde, als wie er sich dachte. Auch fing sie an zu sorgen, was wohl die Mutter und gar der Vater sagen würden. Unbemerkt mischten sich irdische, prosaische Dinge in den Traum von Glück und Himmelsfreude und als sie die breite Landstraße erreicht hatten, die nach Klarenbach führte, Berg und Busch hinter ihnen lagen, der Bach nicht mehr rieselnd herabstürzte, sondern unlustig und träge sich verbreiterte, fühlte Elisabeth sich erschöpft und vermochte nicht weiter zu gehen. Nun erst verließen sie die Kräfte. Richard wollte sie tragen, sie aber gedachte seines rechten Armes und wehrte ihm, auch litt sie nicht, daß er voran zum Städtchen eilte, um einen Wagen zu holen. »Das würde Aufsehen erregen,« sagte sie, »und noch darf Niemand wissen, daß wir uns lieb haben. Ich selbst muß es meiner Mutter sagen, sie darf es von keinem Fremden erfahren, und deshalb mußt Du ebenso verschwiegen sein wie ich. – Willst Du das, Richard, und mir vertrauen? Es ist zu unserem Besten, das glaube mir. – Nur ein wenig ausruhen lasse mich; ehe die Sonne ganz sinkt, sind wir in Klarenbach!« Auf der Brücke, die über den Bach geschlagen war, befand sich seitlich eine kleine Bank. Auf die setzten sie sich, dicht nebeneinander. –

Es dunkelte mehr und mehr. »Ich weiß, es ist die höchste Zeit, daß wir aufbrechen,« sagte Elisabeth, »ich muß aber noch ein wenig ausruhen. Mir schmerzen nur die Füße noch ein wenig, sie sind solche Märsche nicht gewohnt. Sonst bin ich frisch und wohl. Du kannst Dir ja nicht denken, wie glücklich ich bin!«

»Genügt Dir meine Liebe, um glücklich zu sein,« entgegnete Richard bewegt, »so wirst Du es immerdar bleiben. Ach, daß ich Deinen Lebenspfad nicht mit lauter Rosen bestreuen kann und Dich halten wie eine Königin!«

»Nicht nothwendig!« antwortete Elisabeth. »Prinzessin Goldhaar giebt gerne alle ihre Aussichten auf eine Königskrone dahin, um mit einem gewissen Richard auf recht ungebahnten Wegen zu wandeln, wenn es nicht anders sein kann. Ich glaube, sie hat heute eine hübsche Probe davon abgelegt?«

»Und wenn Du jeden Tag solche Beschwerden ertragen solltest?«

»Ei nun, wenn Du dabei bist, werde ich mich schon daran gewöhnen!« –

Das Zwiegespräch wurde durch das Nahen eines Mannes unterbrochen, der von Klarenbach kam. Es war einer jener Hausirer, der irdenes Geschirr in einem großen Korbe auf dem Rücken mühsam von Ort zu Ort schleppte. »Der Mann kommt gelegen!« rief Richard und eilte auf ihn zu, um eine längere Unterredung mit ihm zu führen.

Der Mann in der blauen Bluse – so erschien es Elisabeth aus der Ferne – war anfangs sehr erstaunt über das, was der junge Mann ihm sagte und wollte sich auf nichts einlassen, und selbst dann, als Richard ihm Geld in die Hand zählte, bedurfte es noch vieler Worte und Versicherungen, bis er den Korb auf die Erde setzte und mit Richards Hülfe die irdenen Töpfe, Näpfe und Schüsseln unter der Brücke verbarg.

