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Im Schneetreiben

Eine Mecklenburger Geschichte

Als Fieken am Brunnen stand, hörte sie ihren Vater über den Hof kommen. Er sang. Das war für sie ein bestimmtes Zeichen, daß er etwas benusselt war.

»Sumri bum
För'n Dreiling Rum,
För'n Dreiling Bier –
Ick mag nich miehr. –«

Sie konnte ihm anmerken, daß er nicht mehr mochte, denn er stolperte über die Steinstufen und fiel nach vorn, mit beiden Händen gegen die Tür schlagend. Endlich fand er den Drücker, und mit einem Wuppdi war er drin und hatte die Tür wieder hinter sich zugeschlagen.

Fieken wischte sich den Schnee, der sich in Brauen und Wimpern gesetzt hatte und unruhig vor ihren Augen flimmerte, fort, strich sich das nasse Stirnhaar hinter die Ohren und sann nach, was dem gnadderigen Alten wieder in die Krone 154 gefahren sein mochte. Denn soviel kannte sie ihn: wenn ihn nicht ein äußerer Anlaß trieb, sich den »Tod der Gedanken« oder »das nächtliche Vergessen« zu trinken, so tat er's nicht. In solch schwummerigem Zustand liebte er es, pathetisch zu werden, und da kamen denn oft die hübschesten Blüten heraus.

In solch halber Trunkenheit hatte er auch von ihr gesagt, ihre Tugend reiche bis an die Wolken . . . aber wenn's regnet? setzte er tieftraurig hinzu. Sie sei das frömmste Mädchen im ganzen Dorf, aber sie dürfe nie in die Kirche gehen! Warum nicht? Auf jedem Stuhl hätten schon Dirnen gesessen und darum müsse der Past'r erst einen nagelneuen Stuhl für sie anfertigen lassen. Und dann hatte er wohl hundertmal die Warnung für sie: »Smiet di nich weg, Fiek, sünst kümmst unner de Feut!« –

Warum ihr nur gerade jetzt dieses Gedröm einfiel! Sie fühlte eine eigene Angst. Gewiß würde doch heut noch, oder morgen, der Jürden mit seinem Vater sprechen. Gewiß! und was hatte sie zu fürchten? Einbildung, reine Einbildung wieder mal – und doch! Seit dem Sonntag wurde sie die Furcht nicht los – in jeder Kleinigkeit sah sie das Unheil nahen, hinter jedem Wort witterte sie einen Stich, jeder scheue Blick war ihr eine Verdammung . . .

»Fiek!« scholl es vom Hause her. »Fiek!« 155

»Nu ja doch, ick kumm all.«

»Man nich so lartschig! Bie dat bitten Deelnschürn sall ick di woll noch bie helpen? – De Oll hett ok wedder 'n Lütten weg.«

Die Mutter, eine kräftige, vierschrötige Person, stand in der geöffneten Haustür. Ein breiter Lichtschein drängte durch die Öffnung in das nebligte Schneetreiben. Dumpf, schwer klangen die Worte und hallten weit hin. Die dichte Luft ließ den Schall nicht aufkommen.

»Fiek, ward't bald?« Die Frau strich sich mit beiden Händen über das schwarze, krisplige Haar.

Nun trat das Mädchen in die Helle. An der Tragt trug sie zwei gefüllte Eimer; auf dem Wasser schwamm eine starke Schicht aufgelösten Schnees, die bewies, daß die Eimer schon lange gefüllt sein mußten. Auch Haupt und Schultern des Mädchens waren dicht verschneit.

Mit den Händen umklammerte sie fest die Ketten, daran die Eimer hingen. Das bleiche Gesicht war zu Boden gewandt und der Mund herb geschlossen.

»Wo stickst du denn so lang? Immer liggst jetzt in de Ecken, wie de Uhl bie Dag. Wat hest denn?«

»Nichs.« 156

»Na, is ok gliek. Nu man mit de Kök fertig, dat mi de Oll ut de Stuw rut kummt.«

Schweigend trat das Mädchen seitwärts ins Haus, um mit der Tracht nicht gegen die Pfosten zu stoßen. Dann folgte schweigend die Mutter und schloß die Tür.

Leise pfiff der Wind fort in den Bäumen. So eng alles und heimlich sonst; eine Stille, bei der einem ist, als hörte man das lautlose Fallen des Schnees . . . Toller wirbelten die Flocken. Mit leisem Prickeln schlugen sie gegen die Scheiben und kletterten daran in die Höhe.

