Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6

Ein Blatt aus Christinas Gesangbuch

Archie war ein fleißiger Kirchgänger. Sonntag für Sonntag durchmaß er mit jener kleinen Gemeinde das Zeremoniell des Gottesdienstes, hörte die Stimme von Mr. Torrance, einer schlecht gespielten Klarinette gleich, sprunghaft von Tonart zu Tonart sich steigern und erhielt Gelegenheit, des Geistlichen mottenzerfressenen Talar und schwarze Zwirnhandschuhe zu studieren, wenn der alte Herr die Hände im Gebet faltete oder sie beim Segen in ehrfürchtiger Andacht zum Himmel erhob. Der Hermistoner Kirchenstuhl war ein kleiner, viereckiger Kasten von den gleichen zwergenhaften Ausmaßen wie die Kirche selbst und umschloß einen Tisch, nicht viel größer als eine Fußbank. Hier saß Archie mit der Miene eines Prinzen, der alleinige unverkennbare Gentleman und wohlhabende Erbe der Gemeinde, und machte es sich bequem – sein Kirchenstuhl war der einzige mit Türen. Von hier aus konnte er ungestört die ganze Versammlung überblicken: gesetzte Männer in ihren Plaids, robuste Frauen und Töchter, Kinder, die unter dem Drucke des Gottesdienstes seufzten, und unruhige Schäferhunde. Seltsam, wie sehr Archie den Eindruck des Rassigen entbehrte; die Hunde mit ihren edlen Fuchsköpfen und wundervoll gebogenen Ruten waren von allen Anwesenden die einzigen, die einen Anspruch auf Adel erheben durften. Selbst die Cauldstaneslaper Gesellschaft bildete kaum eine Ausnahme. Dandie vielleicht, wenn er so dasaß und sich die nicht enden wollende Last des Gottesdienstes durch Versekritzeln erleichterte, zeichnete sich ein wenig durch sein leuchtendes Auge und eine gewisse Lebhaftigkeit des Ausdrucks und Straffheit des Körpers aus; aber selbst Dandie hatte den locker schlurfenden Schritt des Bauern. Die ganze übrige Gemeinde bedrückte Archie ähnlich dem lieben Vieh durch das Bewußtsein ihrer erdgebundenen Routine; ein Tag verlief wie der andere körperliche Arbeit in frischer Luft, Hafergrütze, Erbsmehlpfannkuchen, ein schläfriger Feierabend neben dem Kamin und eine lange, durchschnarchte Nacht in einem Wandbett. Und doch kannte er viele von ihnen als schlaue, humorvolle Menschen; charakterfeste Männer, tüchtige Frauen, die sich etwas zu schaffen machten und von ihren niedrigen Hütten einen gewissen Einfluß ausstrahlten. Er wußte außerdem, daß sie nicht anders waren als andere Menschen; unter der Kruste der Gewohnheit lebte Begeisterungsfähigkeit; er hatte sie vor Bacchus die Zimbel schlagen hören – hatte ihren lärmenden Zechgelagen über ihrem Whisky-Toddy beigewohnt, und auch die hölzernsten und strengsten unter ihnen, ja selbst jene feierlichen Kirchenältesten, waren in Dingen der Liebe der seltsamsten Bocksprünge fähig. Da waren Männer, deren abenteuerliche Lebensreise sich ihrem Ende nahte – Mädchen, die voll zitternder Neugier erst an der Schwelle des Lebens standen – Frauen, die Kinder geboren und vielleicht auch begraben hatten, die sich noch der Berührung zärtlicher, toter Händchen und des Trippelns jetzt erlahmter kleiner Füße erinnerten – er fragte sich in grenzenloser Verwunderung, wie es käme, daß unter all diesen Gesichtern keines wäre, das Erwartung, Bewegung, den Rhythmus und die Poesie des Lebens zeigte. »Oh, ein einziges lebendiges Gesicht!« seufzte er; und dann fiel ihm mitunter Lady Flora ein; ein andermal musterte er diese lebende Galerie vor ihm voller Verzweiflung und sah sich selbst seine unfruchtbaren Tage in jener freudlosen ländlichen Einöde beschließen, sah den Tod herannahen und die Leute unter den Ebereschen sein Grab schaufeln, während der Geist der Erde das riesenhafte Fiasko durch donnerndes Gelächter feierte.

An dem betreffenden Sonntag stand es außer Frage, daß der Frühling endlich gekommen war. Es war warm; trotzdem schlummerte Frost in der Luft, der die Wärme indes nur noch willkommener machte. Der Bach rann an den flachen Stellen plätschernd und funkelnd zwischen Sträußen von Himmelsschlüsseln vorbei. Wandernde Düfte der Erde fesselten im Gehen Archies Geist; zu Momenten erfüllte ihn ätherische Trunkenheit. Das graue, quäkerische Tal war erst stellenweise aus seiner nüchternen Winterfärbung erwacht; er wunderte sich über seine Schönheit; sie erschien ihm als die Quintessenz der Schönheit dieser alten Erde, wohnhaft nicht im einzelnen, sondern aus dem Ganzen ihm entgegenatmend. Er entdeckte in sich einen unerwarteten Impuls zum Verseschreiben – er schrieb mitunter wirklich – lose, dahinstürmende Vierfüßler nach der Art Scotts –, und als er sich neben einem elfenhaften Wasserfall auf einen Stein niederließ, den ein gertenschlanker, im ersten Frühlingsgrün strahlender Baum beschattete, war er noch mehr erstaunt, daß ihm nichts einfallen wollte. Vielleicht war es nur sein Herz, das im Einklang mit dem ungeheuren Rhythmus des Weltalls schlug. Bald darauf sah er hinter einer Biegung des Tals die Kirche liegen; er hatte so lange gesäumt, daß bereits der erste Psalm im Verklingen war. Das nasale Psalmodieren, voller Schnörkel, Triller und anmutloser Verzierungen, schien ihm wie die Stimme der Kirche selbst, zum Dankgebet erhoben. »Alles lebt«, sagte er für sich und rief plötzlich laut: »Gott sei gelobt, alles lebt!« Er verweilte noch kurze Zeit auf dem Friedhof. Ein Büschel Himmelsschlüsselchen blühte dicht neben dem Fuß einer alten, schwarzen Grabtafel, und er blieb stehen, um die weitschweifige Aufschrift zu studieren. Die Blumen standen da in schneidendem Gegensatz zu der kalten Erde; plötzlich fiel ihm die Unfertigkeit des Tages, der Jahreszeit, der ihn umgebenden Schönheit auf – die Kühle in der Wärme, die groben, schwarzen Erdschollen neben den sich erschließenden Himmelsschlüsseln, der feuchte, erdige Geruch, der sich allseits unter die Düfte mischte. Die Stimme des greisenhaften Torrance schwang sich in Ekstase auf, und er fragte sich, ob auch Torrance in seinen alten Knochen die Luft dieses Frühlingsmorgens spüre; Torrance oder der Schatten dessen, was einst Torrance gewesen war und was so bald schon samt seinem Rheumatismus hier draußen in Sonne und Regen liegen mußte, während ein neuer Prediger seinen Platz einnahm und von seiner altvertrauten Kanzel donnerte. Der Jammer des Ganzen und etwas von der Kälte des Grabes ließen ihn einen Augenblick erschauern, und er beeilte sich, die Kirche zu betreten.