»Es fehlt noch das Geld für die große Kanne – das andere ist bezahlt,« sagte der Blusenmann, »und dann der Lohn für das Tragen!«

»Sie können den Rest morgen bei mir abholen, ich wohne bei dem Sattlermeister m Klarenbach und heiße Mansfeld!«

»Ich komme morgen,« antwortete der Mann. »Ich will sagen: für die Kanne zehn Silbergroschen und für das Tragen das Doppelte. Also noch einen Thaler!«

»Den sollen Sie haben, und nun vorwärts!«

»Hier ist eine Equipage, Prinzeß Goldhaar,« rief Richard, indem er auf den leeren Korb zeigte, Elisabeth zu, die lachend erwiderte: »Ganz wie im Märchen, und nun, verwunschener Prinz, öffne mir den Kutschenschlag.« Richard hob Elisabeth in den Korb hinein und der Hausirer setzte sich langsam in Bewegung. »Ist es Dir auch bequem genug?« fragte Richard. »Weniger bequem als lustig!« war die von frohem Lachen begleitete Antwort.

Der Hausirer schritt voran, Richard folgte. Er hatte so oft von einer goldenen Zukunft geträumt und sich in seiner Phantasie ausgemalt, wie er das Beste und Schönste, was die Erde zu bieten im Stande sei, ihr darbringen möchte, die er im Stillen liebte, wie er sie umgeben wollte mit allem, was das Leben nur irgendwie angenehm gestalten kann, wenn er – und das war eben der Haken bei der Sache – einmal mit Glücksgütern gesegnet sein würde und wenn zweitens Fräulein Müller diese herrlichen Dinge von ihm annehmen wollte. So hatte er oft, gar oft in dem verfallenen Stollen gedichtet und geträumt. Und nun war Elisabeth die seine, ohne daß er ihr Schätze bieten konnte. Wo waren die Teppiche, auf denen ihr Fuß weich und sanft wandeln sollte, die Kunststraßen und Viadukte, die er mit Frau Hoffnungs Hülfe erbaut hatte? Es waren welke Blätter im Wald, feuchtes Moos und rauhes Felsgestein gewesen, wer sagte ihm, ob hierin nicht eine symbolische Andeutung für eine schwere, an Entsagung reiche Zukunft lag? – Aber hatte sie ihm nicht gesagt, daß sie an seiner Seite keine Entbehrung kennen würde? – Das war ja das Glück, das Glück der Wirklichkeit, vor dem alle bunten Träume in Nebel zerflossen, wie die weißen Wolken am Morgen in dem verzehrenden Strom des Sonnenlichtes. Und die, von der all' dieses Glück ausging, saß vor ihm im Korbe des Hausirers, da es die Nothwendigkeit mit sich brachte, nicht mürrisch und betrübt, daß sie es nicht so haben konnte, wie er einst gedacht hatte ... nein, fröhlich und zufrieden wie ein Kind. Hell und klar breitete sich nun die Zukunft vor ihm aus, der Lichtglanz der Liebe war darüber hingegossen. –

Dicht vor Klarenbach wurde Halt gemacht und Elisabeth aus dem engen Käfig befreit. »Ich komme morgen,« sagte der Topfmann und bot Beiden den Gutenacht-Gruß, denn es war mittlerweile finster geworden.

Richard geleitete Elisabeth durch die Gärten bis an ihre Wohnung. Die Mutter war schon unruhig geworden und sorgte über Elisabeths Ausbleiben. Größere Sorge bereitete ihr aber ein Brief vom Commerzienrath, in welchem dieser meldete, daß er am nächsten Tage mit dem Frühesten eintreffen werde, um Elisabeths Jawort für den Mann seiner Wahl einzuholen. Sie mußte daher mit Elisabeth sprechen, es war kein Aufschub mehr möglich. Die so lange gefürchtete Stunde war gekommen.

