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Der Graveur

Motto.

Selbst die Verzweiflung in uns hat ihr Leben,
Die Lebenskraft des Gifts, das Wurzel faßt,
Die Nahrung dem unselgen Stamm zu geben.
Leicht wärs zu sterben! Doch das Leben paßt
Sich an der Frucht des Kummers, die es haßt,
Und die, den Aepfeln gleich am toten See
Schier Asche ist . . . . . . . . .

Byron, Child Harold, III. Gesang.

I.

»Es ist eben so, was nutzt das Arbeiten am Tage, wenn man sich den ganzen Abend in den Schenken herumdrückt?

Abend! – ha, ha! – du hast zu Hause nie die Uhr elf schlagen hören.

Der Teufel auch, wo läufst du hin mit der Nase auf dem Boden, wie ein Köter, der die Spur verloren hat? Was du suchst, das findest du freilich nicht mehr!

Wer sein Geschäft durch die Gurgel . . . . . .

Aber zum Schinder, rechts! – Siehst du's nicht, hier die Chaussee, das ist der Wald, rechts und links die Ahorne, das ist der Graben – doch den kennst du ja – hm – wenn's so fortgeht, wird's dein Ausgedinge!«

Der Sprecher, ein mittelgroßer Mann mit braunem Vollbart und breitem Hut, blieb stehen, hielt die Hand über die Augen und sah dann in das Thal, das sanft zu seinen Füßen abfiel.

Die Abensonne erglühte hinter den Bergen. Ihr goldenes Strahlenrad blitzte über den Rücken des nahen Gebirges herauf. Dies lag vor ihm, schon in das Dämmern des Abends gehüllt. Hier und da an seinem Abhange blitzten Lichter auf. Dem überraschten Auge schienen sie flimmernd hin und her zu wandern. Aber der Beschauer wußte es ja, der Berg war bis zur Höhe bebaut.

»Seltsam,« öffnete er die zusammengepreßten Lippen, »das wissen die Leute genau, wenns um sie Nacht wird. Da zündet jeder sein Licht an. Aber wenn drinnen die Nacht anhebt, haben die wenigsten Augen.«

Seine eben noch streng blickenden, grauen Augen wurden milde, die Lider senkten sich. Die Linien des Gesichts, welche bei den Worten an seinen Begleiter hart die Wangen furchten, verschwanden. Das Antlitz wurde sanft, feierlich, wie das eines Menschen, der fernes Glockengeläut hört, oder schöne Gedanken und Träume belauscht.

Nach einigen Minuten stillen Sinnes strich er sich über das Gesicht und fragte, sich energisch zum Weitergehen wendend:

»Und was willst du nun beginnen?«

Der Begleiter riß sein Gesicht vom Boden. Die Zähne seines Oberkiefers hatten sich in die fleischige Unterlippe gegraben, die Gesichtsmuskeln an den Seiten zuckten noch im Zorne. Aber da wandte er das Gesicht dem Fragenden voll zu und – augenblicklich stieß Freundlichkeit die Lippen auf und rollte sie voll und sinnlich; das eckig gepreßte Kinn fiel in schrankenloser Gutmütigkeit und bettete sich in die aufquellende Fettmasse des Gesichtes.

»Was thun? – einfach, einfach! – Siehst du, Bruder Josef . . . .«

Er blieb stehen, spreitete seine kurzen dicken Beine und lehnte sich zurück auf seinen knotigen Stock, stieß seine breitschildige Mütze nach hinten und faßte den Stehenbleibenden fest ins Auge. Es mochte ihm etwas neues durch den Kopf gehen – etwas fernes, fremdes, aber interessantes. Er sammelte sich.

»Einfach, einfach! Mit dem Handwerk ist nichts mehr, trotz Innungsschwindel und Zünftelei. Blech sage ich dir, pures Blech! Alle gehen futsch! Warte nur ein paar Jährchen und den dicken Kollegen gehts grade wie mir. Wer ist Schuld? Bismarck der . . .« er schrak vor dem Worte auf seiner Zunge zusammen und schaute sich betroffen um . . . . . »der, mit seiner Grenzsperre, seinem Schweineverbot, seinem, wer weiß was, macht alle Fleischer caput. Caput, sage ich dir!«

Er stieß seinen Stock auf.

»Ich bin ein Opfer der Politik, weiter nichts. Das war die letzte Zeit zum Haare ausraufen. Sag ich zum Gesellen: Geh und hol ein Schwein; aber fett, ein Speckschwein, zum Donnerwetter! Abends kommt er wie lungensüchtig, als ob er um die Welt gelaufen wär und bringt ein Schwein, ein Schweinchen – so – so –«

Er bückt sich und berührt mit der Hand fast den Boden; aber es thut nichts, es ist ja dunkel.

»So – ach Gott, kaum gucken die Ohren aus dem Troge und 150 Mark – Pfund 70 Pfennige. Na, und wer kaufts? Der Arbeiter? hat kein Geld, muß gluck, gluck . . . . Der Beamte? Nun ja, aber: »Nur ja keine Knochen, das Gehalt ist klein und alles theuer, lieber Herr Schramm!« und dabei machen die Weiber ein Gesicht zum Erbarmen. Da bleib einer fest; ich konnte es nicht. Herr Gott, warum war ich so weichmütig und habe geborgt dem 6 Mark, dem neun, dem zwanzig u.s.w. u.s.f. . . . und dann ist der fort und der . . . ha, ha! ich bin ein Opfer der Politik, weiter nichts!

Was ich thu? Siehst du lieber Bruder – du weißts, der Vater hat immer gesagt, wenn der August . . . .«

»Ach wenn der Vater noch lebte! gut, daß er tot ist!«

Der Sprecher schien es nicht gehört zu haben.

»Vaterunserschlucker,« murmelte er und dann zuversichtlich-kordial, feuriger Thatendrang zitterte in seiner ausgebrannten Stimme:

»Ich hab schon den Plan gemacht, als es zu rappeln anfing. Wenn alles ins Reine gebracht ist, bleiben mir noch so etwa 300 Mark. Dafür kauf ich mir ein Pferd und einen Wagen, häng die Profession an den Nagel und handle mit Rindvieh, Schweinen u.s.w. u.s.f., den Einkauf versteh ich wie Moses. Nach Schweinchen reißt man sich die Kleider vom Leibe. Das Geschäft muß gehn. Aber von den Herrn kauf ich sie nicht, die sich an der Klassenpolitik des Fürsten Bismarck reich schlucken. Lieber geh ich Lumpen sammeln. Drüben in Böhmen sind die Schweine fast umsonst; den halben Wurf schlägt man tot. Das Paar vier Gulden, ich sage dir wie geleckt. Mit den Herrn von der Steuer trinkt man ein paar Flaschen Ungar, sagt gute Nacht und läßt einen Fünfmarkschein in ihren Händen. Ich sage dir, dann sind sie mit Blindheit geschlagen. Ich kenne den Rummel.«

»Und wenn sie dich contreband machen?«

»Der Michel,« dachte der Kleine und wollte sich vor Lachen ausschütten.

»Dafür laß mich sorgen. – Drüben kostet jedes Paar Schweine vier Gulden. Das sind so sieben Mark und bei uns verkaufe ich sie nicht unter 50 Mark, macht mindestens 35 Mark Reingewinn. Wenn ich in drei Jahren nicht alles wieder habe, was ich jetzt verloren, will ich Hans heißen, Hans sage ich!«

Dem nachdenklich Dahinschreitenden gefiel es, daß den Bankerotteur nicht Mutlosigkeit ergriffen. Aber die Art und Weise, wie er seine Entwürfe entwickelte, das Heftige, Verworrene, das blinde Gewebe seiner Pläne ließ den Geist erkennen, aus dem seine bisherige Unternehmungslust geflossen. Er glaubte, ihn zu riechen und hielt sich dichter an der Seite seines Bruders.

Der aber stürmte dahin, immer energischer mit dem Stocke aufstoßend. So wirbelten auch seine Gedanken durch die Seele.

Dann noch zwei Jahre – wie schnell gehen zwei Jahre – werden vier Pferde gehalten. In Neurode ein Haus . . . . am Ringe natürlich . . . . vom Bäcker Krause . . . . er will allerdings alles in Gold aufgewogen haben. – Aber, mein Gott! nach zwei, drei Jahren, was sind mir dann 8000 Mark, wenns Geschäft so fort geht?

Es stand fest, es mußte so gehen.

. . . . und dann fahre ich natürlich nicht mehr selber. Es wird – an Ort und Stellen über – na sagen wir 5-6000 Stück abgeschlossen. Die Kleinhändler verfahren die Ware. Mein Gott, die armen Schlucker wollen auch etwas haben.

Arbeitsteilung, das ist eben das Geheimnis.

Er hatte auch bis jetzt die Arbeit geteilt, so zwar, daß auf ihn zuletzt nur noch der Schein der Arbeitsamkeit kam. Das ist das Geheimnis.

Er hatte den Schlüssel gefunden zu dem Rätsel der Neuzeit, an dem alles krankt in Wollust, in Hunger, in Wut und Schlemmerei, in Dünkel und Ekel.

Es regnet Titel auf ihn: Stadtvater, Weisenrat . . . verflucht, und du dicknasige Aktenmotte, Herr Bürgermeister, dann bin ich nicht mehr der Gewissenlose, der seine Familie in Not bringt, verstanden?

Diese Zukunft!

Er blieb stehen, hob den Kopf und starrte in die Nacht. Da hüpften die Bilder seiner Phantasie bunt, ach wie schön an ihm vorüber. Ueber ihm in den Tannen säuselte es so geheimnisvoll eigen. Die feierliche Melodie gab den Gesichten, welche vor ihm dahinflogen, Geist und Herz. Nun stieg gar der Mond durch das Geäst. Er rollte glutgolden herauf wie die Pläne seines Innern. Diese zerstoben nach und nach vor ihm und in ihm. Aber das wollüstige Gefühl blieb. Er hatte es vergessen, daß er heimatlos, ein Bettler, ein Elender war. Die schwere Zeit seines Aufringens lag hinter ihm. Er kostete den Segen seines Innern, er schlürfte Genuß.

Das ist Leben!

»Da gehört ein Schluck darauf,« summte ihm plötzlich mechanisch der fuselstinkende Gassenhauer wie ein feierlicher Hymnus durch den Kopf. Er holte die Flasche aus seiner Seitentasche, hielt sie gegen das Mondlicht und schüttelte den Inhalt. Der Branntwein drehte sich im Kreise. Er sah seinen Bruder durch die Flüssigkeit: bucklig, zusammengeknotet, wie ein Zwerg rannte er herum, lächerlich mit den Beinen schlenkernd. Natürlich, er war ja eine Ameise, nur scharren, zusammentragen und geizen konnte er. Aber einen kühnen, gewaltigen Gedanken hatte sein armer Schädel noch nie ausgeheckt. – Da war er ein anderer Kerl.

Das alles ging ihm pfeilgeschwind durch den Kopf.

Dann verschwand der Branntwein in einem Zuge. Er pfropfte die Flasche bedächtig zu. Es kam wie würdige Ruhe über ihn. Seine Gedanken hatten eine folgenschwere Lebensperiode gewinnbringend abgeschlossen. Er blickte mit überlegener Rührung auf seinen Bankerott, der weit, weit hinter ihn ins Wesenlose gerückt schien. Voll Verwunderung betrachtete er sich, der so Schweres überstanden und nun einer der Geachtetsten war.

Er befand sich in einer Stimmung, in welcher ihn jeder Zweifel, jeder Einwurf, ja jeder gut gemeinte Rat barsch, hart, gehässig, grob machen, ja sogar in maßlose Wut bringen konnte.

In solchen Momenten hatte er, der sonst Gutmütige, aber sanguinisch Launenhafte seine Frau und Kinder mißhandelt, den Gesellen mit dem Krummholz niedergeschlagen, den Gastwirten die Gläser am Kopf zerschmettert, sein Geld handvollweise übermütig in der Stube umhergestreut.

Das geschäftige Lächeln war in seinem Gesichte verschwunden. Er schritt hochaufgerichtet dahin. Er hatte es ja nicht nötig, zu kriechen.

»Ich sehe schon, dein Mut und deine Pläne,« begann sein Bruder in ernstverweisendem Ton, »ist alles Flunkerei.«

»Jeder kennt sein Geschäft am besten; wenn ich dir sage . . . . . «

»Lassen wir das,« schnitt ihm dieser den Redefluss ab, »das kommt später, wenn es überhaupt kommt.«

»Was willst du mir sagen? Du verstehst von meinem Geschäft so viel, wie das Kalb vom Eierlegen!«

»Wann läuft der Contract ab? Wie lange hat deine Familie noch Wohnung?«

Der Fleischer knirschte mit den Zähnen über solche »Bagatellen«. Jetzt, wo andere Fragen brennend sind, kommt der Stumpfnasige mit solch' erbärmlichen Lappalien! Warte nur!

»Den 32. Januar anno Tobak!« knurrte er mit unterdrücktem Lachen.

»Ich frage das wegen deiner Kinder, die ich bedaure, daß sie einen solchen Vater haben.«

»Amen!« höhnte der Kleine.

»Deine Vaterliebe, dein ganzes Menschentum ist im Fusel ersoffen, darum bist du unfähig zu jedem Edelmut. Und verdien ichs, von dir so behandelt zu werden? Denkst du, die 1000 Mark, die ich mir sauer erworben habe, und die du so leichtsinnig vergeudet, werde ich dir schenken?«

»So nimm mein Weib, meine Kinder! Mein Weib, ja, ja, du bist ja ledig! Hier hast du die Hand, arbeits ab! Du – du – Hostienlecker!«

Er schäumte vor Wut.

Die Straße bog nach Nord-West ab. Sie traten in einen thalwärts führenden Hohlweg. Der Fleischer beschritt rechts den Rand. Der Graveur ging in der Tiefe der steinigen Straße. Die beiderseitigen Ränder hoben sich bis an seine Hüften. Er streifte den neben und über ihm schwankend Hinschreitenden mit einem verachtungsvollen Blick.

»Elender!« kam es von seinen Lippen.

Der Andere hörte es nicht. Er mußte sich in Acht nehmen, nicht herunterzufallen. Er fluchte und wetterte. Worüber, war er sich nicht bewußt. Da huschte ihm plötzlich die Gewißheit durch den Kopf, sein Bruder verachte ihn, schäme sich seiner.

»Du mein Gott – der Gelbschnabel!«

Er blieb stehen und drehte sich zu ihm. Unter sarkastischem, bitterem Lachen fiel es rauh und zerrissen von seinen Lippen:

»Ich habe kein Geld . . . Natürlich muß ich mit dir gehen . . . Aber ich will nicht bei dir schlafen. Gott bewahre mich . . . So viel Lebensweise habe ich noch, zu verstehen, daß ein Bettler vor die Thür gehört – obwohl es auch ein Mensch ist – und wärs der Bruder. Ich geh in die Glasfabrik und lege mich auf den Aschenhaufen. Da ists warm. Wenn man mich frägt, . . . . aber, wer wird mich fragen? . . . . man kennt mich ja und läßt mich. Ich bin ja vom Herrn Graveur der Bruder; und der Herr Graveur ist die Rechte des Herrn, das heißt, der Herr Graveur hat seine Rechts stets in dem Geldbeutel des Herrn. Der Herr Graveur ist ein religiöser Gauner, dem es der Teufel nicht von seinem sanften Paternostergesicht absieht, daß er seinen Bruder bei der Erbteilung um 1000 Mark betrogen hat, um dieselben 1000 Mark, die er ihm dann großmütig lieh.

Ha, ha! Du heiliger Dieb!!«

Er spie nach dem bleichen, schmerzlich kalten Gesichte des unter ihm Stehenden und taumelte von dem Ruck rückwärts durch krachende Aeste zu Boden.

Der Graveur griff nach dem Herzen. Die Enttäuschung preßte es zusammen. Das also, dachte er, nach all deiner Sorge, deinem Kummer um ihn? Alles was er ihm gethan, stieg in seiner Erinnerung auf. Er hatte ihm sein Vermögen zum Geschäftsanfange geliehen, damit er Konkurrenz zu bieten imstande war. Dann, als die Leidenschaft des Bruders an der kaum begründeten Existenz gerüttelt, hatte er geholfen, so viel er konnte. Er selbst hatte auf alles verzichtet. Die Ehre seiner Familie sollte nicht niedergetreten werden. Auf seinen Schultern hatte in der letzten, verhängnisvollen Zeit vor dem Zusammenbruch des Geschäftes alle Sorge, aller Kummer geruht. Er war der verzweifelten Schwägerin Berater, Tröster und Stütze, den Kindern ein Vater gewesen. In dem Edelmut der That selbst hatte er Dank und Lohn gesucht und gefunden. Kaum berührten ihn die Gerüchte, daß er seinen Brotherrn übervorteile, um das »Gesindel« über Wasser zu halten. Er war ruhig, heiter-ernst gewesen, wie uns eben nur reine Gesinnung zu machen imstande ist.

Jetzt aber stand dieser Trunkenbold gegen ihn auf und verlachte roh seine Hilfe. Jetzt warf sein Bruder, dem er alles gethan, niederträchtige Beschuldigungen auf ihn.

Darum war er wie zerschlagen. Er war einer jener langsamen, tiefen Charaktere, welche nichts oberflächlich fühlen und denken können, die in der ersten Ueberraschung tage-, wochenlang, wie weltfremd schweigend hinschreiten, sinnen, planen und mutmaßen und selbstthätig nie zu einem Entschluß emporschnellen, denen das Handeln vom Schicksal abgetrotzt oder vom Zufall entwunden werden muß.

So stand er auch jetzt lange in düsterem Sinnen. Endlich löste sich sein Brüten in dem tonlosen Aufruf:

»So ist er doch ein Ehrloser, mein Bruder!« –

Er schrak zusammen, als das eigne Wort an sein Ohr schlug.

»Waaas duu, du . . . .« arbeitete sich der Trunkene mit Mühe vorwärts.

»Wart«, kreischte er in tierischem Zorn, »wart, ich will dirs eintränken, daß du dein Lebtag an den Lumpen denken sollst!« Er riß die Schnapsflasche aus der Seitentasche und schwang sie über dem Kopfe.

Der Graveur sah es mit kalter Gleichgiltigkeit.

Plötzlich zuckte ein glühend roter Feuerballen vor seinen Augen. Zugleich traf ein schwerer Schlag seine Stirn. Der Schatten seines Bruders wuchs pfeilgeschwind zu schwindelnder Höhe und beängstigender Breite. Es brauste vor seinen Ohren immer stärker, Mit rauschenden Flügelschlägen wälzte sich Nacht auf ihn. Dazwischen heulte es meilenfern:

Lump – Betrüger – Hurenkerl!

Kalte Beängstigung raste durch seinen Körper. Der Instinkt reißt ihn zur Notwehr. Er hebt seine Arme, irr, kraftlos um sich schlagend. Sein Bewußtsein erstirbt. Er fühlte nur noch sanfte matter werdende Stöße auf seinen Kopf niedersinken. Aus jedem strömt wollüstige, erschlaffende Wärme über sein Gesicht, durch seinen Körper. Feuergarben spritzen vor ihm auf. Sie werden immer bleicher. – Nun fühlt er sich windschnell kreisend emporgehoben. Noch einmal kehrt sein Bewußtsein zurück. Es ist ihm, als stoße er mit dem Haupt an den Himmelsbogen. Er schlägt die Augen auf und sieht den blutigroten Mond dicht vor sich und streckt in der Angst die Hand darnach aus, um sich an ihn zu klammern.

Aber schon braust die schwärzeste Nacht heran. Jach reißt sie ihn zur Tiefe. –

Am Morgen fanden Vorübergehende den Bewußtlosen mit Blut überströmt am Wege.

II.

. . . . . . . . Der Graveur fühlt sich von irgend etwas dahingetragen. Es fliegt, es rollt, unsicher schwankend, wie ein Schiff. Nun sieht es aus wie ein Ballen, nun wie eine weite, dunkle Ebene, die sich im Fluge senkt und hebt.

Er selbst aber hat die Empfindung, daß er fort müsse – wohin? – weit – weit –

Nun krümmt sich die Ebene plötzlich und schnellt ihn ab. Was unter ihm war, zieht vor ihm. Er ist getrennt vor ihm; aber die Empfindung ist noch geblieben, daß er weit, weit fort müsse. Das macht, daß er die Augen fest auf den vor ihm rollenden dunklen Ballen richtet. Aber – da recken sich langsam zwei Beine hervor, die rissigen Fichten gleichen. Langsam wachsen nun ein viereckiger Rumpf und ein Haupt, dessen verwittertes Antlitz wie aus Stein gemeißelt ist. Nebel umbrauen die ganze Gestalt, besonders das Gesicht. Sie verdichten sich; sie zerfließen. Wie sie kommen und flüchten, wachsen und schwinden, jetzt locken, jetzt drohen, scheint auch das Antlitz seinen Ausdruck zu wechseln. Aber es scheint auch nur so. In Wahrheit bleibt es grau, steinern, starr und tot und die Veränderungen fliegen über dasselbe hin wie Wetterwolken, wie Lichtlächeln.

Jetzt sieht es aus wie ein Teufelsgesicht: süß lächelnd, hartherzigmild, abstoßend-verlockend. Er fürchtet sich und möchte sich verstecken; aber überall ist Nebel, und er ist ganz allein, und – – – darf nicht säumen . . . und mit perlendem Angstschweiß auf der Stirn fliegt er dem furchtbaren Bilde nach weit . . . . weit . . . . das rollt glühend seine Augen. Dann wendet sich das Haupt: das Innere wird Aeußeres, als würden die Gedanken greifbares Bild . . . . oh, was für ein Bild!

Das Gesicht Lears, des wahnsinnigen Königs: die Stirn hoch, weiß; die grauen Augen rastlos irrend und stier; der Mund von unendlicher Seelenqual und Verzweiflung schmerzlich verzogen; die blutlosen Lippen bewegen sich nicht. Aber es geht ein Seufzen und Wimmern durch die Luft. Man hört nichts und doch fließt es dem Graveur wie eisige Schauer durch die Seele.

Dies steigert sich zur atemlosen Todesangst, da er bemerkt, daß der Mann nicht mehr vor ihm hergeht, sondern auf ihn zuschreitet. Und plötzlich nimmt er mit Qual wahr, daß der Drang nach vorwärts, der ihn beherrscht, zunimmt.

Nun fliegt er wie Wind. Er zittert voll Beklemmung und doch spürt er den stärkeren Drang wie Süßigkeit. Jetzt fühlt er des Entsetzlichen Arme sich langsam um seinen Leib legen; die marmorkalte Stirn preßt sich immer fester auf die seine. Die rastlos irrenden, seelenverwaisten Augen bohren sich in seine Seele.

Er fühlt sein Leben fortebben, langsam – langsam – dort hinein in die toten, öden Augen; – aber sie bleiben tot.

Dann fühlt er, daß in der geheimsten Werkstatt seines Wesens etwas Klammerndes, Lastendes, Bedrückendes falle.

Er hat die Empfindung einer inneren Auferstehung.