Drinnen lag Fiek am Boden und scheuerte und schrubbte die rote Mauersteindiele. An einigen Stellen waren Vertiefungen ausgetreten, darin stand nun das schmutzige Wasser, und gerade da hinein rutschte sie mit den Knieen. Endlich bemerkte sie's. Sie setzte sich in die Hucke und strich die feuchten Röcke, dabei über die eigene Unvorsichtigkeit den Kopf schüttelnd.

Sie trug auch zu schwer daran. Summend, warnend, furchtbringend ging es ihr unaufhörlich durch den Kopf. Was würde der Vater sagen, wenn Jürden kam und um sie anhielt? Und er würde kommen! Natürlich! er war ein ehrlicher Junge. Aber »von de Gräflichen een?« würde der Vater fragen. »De Gräflichen«, das war so ihr Spitzname, weil sie die ersten waren im Dorf, 157 die ersten an Geld, Vieh und Land, nicht zuletzt auch an Stimme und Macht in der Gemeinde. Da gab's denn viele, die den Müller beneideten. Ihr Vater, der ärmliche Holzfäller, an der Spitze.

Die Mühle gehörte eigentlich dem Grafen, der da weiter hinaus auf seinem großen Gute wohnte. Sie war »gräflich«, der Müller hatte sie nur gepachtet, und schon Jürden war das Pachtrecht zugesprochen, jetzt, vor kurzem.

Aber das war es eigentlich alles nicht, was sie so quälte. Ganz tief in ihrem Innern war als ein dunkler, drohender Schatten die schreckliche Möglichkeit erwacht, daß er . . . nicht kommen, den Vater nicht fragen . . . sie . . . ach! . . . nicht ausdenken wollte sie's! Nein! das wird er nicht tun! er nicht, Jürden nicht!! Nein, das durfte er nicht . . .

Für diese Simuliererei hätte sie schon halb aufscheuern können. Zu toll! Sie raffte sich auf, stieß im Übereifer den Eimer um, was aber weiter nicht schadete, und schrubbte nun drauf los, was das Zeug halten wollte.

»Herrgott, Diern, du makst ja hier de reine Swemmbud! Bist du 'n Driew! – Nu holl di man 'n bitten ran, de Oll gnaddert in ein Tour.«

Die Mutter hob sich die Röcke ein wenig und trat ans Tellerbrett, um etwas herunter zu langen.

»Wat hett denn Vadder?« wagte Fiek leise zu fragen. 158

»Wat weit ick! He drömt un zaustert dor veel von: denn Gräflichen sien, un: all de Mäkens vernarrn. Mag de Deusching weiten, wat he meint!«

»Hm . . . all de Mäkens? –«

»Von di hett he ok watt, ick war nur noch nich recht klog ut em.«

Warum fuhr es ihr nur wieder so durch! Vom Nacken auf stieg eine brennende Röte über ihr Gesicht. Sie beugte sich tiefer über den Wassereimer und schlug sich mit der nassen Hand direkt vor die Stirn. An den vornüber hängenden Haaren tropfte das Wasser nieder . . . Sollte es nun doch kommen? . . . Wieder die dumme Einbildung! Daß sie keinen Augenblick Ruhe fand! – Sprach er denn nicht immer von ihr, wenn er angeheitert war? Na, und die Gräflichen kamen ihm ja überhaupt nicht aus dem Sinn. Also unnötige Angst. Am besten, sie wurde hier fertig, daß der Vater in die Küche konnte, und ließ sich dann überhaupt nicht vor ihm blicken.

Aber – falsch gerechnet.

Als sie in die Stube kam, um den Vater in die Küche zu schicken, legte er seine schwere Hand auf ihre Schulter und zog sie näher ans Licht.

»Ah! kiek an! dat is ja uns' Fieking. Nu 159 kumm mal 'n bitten miehr in de Sünn'. Segg mal, Diern – du sühst bannig bleek ut – kennst du denn Gräflichen sien Jung? Ick mein denn ›jung'n Herrn‹, aber dat is ja doch man blot noch son'n richtigen Mulesel. –«

Fieken sah ganz und gar nicht mehr blaß aus. Das Blut schoß ihr ins Gesicht, die Zähne biß sie knirschend zusammen, und um die Mundwinkel zuckte es herb, wie im Krampf.

»Na, du blöhst ja wie 'ne Ros'. Segg doch eenfach: nee!«

»Kenn'n? – – Ja, Vadder . . .«

»Sieh an! Dat har ick nich glöwt! – Denn weeßt woll ok noch 'n bitten miehr von em? Weeßt up'n Piek, wur he utsüht?«

»Hm – –« Ihre Hände griffen nach der Schürze und knüllten sie zusammen. Ihre Augen, krankhaft das Weiß hervorkehrend, starrten abwärts auf die Lampe.