Ehrfürchtig schritt er den Gang hinauf und ließ sich, ohne aufzublicken, auf seinem Platze nieder; er fürchtete, er hätte den freundlichen alten Herrn auf der Kanzel bereits gekränkt, und hütete sich geflissentlich, weiteren Anstoß zu erregen. Er vermochte dem Gebet nicht einmal in dessen Umrissen zu folgen. Strahlende Himmelsbläue, Wolken von Luft, ein Singen fallenden Wassers und zwitschernder Vögel stiegen gleich Ausstrahlungen einer tieferen, urgrundlichen Erinnerung, die nicht ihm selbst, sondern dem Fleisch auf seinen Knochen angehörte, in seinem Inneren auf. Sein Körper erinnerte sich; es schien ihm, daß dieser Körper keineswegs plump, sondern ätherisch und vergänglich wie eine Melodie wäre; er fühlte für ihn eine wundervolle Zärtlichkeit wie für ein unschuldiges, von reinsten Instinkten bewegtes und zu einem frühen Tode verurteiltes Kind. Und auch für Torrance – für diesen von so zahlreichen Gebeten überströmenden und mit so wenigen Tagen beschenkten Torrance – empfand er ein Mitleid, das ihn fast zu Tränen rührte. Das Gebet war zu Ende. Unmittelbar über ihm war eine Tafel in die Mauer gelassen, der einzige Schmuck des roh verputzen Kapellchens – denn mehr war es nicht; die Tafel verewigte die Existenz – fast hätte ich gesagt die Tugenden – irgendeines früheren Rutherfords von Hermiston; und Archie lehnte sich unter jenen Beweis seiner alten Abstammung und lokalen Größe in seinen Stuhl zurück und stählte sich, den Schatten eines halb spielerischen, halb traurigen, aber seltsam reizvollen Lächelns um den Mund, gegen einen langen Ausblick in die Leere. Dies war der Moment, den Dandies Schwester, die in vollem Glasgower Staat neben Clem saß, wählte, um sich den jungen Gutsherrn anzusehen. Ihr war die Bewegung, die bei seinem Eintritt die Reihen durchlief, nicht entgangen, aber die kleine Puritanerin hatte während des Gebetes die Augen gesenkt gehalten und sich ihre sittsame Ruhe des Ausdrucks bewahrt. Das war nicht etwa Heuchelei; es gab auf der Welt keinen Menschen, dem dergleichen ferner lag. Das Mädchen hatte einfach gelernt, sich zu benehmen: gelernt, auf und nieder zu blicken, unbefangen dreinzuschauen, in der Kirche ernst und aufmerksam und in allen Lebenslagen möglichst vorteilhaft zu erscheinen. Das war nun mal der Weiber Art und Vorrecht, und sie spielte das Spiel ganz unverhohlen. Archie war der einzige Mensch in der Kirche, der sie interessierte; er war ein fremdes Wesen, dem Rufe nach ein Sonderling und jung, ein großer Herr, den Christina noch nicht kannte. Kein Wunder, daß ihre Gedanken sich mit ihm beschäftigten, während sie stehend in einer Haltung reizenden Anstandes wartete. Falls er einen Blick für sie übrig hätte, sollte er eine wohlerzogene junge Dame sehen, die schon in Glasgow gewesen war. Vernünftigerweise mußte er ihren Putz bewundern, und vielleicht fand er sie selbst sogar hübsch. Bei diesem Gedanken klopfte ihr Herz ein klein wenig schneller; sogleich begann sie sich als Korrektiv eine Reihe Bilder von dem jungen Mann, der von Rechts wegen jetzt zu ihr herüberblicken müßte, zu entwerfen und rasch wieder zu verbannen. Schließlich entschied sie sich für das wenigst anziehende – einen rosigen, kurzbeinigen Jüngling mit einem Tellergesicht und mangelhafter Figur, über dessen Bewunderung sie getrost lächeln durfte; trotzdem hielt das Gefühl, daß sein Blick auf ihr ruhe (während er in Wahrheit an Torrance und dessen Handschuhen haftete), sie bis zu dem Amen in gelinder Erregung. Selbst dann war sie noch viel zu wohlerzogen, um ihrer Neugier durch Ungeduld zu frönen. Lässig – das war eine Glasgower Nuance – ordnete sie ihren Anzug, zupfte ihren Strauß Himmelsschlüssel zurecht, blickte erst gerade vor, dann hinter sich und gestattete ihren Augen, endlich ohne jede Hast auch nach dem Hermistoner Kirchenstuhl hinüberzuschweifen. Einen Augenblick hafteten sie dort wie gebannt. In der nächsten Sekunde kehrte ihr Blick zu ihr zurück, gleich einem zahmen Vogel vor der Flucht. Möglichkeiten stürmten auf sie ein; schwindelnd bedachte sie die Zukunft; das Bild dieses jungen Mannes, schlank, reizvoll, dunkel, mit jenem unergründlichen, schattenhaften Lächeln, zog sie an und stieß sie ab gleich einem Abgrund. Ob ich wohl meinem Schicksal begegnet bin? fragte sie sich selbst, und ihr schwoll das Herz in der Brust.

Heute behandelte Torrance einen besonders heiklen Punkt der Gottesgelehrtheit und war bereits ziemlich weit mit seinem ersten Abschnitt gediehen, wobei er im Vordringen sich eine feste Grundlage aus Bibeltexten aufbaute, ehe Archie seinerseits sich umschaute. Sein Blick fiel zuerst auf Clem, der unausstehlich satt und behäbig aufsah und Torrance großmütig durch halbe Aufmerksamkeit begönnerte, wie jemand, der von Glasgow her Besseres gewohnt ist. Obwohl er ihn nie zuvor gesehen hatte, wußte Archie doch sofort, wer er war, und fand ihn auch sogleich vulgär, den schlimmsten Typ der Familie. Clem beugte sich gerade faul vor, als Archie ihn zuerst erblickte. Schließlich lehnte er sich nonchalant in seinen Stuhl zurück, und plötzlich ward jene tödliche Waffe, das Mädchen, im Profil demaskiert. Obwohl nicht ganz auf der Höhe der Mode stehend (wer fragte hier schon danach), hatten gewisse kunstgerechte Glasgower Mantillenmacherinnen und ihr eigener natürlicher Geschmack sie sehr vorteilhaft herausgeputzt. Ja, ihr Anzug hatte in jener winzigen Gemeinde viel brennendes Herzweh und fast einen Skandal hervorgerufen. Mrs. Hob hatte ihr bereits in Cauldstaneslap die Meinung gesagt. »Verrückt!« lautete ihr Urteil. »Eine Jacke, die vorn nicht schließt! Was für 'n Sinn hat sie denn, wenn man sie nicht zuknöpfen kann und man damit in den Regen kommt? Und wie nennt man die Dinger an deinen Füßen da? Demmi Brokins, Demi-broquins sagst du? Brocken werden sie sein, ehe du damit wieder nach Hause kommst! Na, mich geht's ja nichts an – aber ich sag' nur – guter Geschmack ist es nicht!« Clem, dessen Portemonnaie diese Metamorphose seiner Schwester bewirkt hatte und der gegenüber der Reklame, die sie für ihn machte, nicht empfänglich war, eilte ihr zu Hilfe. »Unsinn, Weib! Was verstehst du schon von Geschmack, wo du nie in der Stadt gewesen bist?« Und Hob, der mit wohlgefälligem Lächeln das Mädchen musterte, während sie ängstlich in der dunklen Küche ihren Staat präsentierte, hatte die Diskussion mit den Worten beendet: »Hübsch sieht die kleine Katze aus; und regnen wird's wahrscheinlich auch nicht. Trag die Sachen ruhig heute am Sonntag, Mädel; aber es ist nichts, was man zur Gewohnheit machen soll.« Im Busen ihrer Rivalinnen, die im allzu deutlichen Bewußtsein weißer Unterröcke und mit Gesichtern, die von vieler Seife glänzten, zur Kirche gegangen waren, hatte der Anblick von Christinas Toilette einen Sturm mannigfaltigster Gefühle entfesselt, von einfacher, neidischer Bewunderung angefangen, die sich in einem einzigen, langgezogenen »Ah!« ausdrückte, bis zu jener zornigeren und in den Worten sich Luft machenden Empfindung: »An den Schandpfahl gehört sie!« Ihr Kleid war aus strohfarbenem Seidenmusselin, vorn tief ausgeschnitten und unten fußfrei, um ihre Demi-broquins aus violettem Leder zu zeigen, die mit vielen Schnüren über einem gelben, in Spinnwebmustern gewirkten Strumpf befestigt waren. Nach der hübschen Mode, der unsere Großmütter unbedenklich folgten und mit der bewaffnet unsere Großtanten auszogen, um unsere Großonkel zu erobern, war das Kleid zugeschnitten, um die Formen der Brüste hervortreten zu lassen, und wurde in dem Einschnitt zwischen beiden von einer Brosche aus Rauchtopas gehalten. Hier, ebenfalls in einer sehr beneidenswerten Lage, zitterte der Strauß Himmelsschlüssel. Um die Schultern – oder auf dem Rücken vielmehr, denn er reichte kaum darüber hinaus – trug sie einen Mantel aus Florentiner Taft, der auf der Brust mit Margate-Bändern von der gleichen violetten Farbe wie ihre Schuhe festgebunden war. Ihr Gesicht umrahmte eine Flut wirrer, dunkler Locken; ein zierlicher Kranz gelber, französischer Rosen umwand ihre Stirn, und das Ganze krönte ein ländlicher Hut aus grobem Stroh. Unter all den roten und wettergebräunten Gesichtern ihrer Umgebung erglühte sie gleich einer offenen Blume: Mädchen und Kleidung, der Rauchtopas, der die Sonnenstrahlen auffing und blitzend zurückwarf, ja selbst die bronzenen und goldenen Fäden in ihrem Haare funkelten.

