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Tante Juliane.

Eine Heirath ist immer sehr interessant, sagte Tante Juliane und faltete das Zeitungsblatt zusammen. Dann nahm sie die Brille mit dem Schildpattgestell ab und legte sie sorgsam in das Futteral, dessen Perlenstickerei noch so gut wie neu war. Tante Juliane hielt sehr auf ihre Sachen; Alles stand auf seinem richtigen Platz und selbst Goethe und Schiller wurden zweimal im Jahre gewaschen, d. h. die Gipsebenbilder der beiden Dichter, und zwar mit einem weichen leinenen Tuche und etwas Regenwasser. Zwei große Scheuerfeste feierte Tante Juliane, eins kurz vor Pfingsten und eins um Michaelis; jedesmal wurden Goethe und Schiller für die kommende Saison sauber gemacht und jedesmal blieb etwas Gips an dem weichen Tuche haften, und hiervon mochte es wohl gekommen sein, daß Schillers Nase schon ganz klein geworden war und Goethe ungemein jugendlich aussah, weil die Jupiterbrauen allmälig abgeschliffen waren. Tante Juliane stellte Goethe immer rechts und Schiller links auf den Mahagonischrank mit den Glasthüren, dessen Inhalt dem profanen Auge durch grünseidene, jetzt schon etwas faltenstreifige Gardinen verhüllt wurde. In dem Schrank befand sich ein Blechkasten mit braunen Kuchen, die Tante Juliane um Weihnachten selbst buck, und die fast das Jahr über anhielten, wenn anderwärts dies süße Gebäck schon längst zur Mythe geworden.

Nun erzähle ich von Tante Julianes Kuchenkasten, von dem Schrank, von den Büsten und der Brille, und das Alles sind doch nur Nebensachen: aber mir ist es, als wenn ich jetzt wieder in dem Lehnstuhl am Fenster säße und mit dem Fingerhut der Tante spielte und darauf wartete, bis sie die Zeitung durchgeblättert haben würde, die zweimal wöchentlich von der alten Botenfrau aus der Stadt gebracht wurde. Die gute alte Frau liegt nun schon lange unter dem kühlen Rasen. Sie starb, als der gelbe Postwagen aufkam, denn seit der Zeit wurde sie still und melancholisch und fühlte sich in ihrem Berufe gekränkt durch die gewaltige Neuerung; das laute Tönen des Posthorns gab ihr jedesmal einen Stich in's Herz, so oft sie es hörte. Eines Tages fand man die Alte, zum Ausgange gerüstet, mit dem Regenschirm in der Hand und dem großen Korbe unter dem Arm zusammengesunken in ihrem Armstuhle sitzen, als wolle sie sich vor einem langen Botengange erst noch recht tüchtig ausruhen. Sie aber war eingeschlafen, um nicht wieder zu erwachen, und als man sie in die Erde bettete, da fuhr die gelbe Postkutsche gerade an dem Kirchhofe vorüber und der Postillon blies sein lautes »Tarah!« Der wußte ja auch nicht, daß ein Stück von der alten Zeit begraben wurde und daß er die neue Zeit versinnbildlichte, obgleich er nur ein einfacher Pferdeknecht war.

Dazumal wurde mit der alten Zeit überhaupt nicht fein säuberlich umgegangen. Man fing an, ihr den gewohnten Respekt zu versagen; es gab in unserem Dorfe sogar Freigeister unter den Bauerknechten, die weder die Mütze vor dem Schulmeister noch vor dem Pfarrer abnahmen, weil sie freie Männer waren, die thun und lassen konnten, was sie wollten. Von der Freiheit war überhaupt viel die Rede und von Krieg und vom Vaterland wurde gesprochen, von Tyrannen und von Fürstendienern.

Wir Knaben stimmten auch mit ein nach Knaben Weise. Auch wir trugen revolutionäre Cocarden und exercirten mit großen Bohnenstangen, die in Ermangelung schneidenden Erzes an der Spitze mit Silberpapier überklebt waren, und in der Form den Lanzen glichen, welche in der griechischen Privatstunde beim Pfarrer und einst vor Troja eine so große Rolle spielten. Wir waren fest überzeugt, mit dieser Wehr einen Feind, der es wagen sollte, den Frieden schnöde zu brechen, von der Grenze unserer Mark abzuhalten. Allerdings mußten Vorsichtsmaßregeln getroffen werden. Der alte Glockenläuter war, wie man sagte, auf einem Auge blind und konnte daher unmöglich das Herannahen eines feindlichen Geschwaders auf der blauen See wahrnehmen, die ihre Wogen den grünen Buchenwäldern zurollte. Es war nothwendig, daß einer von uns Jungen die Thurmschlüssel in Verwahrung nähme, um jederzeit unbehelligt eine Ausschau aus den schmalen Luken halten zu können, hinter denen die großen Glocken feierlich ernst hingen. Der alte Glockenläuter wollte sich jedoch auf diesen unsern Vorschlag nicht einlassen, und wurde daher als Feind des Vaterlandes mit stiller Verachtung bestraft, aber die Botenfrau, das vermittelnde Bindeglied zwischen Stadt und Land, die mußte sich unserem Willen fügen und eine rothe Cocarde tragen. Die Alte heftete die Cocarde an ihren altmodischen Strohhut, und wußte nicht warum; wir suchten einen Feind, und wußten nicht, welchen. Und doch war sie schön, diese Zeit, namentlich wenn wir mit den selbstgemachten Speeren durch den Buchenwald zogen, an dessen Rande das freundliche Kirchdorf liegt; wenn wir unter den dichten Baumkronen die Speere zusammenstellten und gelbe Schlüsselblumen pflückten, die hellgrünen Blätter des Sauerklees als Kukukssalat aßen und Waldmeister zu Kränzen wanden, deren Duft im traulichen Stübchen noch lange Zeit an den frühlingsfrischen Wald erinnerten. Was wußten wir von Krieg? Mitunter zogen wir auch bis dicht vor das Schloß, das im Walde lag, in dem der Graf wohnte.

Vor dem Grafen empfanden wir eine Art von Grauen, denn man sagte ihm nach, daß er niemals lache. Nicht weit von dem Schloß lag eine Grabstätte mitten im Walde. Eine Traueresche bedeckte den marmornen Gedenkstein fast ganz, grünes Moos wuchs auf der Urne und in den eingemeißelten Schriftzügen, die in einer der Dorfjugend unbekannten Sprache meldeten, wer dort die letzte Ruhestätte gefunden. Es war so stille in der Nähe des Grabes, daß man das Fallen eines Blattes hören konnte, so ruhig, daß das Rauschen des Waldbaches, der unter dichtem Gebüsch nahe am Grabmal vorüberfloß, hier lauter erklang, als selbst da, wo er eine kleine Cascade bildete und sich zum Müllerhäuschen im Grunde wandte. War es wirklich so still dort, oder brachte die feierliche Stimmung, welche uns in der Nähe dieses Waldkirchhofes überkam, den Eindruck der Ruhe hervor?

Wenn wir dann den Heimweg einschlugen, erzählten wir uns, was wir von dem Grafen wußten. Das waren grauliche Geschichten, beängstigend wie ein Spuk, der am hellen Tage umgeht. Und was wußten wir von dem Grafen? Nichts, gar nichts, und das war eben das Geheimnißvolle.

Auf dem steinernen Denkmal war eine Schrift zu lesen, die konnte vielleicht Auskunft geben. Dieser Gedanke ließ mich nicht ruhen und an einem schönen Tage machte ich mich nach dem Schluß der Schule nach dem Walde auf, um die Schrift zu entziffern. Um rascher zum Ziele zu gelangen, schlug ich einen andern Weg ein, als den gewöhnlichen: geradezu durch das Gebüsch und den Wald, wenn es sein sollte über den Bach.

