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In Engelberg

Im tiefsten Schlaf fuhr Squirrel am lichten Sommerabend in Engelberg ein. Vor dem Gasthaus, wo sie erwartet wurden und wo auch der Herr Professor mit seinem Begleiter abgestiegen war, stand Artur in heller Freude und empfing die Ankommenden. Squirrel kam soweit zu sich, daß sie mit einem tiefen Atemzuge sagen konnte: »Hat er dir nichts getan? Bist du ganz fröhlich?« dann überkam sie der Schlaf aber wieder so, daß sie gleich zur Ruhe gebracht werden mußte. Um so lebendiger war sie am folgenden Morgen, als sie gleich in der Frühe mit Artur auszog. Fräulein Malwa hatte dazu gern ihre Einwilligung gegeben; denn sie war mit Auspacken und Wiedereinräumen nun so beschäftigt, daß sie Squirrel gerne abgab. Der Herr Professor war einverstanden, daß Artur seine Freundin nun ein wenig auf den schönen Wegen herumführe, die er schon alle recht gut kannte. So stiegen die beiden zusammen den schmalen Weg zur nahen Anhöhe hinan. Am offenen Fenster seines Zimmers stand der Herr Professor und schaute ihnen nach. Squirrel hatte ihn erblickt. »Tut er einem gar nichts, Artur?« fragte sie noch einmal forschend.

»Was meinst du denn, Squirrel!« gab Artur zurück, »er ist so gut! Du solltest nur wissen, wie freundlich er zu mir ist und zu dir gewiß auch. Denk nur, oh, ich kann gar nicht sagen, wie froh ich war; er hat selbst nach dem Institut geschrieben, und der Herr Vorsteher hat ihm geantwortet, er solle mich ganz nach seinem Belieben hier behalten und zurückbringen, wann es ihm recht sei. Das hat er mir gesagt, und denk, er will wohl vier Wochen hier bleiben. Unterdessen vergessen sie im Institut vielleicht ein wenig den Zettel und die Rechtschreibfehler, du weißt schon«, setzte Artur seufzend hinzu.

»Oh, wie recht! Oh, wie recht!« rief Squirrel erfreut aus, der Ferienverlängerung offenbar mehr Aufmerksamkeit schenkend, als den Rechtschreibfehlern. »Geht er dann auch mit dir nach Lärchenhöh in dein Pfarrhaus und in deinen Garten?«

»Ich weiß nicht, zuerst glaubte ich es bestimmt«, entgegnete Artur; »denn ich mußte dem Herrn Professor immerfort von Lärchenhöh erzählen, vom Vater und der Mutter und von unserem Leben. Alles, was wir taten, wollte er wissen, und auch vom Großvater und der Großmutter sollte ich alles erzählen, was ich wußte, und ich freute mich so sehr, daß er soviel von Lärchenhöh mit mir sprach. Ich dachte, gewiß will er dann selbst dahin gehen, wenn er soviel davon wissen will; aber er hat es doch nie gesagt, daß er gehen will. Aber etwas hat er einmal gesagt, oh, das hat mir so weh getan und tut mir noch weh!«

»Siehst du! Ich habe es wohl gewußt!« sagte Squirrel frohlockend. »Was hat er dir getan? Wollte er dich einsperren?«

»Nein, nein, Squirrel, er hat mir nichts getan, wie du meinst, glaub's doch endlich einmal«, wehrte Artur. »Er wollte wissen, was ich im Institut lerne und ob ich auch schon daran gedacht habe, was ich werden möchte. Ich sagte, ja gewiß, schon lange, ich möchte gern Pfarrer werden; aber im Institut müsse ich anderes lernen, um bald in ein Kaufmannshaus in die Lehre zu kommen. Dann wollte er wissen, warum ich ein Pfarrer werden wollte, und ich sagte es ihm: um wieder heimzukommen, ich möchte dann Pfarrer in Lärchenhöh werden. Da sagte er gleich: ›Ach was, das ist kein Grund, Pfarrer zu werden, davon ist keine Rede, da muß man ganz andere Gründe haben, um ein rechter Pfarrer zu werden, das ist nichts!‹ Und dann sagte er, es gebe noch manchen wünschbaren Beruf, später würde ich schon noch anders denken; aber ich weiß schon, daß ich nie anders denken werde.«

»Aus was für einem Grund kann man denn ein rechter Pfarrer werden?« fragte Squirrel jetzt teilnehmend, da sie bemerkte, wie Artur in seine alte Traurigkeit verfallen wollte.

