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Schon trat ein anderer herzu, um die traurige Spende gierig aus der Hand van der Werfts zu nehmen, dessen junge Frau, während sie zu essen versuchte, in bittere Tränen ausbrach. Der Bürgermeister, der den Hut tiefer in die Stirn drückte, um seine eigenen feuchten Augen nicht sehen zu lassen, rief mit erzwungener Strenge: »Warum bist du nicht im Haus geblieben, Siegbrit? Daß ihr Frauen doch stets zuerst die Not unerträglich finden, unser Herz zu allem Kummer mit unnützen Tränen beschweren müßt!« – –

Er unterbrach sich plötzlich und eine glühende Schamröte überflog sein Gesicht. Er hatte, während der rauhen Worte, seinen Teil des elenden Mahles rasch verzehrt, und sah jetzt, wie sein Weib den ihren zu drei Vierteilen an die beiden Knaben gab, die mit hungrigem Verlange zu ihr aufblickten. Sich wegwendend und an die dunklen Worte anknüpfend, die ihm die alte Frau vorhin erwidert hatte, sprach er rasch zu dieser:

»Ihr tut übel, Frau Engelbrecht, daß Ihr Euch zu allem Elend dieser Tage noch eine Reue aufbürdet, die Euch nicht zukommt. Daß Ihr Eurem pflichtvergessenen Sohn die Tür gewiesen und lieber gedarbt, als aus seiner Hand genommen habt, was Ihr zum Leben braucht, das wird Euch von keinem zur Unehre gerechnet. Und wenn Ihr nicht andere Sünden zu bereuen habt, warum fürchtet Ihr dann, daß dies Unheil um Euretwillen die Vaterstadt betroffen hat? Warum wollt Ihr auf Eure alten Schultern die Last nehmen, die uns allen auferlegt ward?«

»Ihr habt unrecht, nicht ich, Herr van der Werft,« entgegnete die Greisin in heftiger Erregung. »Will Gott Euch prüfen, so will er mich strafen. Habe ich damals meinem Erich anders als hart zugesprochen, habe ich seiner geschont, wie eine Mutter doch soll? Mußt' ich alte Frau die erste sein, die vergaß, daß heißes Jugendblut oft wider den edlen Sinn im Menschen streitet? Mußt' ich ihn hinwegstoßen, wo ich ihn an mein Herz hätte ziehen sollen, damit er zur Besinnung komme? Hab' ich je einen Schritt getan, ihm zu zeigen, daß er seine Liebe an eine Unwürdige dahinwarf? Ihr – Ihr hättet ein Recht gehabt, ihn streng an seine Pflicht gegen Stadt und Land zu mahnen; ich hätte gedenken sollen, wie treu und wacker er sich zuvor gegen mich erwiesen! Redet mir nichts, – das Brot, das ich ihm, der so redlich mit mir teilte, vor die Füße warf, wird mir und Euch allen mit bitterm Hunger heimgezahlt!«

Der Bürgermeister wollte offenbar der Greisin antworten. Aber ehe er die Lippen öffnete, schlug an sein und aller übrigen Ohr der beginnende Kanonendonner. Vom Lammer Damm herüber krachten die Geschütze der Spanier und der Geusenflotte, die Tore der Stadt wurden gleichzeitig von den Belagerern beschossen. Mit wilder Spannung lauschten Männer und Frauen, selbst die Knaben Adrian van der Werfts, nach dem Schall des Kampfes bei den Dämmen. Auf dem Turme begann ein fortwährendes Auf- und Abwogen, Boten aus allen Teilen der Stadt kamen zu dem Bürgermeister oder wurden von ihm entsendet, Bürger eilten die schmale Stiege hinab, den Ihrigen das gewisse Nahen der Helfer zu verkünden, während viele andere empordrängten, um gleichfalls einen Blick hinaus zu tun. Stunde um Stunde verging – jede schien heute sechstausend für sechzig Minuten zu zählen. Denn der Mittag kam heran, und noch immer war nichts zu erschauen, als dunkles Gewühl und hoch aufwallende Pulverwolken. Die Angst wie die Freude der Erwartung malten sich auf allen Gesichtern, nur Adrian van der Werft zeigte jetzt wieder entschlossene Ruhe. Die Greisin dicht neben ihm stand in zuckender und nach stummen Pausen laut aufstöhnender Ungeduld. Um die zweite Stunde mochte es sein, als sich durch die Menge auf dem Turm ein Bewaffneter drängte, schweiß- und staubbedeckt, in seinen Zügen wilde Erregung. Nach dem Bürgermeister rufend, begann er mit fliegender Hast:

»Sie kommen gewiß – sie kommen! Der Damm von Zoetervoude ist überstiegen, – die Geusen sind diesseits. Drei Schiffe, den andern voran, kanonieren mit den Schanzen bei Lammen, – dort müssen sie durchbrechen, dort stehen die Spanier mauerdicht. Wenn sie Hilfe aus der Stadt erhielten ...!«

Tief aufatmend, vollendete er nicht, aber rings erklang es: »Er hat recht, – wir müssen hinaus! Ein Ausfall! ein Ausfall!« Adrian van der Werft gebot mit einem Blicke seines Auges Stille; rasch frug er: »Sahest du selbst, was du eben berichtest?«

»Ich und Pieter Kollenbusch wagten uns hinaus, und kamen schwimmend und watend bis zum Lammer Holz. Von dort konnten wir den Damm und das Wasser bis Zoetervoude überschauen. Ich sah die Geusenschiffe wenden, konnte die Männer auf ihnen unterscheiden. Ja, fast wollt' ich schwören, ich hatte an Bord des vordersten Schiffes Jan Erich Engelbrecht, der früher hier Medikus war, erkannt. Euren Sohn, keinen andern, Frau Engelbrecht!« Selbst in diesem Augenblick, wo die vernommene Kunde die Versammelten überwältigte, blickten dennoch alle auf die Greisin. Diese starrte erst wie betäubt den Sprechenden an, dann leuchteten ihre Augen, sie richtete sich empor und rief dem Bürgermeister eifernd zu:

»Mein Erich auf den Schiffen? Mein Sohn bei den Geusen! Seht ihr nun, wie ich an ihm gesündigt habe? Er kommt, er hat den Gedanken nicht ertragen, daß seine Mutter hier verschmachten soll! Er ist da und sucht die, die ihn mit Füßen von sich stieß. Und ich stehe hier und stiege ihm nicht entgegen? Er naht auch für euch, und ihr zaudert, ihm die Tore zu öffnen! Was zögert und wartet ihr? Er hat einen weiten Weg zurückgelegt, und darf wohl hoffen, daß wir ihm auf der letzten Strecke entgegenkommen!«

Van der Werft und die Männer, die sie umgaben, suchten mitleidig die wild erregte Greisin zurückzuhalten. Aber Frau Engelbrecht stieß sie alle mit plötzlichem Entschluß und ungeahnter Kraft zur Seite, und flog die schmal gewundenen Stufen so blitzschnell hinab, daß ein seltsam jauchzender Ton zur Platte emporklang, ehe nur einer ihr nachgeeilt war.