Nachdem Elisabeth mancherlei von ihren Irrfahrten erzählt und mancherlei – namentlich den Studenten – ganz und gar verschwiegen hatte und somit Rechenschaft über den Nachmittag abgelegt worden war, theilte die Mutter Elisabeth die bevorstehende Ankunft des Vaters mit, die Elisabeth auf das Höchste überraschte. Als nun die Mutter begann: »Elisabeth, mein Kind, ich habe Dir eine gar ernste Mittheilung zu machen,« – umschlang diese die Mutter und preßte einen langen innigen Kuß auf ihren Mund, als wollte sie der Rede wehren. »Ich habe Dir auch etwas zu sagen, aber erst morgen. – Heute frage mich nicht, ich könnte Dir doch nicht antworten.«

Die Commerzienräthin sprach nicht weiter und fragte auch nicht, sie hatte in diesem Augenblicke keine Kraft mehr, ihr war, als sollte das Herz stillstehen und es durfte doch nicht ruhen. Sie war verurtheilt zu leben, zu wachen und mit ihren Gedanken zwischen der Vergangenheit und der Zukunft zu irren, ohne einen rettenden Ausweg zu finden. –

– Der neue Tag, der über Klarenbach heraufzog, war ein Sonntag. In dem verfallenen Stollen hatte die Magd ein frisches weißes Tuch über den Tisch gebreitet und das Festgeschirr darauf gestellt: schlanke Tassen mit noch schlankeren Henkeln, goldgerändert und mit violetten Vergißmeinnicht übersät. Nur die Kaffeekanne fehlte, die stand in der Küche und wartete auf das Erscheinen der Gäste, und so kam es, daß überall Sonntagsstimmung herrschte, in der Stadt, auf den Bergen, im verfallenen Stollen und auf dem Küchentisch, wo die altmodische, vergoldete Kanne sich von der Morgensonne den Hof machen ließ. Was aber war alle Feiertagsfreude gegen die Seligkeit in Elisabeths Brust? Still und heimlich war sie in aller Frühe aufgestanden und auf den Zehen leise hinausgeschlichen, den Schlaf der Mutter nicht zu stören. Sie mußte ins Freie, sie mußte sehen, ob die Berge auch wirklich noch da wären, die Berge mit dem Wald, mit dem Bach, den stummen Zeugen unaussprechlichen Glückes. Sie schaute zu den Höhen empor, von denen leichte Morgennebel wie Weihrauchwolken sanft gen Himmel schwebten und sich in der klaren Morgenluft auflösten: es war Alles noch wie sonst vorher, und doch anders, schöner, viel schöner, als früher. Und hätten die Rosen im Garten sprechen können, sie würden sich zugeflüstert haben: seht Schwester, seht Elisabeth, wie ist sie schön geworden über Nacht, schöner, viel schöner, denn früher.

Nicht lange blieb Elisabeth allein, es kam noch Jemand in den Garten. Nun wußten die Rosen, warum Prinzessin Goldhaar so schön war: sie liebte und wurde geliebt, der Sonntag ihres Lebens war angebrochen. –

Als nun Papa Rübezahl daherschritt durch die Zwiebel- und Kohlplantage des Barbiers, der drinnen im Hause einem laut heulenden Jungen zur Feier des Tages die Haare schnitt, änderte sich die Scene. Elisabeth kannte von diesem Augenblick an nur einen Herrn Mansfeld und dieser nur ein Fräulein Müller. Hätte der Alte nicht gerade mit seiner türkischen Pfeife zu thun gehabt, so würde er gesehen haben, wie zwei Hände sich länger und inniger drückten, als gemeiniglich unter wildfremden Menschen üblich ist und würde möglicher Weise aufmerksam geworden sein, daß Veränderungen gar eigener Art stattgefunden hatten. Diesmal hinderte die schlecht angezündete Pfeife die Entdeckung des Geheimnisses, das Elisabeth vor der Abreise des Vaters, den sie ein ganz klein wenig fürchtete, nicht offenbart wissen wollte, und daran, daß der Tabak nicht ordentlich brannte, hatte das Geschrei des Jungen Schuld, welches den Alten gar eilig aus dem Hause trieb. Verliebte haben einen Schutzengel, der mitunter gar sonderbare Gestalten annimmt, diesmal saß er auf dem Stuhl in der Barbierstube und sträubte sich laut gegen die Verfeinerungs-Bestrebungen, welche der Klarenbacher Figaro seinem Haupte zuwendete. Von regenbogenfarbenen Flügeln, weiß wallenden Gewändern und immergrünen Palmzweigen, mit denen die Poeten die Engel ausstatten, war auch nicht die leiseste Spur vorhanden.