Artur antwortete, er wisse es nicht so recht; er habe gedacht, wenn einer vor allem andern gern Pfarrer sein möchte, so könne er schon ein rechter werden.

»Ich weiß etwas!« rief Squirrel frohlockend aus, »du mußt nur den Herrn Professor fragen, aus was für einem Grund man ein rechter Pfarrer werden kann, und dann mußt du sagen, nun wolltest du auch gerade aus dem Grund einer werden.«

Artur war nicht recht sicher, daß der Rat gut auszuführen wäre. Er meinte, das beste sei, nichts mehr von der Sache zum Herrn Professor zu sagen, er habe ja so bestimmt gesagt, es sei nichts damit.

»Oh, oh! Sieh dort, Artur!« schrie Squirrel auf einmal auf, »dort sind die rechten, lebendigen Kühe mit den Glocken und grasen am Berg herum. Oh, wie nett! Und es klingt so schön! Oh, hier wollen wir bleiben und zusehen den ganzen Tag!«

»Nein, nein, wir wollen einen schönen Spaziergang machen«, sagte Artur, »den habe ich schon zweimal mit dem Herrn Professor gemacht; da kommt man an einen Ort, der heißt Herrenrüt. Dort steht ein kleines steinernes Häuschen und nichts darin als eine Maria mit dem Jesuskindlein auf dem Arm. Dort sitzen wir nieder und schauen zu einem großen, hohen Berg auf, und dann sehen wir noch etwas ganz Besonderes.«

»Die Engel«, fiel Squirrel schnell ein und zog Artur in einem großen Anlauf mit sich fort; denn um diese zu sehen, konnte sie nicht schnell genug dahin kommen.

»Lauf nur nicht so, Squirrel, sonst hörst du auf einmal ganz auf«, sagte der vorsichtige Artur, »und es ist noch weit. Und siehst du, wenn auch Engel dort oben sind, man kann sie nicht sehen, der Berg ist viel zu hoch.«

»Oh, wie schade, was sieht man denn?« wollte Squirrel wissen.

»Siehst du, wir setzen uns dann ganz nah beim Marienhäuschen auf den Boden und schauen auf den großen Berg hinüber, er heißt Titlis. Dort, hat der Herr Professor gesagt, sieht man dem Titlis gerade ins Herz hinein.«

»Oh, dann bin ich froh, daß ich nicht der Titlis bin«, sagte Squirrel schnell.

»Warum denn nicht? Du hast gewiß kein Geheimnis im Herzen«, sagte Artur.

»Doch, das hab ich«, behauptete Squirrel, »und Fräulein Malwa darf es nicht wissen, es ist ein schreckliches Geheimnis.«

»Sag mir's, es wird wohl nicht so schrecklich sein«, meinte Artur.

»Doch es ist's, ich will dir's sagen«, und Squirrel fing ganz leise zu sprechen an, obschon weit und breit nichts Lebendiges zu sehen war, als die weidenden Kühe drüben. »Siehst du, Fräulein Malwa wollte die Grammatik einpacken, und ich wollte nicht noch auf dem Engelberg aus der Grammatik lernen. Siehst du, Artur, Grammatik lernen ist noch viel ärger als Heimweh, das kann ich dir sagen. Und ich habe sie doch holen müssen. Und dann habe ich gesagt: ›Ich wollte gleich, daß Sie in eine Grammatik verwandelt würden!‹ Weißt du, so wie der Vater in den Sieben Raben dort zu einem Sohn nur sagte: ›Ich wollte, daß du ein Rabe würdest!‹ dann war der schon ein Rabe und flog auf. Denk, wenn Fräulein Malwa eine Grammatik würde! Ja, das wünsch ich, dann kann sie mich nicht mehr zum Lernen zwingen; ich nehme sie und stelle sie in meinen Schrank und schließe zu.« Squirrel war ganz aufgeregt geworden, sie sah offenbar die ganze Sache vor ihren Augen erstehen.