Gedacht, gethan. Bald befand ich mich in dem dichten Erlengebüsch, das den Wald von der Ostseite einrahmte. Wenn ich geradeaus die Richtung nach Westen innehielt, mußte das Grabmal bald zu erreichen sein. Traue aber Jemand den Erlen. Sie lieben sumpfigen Boden und wachsen auf unsicherem Grunde; kaum zehn Minuten mochten verflossen sein, als ich die Richtung verloren hatte. Da ringelte eine Schlange über den Weg – es war eine Natter. Sollte ich umkehren? Konnten mir nicht noch mehr solcher unheimlichen Geschöpfe im Walde begegnen? Nein, ich mochte nicht feige vor mir selber erscheinen. Ich eilte vorwärts, war aber, wie ich bald merkte, von der Richtung abgekommen. Das Erlengebüsch lag hinter mir, ein dunkler Tannenforst begann. Wohin nun? Mühsam war der Gang durch die Tannen, deren herabgefallene Nadeln den Boden glatt machten, rothe Fliegenpilze breiteten ihren weißgetupften Hut aus, hin und wieder erhoben sich die feinen Wedel des Farrenkrautes. Den Tannen folgte wieder ein dichtes Unterholz, dann kamen hohe Buchen. Wo war ich?

Die Sonne stand schon tief; unmerklich war die Zeit verronnen, mir war nicht ganz heimlich zu Muthe. Auf gutes Glück schlug ich eine andere Richtung ein, und siehe da, nach Kurzem stand ich am bekannten Waldbach und vor mir in der Senkung lag das Grabmal. Rasch zog ich Stiefel und Strümpfe aus und durchwatete den Bach. Dann eilte ich zu der Umfriedung und schwang mich hinüber. Es machte mir Mühe, die Inschrift zu entziffern; das grüne Moos mußte vorerst von den Buchstaben entfernt werden. » Ci gît« stand oben an, dann kamen Worte, die ich nicht lesen konnte, nur den Namen » Marie« vermochte ich zu entziffern. In dem Eifer der Forschung hatte ich nicht gehört, daß sich leichte Schritte dem Grabmal näherten und erst die lauten Worte: »Was machst Du da?« schreckten mich auf. Wie bei einem Verbrechen ertappt, wandte ich mich um. Die Strahlen der Sonne fielen schon schief und orangefarben durch das Laub und beleuchteten ein wunderliebliches Mädchenantlitz, dessen Augen mich erstaunt anblickten. »Was willst Du da?« fragte dieselbe wohllautende Stimme noch einmal.

Verlegen schlug ich die Augen nieder.

»Komm heraus,« sagte das Mädchen befehlend. »Warte einen Augenblick, ich will Dir die Thür öffnen.« Das Mädchen zog einen kleinen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Thür der eisernen Umfriedung.

»Was wolltest Du bei dem Denkmal?«

»Den Namen lesen, der darauf steht.«

»Hast Du ihn gefunden?«

»Ich habe das Moos abgekratzt und dann konnte ich ihn lesen.«

»Das war Unrecht von Dir. Weißt Du nicht, daß meine Mutter hier begraben liegt?«

»Nein.«

»Wer bist Du?«

»Mein Vater wohnt im Dorfe, er ist der Arzt.«

»O, den kenne ich wohl; er ist schon bei uns auf dem Schlosse gewesen. Hast Du mich nie gesehen?«

»Nein, ich kenne Dich gar nicht. Gehörst Du zum Schlosse?«

»Der Graf ist mein Vater und hier liegt meine Mutter begraben. Sie hat es so gewollt. Warum, weiß ich nicht. Ich gehe zuweilen hierher, wenn mein Vater verreist ist, sonst leidet er es nicht. – Gehst Du immer in bloßen Füßen?«

Jetzt erst sah ich, daß ich vergessen hatte, meine Füße nach dem Durchgang durch den Bach wieder zu bekleiden. Spornstreichs eilte ich zu der Stelle, an der ich den Bach durchschritten, und machte den Verstoß gegen die Etiquette wieder gut. Dann kehrte ich zu dem Mädchen zurück.

»Willst Du mich zum Schlosse begleiten?« fragte das Mädchen.

Ach wie gerne ging ich mit ihm. Es war förmlich, als wenn die liebliche Kleine es mir angethan hätte. Immer wieder mußte ich sie ansehen und ihre dunklen blitzenden Augen betrachten und die schwarzen Locken, welche üppig über die Schulter fielen.

Wir gingen den geebneten Weg, der zum Parke führte, und sprachen über Vielerlei. Sie sagte, es sei so einsam auf dem Schlosse, sie möchte am liebsten dort unten im Dorfe wohnen und mit uns spielen. » Ma bonne ist nicht nett gegen mich,« klagte sie. » Ma bonne schilt mich, ich darf nicht lustig sein, ich muß französisch lernen und Clavier spielen, und in den Wald darf ich nur gehen, wenn Papa fort ist und Ma bonne schläft.« – Ich erzählte ihr dagegen, daß das Vaterland in Gefahr sei, daß wir aber den Feind schon abhalten würden; allen meinen Kameraden wollte ich sagen, daß wir das Schloß zuerst vertheidigen wollten, wenn es soweit wäre.

»Das ist schön,« rief sie aus und klatschte in die Hände. »Wenn der Feind doch nur bald käme!«

Am Parkthore mußte ich die Kleine verlassen; ich wußte nicht einmal ihren Namen, sie nicht den meinigen. Mittlerweile war es Abend geworden und rasch begab ich mich auf den Heimweg.

Am folgenden Nachmittage um dieselbe Zeit war ich wieder bei dem Denkmal, meine Freundin wartete schon auf mich. Sie hieß Marie wie ihre Mutter, und so mußte ich sie auch nennen, sie fand meinen Namen auch sehr hübsch, meinte aber doch, Charles mache sich besser als Carl. – Oft trafen wir zusammen an der lauschigen Stelle des Waldes, am rauschenden Bach in der stillen Einsamkeit. Niemand wußte darum, wir freuten uns unseres Geheimnisses, und als ich einst ein Geschichtenbuch mitgebracht hatte und ihr vorlas, wie der Ritter die Jungfrau befreite und sie sein Weib wurde, da sagte sie: »Charles, Du mußt mein Ritter werden und die Riesen erschlagen, dann werde ich Deine Frau, nur ... ma bonne darf es nicht wissen.« –

Als der kalte Herbst kam, nahmen die Zusammenkünfte ein Ende, aber im nächsten Frühjahr trafen wir uns wieder. Das ging noch zwei Jahre in derselben Weise, da wollte es der Lauf der Dinge, daß ich das Gymnasium beziehen und Marie verlassen mußte.

»Du kommst wieder,« sagte Marie, »Du weißt, daß ich ohne Dich nicht leben kann.« Und ich versprach ihr, wiederzukommen. Wir waren Kinder, als wir uns trennten, der Waldesschatten hatte uns in einen wunderherrlichen Traum gewiegt, wir glaubten, es müsse immer so bleiben und waren einfältiger als die Zugvögel, die ihr Nest im nordischen Buchenwalde bauen und davonziehen, wenn das Laub sich färbt, ehe noch dichter Schnee die Zweige schwer belastet. Als ich in den Ferien das elterliche Haus besuchte, erfuhr ich, daß der Graf mit seiner Tochter in ein Bad gereist sei, im nächsten Jahre ging es ebenso. Das waren zwei Jahre, in denen ich Marie nicht gesehen hatte, aber vergessen konnte ich sie deshalb doch nicht. Nun war ich zum dritten Male zurückgekehrt und saß bei Tante Juliane. – – – –

»Eine Heirath ist immer sehr interessant,« sagte sie.

»Wer wird denn verheirathet, Tante?« fragte ich.