Die Kälte, der Tod, das atemlose Bangen, das Erstarren weicht und Wärme, Leben, Feuer fühlt er innen aufschießen und seinen Körper durchprickeln. Zugleich steigt er in die Höhe, als hebe ihn eine innere Kraft. Noch hat er die Augen aus Angst geschlossen. Aber über seine Haut streicht es weich und lind – das ist Licht! – – –

Er fühlt es und öffnet mutig die Augen, sie fest auf die furchtbare Gestalt heftend, die ihn noch umklammert hält. Allmählich wird der Griff leichter, das Gesicht undeutlicher, blasser.

Zuletzt fühlt er nur noch eine schwache Beklemmung, sieht nur noch einen leisen, grauen Nebel vor seinen Augen, vor seiner Seele.

Er aber fliegt in die Höhe, leichter – schneller – feuriger.

Da erwacht er und blickt um sich. –

Ueber ihm blühen rote Blumen. Er wendet sich. Da flutet das Sonnenlicht in breiten, goldenen Streifen durch das Fenster herein. An der Wand sieht er einen Mann und ein Weib. Sie lächeln. Sie grüßen ihn, die guten Leute. Wer es nur sein mag? Er möchte ihnen entgegen gehen; aber er fühlt sich so schwach, daß er nur verworren wollen kann. Wer sie nur sind, die guten Leute?

Da klingelt es so süß, so froh, daß ihm das Herz im Leibe hüpft. Er ist berauscht von dem schmeichelnden Klange. Er strengt sich an, zu erkennen, wer und was es ist.

Ach!

Das ist die alte »Therese«, das ist seine Stube, an der Wand das Bild, das Liebespaar im Walde und – er – wird nicht sterben!

Die roten Blumen . . . . . das goldene Licht . . . . . . . die lachenden Gesichter . . . . leben! . . . . . leben!

Er lächelt glückselig. –

Doch schon beginnt es um ihn zu wirbeln, alles tanzt bunt und verdichtet sich zu Nacht, die sich auf, über und in ihn legt.

Unter dem Schwächeausruf: »Ah!« sinkt er zurück in Bewußtlosigkeit.

Da schrickt die Alte zusammen, fährt herum und wirft das Glas, in dem sie eine Flüssigkeit rührte, herunter. Das Klirren reißt den Fiebernden noch einmal zum Bewußtsein.

Er sieht die Alte, die an die Seite des Bettes geeilt ist – lächelt schwach und schließt die Augen, unverständliche Laute hervorstoßend.

»Jesus, Marie und alle heiligen Engel! Herr Josef, liebster Herr Schramm! kennen Sie mich nicht? Ich bin ja Ihre alte, treue Therese, lieber Herr Josef!«

Aber der hörte sie nicht, der lag im Fieber.

»Nun schon sechs Tage,« murmelte die Alte, in den Hof schauend, wo sich zerlumpte Jungen balgten. Sie starrte wie jemand, der einem inneren Schmerze entfliehen will, etwas Zerstreuendes sucht und findet und in allem doch bald nur das bleiche Antlitz seines tiefen Seelenleidens sieht, das er eben fliehen möchte. So seufzte sie tief und schluchzend auf:

»Er ist nicht mein Kind; aber wenn ich ginge, müßte ich mich selber anspeien. Nein – nein!« bestärkte sie sich in ihrem Edelmute.

». . . . . . . und dann gleich etwas Kräftiges . . . . was sagte nur der Doktor . . . .«

Er wird wieder aufwachen.

Sie ging auf den Zehen zum Bett und sah unverwandt auf den bleichen Kranken, dessen fiebertrockene Lippen sich krampfartig bewegten. Sie blickte unausgesetzt auf ihn, mit jener Sehnsucht und Liebe, wie der Gärtner auf eine mühevoll gepflegte Pflanze schaut, deren Aufblühen er erwartet: er stellt sich die Blüte vor, zählt im Geiste die Blumenblätter, meint den Duft zu riechen und hört sich schon erfreut seinem Weibe oder jedem Dritten mit feurigen Worten die frohe Kunde melden. So rief auch sie sich das schnell verflogene Lächeln des Wiedererwachten ins Gedächtnis zurück, stellte sich das bleiche regungslose Gesicht vor und schalt sich »ein ungeschicktes Ding« wegen des Glases. Sie habe ihn nur wieder »verdreht« gemacht, war ihre Meinung. Dann sann sie sich aus, was sie ihm sagen würde, wenn er wieder erwachte.

Es mußte etwas Heiteres sein, denn sie verzog den Mund zu einem breiten unbeholfenen Lächeln. Aber ihr graublaues Auge sah so selig drein, daß das Gesicht dem eines fröhlichen Kindes geglichen hätte, wenn die Runzeln nicht gewesen wären.

Und das und das würde sie dem Doktor erzählen. So und so hat ers gemacht. Da stand ich u.s.w., ganz genau, denn »der Doktor muß alles ganz genau wissen, sonst kann er nimmer das Rechte treffen.«

Bei diesen Gedanken an ihre wortreiche Erzählung wurde sie selbst unversehens hastig und geschäftig, vollführte alle Bewegungen, die sie erwähnen wollte, faltete ein über das andere Mal betrübt, bedauernd, ratlos die Hände, ließ den Geist ihrer Worte über ihr Gesicht huschen und zog und zupfte dazwischen in bekümmerter Aengstlichkeit an der Decke des Kranken, rückte ihm die Kopfbinde und fuhr dem »armen Kerl« mit der rauhen, harten Hand über die welke Wange.

Da ging die Thür auf und der Doktor trat ein.

Therese drehte sich hastig herum, daß das kleine Tischchen ins Wanken kam und die Medizinflaschen klirrten.

»Guten Tag, Herr Doktor«, stotterte sie wie ein ertapptes Kind.

»Guten Tag, Therese,« schleifte seine Zunge über die Zähne. »Nun, wie gehts? besser? aufgewacht? Angeschlagen? Noch im Fieber? hm, hm.«

Er nahm des Kranken schlaff herabhängende Hand und fühlte den Puls, ihn aufmerksam prüfend, er erwartete offenbar keine Antwort auf seine mechanisch-schnell gethanen, abgerissenen Fragen.

»Hm, hm . . . wann war er bei Besinnung? wie lange?« Therese staunte ihn sprachlos an und vergaß anfangs vor Bewunderung ihre schön einstudierte Erzählung. Dann aber brachen die Schleusen ihrer Beredsamkeit.

Der Doktor ertrug es mit einem Lächeln, das wie eine ärgerliche Grimmasse aussah. Er lachte nie anders.

»Nicht lange,« setzte er endlich fest dazwischen, »und der Kranke wird wieder aufwachen. Ich werde ihm etwas zur Kräftigung und Anregung des Appetits verschreiben. Kann sein, er hat die Sprache verloren. Aber ich hoffe, daß er bei Ruhe und sorgfältiger, schonender Behandlung wieder ganz gesund wird. Vor allem, Therese, vermeiden Sie alle Anspielungen auf seinen Bruder und sein Unglück sonst. . .

Aber . . . . . « brach er rauh ab und weiter dacht er: das ist eine Gans. Wozu ihr alles sagen? Sie verstehts doch nicht.

»Verkehren Sie mit ihm, wie mit einem Kinde.«

»Jesus, Jesus! mein Gott! stumm! sagten Sie nicht so?« rief sie.

Es sollte gedämpft klingen; aber es scholl durchs Zimmer wie ein schmerzlicher Schrei.

»Ach!« klang es gedehnt und tonlos vom Krankenlager her.

Der Doktor eilte hin.

»Nun Herr Schramm, ausgeschlafen? So ists hübsch. Guten Morgen! Haben Sie Kopfschmerzen?«

Er nahm des Kranken Hand, die er losgelassen hatte und schaute ihn liebenswürdig an und lächelte. Aber sein Lachen war abstoßend anzusehen. Es war, als ob rachsüchtige Schadenfreude schwach mit weinerlicher Wut auf dem Gesicht kämpfte. Er konnte nicht dafür.

Anfangs lächelte der Kranke wie ein Sechswochenkind: eckig, leer und schwach.

Plötzlich aber schaute er erschrocken und voll Angst. Ein verzweiflungsvoller Gurgelton kam über seine Lippen. Der Doktor ging weg und der Graveur heftete seine weitgeöffneten Augen schreckenstarr fest auf etwas, das vor ihm in der Luft zu schweben schien.

Nach und nach verschwindet das Entsetzen aus seinen Zügen und die Augen schließen sich wie vor Ermattung. Der Doktor giebt der Alten noch flüsternd einige Anweisungen und schleicht dann geräuschlos von dannen.

Therese seufzt auf und steht lange schmerzversunken. Dan geht sie, mischt einen Trank und reicht ihn dem Kranken.

Er schlägt die Augen auf und lächelt wieder jenes stumme, leere, schwache Lächeln; dann schlürft er die dargebotene Flüssigkeit.

Therese wendet sich hastig und schluchzt unterdrückt; sie möchte ihn gern bedauern und sprechen und ihn trösten, aber sie darf nicht. Doch so, ohne dem Schmerze Luft zu machen, ist sie nicht imstande, den Hilflosen anzuschauen. Sie geht leise zur Thür hinaus, draußen die Hände nach unten ringend, und bitterlich in die Schürze weinend, schleicht sie die kreischende Stiege hinab.

Indessen lag Schramm mit weit geöffneten Augen da. Sie glitten neugierig und hastig über das ganze Zimmer, an jedem Gegenstande eine Weile entzückt haftend.

Er erkannte alle Sachen: die roten Blumen an der Decke, die Bilder an der Wand, in der Ecke den Blumentisch, auf dem Schrank den Käfig mit dem Kanarienvogel, draußen Berge, Himmel, Sonne, Wolken und Häuser. Er hatte die Empfindung weit, weit gewandert und nun angekommen zu sein. Doch wo er gewesen, von Zeit und Verhältnissen der Reise hatte er kein Bewußtsein. Es lag in ihm ein weites Land: Berge, Flüsse, Himmel, Wälder und Häuser. Alles in einem weißen verlockenden Frühlingszwielicht, aber alles ohne Leben, ohne Zweck, ohne Ziel, ohne Beziehung auf einander. Zu dieser stummen Welt in seinem Innern gelangte er nicht durch Besinnung, sondern sie dehnte sich aus, wuchs und klärte sich mit der zunehmenden Menge von Gegenständen, welche seine Sinne wahrnahmen. Auch lag diese Welt nicht hinter ihm. Seine Seele war von ihr umringt. Er hatte jede Idee der Zeitfolge verloren.

Wenn ein neuer Gegenstand vor seine Sinne trat, dann fühlte er eine warme, wollüstige Woge in seinem Innern auf- und nach außen, gleichsam dem Dinge entgegenfluten, dessen Bild sich in seine Seele hinabneigte und dort aus dem weißen lockenden Frühlingszwielicht sein längst dort ruhendes, aber verloschenes, verschüttetes Abbild heraushob. Dann hatte er stets das Gefühl der Befriedigung, des Geborgenseins, ja eines gewissen kindlichen Stolzes, wenn man, weil unserer Sprache die rechten Worte für diesen Zustand fehlen, Zusammengesetztes, Hohes für Einfaches, Niederes setzen will. Es war eine gewisse tierische, organische Wollust, welche aus der Uebereinstimmung und dem Zusammenklang der Resultate der, auf so verschiedenem Wege forschenden Sinne sich zusammensetzte. Sein Wiedererkennen der Außenwelt hatte viel Aehnlichkeit mit der Art und Weise, wie ein kleines Kind Erfahrungen, d.h. Bilder sammelt. Aber der Eindruck, der daraus entspringende Seelenzustand war doch ein ganz verschiedener. Während in der Seele des kleinen Kindes aus dem Hochgefühl selbstständigen Entdeckens rastloser Eifer und Erfahrungssucht sich gebärt, wob sich um das Leben Schramms aus dem Reflex der Außenwelt in sein Inneres eine feierliche, gesättigte, wunschlose Freude. Diese fühlte er aber weniger im Herzen und Geiste, sondern sie verbreitete sich durch seinen ganzen Körper als Wohlbehagen. Er schmeckte sie mit der Zunge. Es war, als fühle er sie weich und wohlthuend, wenn er die Hände aneinander rieb.

Seine Freude wurde hervorgerufen durch die Erkenntnis der Verwandtschaft oder Gleichheit der äußeren Dinge unter einander und mit den, in immer größerer Zahl und Deutlichkeit in geistige Sichtbarkeit tretenden Bildern seines Innern in Form, Farbe, Gestalt, Ausdehnung und Bewegung. Es war mit einem Worte eine indirekte und auch nicht klar bewußte Freude darüber, sich unverändert wiedergefunden zu haben, nachdem er weit, so weit gereist sei.

Was ihn besonders entzückte, war, daß er z.B. den Sang des Kanarienvogels noch lange gedämpft, in eigentümlicher Tonfärbung im Innern nachklingen hörte, Farben nach dem Verschwinden traumhaft fortglühen und Dinge und Gegenstände rastlos sich bewegen sah. Dann kehrten seine Sinne ihre Kräfte gleichsam innewärts und stundenlang beobachtete er versunken das bunte, seelenlose Kaleidoskop seines toten Innenlebens. –

Von Allem, was er sah und hörte, hatte er die Ahnung, es oft gesehen und gehört zu haben, mit ihm vertraut gewesen zu sein. Aber da sich diese Erinnerung nur an sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften knüpfte, schloß sie eben jede Vorstellung von Zeitfolge aus. Auch Personen seiner näheren Bekanntschaft übten in der ersten Zeit nicht mehr als einen bloßen Sinnesreiz aus. Ihre Worte waren ihm nur Schälle, welche seine sensitiven Nerven auf gewohnte Weise erregten. Er vermochte Klangfarbe und Nüancirung der Stimme zu unterscheiden, aber nur insofern, als die verschiedenen Tonwellen, nun leer, entgeistet, ohne seelische Anziehungskraft, früher durch sein Bewußtsein geflutet waren. –

Fremden, unbekannten Tönen, Gegenständen und Gesichtern gegenüber verhielt er sich stumpf und teilnahmslos, eben weil sie keinen inneren organischen Erinnerungsschatten wachriefen.

So ruhte seine Seele wochenlang zwischen tierischer Nacht und lichtvollem, klarem Bewußtsein, in dem Dämmern eines geistigen Halbschlafes. –

III.

Viele Tage und Nächte gingen. Schramm verbrachte sie mit Schlafen, Essen und Schauen. Allmählich wurde er kräftiger. Schon durfte er stundenlang auf einem Stuhle sitzen und am Arme der Alten einige Schritte im Zimmer thun.

Sein Inneres wandelte sich.

Es glich der Natur im Winter, wenn die Sonne mit geschlossenem Auge, wie eine Nachtwandlerin über den Himmel schleicht, mit bleichem, schlaftrunkenen Angesicht. Die Dinge auf Erden stehen einsam und verschlossen da, jedes gleichsam gebannt und bewegt von eigenem, kaltem, lastendem Schmerz und Düsterkeit. Der wunderbare, naturgesetzliche Zug der Sympathie zwischen allen ist zerrissen und auch der gleiche Tod, in welchem alles zittert, vermag sie nicht zu einen.

Die trauernde Weide steht gebeugt am Bache; ihre Krone schwankt wie ein schmerzbetäubtes Haupt und wenn sie ein leiser Wind bewegt, dann schwingt sie die langen, schlaffen Ruthen wimmernd, als ob sie in dumpfer, namenloser Verzweiflung ihren schlanken Leib geißele. Der Bach kocht und brodelt in Gram; die Tannen murren und ächzen in düsterem Elend. Der angestoßene Stein des Weges schreit durchdringend und grell auf, wie die verfehmte Armut, die von der Hartherzigkeit in die Gosse geschleudert wird.

Aber alles trägt einsam, verschlossen und scheu den gleichen Tod.

Doch wenn dann im März der Schnee graut, das Eis schmilzt, die braune Woge sich brausend wälzt, der glückliche Himmel aus zerrissenen Wolkenmassen mit seelenvollen, tiefblauen Augen neugierig niederlugt und die Sonne in stets kühnerem Bogen hinwandelt in kindlicher, reifender Mädchenschöne, so verheißend, so lockend: Dann bricht der Bann des Todes und der Vereinsamung. Zwischen den Dingen haftet und sprüht ein wunderbares, unsichtbares Leben, Sichhinneigen und Sehnen. Ein stummes Jauchzen ruht auf der geschlossenen Knospenlippe des Baumes, der seine Aeste in Wiedersehensfreude nach dem Himmel breitet.

Alles drängt und ringt nach dem Ausdruck eines neuen Lebens der Harmonie und süßen Verkettung.

Der betrachtende Menschengeist sieht das Mühen der an die Scholle gefesselten Lebewesen, sich zu umschlingen, sich etwas zu erzählen, den Grund ihres Daseins zu öffnen, zu künden. Er grübelt und sucht nach Vorstellungen und Begriffen, nach Klarheit und schwingt sich immer nur bis zum begeisterten, bewundernden, unklaren Ausruf auf.

Dieselbe Wandlung hatte sich in Schramms Seele vollzogen. Er stand zum zweiten Male in einem geistigen Vorfrühling.

Er saß in einem Lehnstuhle, den Kopf müde rückwärts gelehnt. Seine Augen waren halb geschlossen, der Mund leise geöffnet. Auf dem ganzen Gesichte lag es wie überirdische Verzückung, die in ihrem Ausdruck durch die Krankenblässe noch erhöht wurde.

Die Strahlen der aufgehenden Sonne breiteten ihren zitternden, buntfarbigen Fächer aus. Auf dem gelben Schrank in der Ecke kamen und vergingen gleißende Ringe. In dem Pflanzengewirr des Blumentisches zerfloß das Licht wie träumend in seine Farben. Die Goldfische schwammen wie in Morgenröte und man wußte nicht, ob das blitzende Wasser durch Verdichtung die Fische zu schaffen beginne, oder ob die Goldfische in ihr blitzendes Element zerflössen.

Die Messingplatte des Perpendikels schwang in geschwätziger Regelmäßigkeit aus dem Sonnenschein in den Schatten; sie sah aus wie ein Auge, das, von der Sonne immer geblendet und geschlossen, sich immer wieder öffnet, wie ein runder Zwerg, der rastlos auf seinem Rücken den Sonnenschein in die Nacht schleppte, seine dunkle Heimat zu erleuchten.

Der Kanarievogel flatterte mit sehnsüchtigem Ruf dem Lichte der Freiheit zu.

Draußen rauschten die Bäume herein, die Vögel sangen und surrend zog das eintönige Geräusch von der Landstraße herauf in seine Wohnung.

Seine Seele öffnete sich mit feierlichem Wohlbehagen der Flut neuer Töne und Farben, die seine Sinne emsig sammelten.

Plötzlich gewahrte er, daß der Schrank zum Unterschied von anderen Gegenständen prismatische Gestalt habe. Er bemerkte die Ritze des Thürschlosses, die Verzierungen, den Schub und die kurzen Füße. Es kam ihm wie ein Rätsel, ein Märchen vor. In ihm tauchte nicht die Frage »warum?« auf, es umschwebte den Schrank ein nur für ihn sichtbares, bunt bewegtes Leben: er hörte es um den Schrank herum klopfen, ächzen, kreischen, fauchen, zischen, fallen . . . . doch weit, gedämpft, undeutlich. Menschen, Dinge, Farben, Erlebnisse, wie nebelverschwommen oder stückweise, entstanden und vergingen.

An der Wand wurde es auch lebendig. Das Muster verblich. Er sah undeutlich eine Gestalt durch sein Gedächtnis huschen. Er hörte zerrissene Worte: . . . . wollen . . . . . . blau . . . . . Untermuster . . . . na ja! . . . ha . . .

Der Ofen zerbröckelte, es polterte, schlug dumpf, warf etwas herab. Dann hörte er: Kochherd . . . . . sehr wärmend . . . . offene . . . . gut.

Ein Gesicht tauchte in seiner Seele auf und verging schnell.

Die Erinnerung arbeitete sich aus dem Taumel zur Klarheit. In die wiedergewonnenen, sinnlichen Wahrnehmungen begann der Geist der Vergangenheit zu ziehen; entweder zerflattert und zusammenhanglos oder voll, klar, aber schnell verschwindend.

Der Erlebungskreis, welcher sich an jedes Stück seines Eigentums oder die Dinge draußen knüpfte, verlieh jedem sein eigenes geistiges Gesicht, auf dessen Lippen wie in Qual Worte, Begriff, Thatsachen, ganze Scenen sich aufrangen, halb laut wurden, wieder verstummten und zuletzt gleichsam nur durch die Gebärde des Sprechens in Sichtbarkeit traten. Schramms Seele beherrschte dieselbe Empfindung des Unbefriedigtseins, dasselbe ängstliche, ärgerliche Grübeln, welches sich bei jedem einstellt, wenn er ein fast bekanntes Gesicht sieht. Man sucht nach dem Namen, grübelt, grübelt, sieht dazwischen in traumhafter Deutlichkeit Scenen, erinnert sich halb an Gespräche, welche sich an diese Person zu knüpfen scheinen und grübelt weiter, ohne zur klaren Erinnerung zu gelangen.

Schramm sann, sann leidenschaftlich mit wogender Brust, glühenden Augen, hämmernden Schläfen, festgeschlossenen Lippen. Es trieb ihn dazu die plötzlich in ihm auftauchende, mehr gefühlte Ueberzeugung, daß er Klarheit finden müsse, sonst sei sein Leben elend.

Darum dachte er angstvoll fiebernd.

Wie mit spitzen Geierkrallen packten seine Augen die Gestalten, welche die Dinge um ihn her umtanzten, entstanden und vergingen. Wenn er sie gefaßt und seine forschenden Blicke darauf heftete, zerflossen sie oder verwandelten sich in andere, noch nie gesehene Gestalten, denen seine Augen aufs Neue wie in Gier nachjagten, bis sie wieder ratlos und irr vor dem Wesenlosen standen.

Schon perlte auf des Kranken Stirne Schweiß und immer noch trat auf der eilig dahinhuschenden Woge von Farben, Gestalten, Dingen, Tönen und Geräuschen keine Scene, kein Wort, kein Ding in Deutlichkeit hervor.

Sein ängstliches Sehnen sank schon in eine peinigende Mutlosigkeit, da sah er deutlich in seiner Erinnerung die Schrankthür aufgehen. Eine Frauengestalt wuchs aus dem dunklen Hintergrunde klar und scharf hervor. Die kehrte Schramm den Rücken und hing etwas hinein. Es war so deutlich und klar, daß er gar nicht zu dem Gedanken an Täuschung kam. Mit angehaltenem Atem, klopfendem Herzen und namenloser Verzückung in dem weit geöffneten Auge starrte er das Bild an, wie ein Denker eine endlich gefundene Idee, ein Erfinder das Modell, das er so oft im Traum sah.

Nun wandte sich die Gestalt und kehrte ihm ihr lebensfrisches, liebenswürdig-lachendes Gesicht zu.

»Ach Gott, ach ja, das ist ja meine Schwester«, schrie er, entzückt die Hände zusammenschlagend.