»Nein, nein, Squirrel, so etwas mußt du nicht wünschen, das ist ja gar nicht recht«, ermahnte Artur. »Und dann siehst du, es geht immer so: Wenn man tut, was unrecht ist, so entsteht immer etwas daraus, was wir gar nicht erwartet haben und das uns selbst trifft und wehtut. Denk nur, wenn nun Fräulein Malwa eine Grammatik würde, so wäre diese ja lebendig, du könntest sie nicht in einen Schrank einsperren, sondern sie könnte dir überall nachlaufen. Sieh, so würde sie aussehen.« Artur setzte sich am Wege auf den Boden nieder und zog sein kleines Notizbuch aus der Tasche. Squirrel setzte sich neben ihn und schaute zu, was auf dem Papier entstand.

»Oh, das ist meine Grammatik, ich kenn sie schon«, rief sie aus.

Artur, der sie auch kannte, hatte sie gut getroffen. Nun kam oben an der Vorderseite der Decke ein vorragendes Hälschen und ein kleiner Kopf darauf und unten ein Füßchen und eines beim Rücken, weit auseinander, so daß man den kurzen Beinchen das eilige Laufen wohl ansehen konnte. Dazu ragte oben der kleine Kopf so strebend vorwärts, als wollte er noch schneller voran als die Füße.

»Oh, wie schrecklich«, sagte Squirrel zurückfahrend.

»Siehst du wohl, so wär's dann«, belehrte sie Artur, »und nun würde diese Grammatik ganz stumm dir fort und fort nachlaufen, wo du wärest, damit du lernen solltest; denn sie hätte ja nichts anderes zu tun, während Fräulein Malwa als Mensch noch viel anderes zu tun hat und nicht immer so hinter dir drein ist. Jetzt kannst du sehen, daß dein böser Wunsch nur das Schlimmste für dich brächte!«

»Mach zu! Mach zu!« rief Squirrel, selbst das Notizbuch zuschlagend; denn die heftig ausschreitenden Füße und der restlos weiterstrebende Kopf machten ihr einen unheimlichen Eindruck.

»Komm, wir wollen ein wenig laufen, so kommen wir bald hin«, sagte Artur aufspringend. »Aber ich habe dir noch etwas zu erzählen. Siehst du das Häuschen dort am Abhang? Du siehst die zwei Kinder unter der Tür?« Squirrel nickte wiederholt. »Sieh, das sind schon meine Bekannten. Wie wir einmal auf einem Spaziergang dort herunterkamen, standen die Kinder auch draußen; sie stehen immer da, den ganzen Tag. Da fragte sie der Herr Professor, wer in dem Häuschen wohne. Der kleine Bube sagt nie etwas; aber das Mädchen sagte: ›Der böse Jörg und die traurige Grete.‹ Da lachte der Herr Professor so stark, wie du es gar nicht denken kannst, und fragte, ob sie zwei der böse Jörg und die traurige Grete seien. Da sagte das Staseli, so heißt das Mädchen, ganz ernsthaft, nein, die seien drinnen und der Großvater auch, es sei das Staseli und der kleine Bub der Muck. Da hat es mich so wundergenommen, wie denn der böse Jörg und die traurige Grete aussehen, daß ich am andern Tag wieder hingegangen bin; aber ich sah nur die zwei, und Staseli sagte mir nur immer dasselbe, sie seien drinnen und der Großvater auch. Dann bin ich noch ein paarmal zum Häuschen hinaufgegangen; aber nur die Kinder waren da, sonst kein Mensch; ich habe noch nicht den bösen Jörg und die traurige Grete gesehen.«

Squirrels Einbildungskraft war aufs höchste erregt. »Wir wollen gleich hinaufgehen, komm, Artur«, rief sie, den Weg zu dem Häuschen einschlagend. »Wir brauchen nicht zu sehen, was der Titlis im Herzen hat, es ist gleich; wir wollen den bösen Jörg und die traurige Grete sehen und Muck und Staseli.« Ihr Eifer, Arturs neue Bekannte auch kennenzulernen, war so groß, daß sie ihm voran schon ein ganzes Stück gegen das kleine Haus hinaufgelaufen war. Die Kinder standen unbeweglich vor der Tür und schauten ihr entgegen. Nun stand sie vor ihnen, auch Artur war nachgekommen. »Bist du das Staseli und er der Muck?« fragte Squirrel.

