Stendhal
Napoleon Bonaparte
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Unveröffentlichtes im Nachlasse

1815

Niemand würde einem Kurier, der hundertundfünfzig Kilometer an einem glühend heißen Tag hinter sich hat, aber die letzten fünf Kilometer zum Ziele nicht mehr bewältigen konnte, zurufen: Sie sind langsam wie eine Schidkröte! – Alle Welt hat dies Napoleon zugeschrieen. Ist seelische Ermattung weniger als die körperliche? Allerdings, die Masse sieht das Seelische nicht.

Berechnet man die Dekrete, die Napoleon vom 19. Brumaire [vom Tage nach dem 9. November 1799] bis zum 11. April 1814 unterzeichnet hat, so kommt man auf dreißig bis zweiunddreißig am Tag, ohne die Truppenrapporte, deren er täglich zwanzig bis dreißig am Rande signierte. Ein Dekret enthält zehn bis zwölf Abschnitte, ein Rapport fünf bis sechs Seiten. Manches Schriftstück mußte ihm viermal vorgelegt werden, ehe er es unterschrieb. Der Betreffende, der diese Ausgänge bloß registrierte, war abends todmüde.

Oberflächlich erledigte er die Schreiberei nur, wenn er bei der Armee war. Zuweilen, trotz Kaffee und GaloppNapoleon ritt selten Trab., war er erledigt; dann fügte er sich grundsätzlich dem Ruhebedürfnisse.

Wenn er an sich zweifeln, zögern, unselbständig hätte handeln können, etwa in Dingen der Kriegführung in Spanien oder in Moskau hinsichtlich des rechtzeitigen Abmarsches, so stände das im Widerspruche zu einem unwandelbaren Willen, der auf grenzenlosem Selbstvertrauen beruhte. Warum wollen die Leute nicht verstehen, daß in ein und derselben Flasche nicht Champagner und Landwein zugleich sein kann? Nur das eine oder das andre ist möglich.

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Talleyrand hat (1814) einmal gesagt: Ein paar Querköpfe wie Dupont de Nemours ausgenommen, wen gibt es in Frankreich, der die Freiheit liebt? Und er hatte recht. Die Freiheit war nur da für zwei- oder dreitausend Theoretiker, Angsthasen, die eiligst die Haustür verrammeln, sowie auf der Gasse jemand Lärm macht, dazu, dreißigtausend oder vierzigtausend Jakobiner, zumeist kleine Leute.

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Man hat immer nur den Grad Freiheit, an den man energisch denkt. Um frei zu sein, muß man den Willen dazu haben. Napoleon Bonaparte war kein wirkliches Hindernis für die Freiheit. Das war die alte monarchische Erziehung. Nach des Kaisers Sturz, wie langsam haben sich da die Franzosen an die Freiheit gewöhnt? Napoleon, der sie zwölf Jahre hindurch glücklich und zufrieden gemacht hatte, war gar nicht abscheulich. Was man ihm am meisten vorwerfen könnte, ist der Umstand, daß er die französische Erziehung nicht reformiert hat.

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Daß die englische Revolution (1688) anders war als die des Robespierre, das liegt darin, daß der englische Bürger schon vordem etliche kleine positive Rechte besaß. Bei unserm Gesetzwesen und unsrer Bürgerwehr brauchen wir keine Furcht vor Terror zu hegen.

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Die Art und Weise, wie die unteren Klassen des Volkes zu Beginn der Regierung Ludwigs XVI. erzogen wurden, ist es einzig und allein, daß Leute wie Marat und Collot d'Herbois entstanden sind. Und nur weil die Erziehung in den königlichen Gymnasien von Helvétius und Montesquieu nichts wissen wollte, ist die schönste Seele und der größte Genius der Neuzeit dermaßen mißraten, daß ein Kaiser der Franzosen daraus geworden ist.

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Dem Fürsten von Neufchâtel [dem Marschall Alexandre Berthier], als dem Sohn eines subalternen Beamten [Hofkartographen] am Hofe zu Versailles, abgerichtet, durch seine geographischen Kenntnisse, dem Könige Ludwig XV. zu gefallen, war der Republikaner-Enthusiasmus unverständlich, der die meisten unsrer Generale in ihrer Jugend entflammt hatte. Und das natürliche Gesamtergebnis seiner höfisch gerichteten Erziehung? Er war ein Mann, aller Ehren wert, aber allem, was den Charakter des Edelmuts und der Größe trug, stand er feindselig gegenüber. In der Armee war er am wenigsten fähig, das durch und durch römische Wesen Napoleons zu begreifen. Auch wenn er dem Gewaltherrscher durch seine Hofmanieren gefiel, so verletzte er den großen Mann doch unaufhörlich durch seine Denkweise im Geiste des Ancien Régime. Als er Fürst geworden war, überlegte er sich tagelang, wie er nun seine Briefe zu beschließen habe. Seine Schmeichler machten hierzu Archivstudien; aber keiner ihrer Vorschläge paßte ihm. Schließlich entschied er sich dahin, daß er seine Briefe einfach mit Alexandré unterzeichnete. Übrigens besaß er alle Tugenden des Privatmannes. Mittelmäßig war er nur als General und Fürst. Sonst ein wenig brüsk, war er in Gesellschaft angenehm.


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