»Segg mal, he hett doch swatte Oogen, hier ganz nah an de Näs' hett he 'n Plecken und sien Bort rückt und smeckt immer na feines Salateul? Nich? Dat warst doch ok weiten? – – Fiek!!«

Mit donnernder Stimme schrie er die Sinnende an. Seine starken Hände umspannten ihren Arm, und mit tödlich-grimmigem Blick schaute er sie an.

Sie durfte nicht sagen, daß sein Bart nicht nach Salatöl roch und daß er keinen Flecken an der Nase 160 hatte, alles das hätte sie ja verraten. Sie stöhnte nur unter seinem eisernen Griff und blickte mit unendlichem Weh, leidend, hilfeflehend zur rußigen Decke auf.

»Ick – – – ick weit nich, Vadder – –«

Da trat die Mutter ins Zimmer.

»Nu, wat is denn hier los? dat süht mi ja ganz komisch ut. Lurwig, lat de Diern mit Freed'n, se hett noch to dohn.«

»Ji Frugenslüt speelt all unner ein Deck.«

Aber er ließ sie doch, trappte mit seinen schweren Stiefeln in der Stube auf und ab, blieb dann am Fenster stehen und trommelte gegen die Scheiben.

»Hest Lebberwust, hest Lebberwust, hest Lebberwust nich seihn?« brummte er vor sich hin.

»Du weißt ja woll wieder nichs wie sticheln un schimpen. Nee, hüt abend giwt Schinken. Di deiht't ja ok nödig, dat du man wedder to Besinnung kümmst, nu sühst ja de Fleig för 'n Nachtuhl an.« Die Mutter faßte ihn am Arm und wollte ihn mit hinaus in die Küche zerren: »Nu kumm man, Lurwig, dat wat in'n Liew kriegst.«

Fiek stand noch immer am Tisch, ein paarmal hatte sie tief aufgeatmet; am liebsten wäre sie hinaus gerannt, aber sie sollte ja die Stube aufscheuern. Wenn doch der Vater bloß erst fort wäre!

Da kam er wieder auf sie zu und sah ihr scharf, durchdringend in die Augen. 161

»Fiek! – Fiek! – Du kennst denn Gräflichen sien doch nich, wat? – Segg!«

Gleich kam die Mutter dazwischen und zog ihn zurück. Daß ihre Tochter mit dem Müllersohn lief, davon hatte sie längst Wind bekommen.

»Wat sull se em nich kenn'n. Denn kennt doch jede.«

»Nee! Kein von de fule driwt: All Mäkens wie Melk, kein süht em swatt.«

»Nu spreek di doch blot mal ut, wat wullt du, wat meinst du, wat hest du gegen em? An di rad'n denn Düwel sien Fürhun'n sick kolt.«

»Wat ick hew? – Hm – nichs, rein gor nichs. – De Jung, de Mulesel, de löpt hier man blot in'n Dörpen rümmer, fein uptakelt, so recht as: sühst mi woll! – De Dierns kiekt sick de Oogen ut'n Kopp nah em, all to Hop'n, un he – na –

Et stun'n söben Stiern am Heben
Un lüchten so söt dör de Nacht – –
Und da kam ein fein' Graf mal gegangen,

na – un de hett se all in de Tasch steeken –«

»Nu holl man up mit dien Gedreih.« Die Mutter wollte ihn vor sich her zur Tür hinausschieben, doch er wehrte sehr energisch ab und schritt wieder ans Fenster. Da stand er nun, beide Hände in den Hosentaschen, den Kopf gesenkt, daß der dunkle Bart sich auf der Brust ausbreitete. 162

»– Un denn Gräflichen sien makt dat ok so . . . he bitt de Äppel erst an un smitt se denn ünnern Disch . . .«

Fiek bebte am ganzen Körper, ihre feuchten Hände ballten sich zusammen. Die Brust keuchte unter schwerem Atem und mehrmals tat sie den Mund auf, um dreinzureden.

»Vadder – – –!« rang es sich endlich der Bebenden von den Lippen.

Der hörte gar nicht drauf, er fuhr fort in seiner abgebrochenen Weise vor sich hin zu reden.

»All fallt's drop rinn, nu is he bie de rieke Schulten . . .«

»Dat . . . Vadder . . . dat is nich wohr!« Mit hochrotem Gesicht ist sie ein paar Schritte auf ihn zugelaufen.