Staseli nickte bejahend; der Kleine starrte Squirrel mit großen, runden Augen an.

»Was tut ihr den ganzen Tag, du und der Muck?« fragte Squirrel weiter.

»Nichts«, antwortete Staseli.

»Steht ihr den ganzen Tag hier vor dem Haus?« ging das Fragen weiter.

»Ja«, war die Antwort.

»Und wenn's regnet?«

»Unter der Tür!«

»Und im Winter?«

»In der Stube.«

»Was tut ihr denn drinnen?«

»Nichts.«

»Aber ihr müßt doch endlich einmal etwas machen«, brach Squirrel jetzt los, »steht ihr denn immer unter der Tür und in der Stube drinnen nur so da und macht gar nichts?«

Staseli nickte bejahend.

»Oh, hätten wir doch das Domino mitgenommen, Artur«, klagte Squirrel, »so könnten sie doch ein wenig miteinander Domino spielen; hätten wir's doch eingepackt!«

»Wir haben ja die Kupferbibel; wir können ihnen die Bilder zeigen«, schlug Artur vor.

Squirrel fand den Gedanken herrlich; gleich heute noch sollte er ausgeführt werden. Aber sie hatte noch so viel in Erfahrung zu bringen. Sie begann wieder zu fragen: »Wo ist euer Vater und eure Mutter?«

»Wir haben nur einen Großvater«, war Staselis Antwort.

»Wo ist er?«

»In der Stube.«

»Was tut er drin?«

»Nichts.«

»Tut der auch wieder nichts? Warum kommt er nicht heraus, wenn es so schön ist?«

»Er kann nicht gehen«, war die Antwort.

»Oh, oh! Kann er gar nicht gehen?« rief Squirrel nun mitleidig, »dann müssen wir gewiß auch etwas für ihn bringen; denk, wie langweilig es ihm den ganzen Tag lang drinnen in der Stube ist, Artur! Und wo ist die traurige Grete und der böse Jörg? Sind sie auch drinnen?«

»Nein, droben«, sagte Staseli.

»Sind sie so groß wie du und der Muck?«

»Nein.«

»Noch nicht? Komm, Artur, wir wollen hinaufgehen und sie auch sehen.«

Squirrel wartete nicht lange auf Arturs Zustimmung; das hölzerne Treppchen, das man durch die offene Tür erblickte, hatte sie schon lange gelockt. Sie kletterte behend hinauf und trat in eine kleine Küche ein. Ein winzig kleiner Herd war da zu sehen und ein paar Teller und Tassen standen auf dem Brett an der Wand. Eine solche Küche hatte Squirrel noch nie gesehen. Sie schaute sich erstaunt in dem engen schwarzen Raum um. Ein schmales Türchen, vor Rauch und Alter schwarzbraun geworden, führte weiter. Eben ging es auf, eine elend aussehende Frau schaute heraus, wer da sei.

»Ach Gott«, rief sie erschrocken aus und hielt beide Hände vor das Gesicht, als Squirrel sich vor sie hinstellte.

»Wo ist die traurige Grete?« fragte Squirrel unerschrocken.

»Da hast du's, schon die Fremden wissen's«, brummte eine tiefe Stimme aus einer Ecke der kleinen Stube heraus.

»Ich wollte nur gern die traurige Grete und den bösen Jörg sehen, kann ich es nicht?« fragte Squirrel, indem sie forschend in die niedrige Stube hineinguckte, ob die beiden irgendwo zu sehen seien; denn es wunderte sie sehr, wie sie aussehen würden.

»So komm herein und sieh sie an«, ertönte die rauhe Stimme wieder. Die Frau war zurückgewichen. Sie kauerte auf ein Stühlchen nieder, schaute scheu auf das eintretende Kind hin, dann bedeckte sie sich wieder die Augen. Squirrel blickte verwundert in dem ärmlichen Stübchen herum. Der Mann in der Ecke flocht an einem Korb und schaute sie dann und wann nicht gar freundlich von der Seite an.

»Wo sind sie denn?« fragte Squirrel, die keine Kinder entdecken konnte.