»Gebe Gott,« rief droben van der Werft, »daß deine Augen dich nicht täuschten, Jan; daß du wirklich Erich Engelbrecht gesehen hast. Ein Ausfall wird sicher von unsern Helfern erwartet, und wir wollen eilen, ihn zu ordnen. Aber laßt kein Weib aus dem Tore, und am wenigsten diese, die den Tod finden würde, ehe sie ihren Sohn in die Arme geschlossen hätte. Ruft die Bürgerhauptleute zu mir, haltet euch alle mit euren Waffen bereit, und dann laßt uns sehen, wo wir den Befreiern nützen können!«

Aber während dies noch gesprochen ward, erreichte drunten die Greisin im hastigen Lauf das Ausfallspförtchen zunächst dem Turm. Noch hatte es der Wächter, der Pieter Kollenbusch und dessen Gefährten eingelassen, nicht wieder verschlossen. Hätte sich jetzt zur offenstehenden Tür ein spanischer Musketier hereingedrängt – er würde den wackern Bürger minder bestürzt haben, als die plötzliche Erscheinung der alten Frau, die ohne Zögern, ohne ein anderes Wort, als den lauten Ausruf: »Sie kommen! Mein Sohn kommt!« hinausstürzte und schon nach zwei Minuten zwischen den Trümmern der eingeäscherten Vorstadt verschwunden war. Kanonendonner und Musketenfeuer erschollen in diesem Augenblick stärker als zuvor, und der Wachthaltende besann sich, daß der einzige schmale Pfad, der hier noch über das Wasser hervorragte, unmittelbar auf Lammen hinführe. Kein Wunder, daß er tief aufseufzte und den heraneilenden Bürgermeister samt seiner zum Ausfall gerüsteten Schar auf die Frage nach Frau Engelbrecht nur mit einer Gebärde stummen Bedauerns antwortete. Niemand forschte weiter – aller Herzen waren von banger Erwartung und Hoffnung erfüllt, und keiner stand der alten Frau näher. Hunderte von matten Kämpfern, von blassen, abgezehrten Gestalten zeigten sich rings auf den Mauern und sanken sich in die Arme oder blickten tränenlos zu Boden, je nachdem der Schall des Kampfes sich zu nähern oder zu entfernen schien. Wer hätte der Greisin gedenken sollen, die, ihrer Sinne nicht mächtig, ihrer Umgebung nicht achtend, zwischen der Flut und der Zerstörung ringsum, dem in Geschützrauch gehüllten Damme zustrebte? Mit nachtwandlerischer Sicherheit schritt sie dahin. Vor sich erblickte sie die spanischen Schanzen, rechts und links marschierende Truppen, oder Böte, mit Bewaffneten angefüllt. Am Tore von Leyden, das schon weiter hinter ihr lag, nahm sie das Gewühl eines Kampfes wahr und wußte, daß Adrian van der Werft mit den Seinen die Dränger angegriffen. Sie murrte verdrossen: »Warum kommen sie nicht auf diesem Weg meinem wackern Erich entgegen?« und stieg den Hügel empor, der sich vor ihr erhob. Zu ihren Füßen lag der Lämmer Damm mit dem Gewimmel seiner Verteidiger. Ihr Herz schlug heftig, als sie auf der Flut die Segel dreier Geusenschiffe und weiter die der ganzen Flotte heranschwellen sah. Kein Gedanke an Gefahr kam in ihre Seele, entschlossener, eiliger als zuvor setzte sie ihren Weg fort, der auf die spanische Schanze zu führen schien. Wunderbar genug blieb die Greisin von all den Tausenden unbemerkt, die zu dieser Stunde die Dämme und Pfade ringsum bedeckten. Jedes Auge schien gleich dem ihren nur nach dem Wasser und den Schiffen gerichtet, und so konnte es geschehen, daß sie zwischen den spanischen Piken und Musketen der Schanze auf dem Damm und bei der Durchfahrt näher und näher kam.