Die Alte fuhr erschrocken auf; sie hörte Schramm einen dumpfen, überlauten Gurgelton ausstoßen.

Plötzlich sah sie, wie das Entsetzen langsam seine Züge entstellte. Sein Gesicht nahm denselben verzweiflungsvoll erschrockenen Ausdruck an, als da er nach wiedergekehrtem Bewußtsein des Doktors grinsendes Lächeln wahrnahm. Das Auge war starr auf etwas vor ihm in der Luft schwebendes gerichtet.

Schramm hatte unmittelbar nach dem Ausruf, wohl infolge der geistigen Anstrengung, die immer bunter und klarer aufsteigende Welt seiner Erinnerung wie durch einen Stoß zusammenbrechen und in wirren Fetzen davonfliegen sehen. Gleich düsteren Schatten zog es dann in seine Seele; und jetzt quollen titanenhafte dräuende Gesichte hervor. Der Fiebertraum, an welchem er zum Bewußtsein emporstieg, zog wieder mit seinen entsetzlichen Gestalten und Empfindungen durch ihn hin.

Eine furchtbare Angst, die seit lange, gleichsam wie betäubt, nach Bewußtsein ringend in ihm geschlafen zu haben schien, sprang in seinem Herzen auf und wälzte sich zitternd durch alle Glieder.

. . . . . . . . . . Da wandelte sich das Antlitz des Traumes. Ein Teufelsgesicht starrte auf ihn: süß-lächelnd, hartherzig-mild, abstoßend-verlockend.

In demselben Moment tritt der Doktor herein. Er ist in tiefem Nachdenken, legt Hut und Stock beiseite, schreitet mechanisch auf ihn zu, lächelt sein seltsames Lächeln, bietet ihm die Hand und heftet erst dann sein Auge voll auf den regungslos Dasitzenden.

Schramm springt auf, weicht entsetzt zurück, beschreibt mit seinen Armen irre abwehrende Bewegungen, dabei gurgelnde Hilfeschrei ausstoßend.

Auf den Lippen des Doktors versteinert das grinsende Lächeln. Es fährt ihm durchs Hirn: er ist wahnsinnig, fliehst du, dann bis du verloren, er stürzt sich auf dich und erw. . . . . . .

Er geht dem Zurückweichenden herzhaft nach, immer verzweifelt lächelnd: »Was giebts? . . . . Kopf . . . . schmerz l–egen – Sie – sich in–s Bett . . .« stottert er tonlos.

Schramm weicht zurück.

»Das ist es! oh , es kommt, es kommt näher, das Satansgesicht!« schreit die rasende Furcht in ihm auf.

Er ist an der Wand angelangt und kann nicht weiter. Beide bohren die Augen in einander.

Es vergehen qualvolle Minuten langsam wie Jahre. –

Ueber ihnen, im dritten Stock der Arbeiterkaserne, welche Schramm bewohnt, hat sich Gepolter erhoben. Gedämpftes Stimmengewirr erschallt durch die Zimmdecke. Die Thür in einem der oberen Gemache wird krachend aufgerissen. Man hört es durch einander fluchen, roh und trunken lachen, stoßen und schleifen. Nun rollt eine Last dumpf und schnell herab. Peinliche Stille folgt. Dann ist es, als ob sich jemand langsam und unsicher von einem Falle erhebe. Es prallt etwas an Schramms Zimmerthür, dann hört man eine tiefe, männliche Stimme brummen und in verbissener Wut stöhnen.

Auf dieses Lebenszeichen von unten erdröhnt vom oberen Flur wieherndes Gelächter.

»Knochen wie ein Kautschukmann!«

Frenetischer Jubel lohnt diesen Witz.

Da hebt der Herabgeworfene zischend vor Wut an:

»Was du – du – Lump, Betrüger, Hurenkerl.«

Man hört diesen Ausruf auch in Schramms Zimmer. Er trifft den Graveur wie ein Donnerschlag. Wie ein Blitzstrahl schießt helles Licht durch seine Seele. Das traumhafte Gesicht, die lastende Wolke von Angst und halbem Bewußtsein flieht jäh. Die Welt seiner Umgebung mit allem was er in ihr sah, dachte und erlebte, stürzt sich kalt und gewöhnlich auf ihn: aber er fühlt alles wie einen schmerzhaften Schnitt quer durch sein Herz.

Er schnellt auf und – sinkt im nächsten Augenblick innerlich gebrochen zusammen.

Denn klarer und genauer als alles Vergangene hebt sich die Erinnerung an den Hohlweg. Sie wächst in ihm schnell wie eine Giftpflanze, sie breitet ihr düsteres Geäst über alle Bilder seine Gedächtnisses. In vollem Sonnenlichte makelloser Bewußtheit steht sie in ihm. Das übrige tritt mehr oder weniger in unklares Dämmern, abgestoßen, überwuchert, oder scheu zurückweichend! –

Der taumelnde Schatten seines Bruders wächst blitzschnell zu schwindelnder Höhe und beängstigender Breite. Die im blutigroten Mondschein blitzende Flasche kreist und funkelt, wie das mordgierige Auge eines Raubtieres. Aus unendlicher Ferne schwimmt auf zitterndem Flügel gedämpft der wutohnmächtige Ruf: Lump, Betrüger, Hurenkerl! in seine Brust und gräbt und bohrt sich hinein wie ätzendes Gift. Sein reiner, tief sittlicher Charakter zuckt wie leblos unter dem schmachvollen Banne der Verdächtigung durch seinen Bruder.

Lange steht er wie entgeistet, sein Haupt ruht auf der Brust, sein Auge ist geschlossen.

Dann fühlt er es innen glutheiß aufkochen, stürmen, brausen und stoßen wie eine Feuerwoge. Die Ruhe und Ordnung seines ganzen Organismus ist zerrissen. Es gährt und rast in ihm wie die Revolution. Gedanken und Empfindungen, Gefühle, Leidenschaft und Willensstärke kämpfen in eine wirre, unförmige Masse zusammengeballt. Wie wuchtige Keulenschläge pocht das Herz gegen die Brust, aber irr und unregelmäßig.

Es sind die Wehen seiner milden, beschaulichen, ernsten, liebvollen Seele, welche sich gegen die Geburt einer düsteren Leidenschaft wehrt, wie die blütenbesäte Erde gegen den kochenden Vulkan, der ihr Inneres zerwühlt und ihr heiteres Leben bedroht.

Plötzlich ballt sich das unklare Wogen und Schäumen zur Gorgonengestalt der Wut, zu leidenschaftlichem Zorn und Abscheu.

Jeder Nerv, jede Fiber, jedes Gefühl, jede Empfindung wird sprachbegabt. Wie ein Hilferuf, wie eine Anklage schreit er innerlich auf:

»Wie, ich ein Lump, ich ein Betrüger? ich?!«

Und als Zittern läuft durch die gestrafften Muskeln das stumme, ersterbende Echo der Leidenschaft. –

Dann fühlt sich Schramm so leer, so kalt, so verlassen, elend und entblößt von allem und allen auf der Welt, wie der Schiffbrüchige, den die Wogenflut auf einen unwirtlichen, öden Felsenstrand geworfen.

O Gott! ruft er händeringend, setzt sich auf den Bettrand und verfällt in dumpfes Brüten.

So geknickt und zerschmettert sitzt das verlassene, geschändete Mädchen; der Mann, den sein Freund betrog; das Kind, welches seine Eltern verstießen; der Forscher, der nach lebenslangem Denken sein System als eitles Phantom zerfließen sieht.

Die Sonne geht auf und nieder, der Markt füllt sich und wird leer, die Blumen blühen, der Menschenstrom braust und gleitet bunt und wechselnd an ihnen vorüber.

Sie aber sehen auf alles teilnahmslos, mit einem schwachen, entgeisteten Lächeln auf den bleichen Lippen. Und in ihnen kein Hoffen, kein Glaube, weder Liebe noch Haß, weder Schmerz noch Freude, leer, leer, von innen heraus werden sie zu Stein.

Bis zum Tode ist alles vorüber!

Ach wäre es so, thörichtes, blindes Menschenkind! –

IV.

Daß die übrige Erinnerung an seine Vergangenheit vor dem Gedächtnisbilde der Szene im Hohlweg und aller mit ihm zusammenhängenden Erlebnisse, Gedanken und Gefühle zurücktrat, das drängte sein Denken mit unwiderstehlicher Gewalt zu den düsteren Vorkommnissen der jüngsten Zeit. Dazu kam noch, daß durch den Einfluß der Krankheit sein Geist an Kraft und Selbständigkeit gelitten hatte, daß er mehr den schnellen Wandlungen und Wallungen des genesenden Organismus unterworfen war, daß die mehr sensitiven Zustände immer vorwaltender wurden, während Edelmut, Sanftmut, versöhnliche Milde und alle höheren, absolut geistigen Regungen immer seltener im Uebergewicht waren.

Sonst hatte er den Wert seiner selbstlosen Sorge für das Wohl des Bruders und seiner unglücklichen Familie nicht hoch angeschlagen, hatte keinen anderen Lohn gekannt und gewollt, als die Genugthuung und Ruhe, welche die gute That spendete. Jetzt aber wurde er plötzlich eitel auf seinen Charakter und sein Thun.

»Der ist nicht meinen kleinen Finger wert und nennt mich Lump? Wer hätte so gehandelt? Der Tausendste nicht!« das waren Gedanken, die ihn fortwährend beschäftigten.

Sein Schwächezustand und die Schmerzen, welche die Wunden am Kopf verursachten, verfinsterten die gemeine Handlungsweise des Bruders zum schwärzesten Verbrechen und er kam sich vor wie ein Märtyrer.

Bei diesem Gedanken verweilte er besonders gern. Aus ihm sog er neue Entrüstung, wenn sein geschwächter Geist sich gleichgiltig und stumpf abwenden wollte.

Die Unfähigkeit, sich anderen mitteilen zu können, verinnerlichte seinen Aerger mehr und mehr. Zuletzt lebte er nur noch in seinem Zorn. Er legte sich mit ihm schlafen, wälzte ihn in anschreckenden Traumbildern durch die Seele und fand an jedem Morgen eine neue Seite, die er noch nicht gesehen und betrachtet hatte.

Einst erhob er sich vom Lager; es war spät am Vormittag. Die alte Therese stellte ihm das Frühstück auf den kleinen Tisch am Bette.

»Sie haben lange geschlafen, Herr Josef. Es ist zehn Uhr. Na, ich freue mich nur, Sie sind nun bald wieder gesund. Schlafen ist die halbe Nahrung. Kinder und Kranke müssen viel schlafen. Wie haben Sie geträumt?«

Schramm sah sie betroffen an. Richtig! das war ein komischer Traum.

Er gab ihr keine Antwort und begann zu essen.

Dabei dachte er an seinen Traum.

Sein Bruder war mit ihm gegangen. Es war in einer Stadt, manchmal sah es aus wie ein Dorf. Der Fleischer hatte viel gesprochen und oft geräuschvoll ausgespuckt, wie er es machte, wenn er halb trunken war. Wie sie durch die Straßen gingen, rief er bald diesem, bald jenem etwas zu. »Na, alter Kunde auch hier« oder »Morgen Kollege, wart Kerl, du hast mir den Ochsen ausgekauft! Oder »Halt, halt Thresel, Du kleine Hexe, wohin so schnell?« Die Fleischer kennen alle, duzen alle, sind gut Freund mit allen und reden meistens vom Geschäft, dabei wühlen sie in den Taschen mit dem Gelde.

»Laß doch das dumme Gerede!« hat er zu ihm gesagt.

Der Bruder sah ihn mit giftigen Augen an; sie schillerten grün und wurden größer. Bald darauf sah er, daß eine Schlange aus ihm hervorkroch. Je weiter sie sich herauswand, desto zwergenhafter wurde sein Bruder. Nun war er ganz verschwunden und das Ungeheuer hing vor ihm in der Luft. Sie bewegte sich mit weitgeöffnetem Rachen in Wellenlinien auf ihn zu. Nun schnellt sie an seine Brust und gräbt ihre Zähne hinein. Er sieht sich in Angst nach Hilfe um; aber er ist plötzlich im Walde und mutterseelen allein. Er will die Schlange abstreifen; aber es liegt wie Ohnmacht in seinen Armen; er kann sie nicht bewegen. Und die Schlange frißt sein Herz. Da schreit er in Angst und erwacht.

»Das ists, ich bin der halbe Mensch, wie zerrissen, wie innerlich verdorrt. Warum war ich ein Narr? Aber er konnte so schön reden, so bitten, so elend thun , so . . . . so . . . . so . . . . ganz wahrhaftig, wie eine Schlange – ja, ja, verflucht.«

Er schlägt mit der Faust auf den Tisch, sieht dann lange starr auf einen Fleck der Diele, während es immerfort durch seinen Kopf summt: eine Schlange, ja, ja, verflucht.

Dann springt er auf und beginnt, halbangekleidet, schlürfend im Zimmer auf und ab zu wandeln.

Er sieht finster und drohend, senkt den Kopf und will weiter denken . . . . oh, der Bruder ist noch mehr, noch viel mehr!

Aber er kommt nicht weiter. Taktmäßig, wie seine Tritte geht es ihm fortwährend durch den Kopf: ei–ne – Schlan–ge – ja – ja – ver–flucht.

Immer dasselbe!

So geht es eine halbe Stunde in brütendem Stumpfsinn.

Da schießt es wieder in ihm auf: oh, mein Bruder ist noch mehr, noch viel mehr!

Er bleibt stehen und beginnt wieder nachzusinnen.

Aber in den mühsamen Drang, es zu thun schwätzt die Wanduhr verwirrend und er hör wieder regelmäßig nach den Pendelschlägen der Uhr und endlos: Ei–ne – Schlan–ge – ja – ja – ver–flucht.

Erst interessiert es ihn, die Worte, den alten Gedanken in schnellerem Tempo zu hören. Dann ist es ihm schon als ob die Uhr die Worte spreche. Dann will er es nicht mehr hören und beginnt stampfend weiter zu wandern. Doch je mehr er auftritt, desto stärker scheint er in Wut, Es bringt ihn fast von Sinnen, das ewige Geschwätz der Uhr.

Jetzt bereitet sie sich schnarrend zum Schlagen vor und es ist ihm, als ob sie höhnisch lache. Dann »kling« schlägt sie eins. »Lump« hört er es und dann wieder: ei–ne – Schlan–ge – ja – ja –

Da stößt er einen Wutschrei aus, stürzt nach der Ecke, ergreift einen Stock und schlägt die Uhr von der Wand, daß die Räder im Zimmer umherrollen.

Nun war es totenstill im Zimmer, nur das Kohlenfeuer puffte und schluchzte. Es war als ob jemand verhalten weine. Worüber? Armer Graveur! –

»Ganz recht!« dachte er in kindischer Schadenfreude, warf den Stock zu den Trümmern und setzte sich auf den Stuhl, den Kopf in die hohlen Hände stützend. Er bewegte den rechten Fuß hin und her, sah den Schatten desselben herüber- und hinüberhuschen und dachte nichts.

»Jesus Maria!« rief Therese, hereintretend.

Sie bückte sich, hob die Schlagfeder auf, sah sie eine Weile prüfend an und pickte dann mit einem Rade an dieselbe.

»Aha, so hat sie geschlagen!«

Aber, wie ist sie heruntergekommen? Zuletzt werden ihre Augen groß und entsetzt. Sie faltet voll Mitleidsschmerz ihre Hände. Dann aber mit dem gemurmelten Stoßgebet: »Gott steh mir bei!« drückt sie sich scheu und furchtsam nach der Platte und begießt den Braten. Dann geht sie rückwärtsschreitend nach der Thür, den stumpf Hinbrütenden immer fest im Auge behaltend.

Endlich fiel die Thürklinke quietschend in den Haken und sie atmet erleichtert auf.

»Also doch, doch! der gute Josef! Es ist schrecklich!« Sie mag das Wort nicht aussprechen; aber sie fühlte es in ihrem guten, treuen, liebevollen Herzen bohren.

»Jetzt geh' ich über den dunklen Flur und die schwarze Stiege, über die helle Straße, in das dunkle Haus drüben. Nacht, Licht und bei vielen wieder Nacht, das ist das Leben. Alles ist vergänglich,« philosophierte sie.

Doch ehe sie in den figürlichen Lebenssonnenschein treten konnte, packte sie eine derbe Faust.

»Und wenn ihr noch so eigen seht, die Pflastersteine werden doch keine Zwanzigmärker!« polterte aus der Höhe ein schnauzbärtiger Mund diese Worte auf die Erschreckende nieder.

Therese war alte Jungfrau und außerhalb des Hauses Herren gegenüber kindisch verschämt, und jetzt drückte sie ein solcher Kummer.

»Ach Gott, ach Gott,« entwischte sie ihm.

»Wird' dir nicht um den Hals fallen,« knurrte der Mann, die Treppe hinaufstampfend.

»Verdammt!« stöhnte er auf halbem Wege.

Man hatte ihm einst in Gesellschaft gesagt, daß er einen Schmerbauch bekomme. Von nun an spielte er den Dickwanst und litt entsetzlich unter der eingebildeten Last.

»Sechs Frühschoppen«, keuchte er weiter, seinen Leib befühlend. »In drei Jahren, wenns so fort geht, muß ich eine Wohnung zu ebener Erde haben. Aber immer besser wie so ein Dürrländer!«

»Guten Morgen Josef!«

Der Kranke riß das Gesicht aus den Händen und sah mit leeren Augen auf den Eintretenden.

»Kennst du deinen alten Freund Klinke nicht?«

Klinke . . . . hm – hm – schob sich die zerflatterte Erinnerung langsam mechanisch zusammen. Er trinkt immer 8 Glas, hat ein Velociped, eine häusliche Liebste, einen neuen blaugestreiften Anzug und einen großen Schnurrbart.

Dann begann Schramm wieder mit dem Fuß zu schaukeln.

»Ha, ha, eine schöne Wirtschaft das!« Klinke warf sich in einen Stuhl.

»Ich sage dir, nicht zum Aushalten! gewiss! Der alte Aufseher ist fort; du weißt ja. Er sitzt jetzt warm auf der Wolle, die er uns und dem Chef geschoren. Mag sein, es war ein Kerl, mit dem man reden konnte – schließlich haben alle – wenns darauf ankommt und der Herr schläft – Leim an den Fingern – natürlich alles in Ehren. Gewiß! Der alte Kolbe, die gute Haut; einen Kolbe kriegen wir sobald nicht! – Wenn er vorbei geht, da nickt und zwinkert er einem zu, wie die Magd dem Kalbe, wenn es der Fleischer fortführt. »Armes Tier,« will sie sagen, »wie schmeckt das? Meister Fleischer hat eine andere Hand, wenn er »He!« sagt. Ja, ja und Du dachtest gewiß, bei mir ist nichts zu haben, ha, ha!« Wahrhaftig so ist mirs vorgekommen. Was meinst du, Josef?«

Der hat aufgehört mit dem Fuße zu schaukeln. Was mag er nur wollen? fragt er sich und bleibt stumm.

Klinke wartete auf Antwort; aber er bekam keine. Darum sah er den Kranken forschend an.

»Du! – bist du ganz wohl? Kommste bald nauf?« Zeigte er mit dem Kopfe nach der Glasschleife.

Kenn dich schon, Fuchs, argwöhnte Schramm. Er ist nur hergekommen, um sich zu überzeugen, daß ich nicht mehr arbeitsfähig bin. Dann will er hinlaufen und sich in meine Stelle betteln.

Kenn dich schon! Und er nickte einigemal mit dem Kopfe wie ein Ast, den der Wind anstößt: auf und abpendelnd, immer langsamer und schwächer. Kenn dich schon, Fuchs!

Dem Fragenden lag dieser Gedanke so fern, wie dem kindlich reinen Charakter Schramms der Argwohn früher gelegen hatte.

Froh bewegt begann der redselige Besucher wieder.

»Ja, ja, komm nur, du verstehst mich. Oder, wenn das noch lange so fort geht, dann packe ich meine Sachen und marschiere in die Lausitz. Bei der Arbeit halts der Teufel aus. Immer bloß Muscheln, Striche und Zwiebeln! Verflucht wozu war ich in Berlin? Deßwegen etwa, um jetzt dieselbe Arbeit zu bekommen, wie die Gelbschnäbel! Natürlich verdient man bei dem Quark nichts und wenn man sich die Hosenträger zerreißt. Und sag ich etwas, wie neulich dem Herrn: krieg ich nicht bald andere Arbeit, Herr! sag ich. »Lassen Sies gut sein, wenn der Schramm gesund ist. Ich hoffe übrigens, daß er bald wieder eintreten wird. Es ist so viel gute Ware nach Rußland bestellt. Sie könnens allein nicht fertig bekommen." Also, gelt ja, alter Kunde, du bist morgen wieder drüben? Da gehts wieder hui!

Wenn ich so eine feine, fertiggeschliffene Vase aus dem Spülschaff habe und die Blumengewinde, die Knospen, Blätter und Ranken sehe, da – wahrhaftig – da ist mir, als ob mir meine Kleine ins Gesicht sieht. Ists nicht so, Josef? Weiß schon. Ich müßt dein Gesicht nicht gesehen haben. Kenn dich schon. Wenn die andern vor Freude platzen, machst du immer bloß große, glückliche Augen und preßt die Lippen aufeinander. Aber drinnen, da bist du froher als alle.

Was ist all das Lob des Herrn? gar nichts, ein Quark! Ich kenn ja alle! Sie sehn bloß das Geschliffene; aber von der Kunst, keine Wolke.«

Schramm hatte sich zurückgelehnt und sah ärgerlich auf die Decke. Bei den letzten Worten Klinkes stieß er mit den Hacken des rechten Fußes auf die Erde und spuckte aus. »Schöne Kunst das,« sollte es heißen, »wenn man einen ganzen Satz verpfuscht! Schwätzer!«

»Also du kommst. Die Hand darauf!«

Ganz gut so, dummes . . . . Da brauch ich nicht zu reden, und Schramm gab ihm die Hand ohne aufzublicken.

»So nun ists mit der Charwoche alle. Die 15 Mark Wochenverdienst brauche ich für Bier. Freilich säß mir der Nabel am Rückgrat, da wärs gegangen. So aber«, er schlug sich auf den Bauch, »so aber! Das ist meine Frau, meine Sparbüchse, meine Liebste ha, ha!« er brach in übermütiges Lachen aus.

Schramms Gesicht aber wurde bleicher und er heftete giftige und verachtungsvolle Blicke auf Klinke.

Oh, du Schurke! Kenn dich schon, Heuchler. Aber du irrst dich; und er biß die Lippen aufeinander um seine aufkochende Erregung nicht laut werden zu lassen.

Ich lache nicht, ich nicht und wenn zehn solche . . . . . . kämen wie du. Die Schimpfnamen waren ihm nicht geläufig, dafür aber wallte innen doppelte Wut.

Will er denn immer noch nicht gehen? Ich weiß, er wird mich zum Aeußersten bringen und dann ist alles verloren; dann wird er Erster; ich kann gehen und mich in den Straßengraben setzen.