Archie fühlte sich von dem Hellen angezogen wie ein Kind. Er sah sie an, wieder und immer wieder, und ihre Blicke kreuzten sich. Ihre Lippen öffneten sich leise und ließen ihre kleinen Zähne frei. Er sah das rote Blut lebhaft unter der braungoldenen Haut aufsteigen. Ihr Auge, groß wie bei einem Hirsch, begegnete dem seinen, hielt es fest. Er wußte, wer sie sein mußte – Kirstie, das Mädchen mit dem hartklingenden Rufnamen, die Nichte seiner Haushälterin, die Schwester des rustikalen Propheten, Gibs –, und er fand in ihr die Antwort auf all seine Wünsche. Christina fühlte den elektrischen Funken der sich treffenden Blicke, und es war ihr, als entschwebe sie, ganz in Lächeln gekleidet, in mystisch-strahlende Regionen. Aber ihr Entzücken war so kurz, wie es vollkommen war. Hastig blickte sie weg und begann sich sogleich ob dieser Hast zu tadeln. Sie wußte, was sie hätte tun müssen, als es bereits zu spät war – langsam, die Nase in der Luft, hätte sie sich wegdrehen müssen. Inzwischen aber blieb sein Blick an ihr haften und schien sie zu bestürmen gleich einer Batterie trefflich gerichteter und in fortgesetzter Tätigkeit befindlicher Geschütze; jetzt schien er sie und sich völlig zu isolieren, jetzt wieder hob er sie vor der ganzen Gemeinde gleichsam auf den Pranger. Archie fuhr fort, mit den Augen ihr Bild zu trinken, ähnlich dem Wanderer, der am Berge auf eine Quelle stößt und sein Gesicht eintaucht und sich nicht satt trinken kann. Das feurige Auge des Topas und die blassen Blüten der Primeln in der Kerbe ihrer kleinen Brüste bannten ihn. Er sah, wie diese Brüste sich hoben und senkten, und fragte sich verwundert, was das Mädchen wohl so erregen könne. Und Christina fühlte wieder diesen Blick, nahm ihn wahr – vielleicht mit dem graziösen Spielzeug von Ohr, das unter ihren Locken hervoräugte; sie fühlte, wie sie die Farbe wechselte, fühlte ihren unruhigen Atem. Gleich einem Geschöpf der Wildnis, das sich gehetzt, eingeholt und allseits umstellt sieht, fahndete sie nach einem Dutzend Auswege, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Sie holte ihr Taschentuch hervor – es war wirklich ein sehr feines – und steckte es erschrocken wieder ein: »Er glaubt vielleicht, mir wäre zu heiß.« Sie fing an, in den metrischen Psalmen zu lesen, und erinnerte sich plötzlich, daß ja die Predigt im Gange wäre. Endlich steckte sie sich eine gezuckerte Pflaume in den Mund und bereute bereits im nächsten Augenblick diesen Schritt. Was für ein hausbackenes Benehmen! Mr. Archie würde bestimmt niemals in der Kirche Süßigkeiten essen; mit gewaltiger Anstrengung schluckte sie das Ganze hinunter, und sofort war ihr Gesicht eine einzige Flamme. Bei diesem Zeichen tödlicher Verlegenheit erwachte Archie zum Bewußtsein seines schlechten Benehmens. Was hatte er nur getan? Er war in der Kirche unerhört unhöflich zu seiner Haushälterin Nichte gewesen; er hatte gleich einem Lakai und Libertin ein schönes und züchtiges Mädchen angestarrt. Es war möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß man ihn nach dem Gottesdienst auf dem Friedhof vorstellen würde, und wie würde er dann dastehen? Es gab für ihn keine Entschuldigung. Er hatte die Zeichen ihrer Scham, ihrer wachsenden Empörung bemerkt, und er war ein solcher Esel, daß er sie nicht einmal begriffen hatte. Scham lastete jetzt auf ihm, und er blickte resolut zu Mr. Torrance hinüber. Dieser brave, würdige Mann ahnte freilich nicht, während er fortfuhr, das Werk der Erlösung durch den Glauben zu erläutern, was in Wahrheit sein Amt war: nämlich zwei Kindern gegenüber bei dem uralten Spiel des Sichverliebens die Rolle des Blitzableiters zu spielen.

Anfänglich verspürte Christina eine ungeheuere Erleichterung. Es war ihr, als ginge sie plötzlich nicht mehr nackt. Sie überdachte das Geschehene. Alles wäre ganz in Ordnung gewesen, wenn sie nur nicht rot geworden wäre! Dumme Närrin! Was gab es da zu erröten, selbst wenn sie eine Zuckerpflaume gegessen hatte! Mrs. Mac Taggert, die Frau des Kirchenvorstehers von St. Enoch, tat das häufig. Und wenn er sie schon angeblickt hatte – was war natürlicher, als daß ein junger Mann das bestangezogene Mädchen in der Kirche sich ansah? Gleichzeitig wußte sie genau, daß dies nicht stimmte; sie wußte, in dem Blick hatte nichts Zufälliges, Alltägliches gelegen, und sie schätzte sich selbst höher und den Blick als eine Art Auszeichnung. Nun, ein Segen, daß er jetzt etwas anderes zum Ansehen gefunden hatte! Und bald gingen ihre Gedanken in eine neue Richtung. Es war ihrer Ansicht nach notwendig, daß sie sich durch eine besser geführte Wiederholung des Vorfalls rechtfertigte. War der Wunsch Vater des Gedankens, so wurde sie sich dessen doch nicht bewußt oder wollte es sich nicht eingestehen. Der Anstand – die Notwendigkeit, die Bedeutung des Geschehenen zu vermindern – erheischte, daß sie ein zweites Mal, ohne zu erröten, seinen Augen begegnete. In Erinnerung an dieses Erröten errötete sie von neuem und war im nächsten Augenblick eine einzige, heiße Blutwelle. Hatte jemals zuvor ein Mädchen sich so unpassend, so herausfordernd benommen? Sie hatte hier vor der ganzen Gemeinde um nichts und wieder nichts eine Szene aufgeführt! Heimlich warf sie einen Blick zu ihren Nachbarn hinüber, und siehe: Alle schienen unerschütterlich gleichgültig, ja Clem war sogar eingenickt! Und doch gewann diese eine Idee immer mehr Macht über sie: schon die gemeine Klugheit erforderte, daß sie noch einmal hinüberblicke, ehe der Gottesdienst zu Ende wäre. Ähnliches ging auch in Archie vor; er kämpfte mit der Last seiner Reue. Und so geschah es, daß in einem einzigen bebenden Moment, als der letzte Choral bekanntgegeben wurde und Torrance die Verse las und die Blätter sämtlicher Gesangbücher zwischen eifrigen Fingern raschelten, zwei heimliche Blicke antennengleich zwischen den Kirchenstühlen und über deren gleichgültige und geschäftige Insassen ausgesandt wurden und sich der geraden Linie von Archie zu Christina näherten. Jetzt trafen sie sich, saugten sich den geringsten Bruchteil einer Sekunde fest! Vorbei! Ein elektrischer Funke durchzuckte Christinas Körper, und siehe: Die Seite ihres Gesangbuches war mitten durchgerissen!