Dort aber blitzte es auf und ab, leuchteten Waffen und erscholl das Getöse harten Kampfes. Erst um Mittag hatte Admiral Boisot seine Geusenflotte den letzten spanischen Werken entgegengeführt. Und während die holländischen Schiffe auf der ganzen Linie den Geschützkampf gegen die spanischen Werke eröffneten, trieben der ›Verlorene Sohn‹ und der ›Egmont‹ hart vor den Lammer Damm, und mit kundigem Auge ersah Cornelis ter Decken die mächtigen erdwallgeschützten Schleusentore, durch die die Flotte gelangen mußte. Mitten im Kugelregen deutete er dem Führer des ›Verlorenen Sohnes‹ die Richtung an und ließ ihm dann den vorderen Platz. Erich Engelbrecht stand heut auf seinem Schiffe, wie am Abend zuvor, finster entschlossen, fast unbeweglich, das Auge nach den Türmen von Leyden gerichtet, aber seine Befehle so kurz, so scharf erteilend, daß die Männer seines Schiffes stolz auf ihn blickten. Im Gürtel trug er neben Schwert und Dolchmesser ein Brot, er zeigte es den Gefährten und rief mit lauter, weitschallender Stimme: »Will's Gott, so wird dies heut am Abend nicht verschmäht!« Im Augenblick, wo die Mannschaft beider Schiffe dem Ruf des Führers zujauchzte, stießen sie auf die spanischen Wachtböte, die dicht vor der Schleuse lagen und aus denen ein rollendes Musketenfeuer den ›Verlorenen Sohn‹ wie den ›Egmont‹ begrüßte. Rechts und links stürzten tapfere Männer über den Schiffsrand in die trübe Flut, mehr als einer lag blutend auf dem Deck und mühte sich trotz der Wunde, sein Beil nach den verhaßten Spaniern zu schleudern. Erich Engelbrecht stand aufrecht wie zuvor; aber der Ausdruck seiner Züge war wunderbar verändert. Die breiten Narben, die sein Gesicht entstellten, unterliefen plötzlich mit Blut, sein Auge, eben nur, auf das Dammtor und die Schanze gerichtet, heftete sich jetzt stier auf den Trupp der spanischen Musketiere. Cornelis ter Deckens Stimme erscholl: »Vorwärts, vorwärts an das Tor!« Aber für Erich bedurfte es des Zurufs nicht; einem Rasenden gleich, befahl er seinem Steuermann, mit dem Schiff auf den Damm zu stoßen. Und ehe noch dem Befehl genügt war, maß er die Höhe der Schanze, sprang mit gewaltigem Satze vom Schiff auf den Damm und rief seine Leute, von denen ihm nur eine Anzahl folgte, zum Sturm. Mit einem Schlage schien die Besonnenheit Erichs zu toller Wut umgewandelt; aus dem Gürtel hatte er sein Schwert gerissen, sah nicht vorwärts, nicht zurück, nur über sich nach der Schanze, wo neben dem spanischen Feldzeichen ein Kapitän der feindlichen Musketiere stand. Höhnisch lachte dieser auf die anstürmenden Geusen, und deren Führer zumal, herunter. Mit Blicken des tödlichsten Hasses spähte Erich Engelbrecht empor – jenen allein hatte er im Auge, als er rasend, seine Schiffsgenossen weit hinter sich, den Wall hinaufstürmte. Aus zwei Wunden blutend fand er sich wenige Augenblicke später zurückgeschleudert – doch ohne Besinnen sammelte er seine gelichtete Schar zu neuem Anlauf. Keiner, außer Erich, hatte noch des spanischen Kapitäns acht, über dessen bräunlich schönes Gesicht das Hohnlächeln ging. Aber so oft Erich dies Gesicht wahrnahm, faßte ihn rasender Zorn, und fort und fort suchte er in gewaltigen Anläufen den spanischen Wall zu stürmen. Cornelis ter Decken, der bisher noch auf seinem Schiff geblieben war, sprang jetzt gleichfalls auf den Damm, eine spanische Kugel streifte zum Willkomm sein Gesicht. Er achtete ihrer nicht, sondern faßte Erich Engelbrechts Arm:

»Besinne dich, Bruder – hier wird es nicht gehen! Wir verlieren die Kraft und die Leute, laß uns zur Sammlung kommen!«