»Wer?« fragte in kurzem Ton der Mann zurück.

»Die traurige Grete und der böse Jörg«, erwiderte Squirrel.

Der Mann stieß einen rauhen Ton aus, fast wie ein erbostes Lachen; die Frau schaute nicht unter ihren Händen hervor, sie stöhnte nur von Zeit zu Zeit. Artur hatte nicht im Sinn gehabt, das Treppchen hinaufzugehen, und zu fremden Leuten einzutreten, das kam ihm nicht so gebräuchlich vor, wie Squirrel anzunehmen schien; da diese aber so lange nicht wieder herunterkam, wurde ihm angst um sie; er stieg nun auch hinauf und erschien unter der offenen Tür. Die Frau hörte seine Tritte und hob den Kopf auf. »Ach du mein Gott, noch eines!« rief sie bestürzt aus, »ach, so war er jetzt, so könnte mein Jörgli jetzt sein und das Greteli wie das Kleine dort! Ach wenn mein Jörgli es so gut gehabt hätte, ach, und das Greteli, vielleicht wären sie noch da!«

»So, jetzt sind wir wieder mitten drin«, brummte auf einmal der Mann so rauh, daß Squirrel zusammenfuhr und schnell sich zu Artur kehrte und seine Hand ergriff.

»Ja, so waren sie nebeneinander, nur ein wenig kleiner, ach, so waren sie«, jammerte die Frau fort, »so könnten sie jetzt sein.« Einmal schaute sie dabei voller Jammer auf die Kinder, dann bedeckte sie sich die Augen wieder. »Oh, wenn ich es ihnen so hätte geben können, dann wären sie noch da, und dann hätten sie nicht so früh sterben müssen, so jung und so ohne Freude, nichts als Armut und Elend. Ach, ach, wenn sie es anders gehabt hätten, so hätte es vielleicht nicht sein müssen!«

»Immer dasselbe, was hilft's!« brummte der Mann und warf seinen Hammer mit großem Gepolter auf den Boden hin.

Artur zog Squirrel schnell mit sich hinaus. »Komm, wir gehen nun zurück«, sagte er und zog die Widerstrebende weiter, was ihm nicht leicht wurde.

Squirrel hatte sich als ein besonderes Vergnügen vorgestellt, eine ganz kleine traurige Grete zu sehen und einen bösen Jörg, der ungefähr so wie Muck aussehen könnte, aber fürchterlich herumrasen würde. Nun hatte sie von beiden noch nichts gesehen und wollte das Nachforschen nicht aufgeben. Aber Artur gab nicht nach und sah so niedergeschlagen dabei aus, daß Squirrel jetzt losfuhr: »Du brauchst deswegen nicht so furchtbar traurig zu sein, ich komme ja schon.« Und nun schoß sie davon, daß er Mühe hatte, nachzukommen. Er war aber nicht traurig geworden darüber, daß sie erst nicht vom Fleck wollte; aber der Jammer der armen Frau war ihm so zu Kerzen gegangen, daß er immer noch daran denken mußte. Vor dem Gasthaus auf der Bank saßen der Herr Professor und Fräulein Malwa friedlich nebeneinander und erwarteten ihre beiden Schützlinge. Squirrel war so erfüllt von ihren Erlebnissen, daß sie trotz der Scheu vor dem Herrn Professor doch gleich davon erzählen mußte. Sie setzte sich so, daß Fräulein Malwa ihr den Herrn verdeckte, und nun kam die Erzählung von den zwei Kindern, die sie gesehen hatte, und den zweien, die sie nicht gesehen, und daß diese die traurige Grete und der böse Jörg seien.