Archie stand draußen neben dem Friedhofstor, unterhielt sich mit Hob und dem Pfarrer und schüttelte allseits der auseinandergehenden Gemeinde die Hände, als Clem und Christina zur Vorstellung herangerufen wurden. Der junge Herr lüftete den Hut und verneigte sich anmutig und ehrerbietig. Christina machte dem Herrn ihren Glasgower Knicks und schritt weiter in der Richtung von Hermiston und Cauldstaneslap, eilig, nach Atem ringend, mit erhöhter Farbe und in jener seltsamen Verfassung, die ihr während des Alleinseins ein vollkommenes Glücksgefühl vortäuschte und sie jedes Ansprechen gleich einem Widerspruch verübeln hieß. Einen Teil des Weges mußte sie die Begleitung einiger Nachbarmädchen und eines tölpelhaften Jünglings erdulden; niemals waren sie ihr so fade erschienen; noch nie hatte sie sich selbst so unfreundlich gezeigt. Aber nacheinander bogen sie alle vom Wege ab, um sich nach ihren verschiedenen Bestimmungsorten zu begeben, oder blieben hinter der rasch schreitenden Christina zurück; und nachdem sie das angebotene Geleit einiger Neffen und Nichten mit scharfen Worten zurückgewiesen hatte, konnte sie endlich, wie auf Luft und von Wolken des Glücks umgeben, ungestört den Hermistoner Berg hinaufwandeln. Nahe dem Gipfel hörte sie Schritte hinter sich, eines Mannes Schritte, leicht und sehr rasch. Sie erkannte sie sofort und eilte um so hastiger vorwärts. »Wenn er's auf mich abgesehen hat, soll er um mich laufen«, dachte sie lächelnd.

Archie überholte sie gleich einem Mann, dessen Entschluß feststeht.

»Miß Kirstie«, begann er.

»Miß Christina, bitte, Mr. Weir«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich kann die Abkürzung nun mal nicht leiden.«

»Sie vergessen, daß sie in meinen Ohren freundlich klingt. Ihre Tante ist eine alte Freundin von mir, und zwar eine sehr liebe. Ich hoffe, wir werden Sie häufig in Hermiston sehen?«

»Meine Tante und meine Schwägerin kommen nicht gut miteinander aus. Nicht daß es mich was anginge. Aber während ich dort wohne, würde es nicht recht rücksichtsvoll erscheinen, falls ich meine Tante besuchte.«

»Das tut mir aber leid«, meinte Archie.

»Danke vielmals, Mr. Weir«, entgegnete sie. »Ich denke mitunter selbst, daß es recht schade ist.«

»Ach, sicherlich stehen Sie immer auf seiten des Friedens!« rief er.

»Davon würde ich nicht so ganz überzeugt sein«, sagte sie. »Ich hab' auch meine bösen Tage, wie andere Leut'.«

»Wissen Sie, in unserer alten Kirche unter unseren grauen, alten Matronen wirkten Sie wie ein Strahl Sonnenschein.«

»Ach, das sind nur meine Glasgower Kleider.«

»Ich glaube nicht, daß ich so stark unter dem Einfluß hübscher Sachen stehe.«

Sie lächelte und warf ihm einen halben Blick zu. »Sie wären nicht der einzige!« sagte sie. »Aber ich bin nur ein Aschenputtel, wirklich. Ich muß all diese Dinge wieder in meinen Koffer packen; nächsten Sonntag werd' ich so grau wie die andern sein. Es sind Glasgower Kleider, verstehen Sie, und es ginge beileibe nicht, daß man sie zu einer Gewohnheit machte. Das würde zu auffallend sein.«

Jetzt waren sie an die Stelle gelangt, an der ihre Wege sich trennten. Rings dehnten sich die alten, grauen Moore, in deren Mitte ein paar Schafe wanderten; vor ihnen sahen sie die verstreute Karawane sich den Berg nach Cauldstaneslap hinaufarbeiten, seitwärts zweigte das Hermistoner Kontingent vom Wege ab und verschwand gruppenweise hinter den Toren des Parks. In dieser Umgebung wandten sie sich einander zu, um Lebewohl zu sagen, und als sie sich die Hände schüttelten, sahen sie sich bewußt fest in die Augen. Alles ging gesittet vor sich, wie es sich gehörte; und als Christina die steile Anhöhe nach Cauldstaneslap hinaufklomm, verdrängte ein befriedigendes Gefühl des Triumphes die Erinnerung an geringe Entgleisungen und Fehler. Sie trug jetzt ihr Kleid hochgeschürzt, wie sie das auf diesem rauhen Bergweg gewöhnlich tat; als sie jedoch entdeckte, daß Archie ihr immer noch vom gleichen Flecke nachstarrte, flogen die Röcke wie durch Zauber wieder herunter. Das war eine Probe der Gesittung hier in dieser Berggemeinde, wo die Matronen im Regen mit aufgesteckten Röcken und die Mädchen barfuß durch den sommerlichen Staub wanderten, um später vor ihrem Eintritt in die Kirche tapfer auf einem Stein am Bachesrand öffentlich Toilette zu machen! Vielleicht war jene Geste ihr von Glasgow zugeweht, vielleicht bezeichnete sie auch nur ein Stadium jenes Rausches befriedigter Eitelkeit, der eine instinktive Handlung unbemerkt geschehen läßt. Er sah ihr nach! Sie erleichterte ihren Busen durch einen ungeheuren Seufzer reinster Freude und hub zu laufen an. Als sie die Nachzügler der Familie überholte, zog sie jene Nichte, die sie eben erst zurückgestoßen hatte, an sich, küßte sie, gab ihr einen Klaps und trieb sie unter anmutigem Lachen und Rufen vor sich her. Vielleicht, dachte sie, beobachte der junge Herr sie noch immer. Zufällig jedoch spielte sich die kleine Szene vor weniger wohlwollenden Augen ab, denn jetzt kam Christina an Mrs. Hob vorbei, die mit Clem und Dand des Weges marschierte.

»Wahrhaftig, bei dir spukt's, Mädel!« meinte Dandie. »Sollst dich was schämen!« erklärte die streitbare Mrs. Hob. »Ist das 'ne Art, sich auf dem Heimwege von der Kirche zu benehmen? Bist wahrhaftig nicht gescheit heute! Zum mindesten würd' ich achtgeben auf meine guten Kleider!«

»Pah!« sagte Christina und schritt allen voran, Kopf in der Luft, mit dem Tritt eines wilden Rehs den rauhen Bergpfad hinauf.

Sie war verliebt in sich selbst, in ihr Geschick, in die Luft der Berge, in das Gnadengeschenk der Sonne. Auf dem ganzen Heimwege hielt sie der Rausch ihrer himmelstürmenden Laune in Bann. Bei Tisch war sie beherrscht genug, um unbefangen über den jungen Hermiston zu reden; mit lauter Stimme und ziemlich nonchalant meinte sie, er wäre ein hübscher, junger Mann, mit wirklich artigen Manieren und dazu recht vernünftig, aber es sei doch schade, daß er so traurig aussähe. Im nächsten Augenblick setzte die Erinnerung an seine Augen in der Kirche sie in Verlegenheit. Das war jedoch alles. Diese unbedeutende Hemmung ausgenommen, entwickelte sie die Mahlzeit über einen guten Appetit und ließ die anderen aus dem Lachen nicht herauskommen, bis Gib (der vor ihnen von seinen separatistischen Andachtsübungen in Crossmichael heimgekehrt war) sie alle ob ihrer unziemlichen Heiterkeit tadelte.

