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Wilhelm von Oranien und seine Begleiter blieben schweigend, solange der Klang ihrer Stimmen auf den Schiffen noch hörbar sein konnte. Als dann die Barke weiter zwischen Baumwipfeln und Dächern hinglitt, holte der Prinz tief Atem und sagte zu Boisot: »Es hat sich wohl gefügt, daß wir den rechten, den besten Mann trafen. Ich fasse Mut, daß der Durchbruch gelingt, denn auf der ganzen Flotte mag es keinen zweiten geben, dessen Leben und Hoffen nur hinter den Wällen der Stadt liegt.«

Der Admiral und ein zweiter Begleiter des Prinzen gaben durch Gebärden ihre lebhafte Zustimmung zu erkennen. Der kleine französische Herr, der dicht neben Wilhelm von Oranien stand, zuckte die Schultern, – wie er glaubte, unmerklich. Aber dem scharfen Blick des Statthalters entging die Bewegung nicht, und mit einigem Unmut sagte er:

»Ihr scheint auch diesmal anderer Meinung, Herr de la Chaillerie, und glaubt, daß ich einen bessern Mann in das Vordertreffen der Flotte hätte stellen sollen. Dünkt es Euch nicht genug und nahezu ein Wunder, daß ich diesen fand? Alle die Tausende auf der Flotte hegen noch andern Wunsch und Willen als den: Brot nach Leyden zu bringen; ihm hängt Heil und Seligkeit daran, seine Seele ist nur davon erfüllt!«

»Ihr mögt recht haben, Monseigneur, Ihr seid ein Menschenkenner,« entgegnete der Franzose mit höflichem Lächeln. »Nur schien mir, der wackre Kapitän verschmerzte die Untreue seines Weibes noch nicht so, daß kein Gedanke, als der an seine Mutter, auf dem Grunde seiner Seele Raum hätte.«

»Nun, die Dame Manuelita – hieß sie nicht so? – wird doch der Satan nicht zum zweitenmal nach Holland führen?« rief Boisot, und der Prinz bekräftigte dies Wort durch einen verweisenden Blick auf den französischen Edelmann. Herr de la Chaillerie äußerte nichts mehr, die Fahrt zum Admiralsschiff ward schweigend zurückgelegt. Hier angekommen, versammelte Wilhelm von Oranien noch einmal die Befehlshaber, nahm Abschied von ihnen und dem Schiffsvolk, und schickte sich zur Rückfahrt nach Delft an, von wo er am Nachmittag gekommen war. Seine Mienen zeigten Hoffnung und Besorgnis zugleich; Herr de la Chaillerie, der seinen Platz neben ihm behauptete, mochte wahrnehmen, daß die Augen des Prinzen sich noch lange nach jenen drei Schiffen hinwendeten, die beim Scheine der brennenden Dörfer auf der Flut sichtbar waren. Zuletzt von der ganzen Flotte entschwanden sie den Blicken, und der Franzose wußte, daß Wilhelm von Oranien auf der weitern Fahrt nur ihrer und vor allem des ›Verlornen Sohnes‹ gedachte. Die ernste Stimmung des Prinzen schien auch Chaillerie zu bedrücken, er blieb stumm, bis die Barke unterwegs bei einem einsamen Landhaus anlangte, das auf einem Hügel aus der Überschwemmung hervorragte. Hier verabschiedete er sich von dem Statthalter, dem Weiterfahrenden noch von der Türstufe des Hauses nachrufend: »Ich wünsche, morgen der erste zu sein, gnädiger Herr, der Euch Nachricht vom Entsatz bringt. Ich bin hier dem Kampfe um zwei Stunden näher als Ihr, und wenn ich auch, dem Befehl meines Königs gehorchend, nicht an Bord der Flotte gehen darf, so werden mein Fernrohr und meine besten Wünsche ihrem Vordringen folgen.«

»Tut so und habt gute Nacht, Herr de la Chaillerie,« rief der Prinz herüber, und der Franzose verharrte ehrerbietig so lange auf der Schwelle, als er die davonfliegende Barke noch wahrnehmen konnte. Ehe er dann an die Tür pochte, ward ihm von innen geöffnet, und er erblickte seinen Diener, der mit einiger Ängstlichkeit den Herrn begrüßte.