»Hier steht es,« antwortete sie und gab mir die Zeitung, »Marie, die Tochter des Grafen mit einem Grafen von W..., sieh selber nach, ich kann den Namen nicht behalten.«

Mit Hast ergriff ich die Zeitung und las die Verlobungs-Anzeige. »Aber Tante,« rief ich, »das ist gar nicht möglich, Marie hat mir doch versprochen, mich zu heirathen.«

»Du bist ein dummer Junge,« sagte Tante Juliane ruhig. »Wie kannst Du so ungereimtes Zeug träumen? Was geht Dich des stolzen Grafen Tochter an?«

»Ach Tante, wenn Du Alles müßtest, Du würdest nicht so hart sprechen. Warum bin ich nur ein simpler Primaner und nicht auch so ein Graf und Baron, dann wäre Alles ganz anders.«

Tante Juliane forschte nach, ich mußte ihr Alles erzählen, und wie ich zu Ende war, saß Tante Juliane gebückt in ihrem Sorgenstuhl und weinte.

»Nicht wahr, Tante, Du siehst auch ein, daß mir Unrecht geschehen ist, da Marie mir ihr Wort nicht gehalten hat.«

»Ueber Dich weine ich nicht, mein guter Junge,« sagte sie sanft. »Ihr standet Beide noch in einem Alter, in dem Versprechen und Vergessen sich einander ablösen, als Ihr, den Schmetterlingen gleich, Euch des Sonnenscheines freutet. Wie Du einst mit dem hölzernen Speer Dein heimathliches Dorf zu vertheidigen glaubtest, wähntest Du auch, Eure kindischen Träume könnten zur Wirklichkeit werden. Du wirst einsehen lernen, daß Beides thöricht war.«

»Tante, wenn Du je so geliebt hättest wie ich, Du würdest nicht so sprechen.«

Tante Juliane stand auf. »Ich will Dir diese Worte verzeihen,« sagte sie und ging in das Nebenzimmer. Ich mußte ihr sehr weh gethan haben.

Der Gedanke, daß ich Tante Juliane gekränkt, verlor sich bald, er wurde mit Gewalt zurückgedrängt von dem wehen Gefühl, das von Minute zu Minute schmerzlicher ward, das mich ganz gefangen nahm und die Augen immer wieder auf das verhängnißvolle Zeitungsblatt lenkte, auf die beiden Namen, von denen ich den einen liebte, unsäglich liebte, den andern aber haßte wie seinen Träger, den ich in diesem Augenblick hätte morden können, wenn er mir plötzlich entgegengetreten wäre. Ja ich hätte etwas Entsetzliches begehen können in diesem Augenblick, denn ich war kein Knabe mehr. Ich war ein Jüngling, dem freilich noch die reife Ueberlegung des Mannes fehlte, aber ich stand an der Schwelle des großen schönen Lebens, und ich fühlte den Muth in mir, dies Leben zu erkämpfen, es zu erkaufen mit meinem heißen Blut, das vorwärts drängte zum Wagen und Gewinnen. Ich war kein Kind mehr, ich war erwacht, erwacht in demselben Augenblicke, als man mir das süße Bild meines kindlichen Traumes entrissen hatte.

Meine Schläfen begannen zu glühen, mein Herz schlug rascher, kräftiger, wie in heftigem Verlangen und doch senkten sich die Lider in Zagen. Ich wollte vergessen und mußte erinnern: ich sah den Wald, den Bach, das schweigende Marmordenkmal mit seinem dunklen Moos ... ich sah Marie, aber sie war anders, sie war nicht das Kind mehr ... sie war auch zum Leben erwacht.

Die Dämmerung war allmälig eingetreten. Von Tante Julianens Fenster aus konnte man auf die Hauptstraße des Dorfes blicken und weiter hinaus auf die anmuthigen Hügel, auf denen dicht gereiht die weißen Buchen standen, jene Buchen, die sich zu dem Wald einten, der mir so heilig war. Denn in diesem Wald sah ich mein Lieb zum ersten Male.

Mein Lieb?

Nein, nimmermehr mein. Nie mehr mein! Da stand ja in dem kleinen Blatt, daß sie einem Anderen angehörte. Zwei winzige Zeilen waren es nur; wie hätte ich je gedacht, daß so wenige Lettern so viel Leid melden könnten. So viel Leid ... und so viel Freude. Der, dem Marie die zarte Hand reichte, mußte er nicht der glücklichste Mensch der Erde sein? – Leid und Freude, beide so unermeßlich ... und nur so wenige Buchstaben!

Nun lagerten sich die Abendschatten dicht und dichter über den Wald, der in allen meinen Träumen sonnendurchhaucht und maifrisch dastand.

Da war vorbei – – – ich war erwacht.

Ich weiß nicht, wie lange ich hinausschaute in den Abend und in die Vergangenheit, es war aber mittlerweile dunkel geworden und Tante Juliane trat mit der hellbrennenden Oellampe ein, die sie ruhig auf den Tisch setzte. »Lasse die Vorhänge herunter, Carl,« sagte sie, »und dann komm her und lies mir die Zeitung vor, damit wir wissen, wie es draußen in der Welt aussieht. Ich fürchte, nicht zum Besten. Es liegt wie ein dumpfes Wetter über dem Lande, wer weiß, was die Zeiten uns bringen!«

Ich gehorchte der Tante. Das Mädchen brachte das mit glühenden Kohlen gefüllte Comfort mit dem blanken Theekessel darauf und stellte das Theegeschirr auf den Nebentisch. Tante Juliane setzte sich auf das Sopha und strickte. Es war so behaglich in dem Zimmer wie nirgend auf der Welt.

Wir begannen zu lesen. Tante Juliane hatte Recht. Es sah trübe aus in deutschen Landen. Frankreich hatte wieder einmal den Ton angegeben, eine häßliche Dissonanz, die keiner harmonischen Auflösung fähig war, die nur langsam in Klage und Trauer verhallen konnte, und unser Deutschland stimmte mit ein in diesen schauerlichen Accord, als offenbare sich ihm die Musik der Sphären. Wieder war das hehre Götterbild der Freiheit zum Götzenbild entwürdigt, dem unzählige Opfer fielen. Das Volk war trunken von dem Blute derer, die es erschlagen; es mochte auch wohl nicht nachdenken über das, was es gethan und suchte in neuen Greueln das Vergessen der eben begangenen.

»So wird es auch bei uns werden,« sagte Tante Juliane ernst und nachdenklich, als ich die neuesten politischen Nachrichten vorgelesen hatte. »Noch ehe die Bäume in Blüthe stehen, läuten auch von unserem Thurme die Sturmglocken. Mir ist's, als hörte ich sie schon. Denn wisse, im Alter wird das innere Schauen lebendiger. Bevor das Leben uns ganz verläßt, leuchtet die Morgenröthe der Zukunft dämmernd zu uns herüber, bis wir einschlafen, in der Hoffnung auf einen neuen sonnenglänzenden Tag, ohne düstere Schatten und trübe Wolken. Mir ist, als läge jetzt ein dunstiger Schleier vor der nächsten Zeit wie ein Höhenrauch, der den Athem beklemmt und jegliche Creatur mit Angst erfüllt. Ich fürchte, wir haben des Schlimmen Viel zu erwarten.«

»Und wenn Du wahr sprichst, Tante Juliane, wenn auch hier die Sensen zum Schwerte werden ... mir soll's recht sein. Sie kränken unsere Rechte, die hohen Herren, sie treten uns mit Füßen, sie verdienen nicht zu leben, so lange wir nicht als ihres Gleichen gelten, denn die Erde ist für Alle und nicht allein für die Aristokraten. Die mögen auch einmal fühlen, was es heißt zu leiden.«

Tante Juliane ließ die geschäftigen Stricknadeln ruhen und sah mich an. »Ist das Dein Ernst?« fragte sie.

»Gewiß,« antwortete ich. »O, ich kann Dir nicht sagen, wie ich sie hasse –«

»Alle?«

»Alle miteinander.«

»Du wirst Deine Gründe dazu wohl haben ... ich liebe nichts weniger, als wenn ein Mann unberechenbar handelt und ohne Grund,« antwortete Tante Juliane ruhig. Dann fügte sie mit unendlich weicher Stimme hinzu: »Ich selber, mein lieber Junge, hätte auch wohl Ursache, sie zu hassen ... aber ich habe verziehen. – Nun leb wohl, Carl. Geh nach Hause. Grüße Deinen Vater von mir!«

Tante Juliane sah so weihevoll, so feierlich aus, als sie die letzten Worte zu mir sprach. Gern hätte ich eine Deutung ihrer Rede gehabt, aber ich wagte nicht zu fragen, sie erschien hoch und erhaben, mit einem Worte: unnahbar.

