Ludwig Steub
Mein Leben
Ludwig Steub

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Nachdem die von Paul Lindau redigirte Zeitschrift »Nord und Süd« vorausgegangen, hat auch Herr S. Schottlaender in Breslau für zeitgemäß befunden, mein alterndes Haupt einem mir größtentheils unbekannten Publikum vorzustellen, und nachdem ich, was mich wohl bald reuen wird, auf diesen Gedanken eingegangen bin, so muß allerdings auch diesem Bildniß eine biographische Erläuterung beigegeben werden, um denen, die es betrachten, deutlich zu machen, wen sie eigentlich vor sich haben.

Geboren ward ich den 20. Februar 1812 zu Aichach in Oberbayern, einem freundlichen Städtchen in der Nähe des Stammschlosses Wittelsbach, mit vielen Brauereien und wenigstens Einer Schule. Vater und Mutter stammten aus Ravensburg, der ehemals freien Reichsstadt im schwäbischen Kreise, nicht weit vom Bodensee. Des ersteren Vater und Großvater waren Kupferschmiede gewesen und letzterer war aus Schruns, dem jetzt viel besuchten Hauptorte des vorarlbergischen Montavons, gekommen. Von da aus ziehen nämlich alle Jahre um Lichtmeß die bekannten Kinderkaravanen, lauter halbgewachsene Buben, nach jener ehemaligen Reichsstadt, werden dort für den Sommer als Hirten eingedungen und im Spätherbst wieder in die Heimath entlassen. Manches »Bübli« ist aber schon hängen geblieben, hat ein Handwerk gelernt, eine Meisterstochter geheirathet und ist ein reputirlicher Mann geworden. Dieses scheint auch meinem Urgroßvater begegnet zu sein, von dem übrigens keine Nachrichten erhalten sind. Das Montavoner-Thal hat aber vor dreihundert Jahren noch romanisch gesprochen und die Deutschen, die sich dort eingesprengt fanden, sind noch früher als »Walser« aus dem schweizerischen Wallis eingewandert. Da nun die deutschen Walliser nach Albert Schott burgundischen Stammes sind, so gebe ich mich in guten Stunden oft für einen Burgunder aus, wenn es mir auch nicht ferne liegt, mich, wegen der schwäbischen Abkunft der Eltern, mitunter für einen halben Schwaben zu halten.

Der Name Steub kommt übrigens im Montavon jetzt noch als Steu vor, was so viel als Stein bedeuten soll.

Mein Vater wollte sich eigentlich dem Lehrfache widmen, hatte auch schon mehrere Jahre zu Ravensburg Schule gehalten, war aber in der kurzen Zwischenzeit, da diese Stadt bayerisch war (1803–1810), in eine königliche Kanzlei getreten und hatte sich da so brauchbar erwiesen, daß er im Jahre 1808 zum »Stiftungsadministiator« in Aichach ernannt wurde. Die Stiftungen waren damals noch alle unter königlicher Verwaltung und für die eines größeren Bezirkes wurde daher je ein Administrator aufgestellt.

Das Leben in Aichach hatte keinen hohen Zug. Der Gehalt war klein, nach einander kamen acht Kinder zur Welt und diese waren sehr häufig krank, denn die sumpfige Umgebung des Städtchens erzeugte eine Malaria, die uns Allen zusetzte. Vier Geschwister starben in jungen Jahren und der Landgerichtsarzt, der vortreffliche Dr. Schefenacker, kam fast täglich in's Haus. Ich war etwa sechs Jahre alt, als er mir an mein Krankenlager ein altes Kräuterbuch brachte, in dem ich griechische Buchstaben, vielmehr Wörter, entdeckte. Er erklärte mir nun Buchstaben und Wörter und von Stund an empfand ich eine Vorliebe für das Griechische, für die Hellenen, ihre Sprache und ihre Geschichte, die wohl meiner Lebtage nicht mehr vergehen wird.

Die Kinderjahre in Aichach sollen aber hier nicht ausführlicher behandelt werden. Einige Erinnerungen aus jener schönen Zeit sind in's erste Capitel der »Deutschen Träume« verwoben.

Nachdem im Jahre 1818 die bayerische Verfassungsurkunde erschienen war, wurde die Verwaltung der Stiftungen den Gemeinden übergeben und die königlichen Administrationen hatten ihr Ende erlebt. Mein Vater ward nun 1822 zur Finanzkammer in Augsburg versetzt und mir ergab sich so die Gelegenheit, mich ein Jahr lang in dieser Stadt herumzutummeln. Sie gefiel mir ungemein und bot dem jungen Beschauer gar viele Gegenstände der Bewunderung. Das großartige Rathhaus, der Augustusbrunnen, der alte Dom, das Zeughaus mit seinen ungethümen Geschützen, die stattlichen Thore, die Stadtgräben mit ihren Schwänen und schattigen Alleen – das waren lauter unauslöschliche Eindrücke. Da ich schon in Aichach beim Stadtcaplan einigen Unterricht im Lateinischen genossen hatte, so konnte ich gleich in die zweite Vorbereitungsklasse eintreten.

Für meine Jugend hatte ich schon ziemlich viel gelesen. Als einst eine Schilderung der Schlacht von Marathon und in dieser dictirt wurde, ein Athener habe ein fliehendes Schiff mit der Hand zurückzuhalten gesucht, letztere aber durch einen persischen Beilschlag verloren, sagte ich leise: »Das steht im Herodot!« was den Lehrer sehr überraschte. Ein ander Mal, als derselbe in die Klasse hineingerufen: »Wer weiß, wie jetzt Athen genannt wird?« hatte ich von allen allein »Setines« geantwortet, was ihm die Worte in den Mund legte: »Dieser Junge hat mehr gelesen als ihr alle miteinander!«

Sonst verging dies Jahr ganz munter. Die Schule bot in der wohlhabenden, mit allerlei reichen Leuten und angesehenen Patrizierfamilien besetzten Stadt ein sehr einnehmendes Bild. Es waren meistenteils gut gekleidete, wohlgezogene, freundliche Jungen, mit denen ich mich sehr gut vertrug. Unsere Schulstube war im ehemaligen St. Annenkloster und ging auf einen geräumigen Hof. Da sah ich eines Tages auch den späteren Hellenophagen Ph. Jakob Fallmerayer, der zwanzig Jahre darnach mein guter Freund geworden, mit dem damals noch sehr unbedeutenden, bei seiner Mutter in Augsburg wohnhaften Prinzen Louis, später Napoleon III., in eifrigem Gespräche.