Im Gehen »in sich hineinsingend«, immer noch ein Chaos froher Gedanken im Busen, trippelte sie nach oben in ihre enge, von vier kleinen Giebelfenstern erhellte Dachkammer, die sie mit einer ihrer Nichten teilte. Die Kleine, auf »Tantchens« gute Laune pochend, war ihr gefolgt und wurde höchst unzeremoniös aus der Kammer wieder hinausexpediert, um, brennend unter der Kränkung und halb in Tränen, ihren Kummer auf dem Boden im Heu zu ersticken. Immer noch summend, entledigte sich Christina ihres Putzes und barg nacheinander ihre Schätze in ihrem großen, grünen Koffer, als letztes ihr Gesangbuch. Dieses war ein schönes Stück, ein Geschenk von Mrs. Clem, in deutlicher, altmodischer Schrift auf einem Papier gedruckt, das vom langen Lagern auf dem Speicher – nicht vom Gebrauch – vergilbt war, und Christina war gewohnt, es allsonntäglich nach dem Gottesdienst in ein Taschentuch zu hüllen und es zuoberst in ihrem Koffer wegzulegen. Als sie es jetzt in die Hand nahm, öffnete es sich an der Stelle, an der das Blatt zerrissen war, und sie blieb stehen und betrachtete sinnend diesen Beweis ihrer früheren Aufregung. Da tauchten vor ihr zwei braune Augen auf, die sie, leuchtend und sehr intensiv, aus einem dunklen Kirchenwinkel anstarrten. Beim Anblick des zerfetzten Blattes sah sie blitzartig die ganze Erscheinung vor sich, die Haltung, das Lächeln, die angedeutete Geste des jungen Hermiston. »Wahrhaftig, bei mir hat's heute gespukt!« sagte sie, Dandies Worte wiederholend, und bei dem Gedanken an ein unnatürliches, vorausbestimmtes Geschick wich ihre freudige Stimmung. Sie warf sich der Länge nach auf ihr Bett und lag dort stundenlang, das Gesangbuch in der Hand, die meiste Zeit in starrem, gelähmtem Widerstreit sich sträubender Freude und unvernünftiger Furcht. Diese Furcht war abergläubisch; wieder und wieder stieg die Erinnerung an Dandies unheilvolles Wort auf, und hundert düstere, unheimliche Geschichten aus der nächsten Nachbarschaft bestätigten ihr dessen Sinn. Die Freude drang nicht bis in ihr Bewußtsein vor. Vielmehr waren es die einzelnen Glieder ihres Körpers, welche dachten und sich erinnerten und froh waren, während ihr wahres Ich im Mittelpunkt ihres Bewußtseins fieberhaft von anderen Dingen redete, gleich einem nervösen Menschen bei einem Feuer. Das Bild, bei dem sie am liebsten verweilte, war das Fräulein Christina in ihrer Eigenschaft als hübsches Mädchen von Cauldstaneslap, das in strohfarbenem Kleid, violetter Mantille und gelben Spinnwebstrümpfen alle Herzen im Sturm eroberte. Archies Bildnis dagegen wurde, wenn es auftauchte, nicht willkommen geheißen, viel weniger mit Inbrunst begrüßt; ja mitunter mußte es erbarmungsloser Kritik standhalten. Im Laufe der langen, verschwommenen Dialoge, die sie in Gedanken häufig mit allerlei Bildern, häufig auch mit schattenhaften Fragestellern hielt, mußte Archie, falls er überhaupt erwähnt wurde, die rauheste Behandlung erdulden. Da hieß es, »daß er der reinste Storch wäre«, »geglotzt hätte wie ein Kalb«; »ein Gesicht wie ein Gespenst besäße« usw. »Überhaupt, was sind das für Manieren?« fragte sie; oder: »Ich hab' ihn aber gehörig zurechtgewiesen«. »›Jungfer Christina, bitte, Mr. Weir‹, hab' ich gesagt und meine Röcke aufgerafft und damit gut.« Mit dergleichen verworrenem Geschwätz unterhielt sie sich ununterbrochen lange Zeit; dann fiel ihr Blick auf das zerrissene Blatt, und die Augen Archies sprangen aus dem Dunkel der Mauer heraus, und die geläufigen Worte stockten, und sie lag still und stumpf und dachte hingegeben an nichts und seufzte mitunter nur leise. Wäre ein Doktor der Medizin in jene Dachkammer gestiegen, er hätte sie als ein gesundes, gutentwickeltes, lebenssprühendes Mädchen diagnostiziert, das sich in momentaner Schmollstimmung auf ihr Bett geworfen hatte, und durchaus nicht als einen Menschen, der soeben erst von einer tödlichen Krankheit des Gemüts, die ihn dem Tode und der Verzweiflung nahebringen konnte, befallen war oder befallen wurde. Wäre er ein Doktor der Psychologie gewesen, er hätte in dem Mädchen eine bis zur Leidenschaft gesteigerte kindische Eitelkeit, eine Selbstliebe in excelsis entdeckt und auch verziehen, sonst aber nichts. Es ist jedoch zu bedenken, daß ich hier das Chaos schildere, das Unfaßbare in Worte fasse. Keine Linie, die nicht zu deutlich, kein Ausdruck, der nicht zu stark wäre. Man denke sich einen Wegweiser in den Bergen an einem Tage brauender Nebel; ich habe lediglich die Namen auf jenem Schilde kopiert, die Namen bestimmter, bekannter und zur Zeit vielleicht im Sonnenschein sich badender Städte, während Christina all diese Stunden gleichsam am Fuße des Zeigers weilte, bewegungslos und in fließende, blinde Nebelschwaden gehüllt.

Der Tag ging zur Neige, die Sonnenstrahlen wurden lang und schräge, als sie sich plötzlich aufraffte und das Gesangbuch, das in dem ersten Kapitel ihrer Liebesgeschichte bereits eine so wichtige Rolle gespielt, in das Taschentuch wickelte und wegschloß. Es wird behauptet, daß mangels des Auges des Mesmeristen auch ein leuchtender Nagelkopf als Ersatz dienen könne, vorausgesetzt, daß man ihn nur recht inständig betrachte. So hatte jene zerrissene Seite ihre Aufmerksamkeit an eine Sache gefesselt, die ihr andernfalls nur unbedeutend erschienen wäre und die sie sonst vielleicht bald vergessen hätte, während die unheilschwangeren Worte Dandies – vernommen, doch nicht beachtet und dennoch haften geblieben – ihren Gedanken oder besser ihrer Stimmung eine gewisse Feierlichkeit und Schicksalhaftigkeit verliehen: das Bewußtsein heidnischen Fatums, keiner christlichen Gottheit unterworfen, dunkel, gesetzlos, erhaben und unerbittlich in die Schicksale der Christenheit eingreifend. So läßt sich selbst das seltene Phänomen der Liebe auf den ersten Blick, das so einfach und so zwingend, ja einer Erschütterung unserer Lebensfundamente vergleichbar erscheint, in eine Folge zufälliger Ereignisse auflösen. Sie legte ein graues Kleid mit rosa Fichu an, betrachtete sich einen Augenblick wohlgefällig in dem kleinen, viereckigen Glas, das ihr als Toilettenspiegel diente, und schlich sich leise die Treppe hinunter und durch das schlafende Haus, das von nachmittäglichem Schnarchen widerhallte. Unmittelbar vor der Tür saß Dandie mit einem Buch in der Hand; er las jedoch nicht, sondern ehrte den Sabbat lediglich durch vollkommene Gedankenleere. Sie trat zu ihm und blieb stehen.

»Ich will ins Moor hinaus, Dandie«, sagte sie. Ihr Ton war ungewöhnlich weich, und er blickte auf. Sie war blaß, ihre Augen strahlten dunkel; nirgends mehr eine Spur von ihrer früheren Ausgelassenheit.

»Ist's wahr, Mädel? Bei dir geht's auch immer bergauf und bergab, akkurat wie bei mir«, bemerkte er.

»Was meinst du damit?« erkundigte sie sich.

»Oh, nichts Besonderes«, sagte Dandie. »Ich meine nur, du bist mir ähnlicher als die andern alle. Hast mehr von dem poetischen Temperament, wenn auch nichts von der Begabung, weiß der liebe Herrgott. Nun, 's ist im besten Fall ein heikles Geschenk. Sieh dich selber an. Beim Essen warst du ganz Sonnenschein und Blumen und Lachen, und jetzt bist du wie der Abendstern über einem See.«

Sie trank das abgedroschene Kompliment gleich Wein; es glühte in ihren Adern.

»Ich sagte schon, Dand« – sie trat näher –, »ich will hinaus ins Moor. Ich muß mal Luft schöpfen. Wenn Clem nach mir fragt, stopf ihm den Mund, nicht wahr?«

»Wie denn?« fragte Dandie. »Ich kenn' nur eine Methode, und die heißt lügen. Ich werd' ihm sagen, daß du Kopfschmerzen gehabt hättest, wenn du willst.«

»Ich hab' aber keine«, wandte sie ein.

»Schon recht«, entgegnete er, »ich sagte ja auch nur, ich würde behaupten, daß du welche gehabt hättest; und wenn du's mir hinterher abstreiten willst, bleibt's auch so ziemlich gleich; mein Ruf ist sowieso ein für allemal hin.«

»O Dand, bist du denn ein Lügner?« fragte sie und zögerte noch immer.

»Die Leut' behaupten es«, entgegnete der Barde.