»Gute Nacht, Tante.«

»Du darfst mir den Gutenachtkuß geben,« rief sie, als ich mich schon zum Gehen wandte, »Du junger Aristokratenfresser.«

Ich drückte, wie schon so oft, einen Kuß auf die feingeschnittenen Lippen der guten Tante.

»Vergiß, was der heutige Tag Dir brachte,« flüsterte Tante Juliane mir leise zu. »Du bist im Grunde doch noch ein großes Kind.« – – –

In wenigen Minuten befand ich mich in dem elterlichen Hause. Die Entfernung zwischen diesem und der Wohnung der freundlichen Tante war keine sehr große. Auf dem Lande sind die Entfernungen nie so bedeutend, wie in großen Städten; man rückt sich nachbarlich so nahe wie möglich und findet die Wege nur weit, um Lässigkeit in den Besuchen zu entschuldigen.

Mein Vater war vor nur wenigen Minuten von der Praxis zurückgekehrt. Der Kutscher führte die Pferde in den Stall und die Laternen brannten noch an dem Wagen. In der Küche loderte das Feuer hell auf dem Herde, das späte Nachtessen rasch zu bereiten. Mein Vater war sehr ernst. Er kreuzte die Hände über dem Rücken und ging schweigsam im Zimmer auf und ab. Kaum antwortete er auf meinen Gruß, als ich in's Zimmer trat. Da ich wußte, daß man ihn nicht stören durfte, wenn er auf- und niederschreitend über einen schweren Fall nachdachte, setzte ich mich ruhig nieder und nahm ein Buch zur Hand. Es ging aber nicht mit dem Lesen, eben so wenig wie mit dem Vergessen, das Tante Juliane mir anempfohlen hatte. Ich mußte immer wieder an die beiden Zeilen in der kleinen Zeitung denken.

Plötzlich hielt mein Vater mit dem ruhelosen Wandern inne und stellte sich vor mich hin. »Carl, Du bist kein Knabe mehr,« sagte er und sah mich prüfend an.

Ich wußte nicht, wie ich diese Worte deuten sollte; Tante Juliane hatte noch vor Kurzem das Gegentheil behauptet.

»Wir gehen einer ernsten Zeit entgegen,« fuhr mein Vater fort. »Ich wurde heute Nachmittag zu einer Consultation in die Stadt gerufen. Ich hörte dort schlimme Neuigkeiten.« Und nun erzählte er, wie überall mit unheimlicher Schnelle, wie auf ein verabredetes Zeichen Unruhen ausgebrochen seien, wie schon in den Hauptstädten bedeutende Conflicte stattgefunden hätten und der Strom des Aufstandes sich immer näher wälze. »Auch in unserem Nachbarlande sind bereits einige Ungesetzlichkeiten vorgefallen,« schloß er seine Mittheilung, »die Tagelöhner haben den Gutsherren den Gehorsam gekündigt; man erzählt sich, daß eine Rotte Aufständischer den Grafen von W. von seinem Gute verjagt und das Stammschloß angezündet habe. Freilich werden die Menschen nicht besonders milde von unseren Nachbarn und Sprachverwandten behandelt, allein, wer schützt uns vor gleicher Anarchie? – Und was würdest Du thun, wenn auch hier sich solche Dinge begeben sollten?«

»Ich? – Ich würde mich auf die Seite Derer stellen, denen das Recht gehört. Ich würde die Hände nicht in den Schooß legen und –«

»Mitmachen, wenn Alles drüber und drunter geht,« schnitt mein Vater mir das Wort ab. – »Das habe ich mir wohl gedacht und bin daher mit mir einig geworden, Dich so lange, bis der Spectakel zu Ende sein wird, nach Christiania zu schicken. Du kannst dort einen alten Universitätsfreund von mir besuchen, der Deine Privatstunden leiten wird. Dort droben im Norden liegt noch Schnee und Eis, dort wird man ruhig sein, denn wenn es friert und schneit, machen die Völker keine Revolution. Wenn die Leute fürchten, daß ihnen beim Kampf um die Freiheit die Finger erfrieren ... dann ist ihnen die Freiheit nicht wünschenswerth. – Du wirst in den nächsten Tagen reisen.«

Widerspruch duldete mein Vater niemals, ich wagte in diesem Augenblick daher nicht, irgend welche Meinung zu äußern.

»Es wird schon Rath kommen,« dachte ich.

Das Nachtessen wurde gebracht.

»Willst Du mir Gesellschaft leisten, Carl?«

»Ich danke Dir. Heute Abend trank ich den Thee bei Tante Juliane. – Sie läßt Dich grüßen.«

»Es wird besser sein, wenn meine Schwester zu mir zieht; sie wohnt zu isolirt in ihrem Häuschen. Ich werde noch morgen mit ihr reden.«

»Glaubst Du, daß die Gefahr so nahe ist?«

»Vorsichtsmaßregeln müssen zur rechten Zeit angewandt werden, sonst sind sie überflüssig.«

Mein Vater setzte sich schweigend zum Nachtessen nieder. Ich sah ihm an, daß seine Gedanken in der Ferne weilten und merkte recht wohl, daß er mir nicht Alles vertraut hatte, was er von dem Aufstande und den Unruhen wußte. Er mochte mich wohl noch nicht reif genug halten für die Dinge, welche im Leben des Volkes vor sich gingen. Ich hatte allerdings auch mein Geheimniß vor ihm, aber was mich abhielt, ihm den Grund meiner Wuth auf die Aristokraten mitzutheilen, das war der Respekt. Tante Juliane hatte ich Alles sagen können, was mich bedrängte, die war so sanft und milde wie eine Mutter zu mir.

So saßen wir schweigend, bis mein Vater mir sagte, daß es Schlafenszeit sei und ich mich verabschieden und mein Zimmer aufsuchen durfte.

Es wurde mir schwer, Ruhe zu finden. Die Gedanken jagten sich, einer drängte den andern, keiner wollte sich loslösen, um die Seele ganz zu erfüllen, um leiser und leiser verhallend, sich zum Traume zu gestalten. Wie oft schlummerte ich sonst ein mit dem Gedanken an Marie und wandelte im Traum mit ihr auf weichen, rosigen Wolken. Dann sah ich weder die Erde noch den Himmel, ich sah nur Marie. Heute Abend aber waren die Traumwolken verschwunden und neben ihr stand Jemand, den ich freilich nicht kannte, aber glühend haßte. Und der Haß läßt nicht schlafen.

Es mochte wohl gegen Mitternacht sein, als ich aus dem unerquicklichen Halbschlaf erwachte, der sich über meine Sinne gelegt. Ich fuhr auf ... deutlich hörte ich das hastige Läuten der Sturmglocke. Immer rascher folgten die Schläge auf einander, immer ängstlicher und flehender. Mit einem Sprunge eilte ich ans Fenster. Da erblickte ich die Ursache des Sturmläutens. Ueber dem Wald röthete sich der Himmel in dunkler Gluth, helle Lichtfunken wirbelten empor und Rauchwolken wälzten sich schwer über die Spitzen der Bäume.

Das Schloß im Walde mußte in Flammen stehen.

So rasch wie jetzt war ich noch nie in die Kleider gekommen; schon nach wenigen Minuten stand ich reisefertig auf dem Hausflur. Auch mein Vater war erwacht.