». . . nu is hei bie de rieke Schulten, un uns' Fieking – – hett em all hatt . . .«

»Nee, nee! Nee!!«

». . . dor is he all öber weg pett . . .«

Die Mutter stand hoch aufhorchend am Tisch, das war ihr gänzlich neu. »Dorvon hew ick nie wat hürt. Dat hebt's di vörlogen.«

». . . Uns Fieking is all affdahn . . . Smiet di nich weg, sönst kümmst ünner de Föt! hew ick immer seggt. Nee: se hangt sich son Nobelschee 163 um'n Hals un strampelt em mit de Bein an'n Harten –.«

»Vadder, he is nich – – he geiht nich mit de Schulten! Dat – dat sind Lögen!«

Mochte Fiek noch so schreien, mochte sie ihrem Vater es ins Gesicht sagen, daß sie mit ihm ging, mochten ihr die Tränen in die Augen treten: ihn rührte es nicht. Erregt tappte er kreuz und quer durchs Zimmer, daß es von den Wänden widerhallte, und mit immer dumpfer werdender Stimme sprach er fort:

»Gestern vonabend hebt's em seihn – mit ehr, mit denn rieken Schulten sien, dor buten, ganz buten in 'ne Wildnis . . . bie de Kapell, dor ganz vörn, wo dat so rinner geiht na't Gewölw. He – un mit ehr –.«

»Nee, Vadder, dat is lagen!!«

Nun stand er plötzlich dicht vor ihr still, hob langsam sein rotes Gesicht und blickte sie strafend an. Bis ins Innerste traf es sie. Erzitternd erkannte sie aus seinen verzerrten Zügen den mächtigen, schonungslosen Zorn, der in ihm wütete.

»Sooo? – Weißt du dat? – Wär he viellicht gestern bie di?!«

Er war dicht an sie herangetreten und sein glühendes Gesicht berührte fast das ihre.

»N . . . n . . . nee.« Schnell griff Fiek nach ihrer Schürze und schluchzte und weinte auf. 164

Die Mutter, die sich bald vor Schwäche niedergesetzt hatte, bald vor Unruhe wieder aufgesprungen war, aber kein Wort dazwischen zu sprechen sich getraute, aus Angst, sie möchte die Sache nur schlimmer machen, fühlte sich vom Mitleid zu ihrer Tochter überwältigt und trat zwischen beide.

»Du büst hüt ganz un gor dwatsch. Gah weg! Du bringst de Diern so in 'ne Angst.«

Doch der Vater stieß sie unsanft beiseite und seine Sprache wurde nur noch kräftiger, lauter, brüllend.

»Segg, Fiek, wann is he toletzt bie di wesen? He? – Segg!!« Er schüttelte sie derb am Arm, daß sie wie eine Puppe hin und her schleuderte.

»Segg! ick will't weiten!! He? – Wann wär he bie di?« Er holte mit der schweren, eisernen Faust zum Schlag aus. Als ob Fiek ihn schon erhalten hätte, so schoß sie zusammen.

Doch schon hatte sie die Mutter fortgerissen. Sie beschützend, stellte sie sich mit ihrem breiten Körper vor die Tochter.

»Lurwig! besinn di, wat du deihst.«

Der Vater aber ließ sich in seinem Zorn nicht mehr halten. Er faßte um die Mutter herum und packte seine Tochter an den Haaren. Mit einem Aufschrei sank sie in die Kniee.

»Kein Slag, segg ick di! Lurwig, kein Slag 165 deihst du ehr! Dat is mien Kind! Un wenn du nich miehr weist, wat du deihst, denn mut ick för se optreden. – Kumm Fiek, gah nah Stien-Tanten rümmer. He ward ja woll noch mal wedder to Besinnung kamen.«

»Ja! rut ut mien Hus! Rut mit de Diern! Un so lang ick noch mien Knaken rögen kann, kümmt's mie nich in de Döhr.«

Die Mutter hatte die heftig weinende Fiek vom Boden aufgehoben und führte sie nun hinaus. Auf der Diele strich sie ihrer Tochter das Haar glatt.

»Sie man still, Fieking, dat is alls nich so slimm. He het nu mal sien Tourn'n, mußt em dat wieder nich nahdregen. – Segg Stien-Tanten, ick käm vonabend noch rümmer.«

Damit verließ Fiek, noch immer weinend, das Haus. –

Da stand sie nun, mitten im tollsten Schneetreiben, ohne Kopfbedeckung, ohne Schultertuch, mit zerzausten, halb aufgelösten Haaren, nassen Händen und tränenfeuchten Wangen. So war es mit einer Ausgestoßenen; so schrecklich, o unsäglich schrecklich war ihr zumut. Wenn doch der Schnee dort Schwefel und Feuer wäre und sie hier zu einer Salzsäule, wie einst Lot's Weib, oder zu einem Eis- oder Steinklumpen erstarrte. Nur tot sein! tot! 166 Kein Gefühl mehr haben, keine Scham fühlen, keinen Schmerz, keine Furcht . . .