Wer braucht einen Stummen?

Es war das erste mal, daß er sich sein Unglück eingestand. Der Schrecken und die Beklemmung darüber wuchsen und drohten ihn zu erdrücken. Aber er riß sich von dem furchtbaren Gedanken daran nicht los, sondern seine zitternde Seele sah ihm mit brütender Unschlüssigkeit in das entsetzliche Gesicht.

Wer brauchte einen Stummen?

Und vor seinen geistigen Augen tauchten die Bilder solcher Unglückseligen auf. Sie wandern zerlumpt, ruhen an den Rändern, schlafen in den Ställen. Die Erwachsenen wenden sich kalt und gleichgiltig von ihnen ab und die Kinder springen um sie herum, zupfen sie am Rocke, schneiden Grimmassen und spreizen die Finger.

Wer braucht einen Stummen, lastet es wie ein Keulenschlag auf seiner Brust. Der Atem ging zitternd und seine bebende Hand suchte die heiße Stirn. Er bedeckte die Augen mit der glühenden trockenen Hand. Er wollte sein Elend nicht sehen. Aber durch die Nacht vor seinen Augen tanzten und flogen blaue, rote und gelbe Kugeln. In jeder war ein Gesicht und jedes Gesicht war wie in schmerzhaftem Kampfe verzogen. Der Mund jedes einzelnen wechselte ratlos, unbeholfen eckige Stellungen. Er sah, wie die Gesichter sich mühten, zu sprechen. Aber es war umsonst. Umsonst bettelte das volle, gequälte Herz an den gelähmten Organen. Umsonst zwang sie der ungeschwächte Geist mit bitter trotzigem Willen. Es blieb immer beim bloßen Ansatz zum Worte und nur aus den Augen schaute die Verzweiflung. Hier wurde das qualvolle Martyrium der Seele sichtbar. So bin ich . . . . so . . . . . . so . . . . so . . . . . verfolgte er mit unseliger Aufmerksamkeit den Schementanz in der selbstgeschaffenen Nacht.

Es war ihm, als sterbe er.

O du Menschenseele; wie leicht furcht dich der sonnige Schwingenschlag des Glückes und ach, wie abgrundtief zerwühlt dich das Elend. –

Dem Graveur fiel die Hand von den Augen, als wäre ihm der Arm abgehauen. –

Klinke war in der heitersten Laune und tappte wiegend in der Stube auf und ab: er zeigte den »neuen Gang der Sammt-Affen.«

So – immer mit den Absätzen gehackt wie ein Zuckfuß, die Ellbogen – ha, ha! – wie, ha! – wie die Beckenhaken an Barbierschildern. – Ueber die große Zehe, mit dem Kopfe gewackelt, wie ein Eisbär, den Rücken krumm, wie ein Höckerweib. Du Schramm und immer: n–n–n – Tag – Härr! –

»Da bin ich heute Abend ein anderer Kerl!« Uebermütig begann er »die schöne Adelheid« zu schreien, zu stampfen und mit den Händen zu schlagen.

Schramm fühlte die Lustigkeit wie einen Hohn auf sein Elend; und seine Verzweiflung löste sich in tiefe namenlose Trauer auf. Mitleidig ruhten seine feuchten Augen auf dem Herumspringenden, welcher eben einen anderen Walzer »schliff«. Seine Armbewegungen illustrierten das Wiegende der Melodie und die Finger griffen in der Luft die Töne. Sie richteten sich aber keineswegs nach dem Taktmaß, sondern gaben, vom Bauche bis über den Kopf reichende Läufer zu.

Wie Schramm dem herumschlenkernden Kollegen mit den Augen folgte, kam er auf einen Gedanken. Mit dem Munde brauchst du ja nicht zu arbeiten. Beine und Arme sind ja noch gesund. Gott sei Dank. Die Beine? Wer weiß? wer weiß!

Er sprang auf und maß mit langen Schritten das Gemach. –

Zwar lag es noch wie Blei in den Beinen, und bei jedem Schritte fühlte er eine leise, schmerzende Hemmung, aber in ängstlich zitterndem Trotz bäumte sich der Wille gegen die Schwäche. Es muß gehen! und es ging. Aber er konnte sich nicht beruhigen. Was nutzen die Beine, wenn die Ruhe und Sicherheit der Hand hin ist! Wollen sehen.

Er hob die Schlagfeder der Uhr auf und hielt sie still zwischen Daumen und Zeigefinger.

Sie zitterte.

Es wurde ihm dunkel vor den Augen. Ach nein, es kann nicht sein; die Augen und meine Erregung sind schuld. »Unsinn! meine Hände sind sicher wie je.« – Aergerlich warf er die Feder von sich.

Und morgen gehts wieder los.

Schramm wurde ganz Peinlichkeit und Hingabe. Das Kleinste erregte ihn. Er wäre am liebsten hingelaufen, um sich seine Stelle anzusehen. Er freute sich auf den morgigen Tag, wie der Schüler auf den Beginn der Ferien. Er suchte sich die Arbeitskleidung und musterte sie genau. Alle Knöpfe waren fest, kein Loch, keine gesprungene Naht, alle Taschen ganz, alles wie es sein mußte.

Dann holte er aus der Kommode die Vorlegeblätter. Sie zu studieren, war seine Sonntagsfreude gewesen. Heute sollte sie ihn auf den morgigen Tag vorbereiten. Er begann – in seinem Leben vielleicht das 100. Mal – das erste Blatt zu betrachten, dann das zweite, das dritte u. s .w.

Hier und da lagen von seiner Hand ausgeführte Variationen oder neue Entwürfe.

Sonst ergriff ihn beim Anschaun der Blätter Begeisterung. Die schönen Formen erhoben und erwärmten ihn, wie andere sich groß und rein fühlen nach Lesung eines erhabenen Gedichtes, nach Erfassen eines tiefen Gedankenplanes.

Dieser ideale Zug war in ihm verschwunden. Haß, Eitelkeit, Mißtrauen, Argwohn, die ihn in den letzten Wochen nie verlassen hatten, die er mit der Wärme seines Herzens, mit seiner Großmut, seiner kindlichen Reinheit und Naivität in dumpfem Brüten groß gezogen, waren seine Vernichter. Leer, mechanisch, hastig reihten sich die Gedanken aneinander.

Während er nun die Blätter mit krankhafter Aufmerksamkeit musterte und sie schnell wendete, stand nur ein Gedanke in seiner Seele:

Lacht nur und zieht die Mäuler schief. Wenn ich den ersten fertigen Krug neben mich gestellt habe, werdet ihr sehen, daß ich noch derselbe bin und zieht den Rücken krumm.

Hm, Kleinigkeit! Mein Kopf hat gar nicht gelitten! –

Jetzt kommt das »Rokoko-Muster.«

Er schloß die Augen und blätterte um – Richtig! und jetzt »Bachus« und jetzt »das Frühstück«. Mit fliegender Hast blätterte er. Alles stimmte.

Ich bin derselbe Kerl! Ha, ha, ihr Esel!

Er schrak zusammen. Ein harter dumpfer Laut schlug an sein Ohr. Er war in der Erregung laut geworden.

Oh! stieß der wutschäumende Gedanke in ihm auf, und die Cannaille hats gehört! –

Er hats gewußt, daß es so kommen würde. Natürlich heulte es innen. Darum sitzt er so still.

Er gab sich jedem gehässigen, mißtrauischen Gedanken bedingungslos hin und fühlte in dem Schmerze, den er ihm verursachte, eine Art Wollust. Natürlich hat ers gewußt, daß es so kommen würde, und doch hatte er keinen Beweis, hatte er den Klinke noch gar nicht angeschaut.

Werden sehen!

Er bemühte sich, ein nichtssagendes Gesicht zu falten und ließ die Augen ruhig in einem weiten Bogen nach dem »Liebespaar im Walde« wandern. Als er über dem Haupte Klinkes hinschaute, flog sein Blick, blitzartig schnell, verschlagen feindselig über dessen Gesicht. Und dann zwang er seine Aufmerksamkeit nach dem Bilde in der Ecke.

Dacht ich mirs doch, spann er wild an den Gedanken weiter. Aber so weit seine Verstellung zu treiben, so weit! So ein schlechter, niederträchtiger Fuchs. Aber ich bin etwas klüger, Freundchen. Magst du auch bleich thun, die Augen aufreißen und ängstlich stieren, die Hände traurig und mitleidig falten, den boshaften Zug um deinen Mund kannst du doch nicht verschlucken. Freundchen, nein, jetzt ist die Komödie zuende, jetzt mußt du raus – raus – raus!

Einen ganz anderen Eindruck machten all diese Vorgänge auf Klinke.

Er hatte die Teilnahmslosigkeit und das Hinsinnen Schramms gleichgiltig angesehen: ». . . . . er machts immer so und hört und sieht alles.« Er hatte den »neuen Gang der Sammt-Affen« vorgemacht in der sichern Erwartung, Schramm zum Lachen zu bringen.

Umsonst! Das ärgerte ihn. Er fühlte es wie eine gesellschaftliche Niederlage und er war siegverwöhnt, hatte die Lacher immer auf seiner Seite – und wich nicht. Zuletzt fand er es langweilig und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.

Als aber Schramm nach dem inneren freudigen Ausrufe: und morgen gehts wieder los – aufsprang, die Kleider suchte und musterte, das setzte sich der neugierige, skandalsüchtige Besucher wieder und dachte erwartungsvoll: ein komischer Kauz, das muß man sagen. Was wird nur jetzt werden!

Nun blätterte Schramm in den Vorlagen. Erst wendete er die Bogen sanft, vorsichtig und feierlich.

»Der alte Kleinigkeitskrämer!«

Dann flogen die Blätter schnell und immer schneller. Wie sie von rechts und links knisterten, öffneten und schlossen sich Schramms Augen, kam und ging ängstlich gespannter Ernst, düstere Erwartung und ein immer krauser und übermütiger werdendes Lächeln.

Klinke staunte.

Dann windet er sich innerlich vor Lachen:

»Totaliter verrückt! total ä–ä–ä!«

Da poltert plötzlich über Schramms Lippen ein brummelnder Gurgellaut, dem Brunstruf des Hirsches ähnlich.

Klinke schrickt zusammen.

Furcht aber packt ihn, da er das Gesicht seines Freundes beobachtet: Eben noch war es in bleichem Entsetzen und Schrecken starr und unbeweglich. Plötzlich geraten aber alle Muskeln des Gesichts in eilige, irre Bewegung. Jetzt gleitet der Mund in die Breite und will lächeln, aber die Augen verkriechen sich giftig; jetzt arbeitet sich stiller Ernst herauf, schließt den Mund und glättet die Stirn, aber die Backenmuskeln bleiben geballt – Ernst, Würde, Wut und gezwungene Freundschaft huschen in wirrem Tanze über das Antlitz.

Die ohnmächtige Anstrengung, etwas anderes zu zeigen, treibt sie rasch von hinnen und giebt dem Gesichte eine furchterregende Beständigkeit im Ausdruck.

Nun ist der Kampf beendet. Aber auch jetzt ist es nur ein ruhender Widerstreit. Man sieht, das Gesicht soll gleichgültig aussehen – und ründet sich in süßlicher, verschlagener Freundlichkeit.

Klinke fühlt erstickendes Grausen.

»Oh, er ist toll!«

Jesus! nun ruhen die blitzenden, stechenden Augen auf ihm; hüpfen auf, kommen und bohren und saugen sich fest, giftig und haßerfüllt.

»Er ist toll!«

In Seelenangst, um sich Mut zu machen, beginnt Klinke Witze zu erzählen. Er spricht sprudelnd von »der dicken Pfarrköchin«, vom »Koscher und der Rochers« und von vielem anderen; er erzählt voll Hast. Nach jedem Witze bricht er in wieherndes Gelächter aus und dann brodeln seine Worte wieder eintönig über seine Lippen.

Schramm aber hat den Entsetzten voll mit den drohenden Augen gepackt und läßt ihn keinen Moment los.

Jetzt muß er raus – raus – raus! –

Ich weiß schon, denkt er, den ruhigen, festen, aufmerksamen Blick kann die Quecksilber-Natur nicht aushalten. Dabei aber brannte sein Auge in Zorn, Wut und Verachtung.

Endlich erhob sich Klinke. Er hatte seine ganze »Courage« zusammenraffen müssen.

»Also morgen Alter, Adje!«

Schramm atmete erleichtert auf:

Siehst du, du Schuft!

Der Davongehende aber blieb auf der Stiege stehen, trocknete sich den Schweiß und murmelte:

»Das reine Rindvieh! und dazu noch total verrückt, total, gewiß.«

Er spuckte verächtlich aus und ging weiter.

»Na die Kollegen, die in der Brauerei sitzen, werden schöne Augen machen, wenn ich ihnen alles erzähle und – morgen der Jucks!«

»Ja ich vertausch die Heirat nicht um 1000 Thaler . . .« pfiff er und bog um die Ecke.

V.

»Schnittbohnen zum Mittag? Sie sind gerade billig!« fragte die alte Therese.

Schramm nickte stumm und trank seinen Frühstückskaffee. Dann trat er ans Fenster.

Ernster Friede lag auf seinem blassen Gesichte. Der feste Entschluß hatte das Wogen und Wallen in ihm zur Ruhe gebracht. Er sah sein Leben vor sich liegen: ein langer, grader, reizloser Weg. Aber über und in ihm leuchtete das helle Licht eines festen Lebensplanes.

Er sah zum Fenster hinaus.

Die sommerliche Welt lag vor ihm, wie ein erwachendes üppiges Weib.

Auf den blauen Himmelsaugen lagen noch leichte Wolken des eben verflogenen Nachttraums. Der frische Tag glühte ihr rosig auf den Wangen. Ueber dem Busen lag der dunkle Wäldermantel. Aus dem ährengoldenen Haare glühte der bunte Kranz der Feldblumen. Aus tausend Vogelkehlen wogten die süßen Zukunftsträume eines eben erwachten, neuen Lebens durch das unendliche Gebäude des Weltalls.

Nicht klar, dunkel, verhüllt, aber eben desto bunter und wollüstiger umfing dieser Gedanke die Seele Schramms.

Du schöne Welt! stieg es in ihm auf und blieb als zitternde Thräne an seiner Wimper hängen.

Er kam sich wie erlöst, wie vom Tode erstanden vor. Die schrecklichen Gedanken und Träume, welche sein Brüten hervorgebracht, wichen wie Gespenster. Aus weiter unbestimmbarer Ferne schielten sie lauernd aus ihren Schattenaugen nach ihm.

Wohin wäre er gekommen, hätte er andauernd seinem Menschenhaß Gehör geschenkt! – Man muß sich aufraffen; man darf sich nicht so hingeben.

Er schlug den Ueberrock zurück und holte die Uhr unter der Leinwandblouse hervor.

»Sechs Uhr! nun geh' ich bis um ½7 spazieren und dann melde ich mich beim Herrn, und eh die andern kommen bin ich schon bei der Arbeit.«

Er ging in der Richtung nach Ebersdorf.

Es trieb ihn ein gewisses beängstigendes Gefühl ins Freie.

Wie wirds gehen? fragte er sich. Gott, wenn nur das erste Stück gelänge, daß der Herr sähe, ich bin noch der Alte. Aber, wenns mißlingt, was dann? –

Der Zweifel wollte nicht von ihm lassen.

Neben ihm grollte und schluchzte das Wasser unter dem hohlen Ufer hin; über sich hörte er singendes Wimmern in den Kiefernkronen; ein leiser Wind brachte es hervor.

Er fühlte sich beängstigt. Er wollte von dem Gedanken lassen. Aber je mehr er gegen ihn kämpfte, desto lauter und beklemmender kehrte er wieder.

Da schlug ½7, und er kehrte um.

Er wandte sich dem Wege zu, der nach der Hütte führte. Es ging bergauf. Schramm fühlte sich schwach werden. Aber er mäßigte seine Schritte doch nicht. Er bebte vor der Möglichkeit, ermattet stehen bleiben zu müssen. Endlich war er oben; die Glasfabrik lag vor ihm.

Er drehte sich um, nahm seinen Hut ab, trocknete sich die schweiß-triefende Stirn und maß voll Genugthtuung die Entfernung, welche er in zwanzig Minuten zurückgelegt hatte.

. . . . . . Morgen wird es mir schon leichter fallen. Ach, es wird schon gehen . . . . Der Zweifel wollte nicht schweigen.

Langsam begann er weiter zu gehen. Dann blieb er wieder stehen. Aus der Glasfabrik drang vielfacher Lärm, Klirren und Poltern. Die Glasmacher schimpften und kommandierten in allen Tonarten; die Hüttenjungen lachten, sangen und pfiffen; Karren quietschten und knarrten; Glasüberreste flogen prasselnd auf; Kohlfuhrleute knallten und fluchten; Pferde schnauften und wieherten; die Lokomobile fauchte und zischte; Kinder hüpften, Lastträger schlichen gebückt, Frauen wiegten ihre Kinder im Arm; über ihm schnurrten die Kohlenwagen der Drahtseilbahn in endlosen Reihen und polterten laut, wenn sie die Träger passierten.

Ueberall Jagen, Hasten, frohes, lautes Schaffen. Er lauschte und sah begierig alles. Zufriedenheit und Sicherheit kam über ihn. Das war seine Welt. Hier war er groß geworden, hier fand er plötzlich alles wieder, seine Kindheit, seine Jugend, sein ganzes Leben das wochenlang unter den Schatten einer eintönigen Leidenschaft begraben gelegen hatte. Und wie ein Knabe nach einsamem Gange bei dem Lärm seiner Geschwister in der Kinderstube freudig aufatmet, so machte ihn das bewegte, surrende Leben um ihn wieder fest, mutig, hoffnungsvoll, ruhig.

Ein lauter Krach schreckte ihn auf. Ein Kohlenwagen war aus der Höhe herabgestürzt und lag zertrümmert neben ihm. Arbeiter eilten herbei und schafften Kohlen und Wagen fort. Im Weggehen hörte er sie sagen:

»Der fährt nicht mehr. Aber auch ganz entzwei. Mit dem ists für immer alle.«

Ueber ihm surrten die anderen Wagen weiter. Die vollen liefen ächzend hinab, die leeren tanzten tönend herbei, jeder an sein Ziel. Und drüben im Hofe und in den geschwärzten düsteren Häusern das verwirrte Rufen, Knarren, Prasseln, Pfeifen, Schleifen, Hin- und Wiedergehen war nur der Pulsschlag eines großen, streng geregelten Ganzen. Alles strebte einem Ziele zu. Alles ging den Weg der Pflicht und alle waren heiter und mutig.

Das Maß der Pflichterfüllung ist das Maß von Menschenglück und -größe.

Und ich? sah Schramm auf die Stelle, an welcher der Kohlenwagen sich zerschlug – – – ich? –

Alles ging seinen Gang, hatte sein Ziel, seinen Weg und Zweck. Männer, Frauen und Kinder liefen wirr durcheinander und doch standen sie sich nah und waren verwoben: Die Kraft stützte –das Geschick, die schwache Schnelligkeit half der plumpen Gewalt, die zarte Peinlichkeit zügelte das rauhe Hasten: alle waren verbunden und wuchsen innerlich und fühlten sich wohl in der allgemeinen, gegenseitigen Abhängigkeit.

Er aber, dem treue Arbeit und Pflichterfüllung alles gewesen war – Vergnügen, Spiel, Ruhe, Frieden, Liebe – alles, mußte von ferne stehen, verlassen, müßig, allein, unglücklich.

Woran sollte er denken, wenn er nicht mehr arbeiten dürfte? – wovon reden, lesen, träumen? –

Seine Seele wurde heimatlos.

Was hatte er denn noch, als sein Elend . . . . .?

Da fiel ein Blatt vom Baume.

Der Wind hob es und wirbelte es nieder, führte es über blumige Wiesen und – warf es auf den Weg unter die Hufe und Reifen. – Es hatte auch einmal gegrünt, im Lenzwind gelispelt, im Sommer gelacht und im Sturme gerauscht – nun war es dürr und verwaist. Im Staube war sein Grab.

Und ich? –

Schramm taumelte zurück, wie von einem betäubenden Schlage getroffen.

Dann ging er gebückt weiter. –

Bangen klopfendes Herzens strebte er dem Hause des Hüttenbesitzers zu. Der hatte ihn kommen sehen und schritt ihm nun entgegen.

»Guten Morgen!« grüßte er den traurig Dastehenden. »Endlich sind Sie wieder da.« Er hatte ihm die Hand gereicht und schüttelte sie freundlich.

»Sogar die Russen warten auf Sie, ha, ha!«

Schramms Seele litt unter dem Vergleich zwischen seinem jetzigen und früheren Zustande, als er seinem kräftigen mutstrotzenden Herrn gegenüber stand. Er kam sich so elend und unfähig vor, sogar zum Leben.

Eine Weile starrte er mit großen Augen traurig vor sich hin. Dann heftete er sie bittend auf das Antlitz seines Chefs. Klein fühlte den stummen Wehruf in Schramms Augen an sein Herz hämmern.

»Ach was, mein Lieber, den Kopf hoch! Mit der Zunge arbeitet kein Graveur, wenn nur Arme und Beine fest sind. Und mit denen gehts ja. Nein, nein, Sie sind noch der Alte und ich auch. So – und nun gehen Sie zum Herrn Binder und lassen Sie sich die Vorlage zu den guten Vasen geben.«

Schramm verneigte sich und wandte sich zum Gehen.

»Ja, was ich noch sagen wollte, und Ihren Bruder hat man noch immer nicht finden können. Wahrscheinlich werden Sie nächstens vor Gericht geladen werden.«

Der Graveur schüttelte langsam und trübe sein Haupt. Er wollte es vergessen. Seine Milde und Versöhnlichkeit walteten wieder in seiner Seele. Nein, nein! Er hat sich übereilt, dachte er, er ist sonst so gut; mag er gehen. Mein Unglück ist für ihn Strafe genug, mein Unglück und sein Gewissen.

Klein deutete das Schütteln falsch.

»Ach was, man hat ja doch Ihren Bruder an dem Tage mit Ihnen gesehen!«

Da kam Schramm der Gedanke, daß es ihm unmöglich sein würde, seinem verbrecherischen Bruder vor Gericht gegenüber zu stehen und ihn durch sein Zeugnis zu verderben. – Er darfs nicht gewesen sein! – und nun schüttelte er als Antwort auf seines Herrn ungläubigen Ausruf das Haupt energisch und sah ihn fest an. – Natürlich! Man könnte ja dann niemand mehr unter die Augen treten, wenn es ausgemacht wär, daß der eigne Bruder ein Totschläger ist. Nein, nein! –

»Aber, ich kann Sie nicht begreifen!« rief Klein. »Nun wenn Sie's nicht sagen wollen, wird's Ihr Bruder thun müssen! Im Uebrigen bleibt alles beim Alten zwischen euch.«

Sie trennten sich.

. . . . . . beim Alten . . . . sang das Herz des Graveurs im Weiterschreiten ohne Ende.