»Wohin gehst Du, Carl?«

»Zum Feuer.«

»Ich glaube, es wird besser sein, Du bleibst hier! – Das Feuer ist kein gewöhnliches. Der Graf war stets hart gegen seine Leute. Ich fürchte, diesem Feuerzeichen werden mehrere folgen.«

»Sie verdienen ihr Loos, die Unterdrücker der Menschheit,« rief ich leidenschaftlich aus, »die Nemesis ereilt jeden Frevler.«

Bei diesen Worten hatte ich die Thür geöffnet – sie war nur mit einem Riegel verschlossen, um den Hülfesuchenden während der Nacht raschen Einlaß zu gewähren – und eilte, ohne auf die rufenden Worte meines Vaters zu hören, dem Walde zu.

Ich mußte an dem Spritzenhause vorbei. Die mir wohlbekannte Stimme des Bauervogtes forderte die Leute auf, das Löschgeräth nach dem Brandplatze zu schaffen, aber keine Hand rührte sich.

»Wir gehen nicht,« sagten die Leute. »Dem Grafen geschieht schon recht.«

Also doch! Mein Vater hatte sich umsonst bemüht, mir die Nähe der Gefahr zu verschweigen, nun war der Aufstand auch bei uns losgebrochen. – Im Laufschritt eilte ich vorwärts, mich trieb ein banges Gefühl, eine namenlose Angst um ... Marie.

Der Waldweg war mir nur zu wohl bekannt, ich hätte ihn selbst in finsterer Nacht nicht verfehlt. Jetzt aber hatte ich nur nöthig, dem hellen Schein zu folgen, der dämonisch durch die Lichtungen schimmerte und die weißen Buchenstämme mit brennendem Roth überzog. Immer feuriger erglommen die Stämme und Zweige, je näher ich kam; der Nachtwind trieb mir den Brandgeruch zu; ich hörte das ängstliche Brüllen der Kühe, welche vom Feuer erfaßt wurden. Es unterlag keinem Zweifel, die Scheuern und Wirthschaftsgebäude brannten. Und so war es auch. Der große, schöne Hof war in ein Flammenmeer verwandelt, in dessen unmittelbare Nähe sich Niemand wagen konnte. Das massiv gebaute Schloß lag seitwärts, auf drei Seiten von Wasser umgeben. In seinen hohen Fenstern glänzte der Widerschein der furchtbaren Gluth. Auf der Freitreppe des Schlosses standen Leute und begehrten lärmend Einlaß. Man konnte sie deutlich erkennen, denn die Nacht war taghell erleuchtet: es waren Untergebene des Grafen.

In dem Schlosse schien alles wie ausgestorben. Niemand zeigte sich am Fenster, kein Licht brannte in den Gemächern. Es war auch nicht gerathen, sich den Fenstern zu nähern, denn hin und wieder zertrümmerten wohlgezielte Steine die großen Scheiben. Lautes Jubelgeschrei folgte jedesmal einer solchen Heldenthat.

Jetzt kamen einzelne Leute mit Brecheisen und Aexten. Man wollte den Eingang mit Gewalt erzwingen.

»Er hat uns schlechter behandelt, als das Vieh,« schrieen die Leute, »wir wollen Freiheit und Gleichheit.« – »Nun wollen wir auch einmal Graf sein. Aufgemacht.«

In der That schlugen sie mit den Aexten gegen die große geschnitzte Thür. Den vereinten Kräften mußte es möglich werden, den Eingang zu erzwingen. Waren die Bewohner aber überhaupt noch in dem Schlosse, oder hatte man sie rechtzeitig gewarnt? Alles war so still.

Da krachte ein Schuß aus einem Fenster des Schlosses und gleich darauf noch einer. Ein Wuthgeheul antwortete, denn zwei von den Leuten waren getroffen. Diese Schüsse hatten das Schicksal der Schloßbewohner besiegelt.

Wo war mein Rachegefühl geblieben in diesem Augenblick? Auf welcher Seite stand das Recht? Auf der Seite Jener, welche die Scheuern angezündet hatten und das Leben des Mannes und seiner Angehörigen bedrohten, der einen vielleicht zu ausgedehnten Gebrauch jener Vorrechte gemacht hatte, die altes Herkommen ihm übertrugen, oder handelten die im Rechte, welche im Acte der Nothwehr auf die schreiende Horde feuerten?

Was aber hatte Marie den Menschen gethan, die heulend und tobend auf das Schloß eindrangen? Sollte ihr Tod vielleicht den Weg zur Freiheit und Gleichheit ebnen, zu jener Freiheit, die im Mordbrand und der Entmenschlichung Anfang nahm?

Im Augenblicke der Noth lernt der Mensch Sehen, Hören und Denken, seine Sinne gewinnen an Intensität, seine Gehirnthätigkeit steigert sich in ungeahnter Weise, so daß die aus solchen Momenten hervorgehende Handlung oft den Eindruck des Uebernatürlichen, des Wunders macht.

War es ein Zufall, ein Wunder, oder sah ich, weil ich sehen wollte, sehen mußte? Mein Auge entdeckte auf dem teichartig erweiterten Graben, der das Schloß von drei Seiten umgab, einen leer treibenden Kahn. Diese zierliche Gondel, dazu gebaut, von weißen Schwänen umkreist, leicht auf dem wellenlosen Wasser einherzugleiten, erschien mir plötzlich als Helfer in der Noth. Der schwanke Kahn wurde zum Felsen, auf den ich meine Hoffnung baute. Die tobende Menge hatte mich noch nicht entdeckt, denn eine dichte Taxuswand, welche sich bis an das Wasser erstreckte, verbarg mich. – Rasch warf ich das entbehrliche Zeug ab, entledigte mich der Stiefel und glitt so geräuschlos wie möglich in das Wasser. Ich fühlte weder die Frische der Frühlingsnacht, noch die Kälte des Wassers und dachte nicht an eigene Gefahr; ich fürchtete mich ebenso wenig, wie damals, als ich den seichten Bach durchwatete, um das Grabmal im Walde zu erreichen.

Mit wenigen Stößen war ich bei dem Kahn, den ich erfaßte und langsam in den dunklen Schatten zog, welchen das Schloß über das Wasser warf. Dann erst hob ich mich aus dem Wasser und stieg vorsichtig in das kleine Fahrzeug, das ich an die Treppe ruderte, welche in zierlichen Windungen von dem ersten Stock des Schlosses bis auf das Wasser führte. Rasch war der Kahn befestigt und nur weniger Secunden bedurfte es für mich, die Balconthür zu erreichen.

Welch' ein Glück: die Thür war unverschlossen.

Ich eilte vorwärts durch die weiten Gemächer; unhörbar war der Schritt auf den weichen Teppichen, zumal die hart auftretenden Stiefel draußen hinter der Taxushecke lagen. Als ich die letzte Thür öffnete, bot sich mir ein seltsames Bild dar.

Der helle Feuerschein fiel durch die großen Bogenfenster in einen hohen Saal, dessen Wände mit Wandgemälden decorirt waren. Die Schäfer und Schäferinnen lächelten und führten frohe Tänze auf; holdselige Gestalten wanden Rosenkränze und schmückten bebänderte Cavaliere mit bunten Blumen. Auf einem Divan, unter dem verlockendsten der Bilder, lag, bleich wie der Tod, ein junger Mann. Seine Stirn war mit Blut überströmt, das eine in dunkle Seide gekleidete Dame mit einem weißen Tuche zu stillen bemüht war. Ich erkannte sie im ersten Augenblicke ... es war Marie, die Marie, welche mich vergessen hatte, die so groß und schön geworden war. Ach wie schön! Mitten in dem Saale stand der Graf und lud seine Doppelflinte. Sein Antlitz war vom Gram gefurcht, seine Augen glühten im Zorn, aber die Hand trieb den Ladestock so ruhig und sicher in den Lauf, als handle es sich um ein Schießen nach der Scheibe.

Der Graf erblickte mich! Sein Auge ruhte einen Augenblick fest und durchdringend auf mir. »Dies Haus ist mein Haus!« rief der Graf und legte die Flinte auf mich an.