Als dies Jahr zu Ende ging, stand uns aber ein neuer Umzug bevor. Mein Vater war nämlich zum Rentenverwalter der Universität München ernannt worden und mußte demgemäß seinen Wohnsitz in der Hauptstadt nehmen. Der Gehalt hatte sich dabei um ein Merkliches erhöht, und für ihn, der früher wohl ab und zu an heimlichen Nahrungssorgen gelitten, kamen jetzt schönere Zeiten.

In München ging es nun wieder in die Lateinschule, die sich aber von der, die ich eben verlassen hatte, wesentlich unterschied. Statt etlicher sechzig Schüler zählten wir nun gegen hundert. In Augsburg überwog das wohlgezogene, protestantische, hier das oft ungeschlachte katholische Element. Es waren zur größeren Hälfte Bauernjungen, die vom Lande hereingekommen, um mit Freitischen und anderen Unterstützungen »auf Geistlichkeit« zu studiren. Da in Altbayern ein Junge, der sonst zu gar nichts taugt, am liebsten »zur Studi« bestimmt wird, so hatten wir eine Menge Mitschüler, die für die Wissenschaft nicht das Mindeste zu versprechen schienen.

War nun der Lehrer gewissenhaft, so verging die Hälfte der Schulzeit mit den Schwachen, die er nachholen und mit denen er immer wieder von vorne anfangen mußte. Dies wirkte so abspannend und ermüdend, daß ich drei Viertheile der Lehrlinge gerne in die Wüste gejagt hätte. Einer war aber darunter, der jüngste und talentvollste von allen, ein Baron Josef von Tautphoeus, der Sohn eines Postmeisters in Lindau, der damals schon den Homer und andere sehr ernste Bücher über Naturwissenschaft und Nationalökonomie las und in jedem Jahre der erste war. Man sagte ihm eine enorme Zukunft voraus. Wir wurden und blieben sehr gute Freunde, bis er einmal am Ende der Universitätszeit plötzlich verschwand und zuletzt in Rio Janeiro auftauchte, wo er ein Erziehungsinstitut errichtet haben sollte. Er schrieb aber nie mehr eine Zeile nach Europa und es ist bald fünfzig Jahre, daß weder seine Eltern, die jetzt auch schon lange gestorben, noch seine Verwandten ein Wort von ihm gehört haben.

Unter unseren Lehrern ragte damals namentlich Leonhard Spengel hervor. Er hatte in jugendlichem Alter ein paar Lehrjahre in Berlin verlebt und alle Manieren wie die Sprache eines jungen Berliners mitgebracht. Er war geistreich, keck, wegwerfend, aber immer liebenswürdig. Um den Lehrplan kümmerte er sich sehr wenig, sondern that viel lieber, was ihm sein Genius befahl. Er fing die Weltgeschichte bald von hinten, bald von vorne an. Eine grammatische Frage konnte uns oft Tage lang beschäftigen und dann übersprangen wir wieder zwanzig andere. Der Zweifel, ob in der ersten Horazischen Ode Vers 6 evehere oder evehit zu lesen, wurde einst drei Tage lang auf's Eingehendste erörtert, aber doch nicht endgiltig gelöst. Einmal bekamen wir eine Abhandlung über römisches Geldwesen, über Agio, Rabatt, Disconto, Provision u. dgl. zu übersetzen, eine Aufgabe, die uns trotz aller Wörterbücher zur Verzweiflung brachte, aber doch ausging »wie das Hornberger Schießen«, da uns der Lehrer zwar über unsere einfältigen Arbeiten schimpfte, aber doch nie sagte, wie sie eigentlich hätten sein sollen. Das Jahr, das wir bei Leonhard Spengel zugebracht, war immerhin das anregendste und belehrendste in unserer Schulzeit. Er selbst wurde später Professor an der Hochschule zu München, dann nach Heidelberg und von da wieder nach München berufen, wo er vor wenigen Jahren starb.

Auch unser Dichter und Historiker, Dr. Michael Söltl, später Hausarchivar und geheimer Hofrath, jetzt noch in hohem Alter und hoher Achtung zu München lebend, war einst mein Lehrer, doch nicht länger als ein halbes Jahr, da er im nächsten Herbste schon eine andere Bestimmung erhielt. Auch er zeigte sehr guten Willen und strebte nach idealen Zielen, erlebte aber mit unseren Bettelstudenten viel Verdruß. Auch er suchte unsere ungefügen Sitten möglichst zu mildern und uns durch sein eigenes Beispiel zu Dichtern heranzubilden, fand jedoch wenig oder gar keine Nachfolge.

Sonst war an diesem »alten Gymnasium« eben nicht viel zu lernen – indessen was die öffentlichen Schulstuben nicht boten, das suchte ich mir zu Hause im stillen Kämmerlein selbst zu verschaffen. Von meinem zwölften Jahre an legte ich in der That einen rühmlichen Fleiß aus. Namentlich war mir die Sprache der Griechen an's Herz gewachsen. Mit vierzehn Jahren hatte ich die Odyssee und die Iliade durchgepflügt, darauf den idyllischen Theokrit, Herodot und Xenophon kennen gelernt. Im Lateinischen geschah weniger, aber sehr viel Zeit wurde auf die neueren Sprachen verwendet. Im Französischen hatte mich mein lieber Vater schon in Aichach ziemlich weit gebracht; jetzt fing ich englisch, italienisch, spanisch, portugiesisch, später auch dänisch und schwedisch an.