Und nun gab er sich ohne Rückhalt der Wiedersehensfreude hin. Für ihn, der sich nicht durch Trinken, Leidenschaften und geschlechtliche Ausschweifungen abgestumpft hatte, lag auch im Geringsten eine Fülle von Freude und schöner, unentweihter Erinnerung.

Er genoß sie in breiter Gemächlichkeit.

Auf dem weiten schmutzigen Hofe hatte seine Kindheit geblüht. O, in jener Zeit war der Himmel so nah, alles Große, Schöne und Heiligste so leicht zu erreichen; die ganze Welt so klein und das kleine Herz so weit, so weit und die kindliche Seele so großeund allgewaltig.

O Jugendzeit, o Heldenzeit.

Schramm blieb inmitten des Feldes seiner Knabenzeit stehen.

Aus Aschenhaufen, hohen Bergen von Glasüberresten; aus grauem, verfallendem Gemäuer, geschwärzten Fenstern und Dachluken stiegen die Gestalten seiner glücklichen Kinderjahre herauf und erzählten ihm herzige frohe Geschichten.

Still verklärt lauschte er.

»Guten Morgen Josef!« Der alte Jogwer karrte die Schamottenmasse über die Bretterbrücke aus der Glasfabrik und grüßte ihn von fern.

»Guten Morgen!« er stand neben ihm und streckte ihm seine Schwielenhand entgegen.

»Ich habe mich schon lange nach dir umgesehen!«

Jogwer war der Jugendfreund von Schramms Vater gewesen; darum duzte er den Graveur.

»Mein Gott, kannst dich noch erinnern! Am Gelöbnistage haben wir uns das letzte mal gesehen. Zehn Wochen, ja, ja, ganze zehn Wochen. Jesses, Jesses, du warst so ganz marode und weg wegen deinem Bruder. Und mein Gott, wenn der Vater aufstünde! Der August, der Lumpenkerl, muß so was machen. Aber ich habs zu meiner immer gesagt. Marie, hab ich gesagt, aus dem Schramm August wird nichts. Man kann sagen, was man will, es hat getroffen, er ist unter einem bösen Planeten auf die Welt gekommen. Ich hab's gewußt, Gott verzeih' mir meine Sünde.«

Jogwer schwieg und sah den Graveur aus seinen wasserblauen Augen unbeholfen schlau an.

»Wo hat er dich denn überfallen? Konnt'ste nicht ausweichen?« Jogwer horchte, »Was?« und hielt ihm zur Ermunterung seine Dose hin.

Schramm nahm eine schwache Priese, that aber keinen Laut und machte keine Gebärde.

»Dort wo die Lärchenschonung anfängt, hä, da wars?«

»Was? haste nichts gespürt oder gesehn, vorher nicht, daß er was im Schilde führt!«

Schramm wollte durchaus die Erinnerung an sein Unglück aus seinem Gedächtnis verwischen, durchaus mit Gewalt. Er mühte sich, an etwas anderes zu denken: – Ja, dort von der Mauer hab ich mit dem Strangfeld Anton den großen Drachen steigen lassen.

»Die Leute sagen, es war eine Vierkanter-Flasche, mit der er dich geschlagen hat!«

‚ . . . . . er war so groß wie ich; das Papier war von – na von wem denn! – wie man doch alles vergißt!' – Halb horchte er auf den Alten. Dann bestürmte er wieder sein Gedächtnis . . . . . . ‚es war blaues und weißes Papier. Der Anton hat die Schnur gegeben und ich hab das Gesichte drauf gemalt' . . . .

»Das kann ich blos nicht verstehn, daß du ihn nicht gepackt hast. Kam er 'a so schnell, daß du 'n nicht fassen konntst?«

‚ . . . . . . ach ja er stieg zwei mal so hoch wie der Schlot' . . .

Er hatte wieder halb hingehorcht. Die Erinnerungen an den Mordanfall kamen wie eine dunkle Woge geschossen. Dagegen ankämpfend, beantwortete er doch in Gedanken, freilich zerrissen, unmutig, die letzte Frage des geschwätzigen Alten: freilich, aber der Teufel mags wissen wies kam . . . . . nein, und – er klammerte sich an das Erinnerungsbild – ‚dann drehte er sich auf den Oberberg zu; er blieb am Blitzableiter hängen' . . . . . .!

»Hast'n noch nichts vom Gerichte gehört?«

Jetzt war es genug. –

Er schüttelte den Kopf und ging.

Jogwer sah ihm nach: »Ganz richtig is doch nicht mit ihm!«

Das Weibermaul muß mir auch gerade in die Quere kommen, dachte Schramm, als er die Bretterbrücke emporschritt, um in die Glasfabrik zu gehen.

Auf seiner Stirne zeigten sich schon wieder die düstern Falten, um seinen Mund grub sich der leidende Zug und seine Augen begannen alles bohrend zu fassen und funkelten in bösem Glanze. Seine Seele aber schwebte in leerer Unschlüssigkeit. Von dem düstern Bilde angezogen, jedoch von bitterem Willen zurückgerissen und hastig nach der schönen Vergangenheit gedrängt, tappte sie wie ein Tagelöhner mechanisch aufwärts ans Licht goldener Zeiten, während in ihrem geheimsten Mittelpunkte ein leiser unerklärlicher Drang die Hölle des Krankenlagers und der Genesung herbeisehnte.

Schramm fühlte ihn mit Bangen und Aerger stärker werden und suchte nach einem Strohhalm, um den Geist dem Wirbelgange der Gedanken und den Untersuchungen über das Verhältnis zu seinem Bruder zu entziehen.

Er hatte sich zur Seite gekehrt und sah starr auf den Boden. Lange konnte er nichts finden.

Eben war durch die Erinnerung seines Vaters Bild geflohen. Schattenhaft schnell war es dahin geeilt. Das liebe runzlige Gesicht wollte sich nicht zu ihm wenden, ihn nicht befreien helfen von den bösen Gedanken. Traurig sann er ihm nach.

Da rollte es dumpf hinter ihm. Als er sich umwandte sah ihm der alte Jogwer ins Gesicht. Aus irgend einem Grunde lag um seinen Mund ein verwelktes, kümmerliches Lächeln.

Blitzartig schnell hüpfte der Gedanke in des Graveurs Kopf auf; so, grade so pflegte der Vater zu lachen. Ach, und da stand ja das liebe Gesicht vor ihm, in ihm, mit demselben sorgenvollen Lächeln, das den langen gelben Eckzahn der linken Seite enthüllte.

»Du sollst dich nicht so quälen wie ich,« hatte der Gute gesagt, als er einst, so wie heut der alte Jogwer, ihn auf der Brücke traf. »Darum mußte in die Schleife und wenn dus Zeug hast kommste auch mal 'nauf zu den Herrn Schneidern. Ich muß jetzt schon weiter tempern, bis mich der Totengräber in die Mache kriegt.« Da hatte sich's der kleine Schramm vorgenommen »'nauf zu den Herrn Schneidern zu kommen.«

Mit ängstlich bebender Aufmerksamkeit und kleinlicher Peinlichkeit zwang er jetzt seinen ganzen Bildungsgang an sich vorüber.

Das mußte ihn befreien von dem immer mehr um sich greifenden galligen, zornigen Brüten über sich und seine jetzige Lage; das mußte ihn seitwärts drängen in die gewohnte Bahn seines alten Lebens, das er eben aufnahm; das allein konnte seine Kräfte vereinen zu der ersten wichtigen Arbeit.

»O Gott, wenns mißlingt, was dann?«

Mit klopfendem Herzen packte er das Bild von sich als Schulknabe, das eben durch seine Erinnerungen hinhuschte. Er sah sich das erste Mal in die Fabrik gehen: blaue Bluse, Holzschuhe, unter der Mütze eine Wolke verwirrten graublonden Haares – auf ein Haar wie alle »Hüttenjungen.« Ja, das war er! Er zwang sich zu freudiger Ueberraschung und trat mit seinem Gedächtnisbilde mitten in den Lärm der Fabrik. –

Ein Junge klapperte an ihm vorüber, stieß ihn mit der Stange, auf der er einen fertigen noch weiß glühenden »Pariser« (man blies eben Lampenschirme) »eintrug«, lachte breit-frech und laut und pfiff zum Kühlofen.

Du schöne Zeit, wo bist du hin! zwang der Graveur sein Blut zu affektierter Sentimentalität.

Aber da gähnte der Abgrund seiner Seele auf. Sein anderer düsterer, wilder, bohrender Geist stieß seine Brust mit einer knirschenden Seufzerwoge auf: »ha! und was wär ich geworden? Und was kann ich werden?« Ein ruhiger stummer Wutfluch riß die rote Farbe von seinem Gesicht.

Aber was kann das nützen, beherrschte er sich gleich darauf. Davon lern ich nicht reden. Ich muß es vergessen, ich muß . . . . . muß . . . . muß . . .

Und zitternd vor Erregung lief er in das dichteste Gedränge.

Da rannte er mit den Knien gegen einen mit Milchglasständern gefüllten Kastenkarren. Der Arbeiter kam vom Kühlofen gefahren. Von dem Stoß des Graveurs geriet der Glasberg ins Wanken.

»Verflucht!« schrie der Arbeiter, »wo wollen Sie hin? Setzen Sie sich auf und backen Sie sich an jede Seite des Hintern einen Ständer, Hesse!«

Schramm verzog ungeschickt, geschäftsmäßig den Mund, wie eine Puppe mit Lachmechanismus und stürmte weiter.

Ich muß vergessen – muß – muß –

Aber schon packte ihn eine Faust bei der Schulter: »Kerl wenn du's nicht wärst, hieb ich dir's Rohr über die Mütze. Wieder umsonst meine Backen gequält!«

Schramm streckte dem Schulkameraden die Hand entgegen und lächelte zerstreut.

»Nun,« polterte der Bläser ärgerlich, »du hast mir de Form vom Rohre weggestoßen.«

Ach, sagte Schramm durch eine Handbewegung, wegen dem, wenns nur nicht mehr ist!

»Natürlich, aber a Fremder säß draußen auf a Scherben, das weiß ich. – Na, wir sind ja Alte, gelt Josef, alte Freunde. Aber wahrhaftig, Bange hab ich um dich gehabt. Sie sagten, du wärst Wochenlang irre gewesen. Mitgenommen hat dichs ordentlich. Aber die Farbe kommt wieder.«

Der Glasmacher erzählte schreiend viel – viel. Schramm hörte nicht auf ihn, sondern quälte sich in seiner Erinnerung.

. . . . . Gut dreizehn Jahre sind es her, daß ich Kölbelmacher war. Ja, mit siebzehn Jahre hatte ich schon eine Stelle. Die andern, das waren alles Schafe; die mußten vier Jahre Kölbel blasen. Richtig – und der Hüttenherr hieß mich immer den jungen Meister – ja – ja –

Dieser Hochmut kam ihm sehr willkommen, wußte er doch alles in buntes, grelles Licht zu tauchen, für alles die prächtigsten Farben zu schaffen und ihm auf einige Momente süßes Selbstvergessen zu kredenzen.

». . . . . na wir sind ja alte Freunde!« flocht der Bläser eben wieder in seinen Schrei-Monolog.

»Ich dächte, Josef, wir untersuchten wie der Liter unten aussieht, einen mußt du rausrecken!« Seine Stimme dröhnte und sein Gesicht strahlte, daß er endlich die feuchte Pointe seiner gewaltigen Rede erreicht hatte.

Ha, dacht ich mirs doch! O die Säufer! Na, ich kenn sie alle! Einer wie der andere! zischelte der böse Dämon in des Graveurs Innern. Das trieb ihn weiter; und als er sich das Karussel, einen neuen Kühlapparat erklären ließ, stieß sein zweiter düsterer Geist zwischen die Aufmerksamkeit den furchtbaren Ausruf: Da in dem glühenden Wagen könnte sich August seine Knochen abkühlen.

Schramm betrachtete noch vieles, ging hin und her, ließ sich von vielen anreden. Aber es war umsonst, er blieb zerstreut. Seine Sammlung, seine geschäftliche Arbeitsstimmung, die er sich auf dem Gange durch die Räume der Glasfabrik hatte erhöhen wollen, wurde, kaum entstanden, von einem höhnischen, bitteren, rachsüchtigen Gedanken durchbrochen. – Auf dem Wege zum Zeichner »Herr Binder« bewies er sich aus seiner Erinnerung, daß »sein Hund von einem Bruder« die Trunkenheit nur geheuchelt, daß er ihn »entschieden, mit Vorsatz, nach langer, langer Ueberlegung hatte totschlagen wollen«, um die Lebensversicherungssumme »auch noch in den Rachen zu schlucken«.

Er wälzte noch viele dunkle, zornige Gedanken hastig durch seine Seele, er wühlte noch lange in den Abgründen seines lastenden Hasses, der ihn ganz durchdrungen, gebannt, den sein langsames Temperament doch nie zu glühender Flamme, zum klaren Entschluß steigerte und trieb. – –

Indem er zwecklos in dem Hofe und um die Gebäude ging, verlief sich der anfänglich hohe Wogendrang der Leidenschaft in ihm, nachdem er aus seinem verwitterten Geiste den peinlich gesteiften, krankhaft lebendigen Willen, aus dem Herzen das mühsam gewonnene stärkende Interesse und die erfrischenden, gesunden Bilder der Erinnerung hinweggespült hatte.

Leer, dumpf, stumpf und doppelt schlaff war seine besiegte Seele, kalt sein vergiftetes zweifach armes Herz. – Seine Sinneswerkzeuge arbeiteten schnell und leichtfertig und trugen doch nichts nach innen.

Er sah alles, hörte alles, auch das Geringste; und doch war alle Erregung so schwach, ging so schnell, war so alleinstehend beziehungslos, daß kein Gefühl, kein Begriff sich bildete.

Er strich umher, wie ein Nachtwandler, aber ohne dessen verwirrtes, buntbewegtes Innenleben.

Er stand schon eine Viertelstunde vor dem, durch Dampf getriebenen Schöpfwerke, welches das Grubenwasser förderte, und sah zum vielleicht tausendsten Male die Kolbenstange auf und niederstoßen, aber er langweilte sich nicht. Denn wenn der Kolben aufs neue niederfuhr, war der frühere gleiche Eindruck schon verflüchtigt und Schramm sah mit ursprünglicher, mechanischer Aufmerksamkeit das Glitzern des blanken Eisens und hörte wie überrascht das Aechzen, das Gurgeln und Plätschern des Wassers.

Er hätte wohl noch lange geistlos hingestarrt, doch der Ruf: »Na Schramm haben Sie schon die Vorlagen in der Tasche, oder ruhen Sie das erste Mal?« riß ihn auf.

Herr Klein stand hinter ihm.

Schramm verzog sein Gesicht nicht.

Wie ein säumiges Zugtier auf den Ruf des Fuhrmanns sich wieder in Tritt setzt, so wandte sich der Graveur wieder zum Gehen.

Die frühere Aufforderung des Herrn lag und wirkte in ihm wie ein tierischer, blinder Trieb.

. . . . . . . . Nun klopfte er an die Thür des Zeichners.

»Herein!« quäkte es drinnen.

Er trat ein und blieb stehen, die Mütze in der Hand schwenkend, wie es Arbeiter eben thun.

In der langen Stube, vor ihm auf einem hochgeschraubten Drehschemel hockte ein buckliger Mann über eine Arbeit gebeugt. Er sah sich nicht um, rührte sich nicht einmal, als Schramm das Zimmer betrat. Er schien versteinert zu sein. Nur die pfeifenden Atemzüge bekundeten, daß Leben in dem verknoteten Menschen sei. Das Pfeifen wurde stärker und schneller. Endlich platzte die Erregung in einem kurzen plärrenden Hustenstoß auf und dann:

»Donner Kilian! guten Morgen Herr Grobian!«

Und plötzlich drehte sich das Männchen zweimal um sich selbst, daß die Beine seitwärts flogen, hüpfte herunter, stand dem Graveur im nächsten Augenblicke unter der Nase und schleuderte ihm ein zorniges »Hä!« ins Gesicht. Dann trat es zurück, spreizte die Beine, rückte die goldene Brille dicht vor das Auge und stemmte die Arme in die Seite:

»Da quäl' ich mich schon jahrelang mit der Bande herum; aber es nutzt kaum was. Da ist immer wieder einer, der über seinem Büffel den Rock nicht zuknöpfen kann. Verflucht! wie oft soll ichs denn sagen: ich bin nicht eures gleichen! Ich bin nicht Handwerker, ich bin Künstler! (dabei blies er mächtig.) Verstanden? und verlange Respekt. Ja!«

Danach strabelte er quer durchs Zimmer, zu einem Schrank.

Das war Herr Binder!

Schramm dachte, der sieht aus, wie Kasperle und mußte lachen.

»Es ist eine Flegelei, einem Vorgesetzten« – Binder setzte das Wort durch seine Betonung in Anführungszeichen – »ins Gesicht zu lachen!«

Schramms schlaffer Geist begann sich zu regen – »ein schöner Vorgesetzter« – und sein Herz faßte Leben.

Auf seinem Gesichte wollte das Lächeln nicht versiegen. Herr Binder sah ihn eine Weile forschend an. Er wartete offenbar auf eine Entgegnung und hatte schon eine Grobheit parat.

Der Mund des Graveurs blieb stumm.

Ach mein Gott, erinnerte sich jetzt Herr Binder: der Stumme, ja, ja, mit dem sauberen Bruder!

Mithin! – der ist kein Wort wert.

»Sie sollen,« begann er geschäftsmäßig, in scharfem widerlich hochmütigem Tone, indem er an den Tisch ging und Schramm durch eine befehlende Handbewegung hinter sich heranwinkte, »Sie sollen hier nach diesem Muster – aber rein halten – Vasen schleifen. Den Geist, die schwungvolle Seele der Zeichnung, werden Sie nie verstehen lernen. Sie werden es blos nachritzen, nachmachen – wie ein rechter – echter Hand–wer–ker–«

Des Graveurs Stirn umwölkte sich. Er nahm Herrn Binder die Vorlage unsanft aus der Hand. So, das wird sich zeigen, sollte es heißen. Aufmerksam betrachtete er dann die Zeichnung. Sie stellte einen großen, geschmackvoll geordneten Blumenstrauß dar, über dem auf Schmetterlingsflügeln drei kleine Tanzgeisterchen neckisch schwebten.

Wirklich eine prachtvolle Zeichnung! Er ist doch ein Teufelskerl, der kleine Knirps! Blos die schöne Rosenknospe und darüber der kleine Kerl in dem wallenden Schleier, wie er begierig nach der Blume guckt! . . . . . . . . . .

Und plötzlich fühlte er es in seiner Brust wollüstig aufwogen: das Ahnen, das Träumen, die lebensstarken Gedanken kamen über ihn, welche ihn heute früh ergriffen hatten, als er nach dem Frühstück von seinem Fenster aus die erwachende Welt betrachtet hatte. Da legte er freilich eine tiefere Seele in die Zeichnung, als sich Herr Binder gedacht hatte. Dieser aber fühlte sich durch das lange Betrachten geschmeichelt und begann in wohlwollendem Schulmeisterton:

»Die drei Grazien sind Glaube, Hoffnung und Liebe. Links über der springenden Rosenknospe ist die Liebe. Leichtfertig ist der Schleier um den üppigen Leib geschlungen und verhüllt die Reize. Der lüsterne Blick lugt nach der aufquellenden Rose, welche die erwachende Sinnlichkeit bedeutet, d.h. symbolisiert. –

Symbolismus ist die Hauptsache! Hier hatte Rembrandt ganz recht, wenn ich auch seine Vorliebe für das Gräßliche verurteile – verurteilen muß!« – und das Zwerggenie bohrte seine Glasaugen in die Luft und blitzte den vor ihm schwebenden Riesen an wie einen Schulbuben.

»Mitten schwebt der Glaube,« nahm er seine Erklärung wieder auf, nachdem er selbstgefällig auf seinem Lorbeerreisigbündel eine Weile ausgeruht hatte »– Glaube. Ernste Gesten bekunden seine gedankensatte Seele. Ich wollte ihm eigentlich einen Prophetenbart machen, um den Ursprung des christlichen Glaubens anzudeuten; aber . . .«

»Thrä!« –

Der Graveur schneuzte sich verständnisinnig – Es klang wie ein Trompetenstoß.
Binder starrte ihn an. Wut und Zorn machten ihn erbleichen. Mit zitternden Lippen schrie er: »So eine Unverschämtheit! Hier – hier – hier – nein – so was – machen Sie – hier – daß Sie nauf kommen. Donner Kilian!«

Der Zornesausbruch machte auf den Graveur nicht den geringsten Eindruck. Indem er die Mütze gegen das Bein schlug und sich zum Gehen wandte, dachte er: Eine herrliche Vorlage; aber schwierig! Da heißt's die Ohren steif halten. Sonst . . . .

Die Gleichgiltigkeit brachte Binder zum Aeußersten.

»Ein Lump sind Sie. Eine Lüge is, eine stinkende Lüge is! Ihr Bruder hat gar nicht dran gedacht, Sie zu schlagen. Besoffen waren Sie und da . . . .«

Schramm blieb wie angewurzelt stehen.

Die ganze Last der verschwiegenen Wut rollte auf seine Brust. Herz und Lippen bebeten ihm. Er drehte sich energisch um, um ihm »eins zu versetzen.« – Aber du wärst des Todes! – Grollende, dumpfe Laute quollen über seine Lippen und seine Augen funkelten in düsterer, unheimlicher Glut.

»Her Binder« lehnte wie leblos am Tische und schrie aus Leibeskräften nach Hilfe; aber die Angst preßte ihm die Brust zusammen, und so klang es wie das Wimmern eines jungen Hundes.

Schramm spie ihm ins Gesicht und schlug die Thür hinter sich zu.

Herr Binder kam langsam zu sich.

Er wischte sich das Gesicht, und als er vorsichtig zur Thür hinausgesehen und bemerkt hatte, daß der Graveur schon fort sei, ballte er die Faust.

»Wart nur, Vögelchen! du denkst, der Ast, auf dem du sitz'st, ist grün! Wart nur, wart nur, wenn man dran sägt, wird er schon dürr werden. Wollen sehen.

Nein! – 's ist doch zum Farbe fressen, so eine Respektwidrigkeit!«

VI.

Also das noch! – wenns der sagt, dann muß es unter den Leuten Gerede sein! – Der Graveur ging, ganz an die Mauer gedrückt, das verrauchte Gebäude entlang und bog endlich in eine offen stehende Thür. Die Schwelle, die Flurziegel waren ausgetreten; der Putz war teilweise von den Wänden gestoßen. Packstroh lag wirr auf dem Boden. Rechts eine Thür, links eine – u.s.w. – alle wie ein Bettlersrock: geflickt, abgeschabt, bald zu groß, bald zu klein, schief hängend; fest zu und doch nur lose angelehnt, denn alle Schlösser an ihnen waren schadhaft. Die Thüren ächzen, quietschen, poltern, hüpfen auf und nieder, wie angesteckt von Lärm und Bewegung um sie, neben und über ihnen.

Rechts eine Thür – links eine – ein langer Hausflur! –

Schramm bleibt vor jeder einen Augenblick stehen wie ein Lastträger, den das Gewicht seiner Bürde fast zusammendrückt.