In demselben Moment war Marie aufgesprungen und schlang ihre beiden Arme um den Vater. »Schieße nicht!« rief sie mit angsterfüllter Stimme. »Er gehört nicht zu Jenen – er wird uns retten.«

Der Graf ließ die Flinte sinken. »Wer sind Sie?« fragte er.

Mit kurzen Worten setzte ich ihm auseinander, auf welche Weise es mir gelungen sei, in das Schloß zu dringen. Ich sagte ihm, daß der Kahn unten an der Treppe läge und Rettung möglich sei.

Der Graf warf einen Blick auf den bewußtlos Daliegenden. »Wir können nicht fliehen,« sagte er darauf zu Marie gewendet. »Dein Bräutigam kann uns nicht folgen. Es wäre ehrlos, ihn zu verlassen.«

Die Axtschläge fielen rascher und rascher gegen die Thür. Die Menge stieß ein lautes Freudengeschrei aus, als wenn sie im Begriff stände, ihre Absicht zu erreichen.

»Jede Secunde ist kostbar,« rief ich. »Lassen Sie uns eilen, ehe es zu spät wird.«

Der Graf blieb unbeweglich.

Ein Steinwurf zerschmetterte in diesem Augenblick eine Fensterscheibe und klirrend fiel der Stein auf eine große chinesische Vase, die er zertrümmerte.

Ein ähnlicher Wurf mochte den jetzt ohnmächtig Daliegenden getroffen haben.

»Wir tragen den Verwundeten in den Kahn,« rief ich. »Gott wird uns beistehen.«

Ein lautes Krachen und ein lauter Freudenschrei kündigten an, daß die Thür gesprengt war. Jetzt half kein Zaudern. Rasch faßten wir den Verwundeten und trugen ihn so eilig wie möglich hinab. Marie folgte.

Es gelang uns, Platz in dem winzigen Kahn zu finden. Marie saß auf dem Bänkchen bei dem Steuer und barg das Haupt ihres Verlobten in ihrem Schooß. Der Graf stand in der Mitte mit dem einen Ruder, ich führte das meine vorne am Bug. Nur langsam konnten wir vorwärts kommen.

Die Ruder durften kein Geräusch machen, und jede überflüssige Bewegung hätte den Kahn zum Umschlagen gebracht.

Uns deckte aber der Schatten des Schlosses und dann kam die rettende Taxushecke. Du vielgeschmähter Baum, wie dankbar war ich in deinem dichten Nadelgewirr in dieser Nacht, wie pries ich im Stillen dein winterliches Grün!

Die Landung ging gut von Statten. Kaum nahm ich mir Zeit, die abgeworfenen Kleider anzulegen, denn wir mußten suchen, eiligst aus dem Bereiche des Verderbens zu gelangen. Der Graf faßte seine Doppelflinte mit beiden Händen und stellte so einen Sitz her, auf den ich den immer noch Bewußtlosen hob. Marie schlang den herabhängenden Arm ihres Verlobten um ihre Schulter und ich nahm seine Füße. So schlichen wir durch den Park, langsam, Schritt für Schritt, bis der Wald erreicht war.

Den gewöhnlichen Weg durften wir nicht einschlagen, um nicht Leuten zu begegnen, die zum Brandplatze eilten und deren Absichten wir nicht kennen konnten. Aber ich wußte einen Weg, ich hatte ihn damals selbst gefunden.

Der Graf ließ mich gewähren, er folgte still und schweigsam.

Nun hatten wir das Grabmal erreicht. Der Verwundete schlug die Augen auf. »Wasser«, flehte er.

Der Bach rauschte in der Nähe, der Bach, an dessen Ufer ich einst die glücklichsten Stunden verträumte. Wir ließen den Verwundeten nieder. Auch dem Grafen schienen die Arme müde geworden zu sein. Ich eilte an den Bach.

Ein Trinkbecher fehlte, aber wozu ist nicht eine Primanermütze gut? Es war kein eherner Helm, wie der, aus dem einstmals Alexander der Große trank, aber darauf kam es hier nicht an. Auch das Taschentuch konnten wir netzen und dem Verwundeten um die Stirne schlingen. Dann brachen wir wieder auf. Es ging besser, als vorhin, denn das Leben kehrte dem Ermatteten zurück, und er bedurfte nicht unserer ganzen Kraft. Wir durchschritten den Bach, dann kamen die Tannen, in deren Wipfeln es wundersam rauschte, und nun zeigten sich die Erlen. – Immer noch leuchtete das Feuer.

Der Graf sah nicht rechts noch links; für sein brennendes Gut hatte er keinen Blick des Abschieds. – Er mußte hart sein, sehr hart.

Endlich nach langem Wandern waren wir zur Stelle. Glücklich hatte ich die Verfolgten in einen mir wohlbekannten Garten gebracht, und vor uns lag das Asyl ... das Haus Tante Julianens.

Ich klopfte leise an das Fenster von Tante Julianens Schlafgemach. – Keine Antwort.

Tante Juliane war doch nicht etwa schon zu meinem Vater gezogen? Dann war Alles vergebens. In unserem Hause waren zu viele Menschen; wie hätten dort wohl die Flüchtlinge verborgen bleiben können?

Ich bat den Grafen und seine Familie, einen Augenblick zu verziehen. Mariens Bräutigam war wieder ohnmächtig geworden. Wir hatten ihn auf die Gartenbank gelegt. Rasch eilte ich nach der Straße. Tante Juliane war noch wach, denn matter Lichtschein fiel durch die herzförmigen Ausschnitte der Fensterladen. Wieder klopfte ich. »Tante Juliane,« rief ich, »ich bin's. Oeffne die Gartenthür, ich bitte Dich um Alles in der Welt, öffne!«

Das Licht verschwand, und als ich wieder bei den Flüchtlingen war, hatte Tante Juliane die Thür zum Garten bereits geöffnet.

»Tante ... um Gotteswillen ... Du mußt mir beistehen. Wenn Du mich nur ein ganz Wenig lieb hast, nimm die Fremden bei Dir auf ... nur für kurze Zeit, bis Rath geschafft ist ... sie können nicht weiter. Ihr Leben ist bedroht, Tante! Ich beschwöre Dich, versage mir diese Bitte nicht!«

»Welche Fremde?« fragte Tante Juliane erstaunt.

Der Graf war aus dem Dunkel hervorgetreten, das Licht der Lampe fiel auf seine Züge.

»Der,« rief Tante Juliane entsetzt. »Den bringst Du mir?«

»Ich will Sie nicht belästigen,« sagte der Graf. »Ich wußte nicht, daß der junge Mann uns zu Ihnen führen werde.«

Ich verstand den Vorgang nicht. »Tante, Du hast sein Leben zu verantworten, wenn er stirbt!« rief ich.

»Sein Schicksal liegt in Gottes Hand,« sagte der Graf.

»Wen meint Ihr?« fragte Tante Juliane mich leise.

»Mariens Bräutigam,« flüsterte ich. »Er liegt schwer verwundet auf der Gartenbank.«

Tante Juliane sah mich an; in ihren Augen leuchtete es wunderbar, und jene feierliche Weihe, die ich schon am Nachmittage bemerkt, legte sich wieder über ihre Züge. »Er soll mein Gast sein,« sagte die Tante. »Treten Sie ein, Herr Graf,« fuhr sie fort. »Mein Haus ist das Ihrige.«

Der Graf biß sich auf die Lippen, sein Antlitz färbte sich purpurroth. »Es thut mir unendlich leid, Ihnen beschwerlich zu fallen,« sagte er in höflichem Ton, dessen leichtes Zittern jedoch eine heftige innere Erregung nicht verkennen ließ, »allein ich hoffe, daß Sie mir die Ungunst der Verhältnisse nicht zur Last legen werden.«

»Herr Graf,« erwiderte Tante Juliane, »der äußeren Nothwendigkeit müssen wir Alle gehorchen.« Mir fiel auf, daß sie dem Worte ›äußeren‹ einen besonderen Nachdruck gab. Im Uebrigen war sie wieder ruhig, wie immer.