»Wer behauptet es?« fuhr sie fort.

»Die, welche mich am besten kennen«, erwiderte er. »Die Mädels, zum Beispiel.«

»Aber Dand, mich würdest du doch nie belügen?« forschte sie.

»Das will ich dir überlassen, Katzel«, meinte er. »Wirst mich schon rasch genug beschwindeln, wenn du erst einen Schatz hast. Das sag ich dir, und es ist die Wahrheit; wenn du erst 'n Schatz hast, hast du ihn für gute und schlechte Tage, komme, was da will. Ich kenn' mich aus: war auch einmal so, aber der Teufel hat mir reingepatzt. Und jetzt mach, daß du fortkommst, und laß mich in Ruh; bist akkurat in meine poetische Stunde reingefahren, du unruhiger Aff.« Aber sie klammerte sich an ihres Bruders Gesellschaft, weshalb, wußte sie selbst nicht.

»Willst mir nicht einen Kuß geben, Dand?« bat sie. »Hab' dich immer so gern gehabt.«

Er küßte sie und musterte sie einen Augenblick; etwas an ihr mutete ihn fremd an. Aber er war durch und durch Frauenjäger, hegte für das ganze Weibervolk nur Verachtung, gleichmäßig mit Argwohn gepaart, und erkaufte sich seinen Weg unter ihnen gewohnheitsmäßig durch müßige Komplimente.

»So, und jetzt lauf!« sagte er. »Bist ein appetitlicher Fratz; damit gib dich zufrieden!«

So war Dandie: ein Kuß und ein Zuckerplätzchen für die Hanne – billigen Tand und seinen Segen für Marie – und dann gute Nacht und auf Nimmerwiedersehen der ganzen Bande! Dinge, die ans Ernste streiften, waren Männerangelegenheiten: das dachte und sagte er offen. Frauen durften einen nicht gefangennehmen; sie waren Kinder, die man gegebenenfalls fortscheuchte. Lediglich in seiner Eigenschaft als Connoisseur blickte er seiner Schwester flüchtig nach, als sie über die Wiese schritt. »Der Balg ist gar nicht so übel!« dachte er überrascht, denn obwohl er ihr eben erst ein Kompliment gezollt, hatte er sie doch nicht wirklich angesehen. »Nanu? Was soll das heißen?« Das graue Kleid hatte kurze Ärmel und einen fußfreien Rock und enthüllte ein paar feste, schlanke Beine in rosa Strümpfen von der gleichen Farbe wie das Tuch, das sie um die Schultern trug, und die Strümpfe glänzten im Gehen. Das war nicht das richtige Werkelstaggewand; er kannte ihre Gepflogenheiten und die aller Weiber hierzulande, keiner kannte sie besser; wenn sie nicht barfuß gingen, trugen sie dicke, wollene Strümpfe meist von fast unsichtbarem Blau, wenn nicht gar Schwarz; und beim Anblick dieses Putzes rechnete Dandie zwei und zwei zusammen. Das Busentuch war aus Seide, folglich würden die Strümpfe gleichfalls aus Seide sein; sie paßten zueinander – ergo war der ganze Anzug ein Geschenk Clems, ein kostbares Geschenk, keines, das man spät an Sonntagnachmittagen durch Sumpf und Dornen spazierentrug. Er stieß einen Pfiff aus. »Mein sauberes Püppchen, entweder du bist ganz verdreht, oder es geht hier was vor«, bemerkte er und ließ damit den Gegenstand fallen.

Sie ging anfänglich langsam, dann immer rascher und in geraderer Linie auf Cauldstaneslap zu, einen Paß zwischen den Bergen, dem der Hof seinen Namen verdankte. Der Paß öffnete sich gleich einer Tür zwischen zwei runden Hügelkuppen; durch ihn führte der Abkürzungsweg nach Hermiston. Auf der anderen Seite fiel er stracks ab in das Teufelsmoor, ein ziemlich großes, morastiges Tal zwischen den Höhen, voller Quellen, verkrüppeltem Wacholder und Tümpeln, in denen das schwarze Torfwasser schlummerte. Hier gab es keine Aussicht. Man hätte ein halbes Jahrhundert lang auf des Betenden Webers Stein sitzen können, ohne ein einziges Lebewesen zu sehen, außer zweimal alle vierundzwanzig Stunden die Kinder von Cauldstaneslap auf dem Schulwege und gelegentlich einen Schäfer samt seinem Clan Schafe, oder die Vögel, die schreiend und schrill pfeifend die Quellen belagerten. Sowie Kirstie daher den Eingang des Passes durchschritten hatte, sah sie sich von Einsamkeit umfangen. Sie blickte ein letztes Mal nach dem Hofe zurück. Immer noch lag er verlassen, mit Ausnahme von Dandie, den man jetzt etwas in seinen Schoß kritzeln sah, denn endlich war der Muse ersehnte Stunde gekommen. Von dort kreuzte sie in raschem Schritt das Moor und erreichte das andere Ende, wo ein träger Bach entspringt, den der Weg nach Hermiston in seinem ersten Abschnitt zu Tal geleitet. Von dieser Seite aus gewann sie einen umfassenden Rundblick über die ganze Heidefläche, die stellenweise vom Winterfrost immer noch gelblich und rotbraun schimmerte, mit dem kühn sie durchschneidenden Pfad samt einzelnen Birkengruppen am Bachesrand und – zwei Meilen fern im Vogelflug, von jungen Pflanzungen und Einfriedungen umgeben – den in der Abendsonne blitzenden Fenstern von Hermiston.

Hier setzte sie sich und wartete und spähte lange Zeit nach den fernen, hellen Scheiben hinüber. Es freute sie, einen so weiten Blick zu haben, schoß es ihr durch den Kopf. Es freute sie, das Hermistoner Herrenhaus zu sehen. »Menschen, Nachbarn«, und in der Tat unterschied sie eine menschliche Einheit, vielleicht den Gärtner, der dort den Kiesweg herunterschlenderte.

Als die Sonne untergegangen war und die östliche Moorfläche ganz in klarem Schatten lag, gewahrte sie eine männliche Gestalt mit äußerst unregelmäßigen Schritten, jetzt laufend, dann wieder innehaltend und unverhohlen zögernd, den Pfad hinaufkommen. Sie beobachtete ihn anfänglich in völliger Gedankenleere. Sie hielt ihre Gedanken an, wie ein Mensch den Atem anhält. Dann, endlich, gestattete sie sich, ihn zu erkennen. »Er wird nicht hierherkommen, es kann nicht sein; es ist unmöglich.« Und eine unterdrückte, würgende Spannung bemächtigte sich langsam ihrer. Aber er kam wirklich; sein Zaudern war völlig dahin, sein Schritt wurde fest und rasch; es blieb kein Raum für Zweifel. Statt dessen erhob sich sogleich die Frage: Was sollte sie tun? Was nützte es schon, daß ihr Bruder selbst ein Grundbesitzer war, daß man von gelegentlichen Zwischenheiraten sprach und auf die Verwandtschaft pochte wie Tante Kirstie? Der Unterschied in ihrer sozialen Stellung war schneidend; Schicklichkeit, Klugheit, alles, was sie gelernt hatte, was sie wußte, hieß sie fliehen. Allein der Becher des Lebens, der sich ihr bot, war gar zu köstlich. Einen kurzen Augenblick erkannte sie deutlich die Frage und traf endgültig ihre Wahl. Sie stand auf und zeigte ihre Umrisse eine Sekunde lang klar gegen den Himmel in dem Bergeinschnitt; in der nächsten Sekunde floh sie zitternd und setzte sich, glühend vor Aufregung, auf des Betenden Webers Stein. Sie schloß die Augen und rang, betete um Fassung. Die Hand in ihrem Schoß bebte, sinnlose, nichtige Reden drängten sich in ihrem Hirn. Was gab es nur, sich so anzustellen! Sie war sich selber doch Schutz genug! Was konnte es schaden, mit dem jungen Herrn zusammenzutreffen? Es war im Gegenteil das Beste, was geschehen konnte. Sie würde ein für allemal die richtige Entfernung zwischen ihnen abstecken. Mählich, ganz allmählich hörten die Räder ihres Seins auf, wie toll zu kreisen, und sie saß in passiver Erwartung, eine stille, einsame Gestalt mitten im grauen Moos. Ich sagte, sie sei keine Heuchlerin gewesen, aber darin tat ich unrecht. Nicht einen Augenblick gestand sie sich selber zu, daß sie den Berg hinaufgekommen wäre, um Archie zu treffen. Und vielleicht wußte sie es wirklich nicht, vielleicht geschah es einfach, wie der Stein zur Erde fällt. Denn die Schritte der Jugend sind in der Liebe, besonders bei Mädchen, instinktiv und unbewußt.