»Hineingehen! – – – – nein! – bin –ich aber – – ein Esel!« – äußert sich das mechanische Arbeiten seiner Seele. In der Tiefe aber wühlt und bohrt es wie Fieberkrampf: also das noch! – nach allem! – ich ein Ehrloser! – Du ewiger Gott!! – Das muß herunter von mir – oder es erdrückt mich! Aber – was thun?

Er ging weiter. Links eine Thüre!

»Hineingehen!« – Er blieb stehen! –

Was thun? verklagen werd ich den Hund! ja–a! Aber der Kerl spricht wie Marktjüde und ich? – Unsinn! Da müßt ich alles haarklein erzählen! Nein, nein! Da bin ich mir zu gut, daß ich vor dir, du elender Knirps, alles ausbreite. Und . . . . . . . . Recht? – Frage den Stein! . . .

Er ging weiter. – Rechts eine Thür!

»Hineingehen!« – Er blieb stehen. –

»Nein – räudige Katze – durchprügeln werd ich dich – totschlagen – das verdienst du, dem die Ehre eines andern so lieb ist, wie dein Buckel. Totschlagen!«

Aber da kam ihm der Gedanke, daß es andere auch wußten, daß andere grade so schlecht und niederträchtig seien als Binder – totschlagen! Das Gift fraß weiter: – wo – wieviel hats gute, ehrliche Menschen auf der Erde? – keinen – totschlagen! – alles, alles Ungeziefer.

Er, der Henker und vor ihm die ganze Welt – weg mit euch! – alle einen Kopf kürzer! – totschlagen!

Er lachte auf: grell, schrill, schneidend.

Es klang wie der Schrei eines Ertrinkenden. –

Sein Herz aber schlug gegen die Brust, als wolle es das knöcherne Gefängnis sprengen, um hinauszukommen aus der Nähe dieser düstern, höllischen Gedanken.

Schramm preßte die Hand darauf, wie um es zu beruhigen. Da hörte er die Vorlage in der Seitentasche knistern –

Er war im dunkeln Treppenhause angekommen. Rechts die Schamottenstampfe, links der Schleifsaal. –

»Es wird nicht gehen! – Ich hab keine Ruhe! – Obs überhaupt geht, – und – was dann?«

Der Lärm rechts und links spann seine Gedanken weiter und gab ihm Antwort.

Aus dem Schleifsaal kreischte und zischte es sinnverwirrend wie höhnisches Lachen.

Aus der Schamottestampfe quoll es wie dumpfe, eintönige, träge Hammerschläge.

Ihm war es, als höre er das Schicksal den Sarg seiner Zukunft zimmern.

Er schauerte zusammen.

In dieser Erregung muß ich ja alles verderben. Es muß ja heute nicht sein; er drehte sich um und wollte gehen.

»Halt Freundchen, so wird nicht gespeist!« Klinke war es. Er kam aus dem Schleifsaal und war in himmelblauester Montagslaune.

»Ich hab heute den Geburtstag gehabt, dann der Czernoch, dann der Mann – hier ist die Herzensschmiere!« Er hielt einen gewaltigen »Vierkanter« voll Korn in das Licht des Flures.

»Gemütlichkeit! Immer gemütlich, das ist die Hauptsache. Ha, ha! na heute wirds toll! Bruder, und jetzt hast du Geburtstag!«

Er hatte Schramm die Stiege hinaufgezerrt. Bei den letzten Worten traten sie in den Schneidersaal.

Ein Chorus taumelnder Stimmen schrie:

»Guten Tag Geburtstagskind!« – Dazwischen klang der bewundernde Ruf: »Klinke ist schon ein uricher Hund! – Klinke hoch!«

Alle sprangen von dem Arbeitstische, einer aus Brettern zusammengeschlagenen Tafel, welche um den ganzen Saal, mit Ausnahme der Thürwand, lief und stellte sich in einem Halbkreis um die Ankömmlinge auf.

Schramm dachte: Sie sind alle besoffen. Ich dächt, ich ließ sie, sonst machen sie's noch toller.

Klinke nahm das Wort. Mit komischer Feierlichkeit überreichte er Czernoch die Flasche: »Hier, mein Marschallsstab.« –

»Kollegen, Kameraden, Freunde! Gestern haben wir Moltke, den großen Schweiger, gefeiert. Heute begrüßen wir einen kleinen Moltke . . . .«

»Bravo! Bravo! Weiter!«

Eine Anspielung auf deine Stummheit dachte Schramm und erblaßte.

»Er hat einen nächtlichen Kampf bestanden. Fast wäre er seinen Wunden erlegen; aber er hat gesiegt. – Mir wär's gestern fast um ein Haar so gegangen. Ich stürzte über einen Stein und – schlug mir das Knie blutig. Natürlich den Schädel konnt' ich mir auf keinen Fall einstoßen. Dazu gehören zwei vierspännige Fuder (er zeigte auf den Vierkanter, den Czernoch hielt) unter die Mütze.«

Das ist auf mich gemünzt! – der Zorn begann in Schramm aufzubäumen, aber Klinke fuhr unbeirrt fort:

»Na, was wollte ich denn schnell sagen. Also, er ist wieder gesund. Er ist gleichsam von . . . er ist gleichsam neu . . . geboren. Der Herr hat ihm die Hand geschüttelt. Binder hat ihm die Thür aufgemacht . . . .«

»Serr scheen! Brachtvoll!« schrie Czernoch.

»Wir sind froh, daß du wieder da bist und wollen deinen Geburtstag begießen und du sollst die Taschen aufmachen und den Regen herauslassen.

Wir sind alle noch die Alten: Czernoch, der Büffel, Mann, der Nachtfalter und Schürzenkönig, Strangfeld, die Bibelmotte . . .«

Alle brüllten und stampften: »Bravo! Klinke, du Hund!«

»Die Andern,« setzte er fort, die Andern sind die bekannten Esäue ohne E!«

»O, ho, na, na!«

»Und du bist noch das Hinterviertel vom Chef! Auf daß err sich wirt eemol inn Aptritt . . . . .« knurrte Czernoch.

»Klinke hoch! Schramm hoch! Geburtstagskind hoch!«

Schramm warf Klinke einen haßerfüllten Blick zu, riß sich von ihm los und schritt seiner Arbeitsstelle zu. Sein unseliges Mißtrauen hatte in allen Worten Klinkes böswillige »Niederträchtigkeit, Anspielungen und Verleumdungen« erblickt.

Die Schneider sahen einander eine Weile fragend an. Als aber Klinke mit nach Schramm hingeneigtem Kopfe gewinkt und unter Zwinkern »Nicht recht meschucke« gesagt hatte, brachen alle in wieherndes Gelächter aus.

Nur Strangfeld, die Bibelmotte, ein Hüne mit Beinen, welche aus einem Handtuch zusammengedreht schienen, ging abseits. Er mochte in seinem klareren, gesammelten Innern eine Ahnung haben von dem Elend in Schramms Seele, welche an dem Glauben, der Welt und Gott nur noch durch das zitternde Bewußtsein eigener Ehre gehalten wurde, sonst aber eingehüllt war von den Schatten düsterer Leidenschaften, welche sie unterdrücken wollte und doch in schmerzlicher Wollust gebar. –

Er ging zu ihm und drückte ihm mit stummem herzlichem Lächeln die Hand. Schramm preßte sie voll Inbrunst: o hätte er seine gequälte Seele befreien und ausrufen können, mein Freund, mein Retter! Statt dessen preßte er sie nochmals mit Wehmut, daß Strangfeld hätte aufschreien mögen.–

Die Übrigen hatten sich um den »Vierkanter« geschart, ließen die Gläser klingen und springen und sangen:

»Frei die Kunst
Und weit der Schlund,
Immer ohne Sorge.
Hats kein Geld,
Du reiche Welt,
Muß man borgen, borgen!«

»Laßt den Duckmäuser, ein'n Murk haben ich auch noch selberr!« schrie Czernoch, als sie geendet und warf eine Mark hin.

Strangfeld winkte Schramm, machte mit dem Daumen die Bewegung des Geldzählens und zog den Mund in ironischer Schlauheit in die Höh. Das sollte heißen: »Gieb, du wirst sie eher und besser vom Halse haben.« Schramm nickte verständnisvoll, holte eine Mark hervor und Strangfeld trug sie Klinke, »Dem Präsidenten der Gemütlichkeit« hin: »Hier vom Schramm auf den Geburtstagtropfen«. Kaum hatte Mann die Mark gesehen, so blies er auch schon auf der hohlen Hand einen Tusch und seine Augen funkelten.

Und dann erhob sich die ganze Schaar und stimmte den Toast

Frisch auf, und nehmt das Glas zur Hand,
Thut einen tiefen, deutschen Schluck.
Schramm lebe hoch und Czernoch auch,
Nach altem, echtem Künstlerbrauch.
           Hoch, dreimal hoch!

an. Das war heute mit Einsetzung der betreffenden Namen schon oft gesungen worden. Es war sehr beliebt. Denn eine feststehende Melodie hatte der Gesellschaftsvertrag der »Künstler« nicht bestimmt Deshalb benutzte Jeder diesen Toast zum Ausdruck seines musikalischen Glaubensbekenntnisses. Jeder war tief überzeugt, daß seine Melodie die reine, geoffenbarte Wahrheit sei und suchte ihr durch die größte Anstrengung Geltung zu verschaffen.

Dieser war ein Freund schwermütiger Weisen. Er sang den Toast als Trauermarsch. Dabei breitete er die Arme seitwärts und schlug auf und ab wie ein Storch vor dem Auffliegen.

Mann liebte das Tändelnde. Ludolf Waldmann war sein Ideal. Obwohl Taktmaß und Rhythmus nicht stimmten, sang er die Worte hartnäckig nach der Melodie: Meines Liebchens blaue Augen. Dabei schlug er eifrig und mit weisem, selig verklärten Gesicht sein Messer an das Glas.

Klinke stellte sich bei Beginne des Toastes stets in Grundstellung. Dann aber sang er ihn nach dem Regimentsmarsch der Elfer. Er marschierte um den Saal, ließ die Augen rollen wie ein Eroberer und schwenkte die Arme wie sein »seliger Kapellmeister«.

Czernoch war ein musikalischer Freischärler. In seiner Melodie gaben sich alle Melodien des Erdkreises, in jedem Tone alle denkbaren Töne ein Rendevous. Bald glaubte man das Brüllen eines Löwen zu vernehmen, bald klang es, als habe jemand eine Katze getreten, und dann wieder ertönte das ferne Rollen eines Wagens mit aufgedrehter Hemme.

Die Jüngeren beschränkten sich darauf, mit den Händen, je nach der Schwere des Rausches, die große oder die kleine Trommel zu schlagen.

Darin aber waren alle einig, daß der Zauber des Toastes ganz erheblich verringert worden wäre, wenn nicht jeder nach dem Maße der ihm von Gott verliehenen Kräfte mit den Füßen gestampft hätte.

Klinke war, wie es eben gar nicht anders sein konnte, bei den letzten Worten in der Mitte der Singenden angekommen und hatte mit einem donnernden »Halt!« das letzte »Hoch!« gewaltig unter den Boden gestampft, als er, sich im Kreise drehend, das »Bundeslied« anstimmte.

Nach dem eben verklungenen melodischen Janhagel diese würdevollen Töne!

Brüder, reicht die Hand zum Bunde.
Diese ernste Feierstunde . . . .

Freilich machte es den Eindruck, als sehe man einen mit allem Herrscherpomp bekleideten König seinen Hermelin trunken durch Gasse schleifen.

Die Mitwirkenden aber falteten höchst ernst-würdevolle Gesichter. Diesem rannen die Thränen über die Wangen. Einer sank sogar vor Rührung unter den Tisch. Da bei allen mit dem Beginn der zweiten Strophe die Kenntnis des Textes ihr jähes Ende fand, löste sich das Lied in ein vielgestaltiges, mysteriöses Brummen auf und verstummte endlich ganz.

Dann aber blitzten aller Augen und wie ein Sturmlied wütender Kämpfer erbrüllte es:

Wr hoan a Lied gesonga, do gehert a Schluck darauf,
Bei dr Infanterie, bei dr Kavallrie woarsch immer so dr Brauch!

Bum! hieb Jeder auf den Tisch und leerte sein Glas in einem Zuge. Der »Vierkanter« hatte seine Fuselseele ausgehaucht und Klinke machte auf den Weg ihm eine neue einsetzen zu lassen.

VII.

Ein Junge hatte Schramm die Vasen auf die Arbeitsstelle getragen. Strangfeld war ihm bei den Vorbereitungen zum Schneiden behilflich. Er feuchtete den Schmirgel in der Schale an und stellte ihn hin. Schramm legte die Lederschnur über das Schwungrad und befestigte die »angenäßte Fahne« über der Scheibe.

»Gut Glück!« wünschte Strangfeld und reichte ihm die Hand.

Schramm lächelte ungläubig und hoffnungslos und drückte zitternd die dargebotene Rechte.

Dann sah er dem Davongehenden nach: lang, lange, sehnsuchtsvoll. Er wäre am liebsten aufgesprungen und ihm nachgeeilt. Er hatte so vieles zu denken, so vieles niederzukämpfen. Aber sein träumerisch schwankender Wille, seine Entschlußunfähigkeit, der Gedanke an den Hohn seiner Kollegen hielten ihn auf dem Schemel, obwohl er sich zur Arbeit durchaus unfähig fühlte.

Durch die Aeußerung Binders und die stichelnden »vieldeutigen Worte Klinkes des Schweinehundes« war sein Inneres gänzlich zerrissen. Die Spaltung begann bei dem Unglück im Hohlweg. Der eine Teil seines Lebens, seine Kindheit und Jünglingszeit, sanken wie tot, dürr verwüstet, ohne Beziehung auf ihn und sein Glück, ohne Interesse zu wecken, tiefer und tiefer. Alle warmen, lichten, bunten, schönen Gedanken und Gefühle zogen mit ihm fort, wie die Vöglein und Sonnenstrahlen und Blumen alle mit dem sterbenden Sommer entschwinden.

Der andere Teil seines Daseins, die jüngste Vergangenheit, quoll in ihm auf, wie der frühe düstre Herbstabend. Sturm, Frost, Leere, Nacht und Tod sind seine Kinder.

Sie erfüllte seine Brust, sein ganzes Sein und mit ihr kamen die düstern Geister wieder, welche der herrliche Morgen, der Mut vertrieben: Mißtrauen, Haß, Hoffnungsarmut, die Gespenster des toten Selbst- und Menschenglaubens.

Ach, und seine Seele schwebte nicht mehr in Zweifel, sah nicht mehr hoffend hinab in den Abgrund, in die Ferne, wo die schöne Zeit und ihre lichten Gefährten verschwunden waren.

Eine schwache, stets im Tode zitternde Wonne, eine blasse Zweiflerahnung von seligen Tagen war alles, was die menschenreine Vergangenheit in ihm zurückgelassen hatte. Der Seele Hinüberlangen nach den schönen Erinnerungsgefilden, die marternde Gewißheit des lebendigen Todes im Falle steter Trennung von ihnen, der Kampf um die lichtvolle, geistige Existenz, den sie vor dem Kohlenwagen der Seilbahn, gegen Jogwer, in der Glasfabrik gekämpft hatte, lag in ihr wie ein mechanischer, verständnisloser Drang, war zum Entschluß geworden, die Gedanken- und Gefühlswelt der Gegenwart auf jeden Fall zu vernichten, um in das verlorene Paradies zurückzukehren. Aber den Weg, den der Graveur zu nehmen hatte, sah er nicht. Er drängte in blindem Kampftrieb seine Seele in das wilde Gewühl des Innern.

Und sie zog ein und nahm Wohnung auf den Trümmern, bei dem Tode, in der Leere und kleidete sich in Kälte. –

Die ganze Außenwelt flog schnell und gestaltlos, wie Windesflucht, an ihr vorüber. Nichts hatte mehr Bezug auf sie, als was mit dem Haß gegen den Bruder und allem hieraus Entspringenden in Verbindung stand.

Sonst drehte sie sich, ein Atom unter Millionen Atomen, mit dem Kreislauf der Lebenswogen; jetzt stand sie still, und alles Uebrige flog um sie; allem Aeußeren gab sie die Züge ihres Gesichtes, den Inhalt ihres Innern.

Die Bangigkeit vor der Vernichtung der äußeren Existenz war das einzige, was Schramm mit seinen Menschenbrüdern verband und sein Thun dem ihren äußerlich ähnlich machte.

Aber sein Wille war von krampfhaftem Brüten und unfruchtbarem Träumen so entnervt, daß sein ganzes, in diesem Augenblicke beginnendes Ringen um die Behauptung seiner Stelle nichts war, als die mechanische, abgerungene Ausführung eines Entschlusses, der dunkel, hart, eintönig und wie aus zeitlanger Ferne drängte.

So schnell vollziehen sich endlich lang vorbereitete Wandlungen in unserm Innern, daß Schramm die folgenschwere, unglückliche Veränderung in sich fühlte, wie man den Bann der Nacht merkt, wenn sie uns auch nicht sichtbar ist. – Minuten gingen, und sie war vollzogen. –

Schramm hatte unterdeß sein Gesicht von der Thür abgewandt und starrte zum Fenster hinaus.

»Jetzt muß ich aber anfangen,« regte sich sein schlaffer, arbeitsscheuer Wille.

Langsam suchte der Fuß den Tritt, die Räder begannen wie ärgerlich, träge zu schnurren.

Aber wie dem morschen Invaliden bei dem Klange kriegerischer Weisen sein versunkenes Heldentum, gleich Spätherbstsonnenschein durchzieht, wurde in dem Graveur bei dem altgewohnten Geräusch die ehemaligen Berufsliebe nach und nach rege. Doch sie lag mehr in den Muskeln, indem diese durch die gewohnte Bewegung, in die sie traten, das Gefühl der Sicherheit, der Geschlossenheit der Persönlichkeit erzeugten. Dieses steigerte sich und nahm an scheinbarer Innerlichkeit zu, wie die höheren Sinne in die alte handwerkmäßige Thätigkeit hineingezogen wurden.

Und wie der Graveur nun, eine Vase in der Rechten, aufmerksam die Vorlage betrachtete, faßte ihn ungeteilter Arbeitseifer.

Er »speiste« die Scheibe aus der Schmirgelschale, und seine Hände führten die Vase sicher heran.

Er bewegte sie auf und ab und drehte sie im Kreise; jetzt ließ er sie nach kurzer Berührung mit der Scheibe forthüpfen, nun zitterte sie an der windschnell Kreisenden: Stiele, Blätter, Früchte, Blüten entstanden auf dem blanken Glase wie durch Zauber.

Warme Ruhe, leise Freude, trostvolle Sicherheit erfüllte ihn mehr und mehr, da er nach dem jedesmaligen Abwischen des Glasstaubes die Ueberzeugung gewann, daß ihm die Arbeit »prächtig« gelinge.

»Ha, ha, der Alte! das ist herrlich!«

In seinen Augen erwachte ein leiser Schimmer des auferstehenden Lebensglückes seiner Vergangenheit.

Begeistert schnitt er weiter.

– – –

Der Saal hatte sich geleert. Alle waren fortgegangen. Niemand kümmerte sich um Schramm, der sich durch seinen alten Arbeitseifer aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen hatte. Alle betrachteten ihn voll Mitleid, und äußerten wegwerfende, zornige Worte über den »eingebildeten Streber und Augendiener.«

Am wütendsten war »Czernoch, der Büffel«. Sein roher Charakter, seine Trägheit und unsaubre Arbeit hatten ihn schon einmal vor den Abgang gestellt. Schramms Fürsprache bei Herrn Klein hatte ihm die nochmalige Verzeihung erwirkt. Schramm hatte dies gethan, um Czernochs alte Mutter, die bei dem Sohne ein karges, bitteres Gnadenbrot aß, nicht unglücklich zu machen. Aber gerade dieser Edelmut war der Grund, daß Czernoch ihn noch mehr haßte; denn er betrog sich zu dem »Glauben, Schramm habe ihn nur »bei dem Härrn Tscheff« angeschmiert, um sich a Pildel einzulegen.«

Der blinde Haß Czernochs war ein trefflicher Bundesgenosse für den beleidigten »Herrn Binder«, dessen schnaubende Rachsucht auf rascheste Vergeltung drang. Er hatte Czernoch nach dem Vorfall mit Schramm auf dem Hausflur getroffen und mit in sein Kabinett gezogen. Dort ließ sich der schlaue, heimtückische »Künstler« soweit herab, mit dem Schneider zum Verderben Schramms ein Kartell zu schließen. Czernoch setzte seine rohe Gewalt, Binder seine Verschlagenheit ein. Er wollte »dem mutigen, ehrenhaften, graden Herrn Schneider« im Falle des Gelingens des Anschlages die Stellung Schramms verschaffen. In Wahrheit aber dachte er gar nicht daran, den »rohen Gimpel« zu »befördern«. Er wollte nur auf jeden Fall die »wahnsinnige Kröte«, den Stummen, vom Halse haben.

– – –

Schramm hatte eben das Bouquet vollendet und betrachtete ausruhend die wohlgelungene Arbeit.

Da füllte plötzlich erregtes Stimmengewirr den Hof, wälzte sich über den Hausflur und die Stiege nach dem Schneidersaal herauf.

Der Graveur machte sich schleunigst wieder an die Arbeit, um mit »den Säufern in keine Berührung zu kommen«. Die drei allegorischen Figuren, welche über den Blumen schwebten, waren noch zu schneiden.

Eben, als die Thüre krachend aufflog, grub sich die Scheibe wieder zischend in das Glas.

»Natürlich, wenn alle so eselten, könnte jeder bei dem Hungerlohnsatz bestehen!« rief der Vorderste der hereintaumelnden Schneider, indem er auf den über die Arbeit gebeugten wies.

»Ä, laß den Duckmäuser, das ist kein Zukunftsmensch, der muß dem Herrn wieder Honig ums Maul streichen, nachdem er dreizehn Wochen gefaullenzt und auch das Geld der Krankenkasse gestohlen hat!«

»Ruhe, Genossen, das gehört nicht zu der Sache!« . . . mahnte Klinke, indem er sich aus dem Knäul herausarbeitete. »Es ist nur die Frage, auf welche Weise wir auf dem Wege des Rechtes, und das ist uns allen heilig, unsere gerechten Forderungen . . . .«

»Jawoll, jawoll! unt dann thut Kärl noch, als ob wirr garr nix wörn, reinn garr nix, der . . . .« brüllte Czernoch.

»Ruhe! Ruhe! Maul halten!« schrie es von allen Seiten.

»Nein, hä, hä, das wäre noch scheene, wenn ich nich sagen könnte dem Lump die Wahrheit!«

»Was wollen Sie denn? frage ich,« trat Strangfeld drohend auf ihn zu.

»Geht dich garr nix an, sprech ich nich mit dir!«

»Czernoch, wenn du mit dem was hast, laß es sein bis darnach, machs mit ihm allein ab!« rief Klinke, der um seinen Rednerruhm besorgt war.