Wir trugen den Verwundeten in das Haus. Er fand ein Unterkommen in dem freundlichen Fremdenzimmer, das Tante Juliane stets wie ein Puppenstübchen hielt. Meinem Vater hatte ich schon oft bei Operationen assistirt – wollte ich doch auch Mediciner werden – jetzt fühlte ich mich ganz als Arzt. Ich wusch dem Verletzten das geronnene Blut aus dem Gesicht und verordnete kalte Umschläge. Der Graf mußte die Rolle eines Krankenwärters übernehmen.

»Ich danke Ihnen für Ihre ... Aufopferung,« sagte er, »und bitte Sie dringend, auf Ihre eigene Gesundheit Rücksicht zu nehmen. Mir wird es leicht werden, diese Nacht zu wachen.«

Er hatte nicht Unrecht. Jetzt, da die Aufregung sich legte, fühlte ich die Wirkung der nassen Kleider und des schweren Marsches. Noch einmal sah ich nach dem Verwundeten. Er schlief. Mein Auge war in diesem Moment nicht das des Arztes, der nur die Krankheit sucht; ich mußte wieder und wieder hinblicken auf das schöne männliche Antlitz, das jetzt marmorbleich auf den Kissen ruhte; ich mußte mir sagen: wie ist er schön, wie wenig gleichst du ihm. War er doch der Glückliche ... der Verlobte Mariens.

Tante Juliane erwartete mich bereits. Sie nahm meine rechte Hand in ihre beiden Hände und hielt sie liebkosend. »Carl,« sagte sie dann, »der Graf und seine Familie sind vorläufig gut bei mir aufgehoben, ich werde für sie sorgen. Mein Mädchen wird schweigen, denn wenn Jemand erführe, daß die Verfolgten sich hier befinden: wer weiß, was geschehen könnte. Nun gehe nach Hause. Sende mir Deinen Vater morgen früh, damit er nach dem Verwundeten sieht und denke darüber nach, was weiter mit meinen Gästen geschehen soll. Ganz sicher sind sie hier nicht. – So, nun geh' und schlafe wohl. Auf dem Tisch steht ein Glas Portwein für Dich, es wird Dir keinen Schaden thun.«

Ich trank den Wein, die Tante ließ mich vorsichtig aus dem Hause. Marie sah ich nicht.

Das Feuer schien dem Erlöschen nahe zu sein, denn die Röthe am Himmel nahm bereits ab; im Dorfe war Alles still. Im Osten lichtete sich das Blau des Himmels – es wollte schon Morgen werden.

Der Nachtriegel an unserer Hausthür ließ sich von Eingeweihten auch von Außen aufschieben; ich öffnete die Thür leise, die Glocke schlug kaum hörbar an, und auf den Zehen schleichend, erreichte ich mein Zimmer.

Anfangs fror mich, als ich im Bette lag. Dann aber trat die Gegenwirkung ein, der Kälte folgte Wärme, der Körper begann zu glühen, der Kopf wurde schwer, Gedanken aller Art jagten vorbei wie die wilde Jagd; – so viel war ich bereits Medicus, um wissen zu können, daß ich mich in den Besitz eines deutlich ausgesprochenen Fiebers gesetzt hatte.

Ich freute mich innerlich über diese Weisheit, ich triumphirte ordentlich. Ich versuchte den Pulsschlag zu zählen: eins, zwei, drei, vier, fünf – – – – . Ich zählte immer weiter, und jede Zahl setzte sich vor mein Bett, bis das ganze Zimmer voll von Zahlen war, so voll von Zahlen, daß ich sie gar nicht mehr begreifen konnte, so viel, so unsägliche Mühe ich mir gab, so oft ich auch von vorne anfing. – – – –

Fast drei Wochen habe ich auf diese Weise gezählt – – – da erst wachte ich wieder auf und zählte nicht mehr. Ich war sehr krank gewesen. Am Morgen nach der ereignißreichen Nacht hatte mein Vater mich besinnungslos, heftig fiebernd und phantasirend im Bette gefunden. Die nassen Kleider gaben ihm die Fährte an, auf welcher die Ursache der Krankheit zunächst zu suchen war, und danach richtete er seine Behandlung ein. Er meinte später, ein kaltes Bad würde meiner eisernen Gesundheit kaum geschadet haben, aber das lange Verweilen in der Nässe, das sei eben verderblich gewesen.

Und die Gemüthsaufregung? – Ja – – die konnte er nicht kennen und mit hineinziehen in seinen Calcul.

Eine meiner ersten Fragen war die gewesen, ob das Feuer bereits gelöscht sei. Man ließ mich in dem Irrthum, nur wenige Stunden geschlafen zu haben, und erst nach und nach erfuhr ich die wirkliche Lage der Dinge.

Der Graf war mit seiner Tochter in's Ausland gereist; man meinte, nach Rußland. Der Verlobte Marien's war wieder hergestellt und ebenfalls davongegangen.

Tante Juliane hatte keinerlei Ersatz für Pflege und Mühewaltung annehmen wollen; dafür war das Honorar für meinen Vater um so reicher – fast fürstlich – ausgefallen. – Sie waren Nichts mehr schuldig!

Die Unruhen legten sich auch gemach. In unserer Gegend war Alles still geworden. Einige Compagnien Soldaten hatten die Ordnung wieder hergestellt, etliche der Rädelsführer saßen im Gefängniß, die Todten jener Nacht waren begraben und vergessen.

Die Opfer, welche für die Freiheit fallen, vergißt das Volk gar bald, und wenn es Freiheit erhält, will es dieselbe nicht anerkennen, weil sie des äußeren Flitters entbehrt. Der Freiheit fehlt Hermelin und Krone, sonst würde sie herrschen.

Die politische Welt genas, ebenso, wie ich von dem meinen, von ihrem Fieber. Als der Herbst die Blätter färbte, ging Alles wieder die alte Bahn. Freilich war hier und da ein Stein hinweggeräumt, der früher ein Hinderniß in dem fortschreitenden Gange gewesen war, und mancher Schlagbaum mußte bei dem nächsten kräftigen Windstoße fallen. Es bedurfte hierzu jedoch keines Sturmes, der schonungslos auch die schützenden Dächer zerstört; nein, nur eines frischen Luftzuges.

*

Eine Reihe von Jahren war verflossen. Ich saß wieder bei Tante Juliane, und zwar als promovirter Mediciner. Die Universität hatte mir den Doctorhut verliehen, das Staatsexamen gab mir das zweischneidige Messer der Erlaubniß zu prakticiren in die Hand. Ich war berechtigt, frei und unbehelligt mit diesem Messer unter meinen Nebenmenschen umherzuwandeln.

Tante Juliane war älter geworden, aber unser Verhältniß war noch inniger als früher. Ich hatte Besitz von dem freundlichen Fremdenstübchen genommen. Sie wünschte es so.

Wir hatten stets viel mit einander zu sprechen. Tante Juliane war so erfahren, und hatte so ein kluges Urtheil, und ich hatte ein Thema, auf das ich mit besonderer Vorliebe zu reden kam. Dies Thema war ein holdes, schönes Kind, das ich in Heidelberg liebgewann. Einen hübschen Schatz von Kenntnissen hatte ich von dort mitgebracht, mein Herz aber war zurückgeblieben an den Ufern des frohen Neckar.

Sonderbar. Mit Tante Juliane konnte ich über diesen für mich ausnahmsweise wichtigen Fall sprechen; dem Vater dagegen hatte ich hierüber noch keine Silbe verlauten lassen. Tante Juliane meinte, das wäre auch eben so gut und hätte noch Zeit.

Wie immer, so mochte sie auch diesmal wiederum das Rechte getroffen haben, denn mir fehlten Stellung und Praxis, um ein Weib heimführen zu können. Der strenge Vater würde von Leichtsinn geredet haben und wer weiß, ob ich ruhig geblieben wäre. Tante Juliane wußte, daß dann von beiden Seiten herbe Worte fallen würden und die wollte sie vermieden wissen. Sie war so klug und so gut; in ihrem Herzen waltete der Friede.