Lehrer mochte und verlangte ich nicht; um ihnen zu entkommen, hatte ich z. B. in Arnolds englischer Grammatik das ganze vielleicht dreißig Seiten lange Capitel von der Aussprache Wort für Wort durchgearbeitet, was sich später, als es zum Treffen kam, ganz ausreichend erwies. Die französischen Bücher, die ich damals las, kann ich nicht mehr nennen, doch weiß ich, daß ich Fénélons Télémaque, den ich unter meinem Vater zu übersetzen angefangen, entschieden verwarf und nie zu Ende brachte. Im Italienischen kamen das befreite Jerusalem, und im Spanischen Don Quixote, im Portugiesischen das Leben des Don Joao de Castro an die Reihe. Etliche Jahre später warf ich mich auch auf Lord Byron, zunächst auf seinen Childe Harold, der mir ungemein gefiel, und dem ich dann seine andern Werke folgen ließ. Ich bin damals starker Byronist geworden, vielleicht nicht zu meinem Vortheile. Wir Kinder waren nämlich in Aichach, in Augsburg und in München alle sehr schüchtern erzogen worden, und diese Erziehung wirkte noch merklich nach, als wir zu unseren Tagen gekommen waren und in der Welt »auftreten« sollten. Vor gelehrten, hochgestellten, berühmten Männern hatte ich lange hin eine erhebliche Scheu. Einem Professor an der Hochschule einen Besuch abzustatten, kostete mich z. B. eine solche Ueberwindung, daß ich manchen ganz unbesucht ließ. Zu dieser anerzogenen Blödigkeit kam nun die poetische Misanthropie, die mehr oder weniger künstliche Welt- und Menschenverachtung des edlen Lords, die mir ein Recht zu geben schien, wenn ich den Sterblichen, die mehr als ich bedeuteten, aus dem Wege ging. Ich wurde auch zu Hause ganz gloomy, was meinen Eltern gar nicht sehr gefallen wollte. Nebenher ging aber immerhin eine Laune, die nur wenig geschürt zu werden brauchte, um recht lustig aufzuflackern; oft auch zeigte sich eine plötzliche Keckheit, die mich selbst überraschte. Jenes schüchterne Wesen verlor sich zum guten Theile später in Griechenland, aber die letzte Scheu vor der Öffentlichkeit verschwand doch erst nach langen Jahren, erst als ich öffentlich zu reden anfangen mußte.

Ich wundere mich jetzt oft, was ich damals in jene wenigen sieben Jahre alles hineinzupfropfen wußte. Ich saß nicht allein zu Hause über den Büchern, sondern war auch ein Botaniker, der jeden schönen Sommerabend im englischen Garten herumstreifte, um Blumen ins Herbarium zu sammeln, nebenbei auch mutterseelenallein auf dem einsamen See herum zu schiffen. Dieser See, den damals Niemand beachtete, trägt jetzt – so geht die Zeit voran – eine zahlreiche Flotille, und ist namentlich an Sonn- und Feiertagen mit glücklichen Menschen in farbigen Nachen dicht besät. Auf demselben See trat ich im Winter als eifriger Schlittschuhläufer auf. Auch geigen lernte ich vielleicht fünf Jahre lang, auf Andringen meines Vaters, der ein sehr guter Musiker war, aber aus mir keinen machen konnte.

Mächtiger als alle diese Ziele zog mich die Kunst an. Ich hatte schon in den Kinderjahren auf den Bilderbogen etliche hundert Soldaten und Türken übermalt, in Aichach auch vom Stadtmaler Unterricht im Zeichnen erhalten, dann im Gymnasium die Zeichnungsstunde besucht, aber immer lieber ohne Lehre und Aufsicht für mich selbst geschaffen, endlich gar in Oel zu malen gewagt und wenigstens zu meiner Zufriedenheit mein eigenes Conterfei in die Welt gesetzt. Zuletzt erhielt ich wieder unerbeten einen Lehrer, das trockenste, langweiligste Menschenkind, das ich je kennen gelernt, das mich für die Kunst weder begeistern konnte noch wollte. Unter seiner Leitung zeichnete ich noch mein letztes Werk, ein großes Crayonbild des heiligen Ignatius, der der Namenspatron meines »Firmgöthen,« des hochwürdigen Directors von Unser Herrgottsruhe bei Friedberg war. Dann legte ich den Griffel nieder. Um in die Akademie überzutreten, hätte ich nur eines kleinen Schubs bedurft, aber mir war leider unter meinen Büchern so wohlig, daß ich mir selbst den Schub nicht geben wollte, und da er auch von keiner anderen Seite kam, so blieb ich eben »bei der Studi,« was mich später nicht selten gereut hat.

Der Trieb zu wandern zeigte sich sehr früh. Im Alter von zwölf Jahren hatte ich's den Eltern schon abgewonnen, daß ich zu Landrichters in Aichach, im nächsten Jahre, daß ich zum Pfarrer in Wittislingen bei Augsburg, der mir früher als Caplan zu Aichach lateinische Stunden gegeben, »in die Vacanz« gelassen wurde. In das folgende Jahr fällt eine Reise, die ich von Buchloe, wohin mich ein Freund meines Vaters geladen, mit einem dort vorgefundenen älteren Studenten nach Schaffhausen und um den Bodensee unternahm. Wieder im nächsten Jahre durfte ich mit einem Brauerssohn aus München, einem Mitschüler, eine Wettfahrt in die Schweiz veranstalten. Diese Aussicht begeisterte mich. Ich begann schon im Winter die literarische Vorbereitung, las Ebel, Johannes von Müller nebst vielen anderen Büchern, und war daher recht leidlich unterrichtet, während mein Gefährte von der Schweiz nur den Namen wußte und auch den Dialekt der Schweizer ganz unverständlich fand. Er überließ sich daher unbedingt meiner Leitung und wir kamen vortrefflich mit einander aus. Wir gingen über Appenzell, Glaris, Uri an den Gotthard, dann hinunter an den Rhonegletscher, von da nach Grindelwald, Bern, Luzern, Zürich, Schaffhausen und kamen wohlbehalten in Ravensburg an. Da trennten wir uns; mein Gefährte ging wieder nach Hause, während ich, um auszuruhen, noch mehrere Tage bei meinen dortigen Verwandten blieb. Die ganze Reise hatte fünf und zwanzig Tage gedauert und – dreißig Gulden gekostet. Dies seltsame Ergebniß erklärt sich dadurch, daß wir Beide nur gehen und sehen wollten, darin unsere volle Befriedigung fanden, uns die strengste Askese auferlegten, nie einen Bissen oder einen Schoppen mehr als nothwendig war, zu uns nahmen und die großen, theuern Städte dadurch unschädlich machten, daß wir jedes Mal eine Stunde vor dem Thore in einem Landwirthshause über Nacht blieben, des Morgens in die Stadt gingen, die Kirchen, Zeughäuser und andere Merkwürdigkeiten besichtigten und am Abend wieder jenseits in einem stillen, billigen Dörflein Herberge suchten.