»Nein, unt noch eemol nein! grade nich, alle sollen hären, was is dr Härr Oberschneider fr a Früchtel!«

»Da laßt, laßt ihn! Czernoch hat's Wort!« riefen seine Complizen, welche er sich eben drüben im Gasthaus zur Hütte erkauft hatte.

»Los, Czernoch, los!«

Schramm arbeitete, daß ihm der Schweiß von der Stirne troff; aber sein Gesicht war marmorkalt und die Tropfen wie Eis. Mit halbem Ohr, halbem Aug, halbem Gefühl in den Händen war er bei der Arbeit. Seine Seele und sein Herz richteten sich langsam, zitternd auf unter dem Banne einer furchtbaren Ahnung. Seine steigende Erregung dehnte die Brust zum Springen und hing sich an den stockenden Atem.

Die Worte Czernochs rissen ihn in den Strudel.

Dieser wiederholte im wesentlichen den gemeinen haltlosen Verdacht Binders, nur mit dem Unterschied, daß sein Haß und Zorn zwischen den einzelnen Sätzen den Unflat der gräulichsten Verwünschungen anhäufte.

»Wissen ja,« fuhr er fort, »wissen alle, Bruder Lump, daß de hast verflucht gelogen. In deinem tolle Wutt über paar lumpiges Mark, woas hoaste deines armen Bruder geburgt – geburgt auf, machen bloß caput! – – – In tolle Wutt, daß hoaste verlorn paar lumpiges Mark, hoaste deiniges arme Bruder tuttschlagen gewullt. Aber prave Bruder hatt Kuhrasche, hatt dir gegan Paffer auf Schadel! . . . Lige is, daß hatt Bruder dich hat gewullt tutt schlagen. Du bist gewest Lump! Du, Geizhals verdammtes, haste dein Mark wieder, kenntste sonst flutschen.

Friß in Maul, Räuberbande du!«

Während der letzten Sätze hatte die Zuhörer ein zischendes Singen vernommen.

»Es brennt!«

Die Vase stand in den Händen Schramms wie angewachsen. Er war zusammengebrochen und wie versteint. Die Füße arbeiteten wie im Krampfe. Die »Fahne« war trocken. Die Scheibe schnitt, daß Feuergarben sprühten. Längst hatte sie ein Loch gegraben. Aber Schramm achtete nicht darauf. Sein Haupt lag schlaff auf der Brust. Um die Lippen zuckte und zitterte es. Aus den regungslosen, weitgeöffneten Augen fielen langsam stumme Thränen.

»Friß in Maul, Räuberbande du!«

Klirrend flog das Markstück an die Vase. Schramm fuhr aus dem Starrkrampf. Die Arbeit war total verdorben. Striche, Knoten und Löcher waren wirr über die Vase zerstreut:

Sein Leben vernichtet! – Seine Ehre hin! – Die Achtung tot. – Das Vertrauen gestorben. –

Er ein Bettler – ein Ausgestoßener – verachtet – oh! – – – – – – von einem Schurken, einem Säufer! –

Seine Wut war Raserei: In wahnsinnigem Zorne sprang er auf Czernoch zu. Starke Arme packten ihn.

»Hund! das sagst du mir? Ich habe ihm den letzten Pfennig gegeben, daß ich arm bin wie Bettler, und du wagst, mich der Rache und des versuchten Mordes anzuschuldigen? Du bist es wert, daß ich dich erwürge. Und ihr, ihr sinnlosen Säufer, die ihr lacht über mein Unglück, ich werde ihn suchen, meinen Bruder. Der Himmel wird mir helfen. Ich werde ihn suchen. Hierher bring ich ihn, vor euch, dann muß er sagen, warum er mich halb totschlug. Wenn es einen Gott im Himmel giebt, dann wird es mir gelingen!

Du aber, Czernoch, du Bestie, du bist des Todes!«

So schrie seine Seele. –

Dem Mund aber entquoll Heulen, Gurgeln, Zischen, Röcheln. Die Lippen zuckten, Schaum flog um seinen Mund, die Augen waren stier nach oben gerichtet, sein Gesicht war verzerrt, sein Körper zitterte.

Mit Mühe hielten Zwei den Tobenden.

»Seht ihrs nicht, daß er wahnsinnig ist?« quäkte es. Binder, der bucklige Zwerg, tauchte aus dem Haufen, das Lächeln gesättigter Rachsucht auf seinem unschönen Gesicht.

Als Schramm ihn sah, riß er sich mit übermenschlicher Gewalt los, stürzte auf ihn zu und streckte ihn mit einem furchtbaren Faustschlage zu Boden.

Da packten ihn zwanzig Hände und im nächsten Augenblicke lag er draußen auf dem Flur.

Eine Zeit lang blieb er betäubt liegen.

Das Pochen aus der Schamottstampfe brachte ihn zu sich.

Dumpf, langsam donnerten die ruhelosen Balken nieder, daß der Bretterflur, auf welchem er lag, zitterte.

Das Grab seiner Zukunft war fertig – er lag darin, doch lebendig. O, hätte er sterben können, dann war alles vorbei, alles vergessen, was vorgegangen und eintönig, zerfetzt, wirbelnd durch sein Hirn tanzte; die kochende Erregung, das wilde Leben und Stürmen in seinem Innern hatte dann auf immer ausgetobt! –

Wenn die entfesselten Flammen ein Haus verzehrt haben, lodern sie wohl noch einmal auf, dann sinken sie für immer zusammen und sterben unter der Asche.

Der Riß in Schramms Seele, welcher so lange vorbereitet war, hatte sich vollzogen.

Seine Vergangenheit, sein menschenwürdiges Dasein waren versunken. Seine Seele lebte nur noch in stumpfem, tierischem Haß und dem steinherzigen blöden Entschluß, den Bruder zu suchen. Den Entstehungsgrund für beide hatte er vergessen, oder er war so bedeutungslos geworden, daß er nie mehr an ihn denken konnte. Was geschehen wollte, wenn er seinen Bruder fand, wußte er auch nicht mehr.

Er haßte ihn eben und mußte ihn suchen; das war aller Inhalt seines geistigen Lebens.

Ein Leben, schlimmer als Tod.

Die Balken pochten dumpf weiter.

Su–chen . . . su–chen . . . stießen es die Schläge unförmig durch ihn hin.

Unter diesem Banne stand er auf und ging unsicheren Schrittes die Treppe hinauf, über den unteren Hausflur, über den Hof, die Straße, immer weiter, weiter – wohin? . . . . . su–chen, – su– chen.

Er sah nicht auf, noch um. Sein Blick haftete am Boden. Er schritt über die Felder, dem Walde der Wolfkoppe zu. Der Wind sauste in den Kiefernadeln, es tönte ihm: su–chen – su–chen.

Aus dem Schnalzen der Rotkelchen, dem heiseren Häherschrei, dem feinen Lockruf der Meise, dem Murmeln der Wellen des kleinen Waldbaches hörte er immer dasselbe.

Ratlos trieb es ihn weiter, immer weiter . . . .

Endlich wurde es Abend.

Erschöpft sank er ins Moos und war bald entschlafen.

– – – – – – – – – –

Das Schicksal hat das Haus durch Feuer verwüstet: die Balken sind zerstört, die Mauerüberreste bröckeln und stürzen, in den offenen Lucken, den leeren Zimmern, in den geheimen unterirdischen Räumen, überall wohnt der Verfall.

Senke dich nieder, ewige, ewige, milde Nacht!

O, daß über der Ruine doch niemals der Morgen erwachte! Der arme Besitzer muß sonst verzweifeln. –

VIII.

Die Sonne stand schon ziemlich hoch.

Eine Nebelkrähe auf dem Baume, unter welchem der Graveur lag, ließ ihren langgedehnten, schnarrenden Schrei ertönen, dann gluckte sie ein paarmal heiser und spreizte den Schwanz dazu.

Der Schläfer schrak auf, wischte sich die Augen und richtete sich langsam zur Höh.

‚Eine Krähe, hm, hm!'

Er war vor Kälte fast starr.

Kalt, kalt! schauerte er zusammen. Dann stand er auf und schaute umher. Ein dunkles Gefühl der Ueberraschung, sich im Walde zu finden, wurde in ihm rege.

Mit schlaffen Schritten ging er quer durch den Wald. Da überfiel ihn wie aus dem Hinterhalte plötzlich der Gedanke:

Wenn »er« – der Bruder natürlich – mich hier trifft! Keinen Stock, keinen Stein, der Weg weit ab, nirgends Menschen! – Vorsichtig, ängstlich spähte er durch die Bäume. Er stand still und lauschte. Nichts regte sich. Leise schlich er bis zum nächsten Haselstrauche und brach sich einen Knüttel. – So! –

Sicher ging es nun bergab. Den ersten Weg, auf den er traf, ging er entlang. Aufmerksam lugt er nach rechts und links; wenn es knisterte, stand er still und faßte den Knüttel fester. Sonst war er gedankenleer.

. . . . . . . Da rauschte, rollte und sang es. Er stand vor der Mauer des Kirchhofs von Schlegel. Man bestattete einen Toten; ein Grablied erklang.

»Ein Begräbnis . . . . . viel Leute?« . . . . Er guckte über die Kirchhofmauer . . . . , ‚verdammt' – . . . und kauerte sich schnell wieder nieder.

»Auf der Straße kann ich nicht gehen. Da sehen mich alle. Ich muß vor Hundt vorbei, vor der Brauerei . . . . da kann er drinn sitzen und mich sehen. Ach und die anderen Leute,« brütete er weiter, »sind ja alle auf seiner Seite. Eh ich mich umseh', hats ihm jemand gesteckt, daß ich ihn suche und – husch! ist er verschwunden. Da heißts aufpassen!«

»Herr Schramm, was ist Ihnen denn? Ist Ihnen unwohl?« rief plötzlich über ihm eine mitleidige, weibliche Stimme. Er fuhr auf; grub aber schleunigst den Kopf wieder auf die Brust.

‚Ach, die »Wagnern!« auch so eine Schlange! Was machen?' er sann lange nach. Endlich kam es ihm wie eine Erleuchtung. »Ich werde mich verrückt stellen« und er sprang auf, schlug mit dem Knüttel an die Mauer und murmelte dumpf.

Die Frau hatte lange gewartet und noch einige Fragen an ihn gestellt, die er aber nicht hörte. Als sie keine Antwort erhalten, war ihr Angst geworden. Deswegen hatte sie sich schnell entfernt. Eben als er aufsprang und mit dem Knüttel die Mauer bearbeitete, sah sie sich um.

»Mein Gott, mein Gott, er ist wahnsinnig!« sprach sie schauernd zu sich und bog voll Schrecken rechts ab auf die Chaussee . . . . . . .

Schramm merkte, daß er keine Kopfbedeckung habe. »Das trifft sich ja prächtig. Wenn mich die Leute ohne Hut sehen, dann wird jeder denken: ach der ist bei dem und dem gewesen und geht jetzt nach Hause. Da hats noch Zeit, daß ichs dem August sage, der bei der Brauern sitzt, oder sonst wo. – – Aber kalt ist es doch verdammt.

Ich geh nach Hause, ich muß mir eine Mütze holen. – Mitten durchs Dorf – da kann ich den Beobachter spielen. – Ich seh's den Leuten am Gesicht an, ob er hier ist! –«

Ein schmaler Steig führte an der Kirchhofmauer hinab, nach der Chaussee, welche zugleich Dorfstraße war. Er betrat den Pfad und war bald auf dem breiten, belebten Wege.

Den Knüttel in der Rechten, nach rechts und links den Vorübergehenden scharf und auffallend in die Augen blickend, ging er schleppenden Schrittes die Straße abwärts. Sein Rücken war berieben, schmutzig, voll Moos und dürrer Halme; sein Haar verwirrt und hing tief in die Stirn.

Alle, die ihn kannten, blieben stehen, oder wichen ihm scheu aus.

»Wahrhaftig, er ist verrückt!« zischelte es bald da, bald dort.

Schramm aber dachte: »Wie ich vermutet habe. Natürlich ist er da, was brauchten mir sonst alle auszuweichen? Sogar der Franke – einst sein bester Freund – geht auf die Seite. Die stecken alle unter eine Decke; aber wartet nur, ich finde ihn schon . . . .« bald stand er vor einem verrauchten, schmucklosen, fensterreichen Hause. Er trat in den unsauberen Hausflur und stieg die bekannte knarrende Treppe hinauf. Er fand seine Wohnung offen, erstaunte aber nicht, sondern ging hinein und warf sich auf den ersten Stuhl, an welchen er stieß. Er fühlte sich unendlich abgemattet.

Es raschelte hinter ihm. Seine Augen blieben geschlossen. Er rührte sich nicht; er war so abgespannt, daß er nicht einmal ahnen mochte.

Jetzt wurde Geräusch wie von leisen Schritten laut. Therese stand starr vor Schreck hinter ihm und heftete ihr weit geöffnetes Auge auf ihn. Neben ihr stand ein Tragkorb, in welchem allerhand Kleidungsstücke lagen. Sie hielt das Kuppelseil in den Händen.

Endlich wagte sie es: »Herr Josef! Sie ziehen ja aus. Ich muß fort. Meine Schwester ist krank. Sie ist allein und hat keine Pflege. Und – und – vom letzten Vierteljahr dies – Lohn – das – schenk ich – das will ich – das – hab ich schon. Sie sind ja vor so unglücklich. – Adjes!« – Sie konnte sich nicht mehr halten, schluchzte und weinte und reichte ihm die Hand.

»Leben Sie wohl! der liebe Gott sei mit Ihn.«

Schramm waren die Hände herabgesunken und er sah sie mit leerem Gesichte an.

Da schritt sie durch die offne Thür. »Gott sei ihm gnädig!« Unsicher ging sie die Treppe hinab, denn sie sah durch die rollenden Thränen kaum die Stufen, die gute, treue Seele.

Schramm machte ein zufriedenes Gesicht: »Ganz gut, daß sie geht. Ich muß schlafen; ich bin müde, gar – zu – müde!« –

Er legte sich angekleidet aufs Bett und schlief bald ein.

Plötzlich fühlte er sich am Arme erfaßt und gerüttelt.

»Was wollen Sie noch da, Schramm?« Der Wirt des Hauses, ein vierschrötiger Mann stand vor ihm. Er war modern gekleidet. Aber an den Füßen trug er langschäftige Stiefeln, welche die übergezogene Langhose schnabelartig nach hinten stießen und im Gesicht lag ein brutaler, kalter Zug, wie ihn Leute aus dem Volke tragen, welche jahrelang über ruinierte Existenzen und verzweifelte Herzen geschritten sind, aus denen sie hartherzig ihren verbrecherischen Gewinn sogen.

»Heute ist der erste!« begann er ärgerlich mit noch härterer Stimme, als er sah, daß der Graveur vollkommen gleichgiltig blieb. »Sie können nicht mehr hier wohnen. Warum haben Sie nicht zur Zeit gekündigt? Wissen Sies nicht, wann der erste ist? Das Geld, ich meine die Miethe vom letzten Vierteljahr, sind Sie auch noch schuldig!«

Schramm sah ihn verdrießlich an; aber er machte keine Miene, sich zu verständigen. Er dachte bloß: »Nun weckt mich der Esel, und ich schlief so gut.«

»Das hab ich mir wohl gedacht, daß Sie keins haben werden!« fuhr der Wirt nach einer Pause fort. Dann sah er sich im Zimmer um und räusperte sich.

»Es sind 63 Mark. Um Ihnen alle Unannehmlichkeiten zu ersparen, werde ich die Möbel als Zahlung annehmen. Ich will Ihren Schaden nicht.« Im stillen berechnete er dreißig Mark Gewinn. »Die Glassachen können Sie sich behalten; ich will ja nichts verdienen, bloß was jedem recht ist?« –

Ein schlaues Lächeln hüpfte auf Schramms Lippen: Die Glassachen?! O, du Tölpel! Die nehm ich und geh hausieren, da ahnt kein Teufel was, daß ich den August such. Gut – gut!

Sofort war alle Müdigkeit von ihm gewichen. Er sprang auf, holte aus einer Ecke einen großen Armkorb und begann die Kommode abzuräumen. Kunstvoll geschnittene Becher, Vasen, Nippessachen, Gläser, alles packte er in Stroh, das er dem Bett entnahm und legte die Sachen in den Korb.

Der redliche Wirt verfolgte all seine Handbewegungen, damit nicht etwas anderes mit in den Korb schlüpfte, ging von einem Stück Möbel zum anderen, streichelte und befühlte alles liebevoll, registrierte den Preis und summierte.

Indessen war Schramm fertig geworden, nahm Stock und Hut und schritt zur Thüre hinaus, ohne den Wirt zu beachten, oder sich umzusehen.

Dieser schloß die Stubenthür zu. Der Riegel fuhr herum. »Abgemacht!« fiel es ihm unversehens von den Lippen.

»Ich brauchte gar nicht so viel Worte zu machen. Er versteht ja doch nichts; denn offenbar ist er verrückt. Aber es ist besser so, reell, reell, das ist die Hauptsache. Die Form muß innegehalten werden. Jetzt kann mir niemand auf den Hals.«

Er war vor der Hausthür angelangt und pfiff vergnügt: »Siehste nicht, da kimmt er?«

»Wo mag er hingehen?« fragte er sich, als er den Graveur im Dorf hinauf eilen sah.

»Den sollte man eigentlich nicht so herumlaufen lassen. Der müßte eigentlich nach Scheibe. Aber lieber schweigen, ruhig sein. Da muß die Gemeinde für so ein elendes Subjekt wieder bluten. Lauf zu, ich hab meine Sache!« schloß der edle Menschenfreund seinen gemurmelten Monolog, lachte auf, pfiff die abgerissene Polka weiter und wandte sich behäbigen Schrittes seiner Wohnung zu. –

Schramm eilte unterdeß weiter. Vor einem alten, hölzernen Gebäude, das mit seinen kleinen Fenstern griesgrämig auf die Straße schaute, blieb er stehen und blickte empor: »Karl Marchs Brauerei und Schankwirtschaft« las er und nickte zufrieden. Die Glocken des Kirchthurmes verkündeten eben die Zwölfte Stunde, als er die Schwelle des Gasthauses überschritt.

‚Poliert, poliert!' murmelte er und setzte sich an den Tisch der dunkelsten Ecke. Auf einem der Tische standen ein kleines Fläschchen, in dem man gewöhnlich Kornbranntwein an niedre Leute schenkt und ein großes Glas.

‚Ha, ha!' argwöhnte er, eine Fährte; aus solchen pflegte »er« immer zu trinken.

Mechanisch, wie in den Tagen des Glückes, griff er in die Tasche, um sich das Geld für seine Zeche zurecht zu legen. In der rechten steckte das Taschentuch, die linke war leer. Aus der Westentasche grub er endlich einen Fünfziger.

In der Gaststube hatte sich bis jetzt niemand sehen lassen. Da öffnete sich die Küchenthür. Schramm wandte sein Gesicht. Ein kräftiger, junger, schnurrbärtiger Mann, ein halbwüchsiger Bursche in Hemdärmeln, und eine Frau traten ein.

»Alles leer! Eine Wirtschaft zum Teufel holen!« sprach der ältere der beiden. »Doch nicht! Verdammt, ist das nicht der Schramm? Richtig! Na, wohin? Was giebts neues? Was, einen Korb? Ein Geschenk drin? Ja, ja! Feine Ware?« und er griff nach dem Deckel des Korbes.

«ng, ng, ng, ng!« hörte der Brauer.

Mit »feinem Instinkt« spürte es Schramm, daß der »Affe« nur »luchtern« wolle. Darum nahm er den Korb und stellte ihn in die dunkle Ecke, so daß ihn der Brauer nicht erreichen konnte. Dann zeigte er auf das Geldstück.

»Korn?«

Er nickte und würde es auch getan haben, wenn ihn der Wirt um irgend etwas anderes gefragt hätte. »Er wird in der Küche stecken.« Das Lächeln der Frau hatte ihn bestärkt, darum horchte er gar nicht auf den Inhalt der Frage, die der Brauer an ihn noch weiter richtete.

‚Wie das anfangen, daß sie es nicht merken?' Er trank einen Schluck und verfiel in Sinnen. ‚Die Küche hat zwei Ausgänge. Durch die Thür dort kann ich nicht gehen. Da läuft »er« zur andern hinaus, oder man läßt mich gar nicht hinein.' Er überlegte weiter, ob es nicht besser wäre, durch das Küchenfenster von außen einzusteigen, verwarf aber den Plan nach einigem Ueberlegen. ‚So geht es', murmelte er, stand auf und schritt in der Stube auf und ab, wie, um sich zu ergehen. Dabei stieß er bald die Kugeln des Billards an, wie ein hungriger Queue-Künstler, bald trommelte er auf einem der Tische, an welchem er gerade vorüberging, wie ein arbeitsloser Musikant, pfiff und beobachtete die Anwesenden scharf.

Endlich saß auch die Frau am Tische; niemand achtete auf ihn; alle waren in das Mittagsessen vertieft.

Da bellte draußen ein Hund. Wie vor Neugier rannte Schramm hinaus, schloß die Thür und stellte einen leeren Eimer vor dieselbe, damit »er« darüber falle, wenn »er« ha unbemerkt entschlüpfen wolle. Dann schlich er horchend an die Küchenthür. Nach einigen Augenblicken öffnete er sie geräuschlos und wand sich hinein. Er musterte das ganze Zimmer, jedes Winkelchen, niemand da! Er horchte einen Augenblick. Plötzlich hörte er es von der offenen Platte her ganz deutlich: der Schrank ist offen – klapp! – klapp! – und dort steckt er drin – klapp! – klapp! –

Erstaunt sah er sich nach dem Sprecher um. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß er so lebendig denke. Er sah den Blechdeckel eines Topfes, in welchem irgend etwas kochte, auf- und niederhüpfen.

Jetzt war es ihm klar: »Wußt' ichs doch!«

Nach einigem, gedankenvollem Zaudern ergriff er beherzt, leise einen an der Wand hängenden eisernen Bolzenhaken und machte sich daran, den Schrank zu öffnen. Sein Herz zitterte vor Erregung, seine Hände bebten.

Mit den Nägeln der Linken zwängte er die Thür auf. Den Haken hielt er zum Schlage bereit. –

Nun stand der Schrank offen: alte Kleider! Forschend stieß er mit dem Eisen bald da, bald dort hinein. Nichts da! garnichts! –

Enttäuscht ließ er den angehaltenen Atem aus und schloß vorsichtig wieder die Thür.

Da scholl es wieder: klapp! – klapp!

‚Halts Maul!' – Zornig sprang er hinzu und hieb auf den herumhüpfenden Blechdeckel, daß er klirrend zu Boden fiel.

Im nächsten Augenblick stand die Wirtin vor ihm: »Zum Kuckuck, was suchen Sie hier?«

»ng – ng – ng« – und Schramm zeigte auf den Mund, welchen er kauend bewegte.