Ueber jene verhängnißvolle Nacht sprachen wir nicht. Tante Juliane wußte jeder Andeutung auszuweichen und als ich einmal eine direkte Anfrage an sie stellte, antwortete sie ernst: »Laß die Vergangenheit ruhen, sie schmerzt mich mehr, als Du glauben magst.«

An einem Abend kehrte ich heim, es war in der Dämmerstunde, wie damals, als ich der Tante von den beiden Kindern erzählte, die einen Traum von Glück und Liebe im Walde geträumt hatten, und brachte ihr die Nachricht, daß der Graf gestorben sei und seinem Wunsche gemäß im Walde bestattet werden sollte. Tante Juliane antwortete mir nicht, als sie diese Kunde erfuhr, aber sie verhüllte ihr Antlitz und weinte bitterlich. Ich setzte mich schweigend nieder und wagte nicht zu fragen, warum sie weinte, als es aber schon fast dunkelte, begann sie mit leiser Stimme: »Ich habe ihn geliebt, nun weißt Du, warum ich weine. – In jener Nacht sah ich ihn wieder, zum ersten Male nach langer, langer Zeit, ihn, den ich niemals wieder zu sehen wünschte. Ja, Carl, Du wußtest nicht, wen Du mir brachtest, Du ahntest nicht, daß mit ihm mühsam zum Schweigen gebrachtes Leid über meine Schwelle trat und seine klagende Stimme erhob.« – Sie schwieg eine kleine Weile, als wenn sie sich auf Früheres besänne und fuhr dann fort: »In meiner Jugend war ich schön. Sie sagten es Alle. Ich ward gefeiert von den Besten und Liebenswürdigsten. Das war, als Deine Großeltern noch in der Stadt wohnten. – Er widmete sich damals der juristischen Carrière und war noch nicht Graf, denn sein älterer Bruder, der Majoratsherr, lebte. Mir versprach er den Himmel und die Erde, und ich glaubte ihm, denn ich liebte ihn mit der ganzen Allgewalt des Herzens.«

»Siehst Du, Carl, ich konnte damals ahnen, was die Ewigkeit bedeutet, so unendlich war meine Liebe, aber ich sollte erfahren, daß auf Erden nichts ewig ist. – Sein Bruder starb, er wurde Erbe und Majoratsherr und da mußte er mich verlassen. So wollten es die Satzungen der Welt, in der ich lebte, der er angehörte, und von da an wurde mein Leben leer und öde wie ein Herbsttag, durch dessen dichte Nebel kein Sonnenstrahl dringt. Stunden kamen, in denen ich ihn haßte, aber sie vergingen ebenso, wie einst die Stunden seligen Glückes, und ich lernte tragen und dulden. – Carl, nun weiß ich aber doch, daß die Liebe ewig ist, denn in jener Nacht ließ er mich tief in sein Inneres blicken, in jener Nacht schüttete er mir sein Herz aus. Er ist elender gewesen als ich, denn sieh', er hatte meiner nicht vergessen und nicht jener Zeit des Glückes, und zu der Trauer um verlorenes Glück gesellte sich das Bewußtsein der Schuld. Das Leid, das ich in Demuth trug, das sollte ihm der Stolz tragen helfen, aber der Stolz ist ein gar übler Freund, denn er meint es nicht ehrlich.

Er durfte nicht lieben, wie sein Herz wollte, das litten die Gesetze seines Standes nicht, und so ward er lieblos wie die alten Satzungen und ward hart gegen seine Untergebenen. In jener schrecklichen Nacht, als die Flammen zum Himmel aufloderten, da war die Saat der Lieblosigkeit aufgegangen, die er gesäet hatte, da hatte der Haß die Herrschaft auf der Erde und drohte ihm Leib und Leben zu nehmen, ihm und den Seinigen. Da klagte er sich an und die Satzungen seines Standes, die ihn gezwungen hatten, die Liebe zu verrathen und aller Stolz war von ihm gewichen und ich konnte ihm sagen, daß ich ihm verziehen hätte, schon lange, lange.

Das hätte ich ihm nicht sagen können, wenn Du ihn nicht gerettet und zu mir geführt hättest, Carl, und deshalb hab' ich Dich noch einmal so lieb und deshalb mußt Du bei mir sein. Ich weiß nun wieder, daß die Liebe ewig ist.«

Tante Juliane schwieg. Ihr Antlitz leuchtete freudig verklärt ... sie hatte ihren Glauben an die Liebe wiedergefunden. – – –

Als der Graf begraben wurde und der dunkle Trauerwagen sich langsam dem Walde zuwandte, stand Tante Juliane am Fenster und blickte dem Zuge lange nach. Auch ich stand und sah, denn in dem vordersten Wagen hatte ich Marie erblickt ... an der Seite ihres Gemahles.

»Liebst Du sie noch?« fragte Tante Juliane.

»Nein,« antwortete ich.

»Dann hast Du sie auch nie geliebt. Eure Jugendliebe war nur ein Frühlingstag, wie ihn zuweilen der Winter bringt, kein wahrer Mai mit sprießendem Grün.«

»Trägst Du auch Haß gegen ihren Gemahl?« fragte sie darauf.

»Nein, Tante Juliane.«

»Den Haß begräbt der Mensch leicht,« sagte sie darauf leise. »Die Noth läßt ihn vergehen wie einen Hauch, wohl Dir, daß Du ihm keine bleibende Stätte gewähren konntest. Dafür segne ich die Schreckensnacht. Carl, wahre Liebe ist ewig.«

Vor meinem geistigen Auge tauchte ein liebliches Mädchenangesicht auf. Ich zog einen einfachen goldenen Reif hervor, den ich an einer Schnur auf meinem Herzen trug, und legte ihn in die treuen Hände der Tante.

»Ja,« sagte sie, »Du hast Recht. Liebe ohne Vereinigung ist größtes Leid; Liebe ohne Trennung ist höchste Seligkeit auf Erden. – Komm', wir wollen zu Deinem Vater gehen und mit ihm sprechen; er wird mir heute eine Bitte nicht abschlagen, wenn er sie Dir auch verweigern sollte. – – –«

Meine junge Frau und ich besuchen oft den Wald und das Grabmal, auf dem sich neben der alten Urne ein Obelisk aus weißem Marmor erhebt, auf dem mit glänzenden goldenen Lettern der Name und die Titel des Grafen zu lesen sind.

»Ist Alles gut im Stande?« fragt Tante Juliane bei unserer Rückkehr, und wir geben dann Bescheid.

Es ist Niemand da, der für das Grab sorgt, denn Marie und ihr Gemahl besuchen unsere Gegend niemals. Sie leben auf einem Gute im Nachbarlande.

Tante Juliane hat sich des vergessenen Plätzchens angenommen, aber das weiß Niemand als wir und der Gärtner, und der glaubt, daß sie im Auftrag der Tochter des Grafen handelt.

Drüben im Walde, wo der Bach sich krümmt und an den umgitterten Denksteinen vorbeifließt, ist es still und ruhig. Kein rauher Laut stört den letzten Schlaf des harten Grafen, der neben der Gattin gebettet liegt, die einst seine Gefährtin wurde, da doch sein Herz einer Anderen gehörte. Ihm brachte der Tod den Frieden.

Und die, welche um die Liebe betrogen war ein ganzes langes Leben hindurch, Tante Juliane, die hatte schon den Frieden auf Erden gefunden, als sie ihm verzieh, der sie betrog, weil er zu schwach war, um mit den Gesetzen seiner Kaste zu brechen. Ihr Glück bestand darin, Andere glücklich zu machen, zu helfen, wo sie nur konnte. Hab Dank dafür, Du stille sanfte Greisin mit den milden, blauen Augen und den feinen, weißen Segenshänden, Du gute Tante Juliane Du!


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