»Was hast du, Baudry? Was gibt es?« fragte dieser und erhielt zur Antwort, daß er schon seit dem Nachmittag erwartet werde. Ein Bote des Obersten Valdez, des spanischen Befehlshabers vor Leyden, habe Wein und Früchte gebracht und dabei dringend eine Rücksprache mit Herrn de la Chaillerie begehrt. Die Mienen des französischen Edelmanns wurden bei dieser Meldung verdrossener und finsterer, er eilte mit raschen Schritten die Stiege empor und riß ungestüm die Tür seines Zimmers auf. In einem Sessel ruhend harrte hier ein Spanier, der halb ein Soldat, halb Diener zu sein schien, und Herrn de la Chaillerie ehrerbietig emporspringend begrüßte. Ehe er Zeit fand, ein Wort hervorzubringen, rief der Franzose hastig:

»Was wollt und sucht Ihr bei mir, Geronimo? Warum bringt der Oberst meine Ehre durch geheime Sendung in Gefahr? Was denkt Valdez? Soll ich beim Prinzen von Oranien für einen Spion gelten?«

»Der Oberst versieht sich zu Eurer Freundschaft des Besten,« entgegnete der Bote. »Stets hat er Eurer als Freund gedacht und mich gesendet, um zu erfahren, ob Ihr ihm in seiner Bedrängnis einen Rat verweigern werdet.«

»Sagt Eurem Herrn, wenn er sich wahrhaft als meinen Freund erweisen wolle, so möge er auf jeden Verkehr mit mir verzichten, solange mich des Königs Befehl an den Prinzen von Oranien fesselt. Gottes Tod! ich brauch' ihn nicht wissen zu lassen, daß ich von Herzen bei Euch und nicht bei den holländischen Rebellen bin. Aber da mein König für gut befindet, mit ihnen zu verhandeln, und mich damit betraut, so muß ich eben vergessen, daß ich im spanischen Lager Freunde habe. Nehmt Euren Wein – ich will keinen Tropfen davon. Doch sagt Oberst Valdez, daß, wenn ich auch nur Sumpfwasser bei den Holländern bekäme, ich keinen Becher leeren würde, ohne seine Gesundheit zu trinken! Und seht wohl zu, Geronimo, wie Ihr sicher wieder ins spanische Lager kommt: die Holländer sind auf der Flut wachsam, und trocknen Fußes fandet Ihr keinen Weg hierher!«

»Das laßt meine Sorge sein, gnädiger Herr! Aber soll ich meinem Obersten, der in Bedrängnis ist, nichts als diesen Euren Gruß bringen? Wißt Ihr nicht, daß am Ausgange der Belagerung Ehre und Kriegsruhm Eures Freundes hängt? Er fordert nicht, daß Ihr für ihn die Schiffe der Geusen zählen, ihm die Pläne Oraniens schreiben sollt. Aber er sagte mir: ›Frag um Rat, Geronimo, und wenn de la Chaillerie einen hat, so wird er ihn seinem Freunde Valdez nicht verweigern!‹«

Der französische Edelmann kämpfte sichtlich zwischen der Pflicht, zu schweigen, und dem Verlangen, zu sprechen. Endlich winkte er den vertrauten Diener des Oberst Valdez näher zu sich und sagte mit Nachdruck: »Geht, Geronimo, geht auf der Stelle! Wenn Valdez sein Auge über den Lammer Damm wachen läßt, wird er wohltun. Und hat er, wie ich glaube, einen jungen Kapitän namens Alonzo Alfuente bei seinen Fahnen, so mag er diesem den Platz bei der Durchfahrt vertrauen. Mehr darf ich und will ich nicht sagen. Gott befohlen!«

Der Spanier lauschte den Worten so gespannt, als ob er ihren Klang und Sinn zugleich überbringen wollte. Den Wink des Edelmannes wohlverstehend, verschwand er fast in dem Augenblicke aus dem Zimmer, wo dieser das letzte Wort sprach. Herr de la Chaillerie stand einige Minuten wie halb beschämt, dann kehrte das heitere Lächeln auf sein Gesicht zurück und er murmelte vor sich hin:

»Mag es Valdez gedeihen und den Prinzen ein wenig beschämen. War er doch zu sicher, daß jener verlorene Sohn nichts in der Welt mehr empfinde, als den Drang, sein Brot nach Leyden zu tragen und mit seiner Törin von Mutter zu teilen!«