Papa Ottens Gemüthsverfassung stimmte nicht mit dem Kalender überein, da sich ihm für heute ein Werkeltag der allerschlimmsten Sorte in Aussicht stellte. Halb lebte er noch im Gestern; das Versprechen, Elisabeths Beschützer zu sein, hing wie Blei an allen seinen Gedanken und riegelte den Humor fest ein, denn heute, das wußte er, würde der Commerzienrath, der Familientyrann, anlangen und somit das Familiendrama beginnen, das zum guten Ende zu führen er der bleichen Frau versprochen hatte. Vergebens marterte er sein Gehirn, einen Weg zur Rettung seines Lieblings zu ersinnen. Selbst die Idee, Elisabeth durch Chloralhydrat in todtenähnlichen Schlaf zu versetzen, um sie später wie die unglückliche Tochter Capuletts zu einem neuen Leben ohne verhaßte Freier wieder zu erwecken, hatte er wegen der Fährlichkeit des Experimentes aufgegeben. Er war rathloser denn je und hätte doch von Herzen gerne geholfen.

Er begrüßte Elisabeth und den Studenten, sprach gegen alle Gewohnheit mit ihnen vom Wetter, um seine Sorge zu verbergen, bis die Commerzienräthin sich zu ihnen gesellte, die höchlichst verwundert war, die Tafelrunde schon so früh am Morgen vollzählig zu sehen. Sie hatte erwartet, ihr Kind allein zu treffen, mit ihm zu reden und zu sagen, warum der Vater heute käme. Nun war der Student zugegen und der geeignete Zeitpunkt wieder versäumt. Man setzte sich an den gedeckten Tisch in dem Stollen. Die goldgeränderte Kaffeekanne erschien, aber sie fand nicht die Beachtung, welche sie beanspruchen durfte: es fehlte an Festtags-Sonnenschein im Stollen. Obgleich die Unterhaltung am heutigen Morgen so dürftig wie nur möglich war – denn Jeder hing so ziemlich seinen eigenen Gedanken nach –, fiel es dennoch Keinem ein, den Anfang zum Aufbruch zu machen, selbst dann nicht, als der Kaffeetisch sich schon nicht mehr der Gegenwart des besten Geschirres erfreute, das die Magd längst abgeholt hatte. Man blieb so lange in dem Stollen, bis der Commerzienrath kam, der im Kurhause logirte und seiner Gewohnheit gemäß sich auch hier nicht früh stören ließ. Elisabeth begrüßte den Vater zwar recht froh, aber es hätte der Gruß doch noch freudiger ausfallen können, das war keine Frage. Herr Otten und Herr Mansfeld wurden in aller Form vorgestellt als Badegäste und gute Nachbarn, man verneigte sich gegenseitig und begann wieder vom Wetter zu sprechen. Der Alte hatte sich vom »Familientyrann« ein Bild nach dem Geßler entworfen, wie ihn die Sänger in Rossinis »Tell« darzustellen pflegen, mit tiefliegenden Augen, graugelber Hautfarbe, eingekniffenen Lippen, reif für's Schaffot, und konnte sich gar nicht darein finden, daß der Commerzienrath ebenso aussah wie andere Menschen, von denen zwölf aus ein Dutzend gehen. Nur als er bemerkte, wie der Commerzienrath seiner Gattin einen scharfen, fragenden Blick zuwarf, und diese erbleichte und die Augen niederschlug, da wußte er, woran er war: der Tyrann saß inwendig, das milde, zuvorkommende Wesen des Herrn war nur eine diabolische Maske, Schminke, nichts als Schminke für die Bühne des täglichen Lebens. »Ich wanke und weiche nicht,« sagte der Alte zu sich selber. »Hier gilt es aufzupassen, bis der Moment für den Schutz da ist.« – Richard sah keine Nothwendigkeit ein, eher aufzubrechen, bevor es dem Alten gefiel und die bleiche Frau fürchtete, allein mit ihrem Manne oder mit ihrem Kinde zu sein. Man hätte glauben können, die ganze Gesellschaft wäre auf den Sitzen festgeleimt, oder eine Art von Spuk, der in den alten Stollen hineingebannt worden war und auf seine Erlösung wartete.