Der schöne Erfolg empfahl eine Wiederholung. Im nächsten Herbste 1830 fanden sich unser sieben Jungen, theils Freunde von Augsburg, theils Münchner, in Weilheim ein und wanderten von da über den Fern nach Mals, über das Wormser-Joch ins Veltellin, nach Como, Lugano, über den Simplon nach Chamounix, nach Genf, Lausanne und über Bern und Zürich an den Bodensee. Auf dem Heimwege bröckelte sich aber einer nach dem andern ab, und wie es eigentlich ausgegangen, ist nicht mehr festzustellen.

In den nächsten Jahren folgte eine Reise über Salzburg nach Innsbruck, eine andere nach Venedig mit Heimweg über Triest und Salzburg, eine dritte an den Rhein u. s. w. Um mit den Reisen aufzuräumen, sei gleich hier erwähnt, daß ich in den letzten fünfzehn Jahren den Herbst meistentheils in Tirol verbracht habe, daß ich 1867 in Paris, 1876 drei Monate in Italien, 1878 in dem schon früher besuchten Wien gewesen und in Ungarn bis Orsova gekommen bin. Zu anderen Zeiten habe ich mir auch Köln, Hamburg, Berlin besehen.

In jenen Tagen, 1828, habe ich auch ein Tagebuch angelegt. Es ist früher öfter unterbrochen worden, läuft aber wenigstens seit meiner Heimkehr aus Griechenland ohne Lücken fort.

Nun war das Gymnasium überstanden und die Hochschule zu beziehen. Man sollte philosophische Collegien hören, aber bei dem alten, ehrwürdigen, jedoch kleinen und zaundürren Meilinger, einem ehemaligen Mönchlein, war wohl eine Art Logik zu haben, nur daß sie Niemand aushalten konnte. Unser Historiker, der patriotische Buchner, der He-Buchner genannt, weil er nach jedem bedeutenden Satze seine Zuhörer durch ein gemüthliches He? zur Abgabe ihrer Meinung aufforderte, dieser treffliche Mann las seine langweilige Geschichte des Bayerlandes so langweilig herunter, daß ich's auch nicht länger als eine oder zwei Stunden ertrug. Andere Versuche befriedigten eben so wenig, »Jetzt,« sagte ich im Selbstgespräch zu mir, »jetzt, nachdem ich fast alles von mir selbst gelernt, soll ich mich wieder auf die harten Bänke setzen und diese geistlosen Weltweisen anhören? Heißt das nicht seine Zeit vergeuden?« Mir schien es Pflicht zu Hause zu bleiben und für mich selber fortzulernen. Einmal kam ich wohl zu Görres, ein andermal zu Schelling, aber Katheder, Schulbänke, und Hörsäle waren mir so widerwärtig, daß ich auch zu ihnen nicht zurückkehrte. Das war nicht zu loben und ärgert mich heute noch. Doch erinnere ich mich, daß ich schon im ersten Semester bei dem gemüthlichen Gotthilf Heinrich Schubert ein Collegium überdauerte, das er im besten Thüringer Deutsch über Erd- und Himmelskunde abhielt. Ihm habe ich sehr gerne zugehört.

In den Vorlesungen über Philologie, der ich mich ja eigentlich widmen wollte, wurde ich dagegen selten vermißt. Friedrich Thiersch dictirte eine Encyklopädie der philologischen Wissenschaften und erläuterte des Aeschylos Agamemnon, beides schöne Collegia.

Indessen – auch die Philologie gefiel mir jetzt nicht mehr so einzig, seitdem ich sie von andern lernen sollte. Ferner schien es mir doch nicht gar so beneidenswerth, mich mein ganzes Leben lang als Gymnasiallehrer mit ungezogenen Jungen herumzubalgen, und selbst diese Aussicht war sehr verkümmert, da in jenen Tagen eine Wallersteinische Verordnung erschien, welche zu solchen Lehrstellen vorzüglich geistliche Herren verwendet wissen wollte. So beschloß ich denn, allmählich zu einem andern Fache überzugehen und richtete mein Augenmerk auf juridische Collegien. Ich besuchte deren einige sehr fleißig, andere gar nicht. Nebenher betrieb ich immer noch literarische und historische Studien, und das Tagebuch spendet meinem Fleiße oft lautes Lob, aber eine warme Liebe zu dem neuen Fache wollte sich doch nicht einfinden. Im letzten Semester, wo es auf das Examen losging, stellte ich zwar entsagend die schönen Wissenschaften ganz bei Seite, aber die Zeit, die dadurch frei geworden, verwendete ich doch nicht allein auf Wanderungen durch die Pandecten und den gemeinen deutschen Civilproceß, sondern holte lieber gute Freunde ab und wanderte mit ihnen auf die Menterschwaige oder in den englischen Garten. Nebenher klagt dann das Tagebuch über Langweile, Abspannung und Müßiggang. Dieses letzte Semester hat meinem Genius – so zu sagen – das Genick gebrochen. Ich fühlte deutlich, daß ich nicht auf dem rechten Wege sei, aber ich wußte keinen andern. Der rühmliche Fleiß verflog sich, er schien überflüssig, wenn man nur k. bayerischer Assessor werden und sein Leben in der Kanzlei beschließen wollte.