Während der Stunden, in denen all dies geschah, stiegen die Wasser, die sich meilenweit über das Land breiteten, höher und höher. Bei den Schiffen der Geusen maß man mit wachsender Zuversicht die anschwellende Flut; in den spanischen Verschanzungen, die sich zwischen der Flotte und dem bedrängten Leyden erhoben, sahen die tiefer stehenden Wachen das Wasser ihre Füße benetzen und wichen auf die Dämme zurück. Hier wie dort wurde der Morgen klopfenden Herzens erwartet. Doch so laut auch Belagerern und Befreiern das Herz schlagen mochte: eine Stunde landeinwärts, hinter den Wällen der Stadt, sahen Tausende dem Lichte mit bangerer, verzehrender Sehnsucht entgegen. Tagelang hatten die Hungernden von allen Türmen Leydens die Geusenflotte wahrgenommen, tagelang mit bald hochflackernder, bald verlöschender Hoffnung das Wasser vor ihren Mauern wachsen, sinken und wiederum wachsen gesehen. Schon seit mancher Nacht erquickte auch die Erschöpftesten kein Schlaf mehr; in der Stunde, in der vielleicht der Hunger schwieg, wurden sie von der Erwartung emporgescheucht. »Sie kommen! sie kommen!« war schon hundertmal von freudebebenden Lippen ertönt und so oft wieder in Tränen der Enttäuschung erstickt worden, daß gestern, als die Flotte näher und näher kam, die stumme Erwartung, die wiederum jede Brust erfüllte, keinen Laut mehr fand. Auch heut, in den Stunden zwischen Mitternacht und Dämmerung, schritten die Bürger, die von den Wällen abgelöst wurden, mit manchen andern, die brennende Unruhe und der Jammer ihres Hauses auf die Straßen trieb, dem hohen Wartturm entgegen, der dem Dorfe Lammen zunächst lag. Sie klommen zu seiner Spitze empor und sahen mit einer Art düsterer Freude den Feuerschein der brennenden Dörfer am nachtdunklen Himmel. Lauschend vernahmen sie die unruhige Bewegung im Lager der Dränger, hörten von den Dämmen den Taktschritt marschierender Truppen, den Schall spanischer Kommandoworte. Von Viertelstunde zu Viertelstunde wuchs die Zahl derer, die auf der Höhe des Wartturms dichtgedrängt ihren Platz fanden. Mit der Morgendämmerung stiegen auch Frauen die schmalen Wendeltreppen auf und ab, und in müden, verweinten Augen blitzte ein Strahl der Freude auf, wenn sie sich der Gegend zuwandten, wo Masten und Wimpel der Geusenschiffe sichtbar waren. Das Frühlicht ließ nur bleiche, abgezehrte Gesichter, nur matte, schwankende Bewegungen bei allen hier Versammelten erkennen. Selbst Herr Adrian van der Werft, der Bürgermeister der Stadt, der eine würdige, stolze Haltung zu bewahren suchte, zitterte merklich, als er um die sechste Stunde den Turm erstieg. Er stützte freilich im Emporsteigen sein junges Weib, dem zwei Knaben folgten, auf deren blasse Gesichter die Mutter mit Bekümmernis zurückblickte. Aber dennoch wäre Herr Adrian fester aufgetreten, wenn ihn nicht, gleich allen, die bange Furcht dieser Stunden überwältigt hätte. Ehrerbietig wichen die Gruppen auf dem Turm zur Seite; er winkte sie zu sich heran, indem er ausrief: »Wir teilen gleiche Not, und mögen also auch die Hoffnung teilen!« Dann trat er an die Brüstung und blickte mit den andern in die Ebene hinaus, in welcher die stundenbreite Flut, graue Nebel und Oktoberhimmel nur wenige bestimmte Umrisse erkennen ließen. Mit Spannung wartete auch Herr Adrian auf den Donner der Geschütze. Dicht zur Seite des Bürgermeisters und neben dessen Frau drängte sich jetzt eine Greisin, die allen Umstehenden bekannt schien. Keiner hatte acht auf sie, obschon ihr Gebaren jedermann seltsam dünken mußte. Denn unablässig strich sie die silberweißen Flechten, die breit über ihrer Stirn lagen, zurück, als könne sie dadurch die Sehkraft der halberloschenen Augen erhöhen. Und unermüdlich bewegten sich ihre Lippen in leisem Gebet, erhob sich ihr Gesicht mit stehendem Aufblick zum Himmel. Die Entbehrung stand mit noch tieferen Runen in diesem Gesicht geschrieben, als in dem der andern, und doch blieb sie die einzige, die nicht hastig um sich blickte, als der Diener Adrian van der Werfts mit einer irdenen Schüssel erschien, auf der eine Art von Gebäck rauchte. In jedem Auge, außer dem der alten Frau, glänzte Lüsternheit. Der Bürgermeister sagte schmerzlich: »Dies ist Brot von Kleien und Nesseln – wenn noch eine Nacht ohne Hilfe verstreicht, werden wir morgen auch das vermissen!« Er zerteilte den schwarzen Klumpen und bot die Stücke an alle, die sich um ihn drängten. Auch der Greisin reichte er eins der Stücke, sie wies es aufwallend zurück:

»Um meiner Sünden willen darbt ihr alle – wie dürft' ich euch den Bissen vom Munde nehmen?!«


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