Die gefalteten Hände vorne schlapp herabhängend, das Haupt tief auf die Brust geneigt, schritt sie lautlos fort durch den hohen Schnee.

Als sie auf die Straße kam, spielte der Wind mit ihren leichten Röcken und den losen Haaren. Schnee legte sich auf Schultern, Haupt und Arme. Ihre Holzpantoffeln waren schon nach wenigen Schritten vollgewatet. Zuerst drang noch Schneewasser durch die dünnen Strümpfe, bald aber wurden ihre Füße kalt wie zwei Eisklumpen; sie spürte das Holz nicht mehr unter der Sohle, ihr war es, als trete sie mit schweren, eisigen Füßen in den weichen, flaumigen Schnee.

Wo wollte sie denn hin?

Sich besinnend, stand sie still. So, zu Stien-Tanten. Ja, da war sie aber schon vorüber. Sollte sie umkehren? Ach, dann der die ganze lange, ekle Geschichte vorkohlen – morgen wußten es da alle im Dorf. – Irgendwohin mußte sie doch. Sterben, ja, wenn sie das könnte. Aber – vielleicht war es doch bloß alles Lüge? . . . Gewiß, es konnte gar nicht anders sein. Jürden . . .? – Nein, nie und nimmer!

. . . So bestimmt den Ort aber anzugeben . . . Ha, wenn sie dahin . . . ach, es war ja so weit. – Nein, nein! nichts zu weit, um sich Gewißheit zu 167 verschaffen. Sie könnten auch heut abend da sein; gerade! Denn heut würde da niemand vorüber kommen.

Nun kam Bewegung in ihren Körper. Sie band das Haar in einen Knoten, damit es ihr nicht immer ins Gesicht schlug, und fort waren Kälte, Schmerz und Tränen! Das letzte Häuschen hatte sie schon hinter sich, weiter draußen kam nur noch ein einsames Gehöft, bis dahin zogen sich die Scheunen. Kalt, tot, furchterweckend zog sich die lange, schwarze Wand dahin.

Plötzlich fuhr sie heftig zusammen vom raschelnden Geräusch in einer Maueröffnung. Es war ein Steinkauz, durch sie aufgeschreckt, schwang er sich mit schweren Flügeln auf das Dach. Dann schrie er heiser, unheimlich auf.

Immer dichter wirbelten die kleinen feinen Flocken hernieder, alles ringsum in ein bleiern Grau einhüllend. In dem kleinen Holz, in das sie eingebogen, erkannte sie kaum die Baumstämme rechts und links. Die nebelgrauen Zwischenräume schienen wie schmutzige Kalkwände, nur wo die dickeren Stämme standen, Öffnungen lassend für eine weite, dunkle Ferne.

Unermüdlich schritt sie fort.

Hier in der Nähe waren am Tage die Holzfäller tätig, auch ihr Vater. Schon mehrere Male war sie gegen umliegende Baumstämme gelaufen. 168 Wieder stolperte sie und verlor dabei einen Pantoffel. Doch was machte es ihr! Zum Suchen hatte sie keine Zeit. Nur fort! nur hin nach der Kapelle! Wenn jetzt unter der Schneedecke ein Stein oder ein Stück Holz lag und sie den Fuß darauf setzte, so empfand sie doch ein taubes Schmerzgefühl, daß ihr jedesmal die Kniee einzubrechen drohten.

Gespenstisch pfiff der Wind durch die kahlen Baumkronen, die Äste schurrten leise aneinander, manchmal ein Knacken und Brechen, als stürze einer nieder. Öd, finster, einsam war es hier; deutlich vernehmbar schlugen mit leisem Prickel die kleinen, eisigen Flocken gegen Baumrinden und dürre, an abgebrochenen Zweigen hängende Blätter.

Das Gehölz hatte sie hinter sich. Nun ging es eine Strecke auf der Chaussee fort, dann links den allmählichen Abhang hinunter, bis zum Hügel, worauf die Kapelle stand.

Schweigend, tot, weltfern lag das weite Feld rings um sie. Nichts war zu sehen als das dichte Nebelgrau, kein Baum, kein Steg, keine Straße; nur an einer frischen Fahrrinne in der fußhohen Winterdecke erkannte sie die Chaussee.