Inzwischen kam Archie eilig näher; er zum mindesten suchte bewußt ihre Nähe. Der Nachmittag war zu Asche geworden in seinem Munde; die Erinnerung an das Mädchen hatte ihn am Lesen verhindert und ihn wie mit Stricken gezogen, und endlich bei beginnender Abendkühle hatte er mit ersticktem Ausruf nach seinem Hut gegriffen und sich auf den Heideweg nach Cauldstaneslap gemacht. Er erwartete nicht, sie hier zu treffen; er wählte diese blasse Möglichkeit ohne Hoffnung auf Erfolg, lediglich um seine eigene Unruhe zu bekämpfen. Um so größer war daher seine Überraschung, als er den Hang hinaufklomm und das Teufelsmoor erreichte, hier auf des Toten Webers verwittertem Stein als Erfüllung all seiner Wünsche die zierliche, frauliche Gestalt in dem grauen Kleide und dem rosa Brusttuch zu finden, klein, hingekauert, verloren und grenzenlos einsam in dieser Öde. Was noch vom Winter sprach, umgab sie rings mit rostigbraunem Schimmer, und alle Frühlingsverheißungen hatten die zarten, frischen Farben der kommenden Zeit angelegt. Selbst das unwandelbare Antlitz des Grabsteins verriet den Wandel des Jahres: das Moos in der geritzten Inschrift erneuerte sich in funkelnden Juwelen von Grün. Dank eines nachträglichen, echt künstlerischen Einfalls hatte das Mädchen den rückwärtigen Zipfel ihres Tuches über den Kopf gezogen, daß es jetzt eine kleidsame Folie für ihr lebhaftes und doch nachdenkliches Gesicht bot. Sie saß, die Füße hochgezogen, und stützte sich auf den rechten Arm, der kräftig und rund in einer schlanken Handfessel auslief und im schwindenden Lichte glänzte. Ein kühler Schauer überlief den jungen Hermiston. Ihm kam der Gedanke, daß er sich jetzt auf eine ernste, um Tod und Leben gehende Angelegenheit einlasse. Es war ein erwachsenes Weib, dem er sich hier näherte, begabt mit geheimnisvollen Kräften und Reizen, mit dem ewigen Schatz ihres Geschlechts, und er war nicht besser und nicht schlechter als der Durchschnitt seines Alters und seiner Art. Eine gewisse Zartheit war ihm eigen, die ihn bisher rein erhalten und die ihn (ohne daß er oder sie es ahnte) nur um so gefährlicher machte, sobald sein Herz ernstlich gesprochen hatte. Seine Kehle war trocken, als er sich ihr näherte, aber die bittende Süße ihres Lächelns stand, ein Schutzengel, zwischen ihnen beiden.

Denn sie wandte sich ihm zu und lächelte, jedoch ohne sich zu erheben. In dieser Art, ihn als Kavalier zu begrüßen, lag eine Nuance, die beiden entging, ihm sowohl, der ihren Gruß einfach liebenswürdig und anmutig wie sie selbst fand, als auch ihr, die sie trotz ihres raschen Denkens den Unterschied zwischen dem Aufstehen, um den jungen Herrn zu begrüßen, und dem sitzenden Gruß an den erwarteten Verehrer nicht erfaßte.

»Geht Ihr nach Westen, Hermiston?« fragte sie, indem sie ihm nach der herrschenden Sitte den Titel seines Guts verlieh.

»Jawohl«, sagte er ein wenig heiser, »aber ich glaube, mein kleiner Spaziergang ist jetzt zu Ende. Geht es Ihnen wie mir, Fräulein Christina? Mich duldete es nicht zu Hause. Ich kam hierher, um Luft zu schöpfen.«

Er ließ sich auf dem anderen Ende des Grabsteins nieder und betrachtete sie, forschend, was wohl hinter ihr stecke. Diese Frage war unendlich wichtig für sie beide. »Ja«, meinte sie, »auch ich konnte kein Dach über dem Kopf vertragen. Es ist so eine Gewohnheit von mir, wenn's dämmert und es ruhig und kühl ist, hierherzukommen.«

»Das war auch meiner Mutter Gewohnheit«, sagte er ernst. Halb schreckte ihn die Erinnerung, als er ihr Worte verlieh. Er blickte sich um. »Seither bin ich kaum hiergewesen. Es ist friedlich hier«, sagte er, tief Atem schöpfend.

»Ja, ganz anders als in Glasgow«, entgegnete sie. »Ein trauriger Ort, Glasgow! Aber was für einen Tag und welch herrlichen Abend hab' ich mir für mein Heimkommen ausgesucht!«

»Ja, es war wahrhaftig ein wunderbarer Tag«, sagte Archie. »Ich glaube, ich werde ihn nicht vergessen, bis ich sterbe. An Tagen wie heute – ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht – erscheint alles so flüchtig, so gebrechlich und so wundervoll, daß ich Angst habe, mit dem Leben in Berührung zu kommen. Wir sind gar so kurze Zeit hier auf Erden – und all die alten Leute vor uns – die Rutherfords von Hermiston, die Elliotts von Cauldstaneslap –, alle, die vor kurzem erst hier herumritten und viel Geschrei in diesem stillen Winkel machten – und liebten und heirateten –, wo sind sie jetzt? Es ist eine tödliche Banalität, die ich da sage, aber schließlich sind auch die großen poetischen Wahrheiten Banalitäten.«

Er war am Werk, sie zu prüfen, halb unbewußt, ob sie ihn wohl verstehen würde, um zu erfahren, ob sie nur ein Tier wäre, in die Farben der Blumen gekleidet, oder auch eine Seele besäße, ihr unvergänglichen Liebreiz zu verleihen. Sie, ihrerseits, wartete beherrscht und frauengleich auf eine Gelegenheit, sich auszuzeichnen und seine Stimmung widerzuspiegeln, wie immer diese auch sein mochte. Der dramatische Künstler, der schlummernd oder nur halb wach in fast allen Menschen ruht, war in ihr zu göttlicher Raserei erweckt, und der Zufall war ihr günstig. Sie warf ihm einen zurückhaltenden, dämmrigen Blick zu, wie er zu dieser Stunde und zu seinem Gedankengang paßte; heiliger Ernst leuchtete aus ihr gleich den Sternen im purpurnen Westen; und von der starken, aber gebändigten Erschütterung ihres ganzen Wesens ging ein Schauer in ihre Stimme über, der auch in ihren nebensächlichsten Worten widerklang.

»Erinnert Ihr Euch an Dandies Lied?« fragte sie. »Ich glaube, er hat damit ausdrücken wollen, was Ihr soeben dachtet.«

»Nein, ich habe es niemals gehört«, meinte er. »Wollen Sie es mir nicht aufsagen?«

»Es ist aber gar nichts ohne Melodie«, entgegnete Christina.

»Dann singen Sie's mir doch vor«, bat er.

»Am heiligen Sonntag? Das ginge doch beileibe nicht, Mr. Weir.«

»Ich fürchte, ich nehm' es mit dem Sonntag nicht gar zu ernst, und hier ist ja auch niemand, zuzuhören, höchstens der arme Tote dort unter dem Stein.«

»Nicht daß ich das wirklich so meine«, fuhr sie fort. »Meiner Ansicht nach ist das Lied genauso ernst wie ein Psalm. Soll ich's Ihnen also vorsummen?«

»Ich bitte darum«, sagte er und rückte näher an sie heran, ganz Ohr.