Am 18. November 1833 schlüpfte ich glücklich durch's Examen und am andern Tage ging ich auf die Bibliothek und holte mir, um doch wieder einmal etwas Vernünftiges zu lesen, Floresta de rimas antiguas castellanas und Camoëns' Lusiadas.

So war denn die Hochschule überstanden. Mit dem Bekenntnisse, daß ich nicht soviel gelernt, als ich hätte lernen können, ist die Mittheilung zu verbinden, daß ich immer, so lange diese Jahre währten, in einer anziehenden Tafelrunde von jungen Freunden gelebt habe, welche sich einer guten Aufführung beflissen, den Studien mit großem Fleiße oblagen und des Abends, den wir im Sommer gern auf den Kellern zubrachten, mit Eifer über das Eingenommene disputirten. Außerdem bestand ein lebhafter und langer Verkehr mit einem jungen Schottländer, der eines Processes halber sich in München aufhielt, mit einem italienischen Flüchtling aus Verona, mit mehreren Franzosen und andern Landsleuten des Schottländers und des Veronesers, so daß es an guter Gelegenheit, sich in den neueren Sprachen zu üben, durchaus nicht fehlte.

Nun sollte ich also in die Praxis gehen. Der innere Drang zu diesem neuen Leben war sehr schwach. »Ich bin herzlich froh,« sagt das Tagebuch, »daß ich nicht mehr Student bin, und ich wäre ebenso zufrieden, wenn ich gar nicht anfangen dürfte, Practicant zu sein.«

Immerhin trat ich beim k. Landgericht Au, in einer Vorstadt der Metropole, ein, mit mir noch ein Dutzend Anderer, die auch eben von der Universität kamen. Beschäftigung war eigentlich keine gegeben, denn die wenigen Acten, die den Practicanten überlassen wurden, waren in den festen Händen der »Alten,« das heißt derer, die schon vor längerer Zeit da eingetreten und, schon einigermaßen geübt waren. Der Assessor, ein sehr ehrenwerther und geschickter Mann, hatte immer mit unglücklichen Mädchen, verlassenen Gatten, mißhandelten Gattinnen, mit ungeduldigen Gläubigern, beeinträchtigten Gewerbsleuten u. s. w. zu thun und konnte sich mit uns nicht abgeben. »Nur brav Acten lesen!« wiederholte er jeden Tag. Unser Eifer war aber nicht sehr groß. Da wir nichts zu thun hatten, so kamen wir spät, und da uns Niemand aufhielt, so gingen wir wieder früh. Die Vereinbarung über den Frühschoppen »im grünen Baum« kam jeweils mit merkwürdiger Leichtigkeit zu Stande. Ich machte mir wenig Grillen über dies Schlaraffenleben, denn mit meinen Gedanken war ich damals nicht im Landgericht Au, sondern – im schönen Griechenland!

Denn es war im lieben Vaterlande nicht mehr recht behaglich. König Ludwig hatte die freisinnigen Vorsätze, mit denen er den Thron bestiegen, seit Weihnachten 1830 aufgegeben und sich ganz und gar auf die andere Seite geschlagen. Darum viel Mißvergnügen in den gebildeten Schichten, zumal unter den Studenten, die so beliebig gepackt, in die Frohnfeste gesteckt und nach einigen Monaten ungerecht verurtheilt oder wieder ausgelassen wurden, weil eigentlich nichts gegen sie vorliege. Dazu kamen in damaliger Zeit noch andere sehr trübselige Erscheinungen, auf die wir hier nicht näher einzugehen haben.

Kurz, mich drückte der bayerische Himmel. – Da zog nun eines Tages Prinz Otto von Bayern nach Griechenland, um dort ein König der Hellenen zu werden. In jenen Tagen erwachten alle meine philologischen und humanistischen Neigungen wieder mit neuer Kraft. Ich glaubte zu ahnen, »daß ich nicht für mein Vaterland geboren sei, daß ich aber in Griechenland gedeihen werde.« Das Tagebuch spricht nun immer öfter von dem Lande meiner Sehnsucht und widmet meinen Träumereien die wohlwollendste Pflege. Was ich dort in Achaia oder Ionien werden sollte, das nahm ich freilich nicht so genau. Bald sah ich mich im Geiste als Professor zu Athen, bald als Gouverneur auf Naxos, als Capitain auf Akrokorinth, als Secretair des Grafen Armansperg. Ich bin aber nur Letzteres geworden.

Meine Eltern boten zwar alle Beredsamkeit auf, mich von diesem »unseligen Gedanken« abzubringen, aber ich ließ ihn nicht mehr fahren, und that alles Thunliche, um die Sache in Gang zu bringen. Und nach mancherlei Aufschub und Verzögerung wurde ich am 18. Februar 1834 zum Hofbanquier von Eichthal gerufen, um dort zu vernehmen, daß ich mit 600 fl. Gehalt als Regentschaftssecretair in Griechenland angestellt sei; überdies wurde ein Reisegeld von 150 fl. gewährt. »Nun darf ich auch wieder einmal einen Freudenschuß ablassen.«

Von meinen Eltern unter Thränen, von meinen Freunden und Gönnern, auch von manchen alten und noch mehr jungen Freundinnen mit warmen Abschiedsworten und den besten Wünschen entlassen, mit vielen Empfehlungsbriefen versehen, zog ich am 30. März in die blaue Ferne. Die Reise ging über Venedig nach Triest, wo den »Regentschaftssecretair« das griechische Packetboot Minerva (Athena) aufnahm, das ihn am 3. Mai, dem Ostertage, glücklich in Nauplia, der damaligen Residenz, an's Land setzte.