Brennend glühten ihre Wangen von dem schnellen Laufen. Die Augen waren fast zugeschneit, so dicht hatte sich der Schnee in Brauen und Wimpern gesetzt. Auch den zweiten Pantoffel hatte sie fallen lassen, um hier auf der glatten Straße nicht 169 ungleich zu treten. So ging es im tiefen Schnee viel schneller auf Strümpfen vorwärts.

Schon war sie am Hügel, doch vor den dicht fliegenden Flocken sah sie die Kapelle nicht. Dieser Hügel war ausgehöhlt und im Innern befand sich das Grabgewölbe, gerade unter der kleinen Kapelle. Sie mußte ganz herum laufen, um zu dem Eingang zu gelangen. Hier war ein hufeisenförmiger Ausschnitt aus dem Hügel gemacht und an der entstandenen Wand ein breiter Stollen bis ins Gewölbe getrieben. Erst in etwa zwei Meter Tiefe befand sich ein eisernes Gitter, und davor sollte der Platz sein, wo sich Jürden mit der Schulten getroffen hatte.

Leise, vornübergebeugt, schlich Fiek durch das wilde, kahle Gestrüpp. Die Haare waren ihr längst wieder aufgegangen und hingen nun nach vorne herunter. Hoch klopfte ihr das Herz, mit den Händen griff sie seitwärts in die knackenden Sträucher.

Endlich war sie am Gang. Zitternd, voll Spannung sah sie hinein und war nur noch mehr erschrocken über das, was sie erblickte. Das Gitter war offen und hinten im Gewölbe schimmerte Licht. Einen Augenblick zauderte sie, doch dann schlich sie vorsichtig hinein, immer weiter, tiefer, dem Gewölbe zu.

Den Särgen gegenüber stand eine Bank, über der große Kränze mit Schleifen hingen. Und 170 darauf . . . darauf saßen zwei . . . ein Mädchen – jetzt lachte sie, gewiß! es war Rieke Schulten – und . . . er! – er? – nein! nein! – Sie drohte umzusinken und fuhr mit der Hand an der feuchten Wand nieder. – Nun wandte er sich um und sein Gesicht wurde halb beleuchtet, sie erkannte ihn; es war der Sohn des richtigen Grafen! Den hatte ihr Vater gemeint. Den wirklichen – nicht Jürden . . .

Erleichtert atmete sie auf. Die Angst war zu groß gewesen, so war ihre Freude um so lauter.

Da hörte sie dumpf, dröhnend die Stimme des Grafen: »Ich glaube, wir werden belauscht.«

Er sprang auf und riß sein Gewehr von der Schulter.

»Wer da?« Dumpf hallte seine Stimme wider.

»Wer da?! – Antwort! oder ich schieße!«

Was sollte Fiek in der Angst anfangen? Sich aufraffend, rannte sie hinaus. Da sah er ihr Kleid aufwehen und – ihr nach.

Draußen schützte sie schon das dichte Schneetreiben. Links und rechts war nichts zu erblicken. Voll Wut stieß er einen Fluch aus.

Doch dort – links – den Abhang hinauf klimmte etwas Dunkles – es mußte ein Mensch sein. Frisch knallte er darauf los. Er hatte sich nicht geirrt . . . ein leiser, unterdrückter Aufschrei drang zu ihm, dann war es, als glitt dort, nach dem 171 Weg hin, etwas hinunter, doch es blieb alles still. Er wollte der Bande das Lauschen schon abgewöhnen. Wer es gewesen war, würde sich ja morgen zeigen.

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»Son'n verdreihten Jung! Dor sölt nu de Ollern sick nich an argern. Vadder, ick will se friegen, oder ick gah di von Hus un Hof! Da! un nu süh to, wie du dormit t'recht warst. – Un so batz vörn Kopp seggt he't ein'n. – Na Bleß! kannst di all wedder nich miehr bargen? Beruhig di man, wenn nich ut de Oogen kieken kannst, ick kann't ok nich.«

Die letzten Worte richtete der Alte an seinen flotten Braunen, der schellenbeladen vor dem Schlitten herging. Er aber saß allein im Schlitten und sprach mit sich selbst.

»Wur is denn blot im ganzen Dörpen 'n Kierl wie Jürden? Nich ein! Kierl wie'n Liecht. Un just de letzt mut he sick utseuken. Is ja 'n ganz stramme Diern, aber van wegen« – er rieb die Finger zusammen – »nich ein Penn. – Denn rieken Schulten sien, dat wär' so wat. – Aber, jawoll! achterut kratzt de Heuhner! Dat ward sick alls so achtern Rücken afkatert . . .«

Der Braune stand plötzlich still und blies die 172 Nüstern auf, ein Schütteln lief über seinen Körper, er steckte den Kopf tief zwischen die Vorderbeine.