»Aber wir müssen hier durch!« schrie Erich Engelbrecht auf. »Soll uns dieser Dreckhaufen hindern? Soll der Bube, mit dem ich noch abzurechnen habe, hinter uns drein lachen und sich dann am Jammer der verschmachtenden Stadt werden? Ihn muß ich treffen, und stürzt' ich mit ihm zugleich in die Flut hinab!«

Cornelis ter Decken folgte dem Blick Erich Engelbrechts. Er sah zu der spanischen Schanze hinauf, wo der Kapitän zwischen halb verzogenen Rauchwolken stand; er frug hastig: »Wer? Wen mußt du treffen?« und hörte fast zugleich den erbitterten Ausruf: »Alonzo! Alonzo Alfuente!« und einen neuen Befehl zum Sturm. Nur ein Trupp der Geusen stürmte waffenrasselnd hinter dem Führer drein, dessen Ungestüm mehr lähmend als befeuernd auf die Männer zu wirken schien. Auf der Höhe des Walls aber schwang der spanische Kapitän die Partisane, seine Musketiere mit höhnischen Worten zum Widerstand anfeuernd: »Schlagt drein! Stürzt sie hinab! Ihr Führer entsprang dem heiligen Amt und dem Scheiterhaufen – greift ihn lebendig! Steht fest! – er wußte sein Ehebett nicht gegen mich zu schirmen und wird uns die Schanze nicht nehmen!« Wildes Jauchzen und rohes Gelächter beantwortete droben, ein lauter Aufschrei der Wut drunten den Spott Alfuentes. Im nächsten Augenblick kreuzten sich Piken und Schwerter der Spanier und Geusen. Erich Engelbrecht faßte dem Kapitän gegenüber auf dem Walle festen Fuß, vor der Wucht seines breiten Schwertes wich Alfuente abwehrend wenige Schritte zurück. Kaum sah er ihn weichen, so stützte sich der Führer des ›Verlorenen Sohnes‹, dessen Erbitterung mit jeder Sekunde wuchs, auf seine Waffe und schwang sich empor. Mit der einen Hand das spanische Feldzeichen umklammernd, mit der andern das Schwert schwingend, stand er dem gehaßten Feinde gegenüber. Die spanischen Soldaten drängten zurück, die Geusen auf Erichs Zuruf vorwärts – einen Augenblick schwankte die Entscheidung. Aber mit einer Kraft des Hasses, die jener, die aus den Augen des Leydeners blitzte, nichts nachgab, warf sich Alonzo Alfuente dem Wütenden aufs neue entgegen. Blitzschnell, übergewandt fing er die wuchtigen Streiche Erichs auf, und plötzlich rollte dieser, vom Schwerte des spanischen Kapitäns getroffen, den Wall hinab. Mit neuem Mut erfüllt fochten die Spanier, während die Geusen, durch den Fall ihres Führers verwirrt, den Wall verließen, zum Teil schon in die Flut zurücksprangen und schwimmend ihre Schiffe zu erreichen suchten. Cornelis ter Deckens Stimme drang umsonst befehlend, beschwörend durch das Getümmel, das Vertrauen aller hatte zu fest auf dem gestanden, der blutend am Boden lag, und auf den der Spanier lautspottend herablachte. Wenige Männer eilten zu ihm hin, ter Decken rief weithinschallend:

»Vorwärts, vorwärts, ihr Männer! – Was befällt euch? – was zaudert ihr? Dort hinauf, die hungernde Stadt sieht uns entgegen!«

In diesem Augenblick richtete sich der Verwundete halb empor. Seine Augen öffneten sich weit und blickten wiederum aufwärts, aber nicht nach dem höhnenden Gegner. Mit letzten Kräften sprang er auf seine Füße, beide Arme ausbreitend, neubelebt!