Die ersten Eindrücke waren nicht so erfreulich, wie ich sie erwartet hatte. Die jungen Bayern, die da schon in Amt und Würden standen, zeigten sich sehr kühl und vornehm, was sich erst später aufklärte. Die Mitglieder der Regentschaft, Graf von Armansperg, der Präsident, Staatsrath von Maurer, General von Heideck, Legationsrath von Abel, nahmen meine erste Visite zwar freundlich an, und Herr v. Maurer, der mich noch von der Universität her kannte, lud mich auch sofort zu Tische ein; dann aber hörte ich sehr wenig mehr von den hohen Herren. Doch zog mich das neue, fremde Leben mächtig an; diese Palikaren in ihren prächtigen Trachten, diese Häuptlinge mit ihrem fürstlichen Anstand, die Seeleute und ihr lautes Treiben im Hafen, die schweren Kriegsschiffe auf der Rhede – diese und andere ungewohnte Erscheinungen gaben viel zu schauen und zu denken. Uebrigens hatte ich mich in den letzten Monaten zu München schon sehr fleißig mit der Sprache beschäftigt. Das Neugriechische, wie es in den Büchern stand, bot mir als ehemaligem Philologen gar keine Schwierigkeiten und in der Volksmundart hatte ich mich auf dem griechischen Packetboote mit Capitain und Matrosen durcheinander so vielfach geübt, daß ich zu Nauplia schon als frühreifer Graeculus an's Land stieg.

Im Ganzen fand ich die Griechen sehr liebenswürdig und hatte bald viele Bekannte unter ihnen. Ihre Cultur, von Cekrops und Pelops anhebend, an der so viele weise Männer, – so viele schöne Frauen – gearbeitet, ist in den äußern Formen auch durch die Türken nicht geschädigt worden. Ihr geselliges Auftreten, ihre Art sich darzustellen, zu sprechen, zu discutiren, war den bajuvarischen Manieren, wie wir sie hineingebracht, unbestreitbar überlegen. Eine tiefere Charakteristik aber soll hier nicht versucht werden.

Nauplia, das alte Türkenstädtlein, hat vor sich das Wasser, vielmehr den Hafen, hinter sich den steil abfallenden, langgestreckten Fels, auf dem die Festung Itschkalé, rechts den Palamidi, einen himmelhohen, senkrechten Steinblock, auf welchem gleichfalls ein altes Castell. Von der See aus betrachtet, zeigte sich die damalige Hauptstadt der Hellenen ganz ansehnlich, wie sie denn auch im Innern schon einige Cultur erlitten hatte. Neben ärmlichen Hütten standen auch schon neue hübsche Häuser, dazu gab es reinliche Straßen und eine geräumige Piazza. Die Caffenés am Hafen stammten noch aus der Türkenzeit, die Bella Italia, ein leidliches Speisehaus, war dem neuerstandenen Griechenland von Triest her nachgezogen. Aus der Stadt führte nur ein schmales Thor und ein schmaler Einlaß in die Freiheit, in das Land hinaus, doch war nicht weit draußen auf höherer Terasse schon ein niedliches Ziergärtlein angelegt, wo ein Springbrunnen sprudelte, Caffee nebst Wein genossen, und die ganze weite argolische Ebene überschaut werden konnte. Jetzt, als im Frühsommer, war diese noch ziemlich grün, aber später wurde sie immer gelber. Von Busch oder Wald war da keine Spur – nur einige Oelbäume standen im weiten Felde.

Ich war mit einem Thüringer und einem Sachsen angekommen und in eine Stube gezogen, welche monatlich sechzehn Gulden kostete und ziemlich groß, aber wie da gewöhnlich, ohne alle Einrichtung war. Diese hatten wir in Triest zusammengekauft und, ich weiß auch nicht mehr warum, auf ein anderes Schiff verfrachtet, welches erst später ankam, so daß wir jetzt weder Stühle oder Tische, noch Betten hatten und alles, was wir in den Koffern mitgebracht, auf dem Boden herumlegen und auf diesem schlafen mußten.

Doch blieben wir nicht lange beisammen – ich wollte lieber allein sein und bezog am vor deren Abhang des Itschkalé eine ehemalige Waschküche, die aber reinlich geweißt und mit frischen Fliesen ausgelegt war. Für Bett und Tisch fand sich Raum genug. Etliche Mäuschen, die mir zu viel Platz wegnahmen, habe ich eigenhändig erschlagen. Wenn der Mond am Himmel stand, schleppte ich meinen Strohsack auf das flache Dach und erfreute mich an seinen Strahlen. Erst später hörte ich, daß ich davon hätte mondsüchtig werden können. Außerdem waren nicht viele Genüsse zur Hand. Hinter dem Itschkalé konnte man wohl im Meere baden, aber die Seeigel, die da auf dem Grunde lagen, zeigten sich mitunter sehr unangenehm und zuweilen wollte man in naher Ferne auch Haifische gesehen haben.

Am Tage nach meiner Ankunft meldete ich mich zum Eintritt in die Regentschaftskanzlei bei Herrn Ferdinand Stademan, dem geheimen Secretair, der unter den Bajuvaren der höflichste, weil er ein geborner Berliner war. Mich schien Niemand erwartet zu haben. Jener sah mich zweifelnd an und sagte: »Ja, ich habe keine Arbeit für Sie. Ich will's Ihnen sagen lassen wenn etwas auskommt!« Gar nicht verletzt, nahm ich einen Gaul und ritt nach dem hochummauerten Tirynth, wo Herkules als Kind Vergißmeinnicht gepflückt und Schmetterlinge gefangen, nach Mycenä, zum Grab des Agamemnon, und in's pelasgische Argos – ein unvergeßlicher Tag!