»Bleß! Den Düwel ok! ick sall di woll ierst de Nucken utdrieben. – Züh! – züh! – Nu, war't bald? Kumm, ick will di nahhelpen.«

Er zog den gedrehten Kantschu unter seinem Sitz hervor, ließ ihn zweimal pfeifend durch die Luft kreisen und klatschend auf den schnaubenden Braunen niedersausen.

»Di will ick danzen lier'n! Du warst di doch woll geben, und wenn 't mien Knaken kost't! – Immer schenk in!« Und von neuem fielen die Streiche auf den Rücken des Pferdes.

Das aber trat nicht einen Schritt vorwärts. Es setzte sich ordentlich fest und schüttelte sich nach jedem Streich, daß die Mähne flog. Fauchend strömte sein dampfender Atem aus den faustgroßen Nüstern steil auf den Boden nieder.

»Dat 's nich slecht! Het di dat Grugen packt! Hier bi de Kapell sall dat jawoll spuken. Na, Bleß, mak mie man nich mit bang. – Hm. Sull dor woll son Knakengerüst ut'n Gewölw kamen sien un sick uns in'n Weg legt hebben? Dat is uns Herrgott sien Wark ok nich. Ick möt jawoll rein mal tauseihn.«

Er hüllte sich aus seinen Decken und stieg aus 173 dem Schlitten. Beruhigend klopfte er seinem Braunen den Hals, vor dessen Füßen nichts als eine kleine Schneeanhäufung zu sehen war. Er sah sich auch nach der Kapelle und dem Gewölbe um, aber es war absolut nichts zu entdecken. Keine weißen und keine schwarzen Geister. Nichts war zu hören, nichts zu sehen.

Aber das Pferd beruhigte sich immer noch nicht. Da beugte sich der Müller vor und griff in den Schneehaufen. Wie er da sogleich ein Bein faßte und freideckte, schrak er doch etwas zusammen. Dann wühlte er den Schnee ganz auf und erkannte ein Mädchen.

». . . Hm . . . up Söcken, nichs up'n Kopp, flusige Hoor – hm – de kann doch nich so mit von baben dal sneit sien.«

Er faßte sie bei der Schulter und schüttelte sie. Und obgleich er sich wohl denken konnte, daß sie sein Rufen nicht hören würde, rief er doch.

»Pst! – Lütt! stah mal up. Dat muß nich an di hebben. De Saak kann doch nich schön sien, hier in denn kollen Snei to liggen. – Na, denn mut ick di ja woll rein 'n bitten helpen.«

Mit kräftigen Müllerarmen griff er zu und trug die Bewußtlose an das Licht der Schlittenlaterne. 174

»Fiek! süh an! – Diern, wat hest makt? – Hm – na, da ward sich Jürden frein, wenn ick di vonabend glieks mitbring; ick sull man bloßen anfragen bi dien Öllern. – Aber wie ick di mitbring, da ward he sick woll nich öber frein. – Na, toiersten ist't Tiet, dat ick di in't Hus bring.«

Er packte die Erstarrte in alle Decken, die er bei sich hatte und setzte sie in die linke Ecke des Schlittens. Dann faßte er seinen Braunen beim Kopf an und wandte ihn behutsam um.

»So, Bleß, nu geiht't to Hus, nu smiet de Bein mal 'n bitten weg. Weißt, wi hewt Ihl, grote Ihl!«

Er setzte sich in den Schlitten, griff zur Leine, und flott ging's fort, der Mühle zu.

Weithin tönte das laute Schellengeläut durch das nächtliche Schneetreiben. – –

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Sonntag war's.

Ein wunderbarer Wintermorgen. Fußhoher Schnee und starke Kälte. Scharfe, frische Luft und klarer Himmel. Auf allem lag wie eine weiche, flaumige Decke die weiße, glitzernde Winterlast. Weiß, weiß alles bis zur Blendung.

Die ganze Jugend des Dorfes war auf den Beinen; hier wurde sich geklütert, dort ein 175 Schneemann gemacht. Alles kreischte und juchzte durcheinander. Als die Glocken zu läuten begannen, lief alles nach dem kleinen Holzhäuschen, denn das war ihr besonderes Sonntagsvergnügen, daß sie dem Küster Dierich am Strang ziehen halfen.