Sie setzte sich aufrecht, wie um zu singen. »Ich kann es Ihnen doch nur vorsummen«, lächelte sie. »Ich möchte am Sonntag nicht laut singen. Ich glaube, die Vögel würden es Gilbert zutragen. Es handelt von den Elliotts«, fuhr sie fort, »und ich meine, es gibt in all den Gedichtbüchern nur wenige Dinge, die schöner sind, obwohl Dand niemals gedruckt worden ist.« Und sie hub in den weichen klaren Schwingungen ihrer gedämpften Stimme zu singen an; jetzt sank die Stimme fast zu einem Flüstern herab, jetzt wieder, bei den Tönen, die ihr besonders gut lagen und auf die Archie bald mit wachsender Bewegung wartete, schwoll sie an:

Sie ritten im Regen in den Zeiten, die gewesen,
In Regen und Wind und Luft;
Sie schrien beim Gelage und schlugen sich im Hage,
Jetzt ruhen sie stumm in der Gruft.
Die alten, alten Elliotts, todeskalten Elliotts,
Harten, heißen Elliotts alter Zeit.

Während dieser ganzen Zeit blickte sie fest vor sich hin, mit graden Knien, die Hände im Schoß und den Kopf hoch aufgerichtet. Ihr Vortrag war durchweg bewundernswert; hatte sie ihn nicht unter des Autors Fuchtel von ihm selbst gelernt? Als sie schwieg, wandte sie Archie ein weiches, strahlendes Gesicht zu, Augen, die im Dämmerlicht matt leuchteten und verschwammen, und sein Herz schlug heftig und flog ihr in Mitleid und grenzenloser Sympathie entgegen. Dies war die Antwort auf seine Frage. Sie war ein menschliches Wesen, empfänglich auch für die Tragik des Lebens; ja, Tragik, Musik und ein großes Herz lebten in diesem Mädchen.

Instinktiv erhob er sich; sie folgte, denn sie sah, sie hatte einen Sieg davongetragen, wollte den Eindruck verstärken und war klug genug, nach einem Erfolge zu fliehen. Jetzt gab es nur noch Nichtigkeiten auszutauschen, aber ihre leisen, bewegten Stimmen heiligten auch diese in ihrem Gedächtnis. In dem wachsenden Grau des Abends sah er ihre Gestalt auf dem gewundenen Pfad durch das Moor entschwinden, sah sie ein letztes Mal sich umdrehen und ihm winken, dann hatte der Einschnitt der Berge sie verschluckt, und es war ihm, als habe sie etwas aus der Tiefe seines Herzens mitgenommen. Doch wahrlich, er hatte dafür eine Gegengabe empfangen, etwas, das dauern sollte. Aus den Tagen seiner Kindheit war ihm ein Bild seiner Mutter haftengeblieben, halb verblaßt durch die Zeit und durch ein Heer neuer Eindrücke, das Bild, wie sie ihm mit zittrigem Ernst und häufig unter strömenden Tränen des Betenden Webers Geschichte erzählte, hier auf dem Schauplatz seiner kurzen Tragödie und langen Rast. Und jetzt gab es ein Gegenbild dazu; er sah und würde bis in alle Ewigkeit Christina sehen, wie sie in den grauen Farben des Abends auf dem nämlichen Grabmal hockte, anmutig, zierlich, vollkommen wie eine Blume, und auch sie sang.

Vom Unglück ferner Zeiten,
Von Schlachten, altersgrau,

von ihren gemeinsamen, längst verstorbenen Ahnen, von deren rohen Kriegen und Waffen, mit ihnen verscharrt, von jenen seltsamen Wechselbälgen, ihren Nachkommen, die noch eine kleine Spanne Zeit hier verweilen würden, um dann wie jene zu vergehen und vielleicht auch von Fremden zur Dämmerstunde besungen zu werden. Dank einer unbewußten, zärtlichen Gefühlswallung stellte er die beiden Frauen Seite an Seite in den Heiligenschrein seines Gedächtnisses. Ja, in jener empfindsamen Stunde schössen ihm Tränen in die Augen, wenn er der einen oder anderen gedachte; und das Mädchen rückte aus der Kategorie der leuchtenden und reizvollen Erscheinungen in die Region der Dinge auf, die so ernst waren wie das Leben selbst und der Tod oder das Bild seiner verstorbenen Mutter. So spielte allseits und in jeder Richtung das Schicksal mit diesen armen Kindern sein kunstvolles Spiel. Die Generationen waren vorbereitet, die Schmerzen vorherbestimmt, ehe noch der Vorhang sich über dem dunklen Drama erhob.

Im nämlichen Augenblick, da sie seinen Blicken entschwand, öffnete sich vor Kirsties Augen das bechergleiche Tal, in dem ihres Bruders Hof lag. Sie sah in einer Tiefe von etwa fünfhundert Fuß, wie sich das Haus mit Kerzen schmückte – ein deutlicher Wink, daß sie sich beeilen müsse. Denn Kerzen wurden an Sonntagabenden nur zu jener Familienandacht entzündet, welche die unvergleichliche Langeweile des Tages beschloß und die Entspannung des Abendessens heranrückte. Sie wußte, Robert würde jetzt schon am Kopfende des Tisches sitzen und den Text auswählen; denn es war Robert in seiner Eigenschaft als Familienpriester und -richter und nicht der begabte Gilbert, der bei diesen Gelegenheiten amtierte. Sie eilte daher so rasch wie möglich den steilen Abhang hinunter und kam atemlos vor der Tür an, gerade als die drei jüngeren Brüder, frisch ihrem Schlummer entrissen und umgeben von einer Horde kleiner Neffen und Nichten, in der Abendkühle schwatzend auf das Zeichen zur Andacht warteten. Sie hielt sich zurück; sie hatte wenig Lust, deren Aufmerksamkeit auf ihr verspätetes Eintreffen und ihren keuchenden Atem zu lenken.

»Kirstie, diesmal bist grad noch zurechtgekommen«, meinte Clem. »Wo warst du nur?«

»Ach, nur so 'n bißchen spazieren«, sagte Kirstie.

Und sie fuhren fort, über den amerikanischen Krieg zu sprechen, ohne der Ausreißerin zu achten, die zitternd vor Glück und im Bewußtsein ihrer Schuld neben ihnen im Schutze der Dunkelheit sich verkroch.

Das Zeichen ertönte, und die Brüder gingen, umdrängt von Hobs Kinderschwarm, einzeln ins Haus.

Aber Dandie blieb als letzter zurück und ergriff Kirsties Arm. »Seit wann geht Ihr in rosa Strümpfen spazieren, Mamsell Elliott?« fragte er schlau.

Sie blickte an sich herab, von Kopf bis Fuß eine einzige Blutwelle. »Ich muß reinweg vergessen haben, sie zu wechseln«, sagte sie und begab sich jetzt ihrerseits voller Unruhe zum Gottesdienst, hin und her gerissen zwischen Sorge, ob Dandie auch nicht in der Kirche ihre gelben Strümpfe bemerkt und sie über einer greifbaren Lüge ertappt hätte, und Scham, daß sie so bald seine Prophezeiung wahr gemacht. Sie erinnerte sich seiner Worte; wie es ihr ergehen würde, wenn sie erst einen Schatz hätte, und daß sie ihm dann in guten und schlechten Zeiten anhängen würde. »Habe ich denn jetzt wirklich einen Schatz?« dachte sie mit heimlichem Glücksschauer.

Und im Verlaufe der Andacht, bei der es ihr Hauptbestreben war, vor der gleichgültigen Madam Hob ihre rosa Strümpfe zu verbergen – und beim Abendbrot, während sie lediglich zu essen vorgab und strahlend und verlegen bei Tische saß – und später, als sie die anderen verlassen und sich in ihr Zimmer begeben hatte, wo sie mit ihrer schlafenden Nichte allein war und endlich den Panzer gesellschaftlicher Formen ablegen konnte – klangen die gleichen Worte in ihr nach: das nämliche, tiefe Glück, das Bewußtsein einer völlig veränderten, wiedergeborenen Welt, eines Tages, den sie im Paradies verbracht, und einer Nacht, in der sich ihr der Himmel erschließen sollte. Diese ganze Nacht war es ihr, als glitte sie auf einem seichten Strom des Schlafens und Wachens zwischen den Grotten Elysiums dahin; diese ganze Nacht pflegte sie in ihrem Herzen jene köstliche Hoffnung; und als sie diese gegen Morgen in tieferer Bewußtlosigkeit begrub, geschah es nur, um im ersten Augenblick des Erwachens von neuem nach jenem Regenbogen des Gedankens zu greifen.


 << zurück weiter >>