Als ich damals die Waschküche bezog, gewahrte ich im ersten Augenblick, daß sie eine unvergleichliche Aussicht bot über die Stadt und den Hafen und über die fabelhaften Königsburgen bis an die erhabenen Berge, durch die einst die dorische Wanderung herabgekommen. Unter Tags stieg ich gewöhnlich auf ein paar Stunden in die Stadt hinunter. Abends saß ich vor meiner Thüre und las oder schaute in die weite Ferne. Meine Gesellschaft war ein alter Gelehrter von der Insel Patmos, der neben mir wohnte. Er war etwas phantastisch costumirt, trug eine lange seidene Tunica mit seidener Schärpe und einen tuchenen Talar darüber, auf dem Haupte aber einen hohen, fast spitzigen Cylinderhut ohne Krempe, grade wie die Zauberer auf der Bühne, so daß ich ihn anfangs auch für einen solchen hielt. Wir verplauderten auf unsrer Hochwarte manche Viertelstunde, schwatzten auch viel von seiner Insel, wo der heilige Johannes die Apokalypse geschrieben, aber was der Patmier in Athen zu ergattern suchte, blieb mir immer ein Geheimniß.

Vierzehn Tage nach meiner Ankunft erhielt ich endlich eine Zuschrift unseres Geheimschreibers, welche mich einlud, am nächsten Morgen um zehn Uhr im Regentschaftsgebäude zur Verpflichtung zu erscheinen. Endlich war's von oben auch heruntergekommen, ich solle über die griechischen Bittschriften gelassen werden und auf jede derselben in kurzer Übersetzung den Betreff vermerken. Dieser Bittschriften war ein schöner Stoß, denn seit die beiden Dolmetscher abgegangen, hatte sich Niemand mehr um sie gekümmert, weil sie Niemand verstand. Es waren lauter flehentliche Nothschreie um Unterstützung, da die Hagarener, Saracenen, Ismaeliten – lauter Euphemismen für die wackern Türken – alles verbrannt, verheert und verwüstet hätten.

Damit war etwa für acht Tage Arbeit geschafft, aber nachdem die Bittschriften aufgearbeitet, traten wieder flauere Zeiten ein, da fast jedes Hauswesen in Griechenland seine »Anaphora«, sein Unterstützungsgesuch, bereits übergeben hatte und der Einlauf nicht mehr stark war.

Und so saß ich denn am letzten Juli 1834 im kühlen Morgenwinde vor meiner Thür und blätterte in einem Buch, als ein Amtsdiener den Steig heraufkeuchte und mir von weitem zurief, ich solle rasch hinunterkommen; ich werde erwartet. Als ich unten in die Kanzlei trat, sagte der geheime Secretair mit hochwichtiger Attitüde: »Nach unseren Ihnen bekannten Vorschriften war ich berechtigt, Sie um sieben Uhr im Bureau zu erwarten. Jetzt ist's bald acht!«

»Ich habe ja um elf Uhr nichts zu thun!«

»Se. Excellenz haben schon zweimal nach Ihnen gefragt. Gehen Sie schnell hinüber, schnell!«

Ich ging also ohne Aufenthalt in das Bureau des Präsidenten. Er stand mit freundlichem Lächeln vor mir und sprach: »Sie sind mir gut empfohlen, aber ich konnte bisher nichts für Sie thun. Sie werden von jetzt an in meinem Cabinete arbeiten. Ich rechne auf Ihre Redlichkeit und Ihren Fleiß.« Als er dies gesprochen, neigte er leise das Haupt und entließ mich.

Dieser Vorgang erklärt sich, wenn man weiß, daß schon einige Zeit zuvor zwischen dem Präsidenten und den andern Mitgliedern der Regentschaft eine tiefe Spaltung ausgebrochen war. Die Lösung lag in München bei König Ludwig I. Dieser befahl, daß Graf Armansperg seine Stelle behalten, die Herrn v. Maurer und v. Abel aber – General Heideck hatte sich wieder versöhnt – nach Bayern zurückkehren sollten. Für sie trat nun des Grafen ungefährlicher, von ihm postulirter Freund, der Staatsrath Egid von Kobell, ein, der eben angekommen war und den königlichen Erlaß selbst mitgebracht hatte. In der Stadt entstand natürlich bei diesem Umschlag eine große Aufregung. Auch mein alter Patmier blieb nicht ungestreift. Βασιλικὸν τῷ ὄντι, sprach er mit erhobener Stimme, τὸ διάταγμα καὶ ὁ ἄνϑρωπος! »Königlich fürwahr, der Befehl und mit ihm der Mann!«

Unter den feindlichen Regenten war übrigens angenommen worden, daß keine Seite Personal an sich ziehen und sich so verstärken dürfe. Deswegen hatte ich denn seit meiner Ankunft wie in der Vorhölle gelebt und Nichts zu thun gehabt, denn die Excerpirung der Bittschriften war doch nur ein Trugbild, weil die Mittel, ihnen gerecht zu werden, leider nicht vorhanden waren. Meine Landsleute, die nicht wußten, ob ich zu dem Grafen oder zu seinen Gegnern zu rechnen, hatten sich deswegen so vorsichtig und zugeknöpft gehalten. Jetzt war natürlich die Physiognomie der ganzen Gesellschaft eine andere und viel wärmere geworden.

So ward ich denn plötzlich aus meiner Niedrigkeit emporgeschnellt, aber an meinem Gehalt wurde nicht gerüttelt. Er blieb noch immer auf 120 Drachmen des Monats stehen und wurde erst im November auf 180 Drachmen (900 fl. jährlich) erhöht.