»Die hungernde Stadt?« klang seine Stimme. »Die hungernde Mutter willst du sagen, Cornel! Siehst du sie nicht dort, dort oben, wie sie mir stehend die Arme entgegenstreckt?«

Überwältigt vom Anblick hielt er einen Augenblick inne. Hoch auf der spanischen Schanze, noch über den Häuptern der Kämpfer, zeigte sich eine Frauengestalt und schien hilfestehend herabzusehen. Ihr weißes Haar, von einem Strahl der Abendsonne beleuchtet, ihre gefalteten Hände waren allen erkennbar. Aber ehe noch die wunderbare Erscheinung von den Spaniern wahrgenommen ward, raffte Erich Engelbrecht das Schwert auf, das ihm vorhin entfallen war, und sprang dröhnend, allen unerwartet, noch einmal empor. Mit so gewaltiger Kraft und Erbitterung unterlief er den höhnenden Alfuente, daß dieser vom bloßen Anprall zur Erde stürzte und nur vom Blut aus der Wunde seines Gegners überströmt ward. Mit stählernen Armen riß Erich den Spanier wieder auf und schleuderte ihn, zwei Schritt zurückspringend, vom Wall hinab in die Flut. Unter schallendem Jubel brachen gleichzeitig rechts und links die Geusen durch die Reihen der Spanier, die plötzliche Erscheinung der alten Frau, die gewaltige Erhebung ihres Führers riß sie zu einem letzten siegreichen Sturme fort. Den Damm entlang flohen die erschrockenen Verteidiger, sprangen in die Flut oder wurden hinabgestürzt. Und betäubend mischte sich mit den Schlachtrufen der Angreifer, dem Getümmel der Geschlagenen neuer Geschützdonner.

Erich Engelbrecht schien taub beim Todesgestöhn und Siegesjubel, blind für das Gewühl ringsum. Als aber – allen andern im Schlachtlärm unhörbar – eine schwache Stimme den Namen »Erich« rief und zwischen den Rauchwolken auf der Höhe des spanischen Werkes ein dunkles Frauengewand, eine wankende Gestalt sichtbar wurden, da horchte er jauchzend auf und stürzte trotz seiner Wunde vorwärts: er hörte, er sah die Mutter! Dort stand sie, mit leuchtenden Augen, wie aus einem wüsten Traum erwacht, sah den Sohn zu ihren Füßen und war im Begriff, sich zu den seinen zu werfen, als er sie in seinen Armen auffing. Er sprach in der Erschütterung des Augenblicks kein Wort zu ihr, aber als ihr Auge an seinem Gesicht, seiner Gestalt niederglitt, sah der starke Mann, der Krieger, der vom Blut seiner Wunden bedeckt war, die alte Frau demütig bittend an, und fast zitternd bot er ihr das Brot dar, das er im Gürtel trug. Sie nahm es, ihre Augen leuchteten, ihre welke, zitternde Hand brach ein Stück Krume davon und wehrte dabei den heißen Küssen nicht, mit denen Erich sie bedeckte. Die Kampfgenossen aber, die sich rasch herzugefunden hatten, jauchzten laut auf, als sie sahen, wie Mutter und Sohn zwischen den Trümmern der Schlacht und der Verwüstung sich fest umschlossen. Keiner frug, wie die Greisin zur Höhe der spanischen Schanze gelangt sei, nur Erich sagte bebend: »Dich haben Engel Gottes hierhergetragen und beschirmt!«

»Ich fand nur diesen Weg aus der Stadt,« antwortete sie, die Wunden des Sohnes geschäftig verbindend. »Ich sah nur nach euren Schiffen und ward von den Feinden nicht erblickt. Ich hörte, daß du kämst, und mußte dir doch ein paar arme Schritte entgegentun! Auch trug ich's nicht länger, daß die Stadt um meinetwillen litt – ich wußte, daß du da warst, ihre wie meine Not zu enden!«