Auf dem Turm der kleinen Kirche hätte die Glocke keinen Platz finden können, und deshalb hat man ihr ein kleines Häuschen daneben gebaut. Dumpf dröhnte ihr Klang auf dem Boden fort. Ihr mahnender Ruf wurde in jedem Hause gehört.

Wenn die Kinder mit ziehen halfen, mußten sie allemal einen Vers dazu singen, und da sie gehört hatten, daß Fiek am Freitag abend mit durchschossenem Oberschenkel gefunden worden war, so setzten sie ihren Namen ins Totenlied.

Im Chor sang die kleine Bande:

»Hürt up! hürt up! de Klocken lüden,
Dat sall uns' Fiek denn Dod bedüden,
Dat sleiht so weh, so week, marod;
Denn se is dod,
                          Se is nu dod.
Kummt Kinners, lat uns beden.«

Da kam des Müllers jüngste Tochter, »son'n lütt Nahkömmling«, und schrie zwischen die Singenden: »Ji leigt! Dat is nich wohr, Fiek is nich dod!«

Nun ward die Schar erst auf die Kleine aufmerksam. Sie trug einen Muff. Herr im Himmel! 176 son'n Ding durften sie nicht einmal streicheln. Erst ein lustiges Lachen, dann stimmten sie den Spottvers an:

Jette mit de Muff het Flöh und Wanzen,
Jette mit de Muff het scheife Bein,
Jette mit de Muff kann gor nich danzen,
Lett sick nich för'n Dreiling seihn.«

Aufgeregt lief die Kleine zu ihrem Vater.

»Vadder, se seggt, Fiek is dod.«

»De sall de Deusching hal'n!«

»Se is nich dod, Vadder?«

»N – nah, gah man mal rinner un frag se sülms.«

Als die Kleine in die Stube trat, war Fiek nicht alleine; ihr Vater ging, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, unruhig auf und ab.

». . . Ick mein man blot – brugst mi dat nich wieder – na, öbel to nehmen, dat ick – so wat to di seggt hew – so wat nich Passendes. – Süh, ick kunn dat ja ok nich weiten. – – Ha! So ist't: De ein snakt von de Wind un de anner von de Watermöhl.«

»Ja, ja, is ja got, Vadder. Ick war di dorum nie ein Wurt seggen. Is jo nu ok alls voröber. – Ick glöw, dat sull alls so kamen, sünst harst du't mit Jürden . . .«

»Na, nee, nee – warum denn nich? – Et is 177 ja wohr, 'n lütten Piek hew ick immer up jem hatt. Aber, warüm . . . dien Bein deiht doch nich miehr so weh?«

»Nee, Vadder; ick mug upstahn.«

»Pst! man nich so iewerig! Dat mußt nu all so hennehmen. – Na, Gott sie Low un Dank, dat't nu doch so wiet is.«

»Ja. – Na Liening, du steihst ja so trurig da, as ob di de Heuhner dat Brot wegpickt harn. Kumm mal her.« Sie zog die Kleine dicht ans Bett und legte den Arm um sie.

Bald Fiek fragend ins Gesicht schauend, bald beschämt vor sich niederblickend, wagte sie endlich die Frage: »Fiek, bist du –?« Es kam ihr aber doch ein bißchen komisch vor. »– de Göhrn seggt, du bist dod.«

»Lat's, mien lütt Liening, denn lew ick grad noch lang.«

Da trat Jürden in die Stube und faßte die Kleine gleich beim Arm.

»Wist du maken, dat du ruter kümmst. Fiek sall sick doch nich rögen.«

»Ach, lat's man, Jürden, ick hew se giern. Ick rög mie all nich, un einen will ick doch giern hier hebben. Du . . .«

»Mienenwegen beholl se hier. Ick bliew nu ok 'n bitten. – Segg mal, wat hest denn hier?« 178 Er zeigte auf einen kleinen Fleck dicht unter ihrem Auge, und beugte sich immer tiefer über ihr Gesicht, bis seine Lippen die ihren berührten. Beide wurden über und über rot.

Fiek barg gleich ihr glühendes Gesicht an den frischkalten Wangen Lienes und küßte ihr innigst Stirn und Lippen.

»Du, wat wiert, Jürden?« fragte Liening.

»Ach, nichs – nichs von Bedühdung.« Er faßte aber dabei nach Fiekes Hand und drückte sie fest in der seinen.

. . . Hell leuchtete der Schnee ins Fenster der großen, sauberen Bauernstube. Aus der Ferne drang Schellengeläut herein; dann zitterte ernst der Klang der Betglocke durch den Wintermorgen.

 

 

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