Nun kam aber viel Arbeit über mich. Ehe ich mich umsah, lag eine hohe Schichte von Acten vor mir, die ich sofort bearbeiten sollte. In der Kanzlei des königlichen Landgerichts Au hatte ich kaum gelernt, wie man die Acten auf- und zubindet, auf Concepte und Signale hatten wir andern uns gar nicht eingelassen. Doch waren die Kinderschuhe in wenigen Tagen ausgetreten. Den Präsidenten sah ich zwar nicht gar oft, aber was ich verfehlt hatte, das kam mit seinen kleinen Bleistiftnoten zurück, welche mir anzeigten, wie es besser zu machen wäre. Der Einkauf bestand zumeist aus den Anträgen und Vorlagen der Ministerien, die von der Regentschaft, jetzt dem Grafen Armansperg allein, beschieden werden sollten. Für Justiz, Finanzen und Krieg waren nun andere Hyperboreer meines Schlages aufgestellt, mir fiel alles Andere zu, was da noch überblieb. Im Anfang versah der Präsident die besagten Anträge und Vorlagen sämmtlich mit seinen Bleistiftnoten, und da hatte ich dann, je nachdem es »anzunehmen« oder »abzulehnen« hieß, die entsprechenden Erlasse zu stilisiren. Manchmal hieß es: »umzuarbeiten«, und da waren auch die Zielpunkte, nach denen ich mich zu richten hatte, angegeben. Später hieß es sehr oft: »Nach eigenem Ermessen« und dann konnte ich mein eignes Licht leuchten lassen. Nebenbei war aber noch manches zu übersetzen, Artikel aus griechischen und englischen Zeitungen, Denkwürdigkeiten oder auch Denunciationen und Enthüllungen, welche die Häuptlinge, die ihre Sprache nicht schreiben konnten, von irgend einem Schriftgelehrten hatten aufsetzen lassen, um sie dem Präsidenten im tiefsten Geheimniß zuzustecken.

Am meisten und am liebsten nahm ich mich um das Schulwesen an. Für dieses hatte allerdings schon Herr von Maurer sehr fleißig gearbeitet, aber immer im Kampf mit unermeßlichen Schwierigkeiten. Im ganzen Lande war 1833, wie ein damaliger Zeitungsartikel besagte, kein Abcbuch und kein Einmaleins vorhanden, dagegen fanden sich Widerwärtigkeiten ohne Zahl. Die deutsche Schule in Nauplia z. B. ging auseinander, weil man in der Noth einen protestantischen Lehrer hineingesetzt; mit unsäglicher Mühe wurde das Gymnasium daselbst wenigstens auf dem Papiere fertig, aber als die Lehrer ernannt waren, wollten sie ihr Amt nicht antreten. Die wenigen Griechen, die zu Lehrern taugten, trachteten nämlich alle nach anderen Stellen, weil diese besser bezahlt wurden. Auch ein weibliches Erziehungsinstitut ward gegründet, aber die griechischen Mütter wollten ihre Töchter nicht fränkisch erziehen lassen. Glaubte man alles beisammen zu haben, so fehlte das Local. Und so ging es weiter in jeder Richtung, wie Herr v. Maurer in seinem Buche zum Haarsträuben schildert.

Herr v. Maurer spendete übrigens aus dem großen Anlehen noch mit vollen Händen; als Graf Armansperg auch dieses Fach übernahm, sah man der Truhe schon auf den Boden und es mußte gespart werden. In frühern Zeiten hatten allerdings reiche, begeisterte Griechen in Odessa, Alexandrien u. s. w. viele Millionen für die Schulen Griechenlands geschenkt, aber als König Otto das hellenische Gestade betrat, waren diese Summen spurlos verschwunden. Man hat nie erfahren, wo sie hingekommen.

So war denn trotz aller Mühe, die Herr v. Maurer aufgewendet, das Schulwesen in üblem Zustande. Ich suchte mich bestens zu unterrichten, nach und nach die Lehrer kennen zu lernen, ging auch in die Prüfungen und verkehrte viel mit dem trefflichen Professor Dr. Ulrichs aus Bremen, den die Regentschaft mitgebracht und nach Aegina in's Gymnasium verlegt hatte, wo er blieb, bis wir uns in Athen zusammenfanden. Dieser war ein gelehrter und geistreicher Philhellene noch jugendlichen Alters, mit dem sehr angenehm umzugehen war. Ich ließ mich gerne von ihm inspiriren und auf seinen Rath überreichte ich dem Präsidenten im März 1835 eine Denkschrift, in welcher es, um nur einen Satz herauszuheben, heißt:

»Das Gymnasium von Athen, gegenwärtig als die erste Lehranstalt des Reiches zu betrachten, ist seiner Auflösung nahe – die Lehrer gehen schon seit lange mit dem Gedanken um, sämmtlich ihre Entlassung einzugeben und verblieben bisher nur widerwillig auf ihrem Posten, der nur beschwerlich und viel verlangend, aber weder ehrenvoll noch einträglich ist. Der Grund dieses Mißvergnügens ist einerseits die unangemessene Behandlung der Anstalt und der Lehrer von Seiten des Ministeriums, andrerseits die für Griechenland unverhältnißmäßig geringe Besoldung.«

Der Graf war zwar ganz willfährig, auch für die Schulen thätig einzutreten, aber er fand wirklich keine Zeit dazu. Auf dem Papiere standen übrigens die Sachen ganz befriedigend. Das Cultusministerium unter dem bekannten Jakovakis Rhisos sandte seine Vorschläge zu Schulengründungen, Lehrerernennungen u. s. w. fleißig ein, und daran wurde selten geändert; ob aber diese Schulen gediehen und wie die Lehrer sich bewährten, davon hörte man nicht mehr viel. Jedenfalls wurde anerkannt, daß die Sachen jetzt nicht mehr liegen blieben, sondern rasche Erledigung fanden.

Als ich später nach München kam, zu Friedrich Thiersch, der das griechische Unterrichtsministerium mit Recht als seine Domäne und heiß ersehnte Lebensaufgabe betrachtete, erzählte ich ihm, was da alles durch meine Hand gegangen, worauf er etwas unwirsch bemerkte: »Wie konnten Sie an solche Sachen rühren! Da gehört ein gewiegter Schulmann hin!« (Ja, wenn wir nur einen gehabt hätten!) Aber im nächsten Jahr, als Prof. Ulrichs und der später zu erwähnende Prof. Roß durch München gekommen, sagte mir mein verehrter Gönner scherzend: »Ich habe Sie damals zu wenig gelten lassen. Man war mit Ihnen sehr zufrieden. Sie waren ein ganz rarer Cultusminister!«


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