Wie eine Mahnung erklangen die Worte der Greisin. Erich Engelbrecht schloß die Mutter nochmals in seine Arme, dann hoben die Geusen ihn und sie in ihre Schiffe. Krachend waren schon die Pforten der Durchfahrt zerschlagen worden, rauschend die Wasser von rechts und links zusammengeströmt. Auf ihnen schwammen jetzt der ›Verlorene Sohn‹ und der ›Egmont‹, gefolgt von wohl hundert Schiffen, den großen Kanal hinab, der nach Leyden führte. Von den Türmen klangen ihnen die Glocken entgegen, und im letzten Abendlicht fuhr die Flotte der Geusen zwischen den Mauern und Häusern der geretteten Stadt ein. Tausende standen erwartend, freudeweinend, erlösungstrunken zu ihrem Empfang. Auf dem Deck des ersten Schiffes erblickten die Bürger Erich Engelbrecht, der seine Mutter umschlungen hielt. Hundertstimmig, mit betäubendem Jubel grüßten sie den Sohn Leydens als den ersten der Retter. Der Führer des ›Verlorenen Sohnes‹ aber blickte schamrot nieder und schloß der freudebebenden Greisin den Mund, als sie ihn pries. »Lobe mich keiner!« rief er ihr zu. »Was wäre geschehen, wenn ich dich nicht erblickt hätte? Glaubt' ich nicht, als ich vorhin verwundet zu Boden stürzte, daß ich nicht würdig sei zur Rettung der Stadt? Hab' ich Anteil an ihr, so hab' ich ihn nur durch dich. Gott hat dein Herz gelenkt, daß du dem Reuigen auf halbem Wege entgegenkamst – dich und, deine Liebe mögen sie preisen!« –

Am nächsten Nachmittag fuhr Wilhelm von Oranien auf der Barke, mit der er vor zwei Tagen die Flotte besucht hatte, nach Leyden. Die gleichen Begleiter wie vorgestern waren um ihn, auf die gleiche Flut blickte sein Auge, aber hinter den halb in Trümmer gesunkenen spanischen Werken lag die befreite, jubelerfüllte Stadt, die im Überfluß die Tage des Mangels vergaß. Ringsum zeigten sich die Spuren des Kampfes vom Tage zuvor – der Prinz achtete kaum darauf, sondern lauschte dem Bericht Boisots über die letzten Stunden der Belagerung und den Entsatz. Als aber der Geusenadmiral Erich Engelbrechts und dessen gedachte, was sich mit ihm begeben hatte, rief Wilhelm von Oranien dem französischen Edelmann an seiner Seite triumphierend zu: »Und was meint Ihr nun? Was sagt Ihr jetzt? Hatte ich nicht den Rechten und den Besten gewählt?«

Herr de la Chaillerie fuhr bei der Frage des Statthalters aus trüben Gedanken empor. Unter den spanischen Leichen, die den Schanzen bei Lammen zunächst von der Flut auf den Damm geschleudert waren, hatte er den jungen Musketierkapitän Alonzo Alfuente erkannt und war bei diesem Anblick erblaßt. Sich zusammenraffend, gewaltsam lächelnd, sagte er:

»Der Erfolg entscheidet für Euch, Monseigneur. Doch habt Ihr schwerlich voraussehen können, daß Eurem Helden die Mutter mitten unter den Piken und Musketen der Spanier entgegenstürzt, – oder liegt auch das im Glauben an die Vorherbestimmung?«

»Gewiß nicht,« entgegnete ruhig, fast feierlich Wilhelm von Oranien. »Aber ich vertraute und werde allezeit vertrauen, daß einer Reue wie der Erich Engelbrechts, einem Willen zur Umkehr gleich dem seinen, auf halbem Wege Hilfe zu teil wird, wenn er ihrer bedarf. Ich zweifle so wenig daran, wie am Himmel selbst, und Ihr mögt vielleicht meinen Glauben teilen, da Ihr jetzt das Freudengeläut von den Türmen Leydens vernehmt!«


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