Die Erlösung nahte auch und zwar in Gestalt eines Mannes, der nach Art der Gebirgsbewohner eine blaue Bluse trug.

»Ei je, da sind Sie ja,« rief er aus, »man hat mich hierher gewiesen: ich wollte mir nur den Thaler abholen, für das Tragen von dem Fräulein. Sieh', da ist ja auch das Fräulein selbst und das sind wohl die Herren Eltern, alle in Freude beisammen über ein so schönes Paar!«

Richard war aufgestanden, um dem Manne den bedungenen Lohn einzuhändigen und ihn schleunigst zu entfernen, denn er sah, wie Elisabeth alle Gesichtsfarbe verlor, er konnte aber nicht an dem Commerzienrath vorbei, denn der Stollen war eng und der Herr Rath machte durchaus keine Miene, den jungen Mann entkommen zu lassen.

»Dürfte ich Sie bitten, Herr Müller,« sagte Richard angstbeklommen, »ich möchte, ich will mit dem Mann dort ...«

»Bleiben Sie nur, wo Sie sind,« entgegnete der Commerzienrath, »der redliche Bauer scheint höchst interessante Neuigkeiten zu wissen. Erzähle Er, guter Freund,« wandte er sich an den Hausirer. »Hier hat Er noch einen Thaler. Sag' Er Alles, was er weiß!«

Der Blusenmann steckte das Geld schmunzelnd ein. »Was kann ich viel erzählen?« sagte er, »die jungen Leute werden besser wissen, als ich, warum ich das Fräulein aus meinem Rücken in einem Korb hab' von der Brücke bis vor die Stadt tragen müssen.«

Richard versuchte sich einen Ausweg nach der anderen Seite hin zu bahnen, um den lästigen Schwätzer seiner Wege zu weisen, und dieser Versuch brachte ihn in Elisabeths Nähe. Da erhob sich Elisabeth und rief: »Papa, befiehl dem Manne dort, daß er geht. Ich will sagen, was geschehen ist.« Und vor den Augen Aller hielten Richard und Elisabeth sich umschlungen, wie gestern am Ufer des Baches und sie lehnte ihr Haupt an Richards Brust. Der bleichen Frau sauste es vor den Ohren wie das Tosen eines Wasserfalles, der Commerzienrath war sprachlos vor Ueberraschung und der Alte dachte: »Nun ist der Augenblick zum Schützen gekommen. Wie das wohl abläuft?« – Der Hausirer ging langsam von dannen.

Der Commerzienrath wurde zuerst Herr der Umstände. »Was soll die Scene, Elisabeth?« fragte er scharf. Zu gleicher Zeit stand er auf und sagte zu Richard: »Ich mache Ihnen Platz, mein Herr, Sie können ungehindert passiren!«

»Ich danke Ihnen, ich bleibe!« entgegnete Richard fest und dennoch ehrerbietig im Ton.

»Gewiß bleibt Richard,« bestätigte Elisabeth die Worte des Geliebten. »Wir verlassen einander nie und nimmer!«

»Wir sind einig für das ganze Leben!« rief Richard.

Der Commerzienrath lachte laut auf.