»Das konnten Sie draußen sagen. In der Küche hat niemand nischt zu thun! Marsch jetz naus!«

Er ging mit gesenktem Kopf hinaus. Urplötzlich war die Erregung, das scheinbare Leben in ihm versunken. Es war in seinem Innern wieder alles tot, kalt, leer, fühllos, Nacht, Nacht.

Er setzte sich vor sein Glas, stützte den Kopf in beide Hände und stierte auf ein Loch in der Wachstuchdecke seines Tisches.

»Hier!« scholl es da neben ihm, und eine dampfende Schüssel mit einem mysteriösen Inhalt schob sich vor ihn hin.

Gierig begann er zu essen. Einen Tag hatte er nichts zu sich genommen. Als die Frau sah, wie schnell seinen zitternden Hände die Bissen zum Munde führte, wurde sie nachdenklich und traurig. Armer Kerl, dachte sie, vor einem halben Jahre so ein stattlicher, angesehner Mann und jetzt . . . . . . ach und wie gut er war. Ach du Himmel, der hats nicht verdient!–

Schramm schob die Schüssel über den Tisch und leerte das Branntweinglas. Hastig ergriff es die Frau. ‚Er hat ja sonst nichts mehr vom Leben! da mag er noch einen trinken!' Sie füllte das Glas noch einmal, stellte es Schramm hin und ging mit der Schüssel durch das unterdeß wieder vollkommen leere Zimmer nach der Küche.

Der Graveur that abermals einen tiefen Zug.

Der Genuß des Branntweins brachte sein Blut in Wallung. Die Oede in ihm begann zu weichen. Seine Seele fing wieder an, eintönig um den Abgrund in seinem Innern zu irren.

‚Er ist wirklich nicht mehr hier. Warum ist er so schnell fort? Er muß es gemerkt haben, daß ich ihm auf die Fersen bin und ist ausgerückt. Er fühlt sich nicht mehr sicher. O, der Schlauberger macht über die Grenze ins Oesterreichische. Da soll ihn dann jemand suchen. Aber wart nur! Gewiß hat er die Richtung nach Wünschelburg, die Chaussee gewählt. Wenn ich über die Berge geh, bin ich schon da und wenn »er« hinkommt, pack ich ihn. Aber da heißts schnell sein, sonst entwischt er mir wieder.

Eilfertig nahm er Stock, Hut und Korb und stürmte zur Thür hinaus, über den Eimer stolpernd.

Nicht lange darnach sah man ihn den steilen Weg des Kapellenberges hinaufeilen.

Der Schweiß troff ihm von der Stirn; in der Lunge begann es zu stechen. Er achtete nicht darauf.

‚Wer über die Grenze ist, den findet niemand, der ist so gut, als wäre er in Kameru – Kamerun' – – – ging es einförmig, hastig nach dem Takte seiner Schritte durch seinen Kopf. –

IX.

Was der Graveur vor langen Monaten von seiner Zukunft geahnt, war fürchterliche Wirklichkeit geworden.

Nun wanderte er zerlumpt, ruhte in Gräben und Wäldern und schlief in Ställen. Die Erwachsenen wendeten sich kalt und gleichgiltig von ihm ab und die Kinder sprangen um ihn herum, schrieen, zupften ihn am Rock, schnitten Grimmassen und spreizten die Finger.

Wäre er der Frühere gewesen, zwar stumm, aber im Besitz der Liebebedürftigkeit, der Sehnsucht nach Glück und ungetrübter, allseitiger Aufmerksamkeit für sein wahres Menschenwohl und die Vorgänge um ihn herum, die Betrachtung seines Zustandes hätte ihn der Verzweiflung in die Arme getrieben.

Nun aber merkte er die Veränderung, welche mit ihm vorgegangen war, nicht. Die ganze Welt um ihn herum trug das Antlitz seiner Gedanken.

Der konsequente Egoismus seines Hasses machte, daß die bunte Vielseitigkeit der Beziehungen seiner Seele zur Außenwelt umgeprägt worden war in düstere, unwandelbare Einförmigkeit. Die vielen Augen, aus welchen die Menschenseele auf den bewegten formen- und farbenreichen Strom der Welt sieht, waren geschlossen: nur das glühende, lauernde Auge des Hasses maß alles Aeußere nach dem weltfremden Maßstabe ihrer entseelten Gesetze. Und als der Haß den letzten Funken der Seelen- und Herzenswärme in unfruchtbaren, spitzfindigen Plänen und Vermutungen vergeudet hatte, zerfiel er selbst, verschwand seine krankhafte Sammlung , ward er rein tierisch und floß in die Organe, welche sein Tyrannismus in eintönigem Dienste aufgerieben, und setzte hier sein altes Zerstörungswerk fort: Nur manchmal noch gab ihm der Fuselgeist des Branntweines seine alte Kraft wieder, und er eilte ins Hirn, in die Seele und peitschte die Gedanken in wildem Wirbel auf und entkräftete den Leib in regelloser, zielloser Erregung und Arbeit. Dann hieb der Graveur das Branntweinglas heulend auf und stürmte hinaus, mochte es Tag sein oder Nacht, mochte es stürmen oder schnein. In wildem, atemlosem Lauf stürzte er dem nächsten Walde zu und jagte den Gestalten nach, welche ihm seine Rachsucht vorgaukelte. Plötzlich blieben dieselben wie vom Schreck angewurzelt stehen: und nun begann sie Schramm, knirschend vor Wut, mit Steinen und Aesten zu bearbeiten, bis er selbst vor Ermattung niedersank an dem Baume, in welchem er seinen Bruder, Czernoch oder Binder gesehen hatte.

Am andern Morgen, wenn Frost und Hunger ihn frühzeitig vom harten Lager aufrissen, beherrschte sein ödes, totes Innere eine unerklärliche, klammernde Furcht und Angst, fühlte er, daß jemand, der lebenslang mit ihm gegangen, ihm vertraut geworden, fort sei; dann drückte ihn etwas, wie tiefe Weltverlassenheit.

Er hatte es erfahren gelernt, was ihm fehlte und wie er sich helfen konnte. Emsig sammelte er vom Mitleid die karge Geldspende ein und eilte dem nächsten Wirtshaus zu.

Von zwei Gläsern Branntwein, welche er trank, erwachte sein alter Gefährte, der Haß, und raunte ihm die alten Verwünschungen und Geschichten zu, und Schramm fühlte sich wieder selbst.

In einem solchen Zustande ging er einst durch ein Dorf. Vor einer Schmiede stand ein Frachtwagen. Er war mit zwei Pferden bespannt. Das eine wurde beschlagen. Der Kutscher hielt das Bein desselben und der Schmied beschnitt den Huf. Das andere stand angeschirrt vor dem Wagen.

Schramm blieb stehen und sah hin. Die Handbewegungen des Schmiedes und das Herunterfallen der Hornspäne unterhielten ihn.

Da ertönte es neben ihm rauh und abgerissen: »Wir kommen grade aus Böhmen. – An manchem Gasthause haben wir gehalten. Da konnten wir auch in die Stube sehen.«

Neugierig betrachtete Schramm das noch eingespannte Pferd. Es hob grade den Kopf, schüttelte sich, daß die Messingringe schwirrten und dann öffnete es wieder das Maul:

»In einer Schenke an der Grenze saß auch ein Mann! der war klein und dick, hatte eine blaue Nase und wässrige Augen. Er trank Branntwein und sah immer ängstlich auf die Straße. Er mochte sich wohl vor jemand fürchten.«

Schramm verhielt es den Atem. Er trat ganz nahe an den Kopf des Pferdes.

Doch das schwieg, drückte die Augen zu und ließ den Kopf ruckweise immer tiefer sinken. Schramm klopfte es ermunternd an die Seite und murmelte unzusammenhängende Laute: »Weiter, weiter! ich weiß es schon, wer es ist,« sollte es heißen, von dem Schlage erschrak das Pferd, schnellte das Kummet, das ihm über den Kopf fallen wollte, zurück und schielte auf das andere, welches beschlagen wurde, als fürchte es, belauscht zu werden.

Dann hob es den Kopf, riß das Maul weit auf und Schramm hörte den durchdringenden Schrei:

»Das war dein Bruder, den du hast gewollt tuttschlagen!« Als der Graveur seine Gedanken so aufschreien hörte, überkam ihn wahnsinnige Verzweiflung. Wie um sein Leben zu verteidigen, stieß er das Pferd mit den Füßen, bearbeitete es mit den Fäusten und gurgelte und heulte: »Verfluchte Bestie, du lügst, du bist des Todes!«

Das Tier bäumte sich, stieg in die Höh und schlug aus. Der Fuhrmann ergriff mit der Linken die Zügel. Mit der Rechten erfaßte er die Peitsche und ließ sie auf Schramm niedersausen: »Elender Bummler, mach daß du fort kommst. Ich werde dir helfen meine Pferde scheu zu machen.«

»Ha, ha, ha!« lachte der Schmied aus vollem Halse, »das ist ja der verrückte Seff! Immer fest drauf, dem kanns nicht schaden, der treibt sich überall umher und macht Stänkerei!«

Schramm floh. In einiger Entfernung dreht er sich um, ballte die Fäuste nach den Zweien, stieß wilde Laute aus und verschwand endlich mit gesenktem Kopfe.

Nun begann er von fortwährendem Branntweingenuß aufgestachelt die Verfolgung seines Bruder hastiger, ruheloser als je zuvor. Bald tauchte er in diesem, bald in jenem Dorfe auf, um schnell wieder zu verschwinden; bald sah man ihn auf dem Felde im Graben kauern, bald hinter einem Baume lauern. Dann hörte man ihn wieder nächtlich mit seinem Bruder kämpfen. Sonst schlich er auf menschenleeren Wegen von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf. Seine Augen flammten in unheimlicher Glut, sein Gesicht trug die Spuren seelischer Zerrüttung. Zerfurcht, wachsgelb, sah es aus, wie das Bilde eines fanatischen Asceten.

Unterdeß war der Winter gekommen: zeitig, schneereich und schneidend kalt.

Es war im Monat Dezember. Die Nägel in den Holzdächern sprangen krachend, der Schnee knirschte unter den Hufen und Sohlen: es war furchtbar kalt. Eisnebel krochen am Boden hin, an den Bäumen empor und blieben als Reif hängen. Die Sonne schielte aus einer schmalen Wolkenspalte auf die Erde nieder, um sich bald wieder zu verkriechen. Schon eine Stunde war sie aufgegangen und doch schien sie noch auf derselben Stelle zu stehen, als sei sie an dem Himmel festgefroren. Kein Luftzug strich, die Bäume des Waldes standen regungslos wie versteinerte Riesen. Wenn die Vögel von den Dächern vor die Scheunen flogen, breiteten sie kaum die Flügel. Es sah aus, als fielen die Steine herab.

Der alte Schmied in Reichenau stand auf der Schwelle seines Hauses und blinzte mit eingekniffenen Augen und festgeschlossenen Lippen hinaus.

»Verflicktes Wetter das! Vierundzwanzig war auch a Winter; aber der heurige machts besser, verflickt!« murmelte er vor sich hin und rieb sich die Hände.

»Na, was stehste wieder? Mach daß de in de Schmiede kommst! Franze holt heute den Schlitten und Elsner will auch die Deichsel. Mach! Guck, wenn du fertig bist!« polterte aus dem Innern des Hauses eine rauhe, weibliche Stimme.

»Das hat man im Alter,« murmelte der Weißkopf. »Kinderliebe geht ein Zentner auf einen Fingerhut. Ja, ja, meine Selige . . . .« Er steckte die Hände tief in die Taschen und wollte eben »copieren«, da knurrte es unmittelbar hinter ihm: »Aus'm Wege! Du wirst noch angefrieren! Wer in den theuren Zeiten nicht die Hände rührt, muß an den Fingern lutschen, bis ihm die Backen platzen. Wir können nicht alles machen. Wollt Ihr essen Vater, so müßt Ihr auch arbeiten helfen!«

Der Alte trat die drei Stufen hinab, ging aus dem Wege, sah seinem Sohne nach und sprach in philosophischer Ruhe zu sich: »Heute haben die Kinder die Köpfe bloß zum Stoßen wie die Böcke und das Maul zum Beißen wie die Hunde.«

Trotz dieser grimmen Worte über das gemeine Betragen seiner beiden Kinder – alte, grämliche, unehliche Menschen – quoll kein Gift in seine Seele; denn ein Streit am Morgen, als Vor- oder Nachtisch zum Frühstück gehörte seit dem ersten Tage der Verheiratung mit seiner »Seligen« bis auf heute zu den unausbleiblichen Vorgängen in seinem Hause. Mit der Zeit war die Bitterkeit und Härte der einzige Ausdruck seiner Seele geworden, auch seine Liebe kleidete sich darein.

»Eh man die Hand aufmacht, soll man sehn, was man greifen will, und eh man das Maul aufmacht, soll man bedenken, was man reden will: sonst greift man bloß Schlechtes. Aber, so sind die jungen Leute; ist das Herz voll, ist der Mund toll. Man mag reden, was man will. Zwei gegen Einen: viele Hunde sind des Hasen Tod.«

Mit diesem Sprichwort schloß er fast jedesmal sein Betrachtungen, welche nach dem Streit sich maschinenmäßig einzustellen pflegten.

Heute aber war sein Gemüt durch den nebelvollen, traurigen, kalten Wintermorgen wirklich bedrückt, und indem er das verlotterte Thor der Schmiedewerkstatt öffnete, seufzte sein hoffnungsverlassenes, müdes Herz: das Leben ist wie das Eisen. Es verglüht entweder schnell zu Asche, oder es vermorscht langsam in der Erde. Bei dem Einen gehts rasch, bei dem Andern wills nicht enden.

Warum muß ich solange warten?!

Dann verschwand der gebeugte Alte in dem Dämmern der russigen Werkstatt, wo es bald zu knarren und zu fauchen begann. Funken flogen auf und ein kleines Feuer sah mit seinem unstäten flackernden Auge hinaus auf die Straße, hinein in den Nebel.

Die Kinder, welche zur Schule gingen, sahen es hüpfen und sprühen, sahen den Funkenwirbel aufstieben und verlöschen, lachten, klatschten in die Händchen und gingen belustigt von dannen.

Die alten Bauern, die aus der Frühmesse kamen, platzten ein unwirsches: »N'Morgen Meester!« in »das schwarze Schmiedloch.« Ihre »Alten« reckten die blauen Nasenspitzen links: »Nee, nee! schonn arbten! pechelt dar!« zischelte ihr zahnloser Mund.

Der alte Schmied kümmerte sich um niemand. Er hing seinen Gedanken nach, welche nicht leichter waren, als die schwarze Ecke, welche er den Rücken zukehrte.

Als er sich zufällig einmal umdrehte, stand der Graveur hinter ihm. Der Alte schrak unwillkürlich zusammen. Obwohl er ihn kannte, konnte er sich doch bei seinem Anblick eines Grausens nicht erwehren. Seine plötzliche unbemerkte Ankunft und die furchtbare Veränderung, welche mit ihm vorgegangen, riefen es hervor: sein Gesicht bis in die Augen mit einem struppigen Bart bedeckt, die bleichen Wangen tief eingefurcht, die Stirn faltenzerknittert, der Mund jetzt wehmütig geschlossen, jetzt verzweiflungsvoll geöffnet und jetzt wieder zitternd vor Kälte, die Augen rollten jetzt wild und blitzend vor, nun krochen sie scheu und entsetzt unter die Brauen, in die tiefen Höhlen und nun standen sie glanzlos im Schatten der Rat- und Hoffnungslosigkeit; es war, als sähe man den Tod sterben. –

Die ausgezehrten blaugefrorenen Hände hatte er, Wärme suchend, an die Brust vergraben: ach, dort wohnte seit Jahren keine Wärme, kein Leben, kein Licht. –

Wo konnte der Mund sich ründen, das Auge in stillem Frieden glückblitzend wandern, das Herz Glut haben, die Knochen Kraft, die Muskeln Stärke? O, seit Jahren hatte die Lippe den Hunger gesogen, das Auge sich an Verachtung gesättigt, das Herz sich an Lieblosigkeit zerschmettert und die wahnlebendige Seele Kraft und Stärke vergeudet.

So sieht ein elendes, verlorenes, totgehetztes Menschenleben aus! –

Der Alte ließ seine Augen noch einmal von den lumpenumhüllten Füßen bis zum Kopfe des Graveurs wandern.

»Wärm dich, wärm dich!« sprachen seine welken Lippen und zitterten.

»Der Schlüssel ist gelegt! Wir fahren in die Mühle. Paß gut auf und mach!« scholl es von draußen, dann knirschte ein Schlitten fort.

»Das ist schön!« sprach der weißhaarige Eisenbändiger zu sich, »nun will ich dem armen Teufel warm machen. Besser wärs natürlich für ihn, er läg längst erfroren; aber es ist ein Mensch.«

Kohlen flogen ins Feuer, frisch fauchte der Blasebalg, Wärme und Glut fluteten über den Unglücklichen, welcher sich auf einen Ambos niedergelassen hatte, und der Alte machte ein zufriedenes Gesicht: »Wird ihm schon warm machen!« und seine mattere Kraft trieb den schweren Hammer in langsamen Schlägen auf das glühende Eisen.

Der Graveur rückte hin und her, damit der wärmende Feuerschein die Kälte aus seinem Körper treibe. Dann schlief er ein und träumte: von seinem Bruder, von seinem Elend, von seiner Rache, wirr, zusammenhangslos, eintönig . . . . . . . . . . Jetzt hört er ferne dumpfe Schläge. Die Augen bleiben geschlossen, sein Ohr öffnet sich. Seine Seele denkt die Begleitung: su–chen – su–chen. Nun rauscht es um ihn, über ihm, überall, wie im Walde. Halb öffnet er seine Augen. Die Gesichte wirbeln weiter durch seine Seele. Durch den Flor der schwarzen Wimpern sieht er die Räume schwarz aufsteigen und oben wölbt sich das düstere Dach. –

Wer ist das? Er geht neben ihm, gebückt, unsicher; seine Hände fuchteln in der Luft. Das ist er ja, der August, der Hund, der sein Glück totschlug, seine Ehre, seine Existenz.

In wildem Siegesrausch fliegt seine haßgepeinigte Seele auf aus den Fesseln des öden Todes. Die volle Wucht der Düsterkeit, Verzweiflung, Rachsucht und Zornmütigkeit all seines Denkens und Fühlens wirft sich auf sein Herz, das umschnürt ist, wie von Feuerklauen.

Der Schüttelfrost gieriger Erregung macht ihn bewegungslos.

Nun hört er ganz deutlich eine trunkene Stimme: »Der Herr Graveur ist ein religiöser Gauner, dem es der Teufel nicht von seinem sanften Paternostergesicht absieht, daß er seinen Bruder um 1000 Mark betrog, um dieselben tausend Mark, die er ihm dann großmütig lieh!« Es schreit um ihn, in ihm und die Schallwellen scheinen durch seinen Körper zu gehen, so zittert jede Fiber bei den Worten.

Das Gesicht weckt wilden Haß in seiner Seele und wirbelt weiter.

Jetzt wird aus dem vor ihm Stehenden ein kleines, buckliges Männchen, welches schreit: »Ein Lump sind Sie! Eine stinkende Lüge ist's. Ihr Bruder hat Sie gar nicht totschlagen wollen. Sie waren besoffen!«

Das Gesicht weckt seinen wilden Haß und wirbelt weiter.

Aus dem niedrigen Zwerg wächst ein vierschrötiger, starker Mann. »Friß in Maul, Räuberbande du!« brüllt er und versinkt. Nun schleicht es heran, langsam, langsam. Seine Stirn ist hoch, weiß und kalt; die grauen Augen stieren ratlos, der Mund ist offen, doch stumm, aber durch die Luft geht ein Seufzen und Wimmern. Nun kommt es näher! Ein Feuerballen zuckt auf . . . . . . .

Der ganze Inhalt des unglücklichen Teiles seines Lebens hat Gestalt angenommen und schreitet ihm in den Personen seiner Peiniger entgegen. Sein seelentiefes, lebensweites Elend ist auf einen Punkt zusammengedrängt und droht ihn zum andern Mal zu zermalmen. Aber auch seine leidenschaftliche Bitterkeit, seine Lebensliebe sind zur voller Höhe emporgeschnellt. Die Verzweiflung leiht ihnen Stärke.

Das Gesicht mit den lauernden Augen des Raubtiers kommt näher.

Lump, Betrüger, Hurenkerl! hört er es heulen oder stöhnen in ihm, um ihn, durch ihn hin.

Eine Faust hebt sich zum Schlage.

Da packt er in namenloser Todesangst, gepaart mit tollster Rachsucht einen vor ihm liegenden Hammer und – läßt ihn auf den Schädel unter ihm niedersausen.

Dumpf, polternd fällt die Gestalt um.

In tierischer Wut stürzt sich der Graveur auf sie und schlägt weiter, bis sein Arm erschlafft ist.

Wie er den Körper unter sich verzucken spürt, wie das warme Blut über seine Hand rieselt, ist es ihm, als ob Schatten aus seiner Seele fliegen, als ob eine grause, wilde Sehnsucht, die stets in Schleiern und verhüllt seine Seele gepeitscht, in der Erfüllung gestorben, als ob ein düsterer Traum verbleiche unter dem Schimmer aufquellenden Lichtes. Die entsetzliche Schemenwelt seines Innern weicht weit, weit; auch aus der Ferne sehen ihre haßerfüllten Augen nicht mehr nach ihm hin.

Da sinken die Schleier auch von seinem äußeren Auge und er sieht die wahre Welt – und unter sich den erschlagenen Schmied mit zerschmettertem Schädel. –

Entsetzt springt er auf und weicht weit zurück.

»Tot . . . . tot . . . .« kommt es deutlich, halblaut über seine Lippen. – »Mein Gott, mein Gott . . . . . . was? – Blut an den Händen? . . . . . Wozu den Hammer? – Und das Gehirn daran? – – Kein Traum?! – – Ich der Mörder? – i – ich! – – warum? – – mein Bruder, oh! – mein Bruder!« – Er hat die Sprache wieder.

Ueber der Ruine ist der Morgen aufgegangen.

Der unglückliche Besitzer muß verzweifeln.

Er hat die Empfindung, daß er weit, weit gewandert sei über Höhlen, durch Sümpfe, an Abgründen vorüber, durch ein wüstes, schreckliches Land. Und nun ist er wieder daheim bei sich, bei seiner Seele, in seinem Herzen. Aber seine Seele ist vermorscht, sein Herz pocht nicht mehr dem Leben entgegen. Vor ihm gähnt die Zukunft wie ein unendliches Grab. Dort muß er, der lebendige Tote hundertfachen Tod sterben, wenn er weiter leben will. Aber er will nicht, aus Liebe zu sich. Sein Leben hat ihn zum Tode verurteilt. Er muß sterben. Das Gebot ruht in ihm. Er hat es gewoben in den Zeiten seiner Irrgänge, da er glaubte, seine Ehre hänge von den Mitmenschen ab. Nun richtet es ihn zu Grunde. Ergeben beugt er sich dem Spruch.

Gebrochen, mit wankenden Knieen schleppt sich der Graveur in den nahen Wald.

Nachmittags fand man ihn erhängt. –


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