»Lache nicht, Papa,« sagte Elisabeth mit zitternder Stimme und hielt sich fest an Richard, »Dein Lachen schneidet mir in die Seele und thut mir weh. Ich habe Dich nie um Etwas gebeten, Papa, Du erfülltest mir jeden Wunsch, ehe ich ihn aussprach, nun bitte ich Dich zum erstenmale im Leben: laß mich glücklich werden mit Richard!«

»Und wenn der Herr Richard der Schah von Persien wäre, so würdest Du meine Einwilligung doch niemals erhalten,« entgegnete der Commerzienrath, »denn ich habe Dich bereits Jemandem zur Gattin versprochen und mein Worte darauf gegeben!«

»Aber nicht mein Wort,« rief Elisabeth, »das hat Richard und ich habe das seine. Ich bin keine Waare, Papa, die Du verkaufen kannst wie die Vorräthe in Deinen Speichern. Und böte mir jemand die Schätze der ganzen Welt für meine Liebe, ich könnte sie ihm nicht geben, denn sie gehört Richard. Und wer würde so elend sein, mich zum Weibe zu begehren ohne Liebe?«

Ein leises Zittern durchflog den Körper des Commerzienrathes. »Und wenn ich mich los von Dir sagte?« flüsterte er, als sollte Elisabeth seine Worte nur allein hören. »Wenn ich Dich hinausstieße in's Elend?«

»Dann weiß ich, wo ich eine Stätte habe!« erwiderte Elisabeth und schmiegte sich an Richard.

»Und eine zweite Stätte bei Papa Rübezahl!« fügte Herr Otten hinzu.

»Man hat ein Complot gegen mich geschmiedet!« rief der Commerzienrath.

»Sie irren sich,« entgegnete Richard ruhig. »Niemand hat gewußt, daß wir uns lieben, das haben wir Beide selbst erst gestern erfahren, und vergessen werden wir es nie im Leben. Wir wissen Beide, daß die Zukunft keine glänzende sein wird, daß wir oft entsagen müssen und denen nur von Ferne zusehen dürfen, die zu den Hohen und Vornehmen der Erde gehören, aber unserer Liebe werden wir nicht entsagen, die wird uns über Entbehrung und Sorge hinwegführen.«

»Wie gestern über das Gestein!« fiel Elisabeth ein. »Wäre es nicht Mama's halber gewesen, ich wäre auch ohne den Topfmann mit Richard nach Hause gekommen! Er hätte mich schon gestützt!«

Die bleiche Frau hatte bis jetzt schweigend zugehört. Anfangs glaubte sie, der jüngste Tag sei gekommen, nun aber, da der Sturm losgebrochen, war sie stark geworden und entschlossen. Mitten in dem Unwetter sah sie zwei Menschenkinder stehen, jeder Unbill kühn trotzend, freudig auf ihre Liebe vertrauend. Das war die Liebe, um die man sie schmachvoll betrogen hatte, damit dem Trugbilde der Ehre ein Opfer gebracht würde. Diese Liebe trat ihr nun nahe in ihrem Kinde, und sie fühlte ihr mächtiges Walten. Sie beugte sich dicht zum Commerzienrath. »Soll das Kind unseelig werden, wie ich es bin?« hauchte sie ihm zu. »Die Welt möge die Schande meines Vaters erfahren und die Deine, daß Du Dir ein Weib kauftest mit Gold, sie möge wissen, daß wir Beide elend sind trotz des Reichthums und äußeren Glanzes. Willst Du aber gut machen, was mir je Leides geschehen, dann segne den Bund, und ich will vergessen und Dich segnen meines Vaters wegen und um Elisabeths willen.«

Es trat eine lange Pause der Erwartung ein. Die Anderen hatten nicht verstanden, was gesagt worden war, aber sie sahen, daß eine Veränderung in den Zügen des Commerzienrathes vor sich ging, der sich nach einer kleinen Weile erhob, gefolgt von seiner Gattin, und sich mit ihr in das Haus begab.

Die übrigen Drei blieben zurück, und nun wurde der Alte ganz Beschützer. »Was auch geplant wird,« sagte er, »Ihr seid nicht verloren, Papa Rübezahl ist noch da. Richard, mein Junge, sieh', ich werde schon alt und Du trittst eigentlich so zu sagen erst in das Leben ein. Es war immer mein heimlicher Wunsch, Du solltest einmal mein Nachfolger werden und meine Fabrik besitzen, ich wollte nur erst sehen, wie Du Dich mit dem Leben stelltest, ob Du mit ihm ringen könntest, wie ich in meinen jungen Jahren. Ach, in dem Kampfe mit dem Alltag vergaß ich ja das Beste, ich versäumte die blaue Wunderblume, die Du gepflückt hast ... die Liebe.« – Nach einer Pause fuhr er jovial fort: »Es war das Schlaueste, was Ihr thun konntet, Euch schleunigst zu verlieben. Wäre das nicht gewesen, wer weiß, wie traurig es gekommen wäre. Ich sage Euch, es giebt keinen Zufall, und daß Ihr gestern auf die Idee kamt, handelseinig zu werden, das ist nur gekommen, weil der liebe Gott heute einen Sonntag haben wollte.«

Der Alte hatte Recht, an der Liebe der beiden für einander geschaffenen schönen Menschen scheiterte der Ehrgeiz des Vaters und an ihrem Anblicke gewann die bis dahin furchtsame Frau den Muth, für die Wahrheit einzutreten und für die Liebe der Kinder.

Viel sprachen die beiden Gatten miteinander, als sie allein waren. »Laß uns die Vergangenheit begraben,« sagte der Commerzienrath. »Die Liebe kann nicht erkauft werden, so sagte Elisabeth, und als ich diese Worte aus dem Munde unseres Kindes hörte, war mir, als spräche ein Höherer aus ihm, der gekommen war, mich zu richten. Wir gingen neben einander her, beneidet von der Welt und doch hatte Keiner von uns eine Stätte, wie Elisabeth sie gefunden. Nun ist es zu spät geworden, wir können Beide nicht mehr vergessen.«

»Ich will es und kann es,« rief die Frau, »doch nun komm, daß wir den Kindern ihr Glück verkünden. Wir dürfen es, denn wir haben Frieden gefunden.« –

Wieder war es Abend geworden. Herr Otten hatte unter Beihülfe des Barbiers den Stollen festlich dekorirt mit grünen Zweigen, Guirlanden und bunten Lampen. Dazu hatte er Zeit genug, denn die übrigen hielten Familienrath und setzten fest, wie sich die Zukunft der beiden Verlobten gestalten sollte. »Ganz Rübezahl,« flüsterte er vor sich hin, »mehr Rübezahl als Schutzgeist. Wäre es zum Aeußersten gekommen, hätte man des Alten treue Hülfe dennoch genommen. Der Stollen sieht aus wie eine Beschreibung aus Musäus und wenn ich nun noch mit meinem 64er Chateau Breuil anrücke für uns Alten und mit Cliquot für die Damen, ist das Zauberfest komplet!« –

Ganz anders sah es im Stollen aus, nun da die Lichter brannten, der Wein in den Gläsern perlte, als am Morgen desselben Tages. Der Sturm war vorübergezogen und hatte erfrischt und geklärt und glückliche Menschen saßen bei einander. Glücklich war die bleiche Frau, ihr Leid hatte ein Ende gefunden; selig war Elisabeth.

Und der junge Student? Er konnte sein Glück nicht fassen, er glaubte zu träumen. Froh im Herzen war der Alte. »Nicht wir kurzsichtigen Menschen leiten die Geschicke nach unserem Willen,« sagte er, »wir werden geleitet, wie es zu unserem Besten dient. Wir sahen keinen Ausweg und wußten keinen Rath, bis die Liebe kam und den rechten Weg fand. Und die Liebe, die senkt Gott dem Menschen in das Herz.«

Noch spät schimmerte Lichterglanz aus dem Stollen durch die Laubvorhänge in den Garten hinein. Klarenbach lag im Schlummer. »Schade, daß der Doktor schon schläft,« sagte der Alte, »ich könnte ihm heute sogar recht in der Ozonfrage geben, aber es würde grausam sein, ihn zu wecken!«


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