Da bemerkte dann Artur zwischenhinein, die beiden seien vielleicht tot, weil doch die arme Frau so gejammert habe, und was auch Squirrel weiter erzählte, er kam immer noch einmal auf die Frau zurück, die solchen Jammer leiden müsse. Weder der Herr Professor noch Fräulein Malwa konnten die Verhältnisse der neuen Bekannten verstehen; darin aber stimmten sie gleich überein, daß man sich erkundigen müsse, wer die Leute seien; denn daß Squirrel so oft als möglich dahin laufen würde, war vorauszusehen, und auch Artur schien eine ungewöhnliche Teilnahme für die Leute gefaßt zu haben. Das nächste war nun, daß man zu Tisch ging, was für Squirrel eine besonders kurzweilige Sache war; denn an einer so langen Tafel hatte sie noch nie gesessen. Daß man ihr nicht wie zu Hause die Dinge auf den Teller legte, sondern sie sich selbst bedienen ließ, gefiel ihr auch sehr gut. Als die gelben Rüben kamen, suchte sie sich bescheiden das allerkleinste Schwänzchen aus und brachte es auf ihren Teller. Fräulein Malwa wollte einschreiten und hatte den großen Gemüselöffel schon hoch bepackt mit Rüben, da legte der Herr Professor, der auf der anderen Seite neben ihr saß, beschwichtigend die Hand auf ihren Arm und sagte:

»Sie wissen ja, mein Fräulein, der Kern aller Erziehungskunst ist die Geduld. Ihre kleine Squirrel scheint noch keinen rechten Appetit zu haben. Aber nur Geduld, glauben Sie mir, gegen Ende der Mahlzeit wird's besser werden.« Die Rüben waren unterdessen vorübergegangen.

Da flüsterte Squirrel dem Artur, der ihr Nachbar zur Rechten war, ins Ohr: »Er ist vielleicht doch kein Menschenfeind«, und schluckte vergnügt ihr winziges Rübenschwänzchen hinunter.

Als nun die andern Gäste alle das Zimmer verlassen hatten und nur noch der Herr Professor mit Fräulein Malwa dasaß, wie sie es zusammen verabredet hatten, winkte er die Frau Wirtin zu sich her und bat sie, sich eine kleine Weile zu ihm zu setzen, um ihm Auskunft über die Bewohner eines Häuschens zu geben, das er ihr so bezeichnete, daß sie gleich Bescheid wußte. Da müssen zwei Menschen wohnen oder gewohnt haben, die als die traurige Grete und der böse Jörg bekannt wären, setzte er noch hinzu, ob sie aber noch lebten oder nicht lebten, sei nicht herauszubringen. Die Frau lächelte und wunderte sich, daß die fremden Herrschaften diese Namen schon kannten. Sie sagte, so werden der Mann und die Frau genannt, die über dem Treppchen wohnen.

Artur, der mit Squirrel aufgestanden war, hatte bei der Mitteilung sich wieder genaht und lauschte mit Spannung, was die Frau weiter berichten würde. Es sei eigentlich eine recht traurige Sache mit den Leuten, fuhr sie fort: Früher sei es besser bei ihnen gewesen. Sie hätten zwei Kinder gehabt, die Frau habe mit dem Mann gearbeitet und daneben noch den lahmen Nepomuk unten im Haus mit seinen zwei Großkindern besorgt; der habe auch ein böses Schicksal gehabt. Nepomuks Tochter Anastasia habe beim Vater gelebt und ihn noch mit ihrem Mann gepflegt. Dieser sei dann beim Holzen verunglückt. Die Tochter habe der Alte auch vor ein paar Jahren schon verloren. Dem hilflosen Mann und den kleinen Kindern habe die Grete recht brav geholfen. Da seien ihre Kinder am Scharlach erkrankt und beide in derselben Woche gestorben. Das habe die Grete in einen Zustand zum Erbarmen gebracht, ohne Ruhe jammere sie Tag und Nacht um die Kinder, daß sie es so elend gehabt und sie daran sterben mußten, wie sie meine, auch daß die Kinder nun allein seien ohne sie, und sie nichts mehr von ihnen wisse. Kinder könne sie gar nicht mehr sehen. So sehe sie nie mehr nach den zwei verlassenen Kindern der Anastasia, und dem Alten tue sie nur noch etwa einen kleinen Dienst, wenn die Kinder draußen seien. Über das viele Jammern der Frau sei der Mann immer knurriger geworden; vielleicht habe das Leid bei ihm auch mitgeholfen, daß es so mit ihm geworden sei. Er knurre die Leute nur noch an, und jammere sie, so poltere er. So hätten denn die Leute angefangen, sie die traurige Grete und ihn den bösen Jörg zu nennen, und nach und nach seien die Namen so angenommen worden, daß sie beide bei jung und alt nur noch so hießen.

Auf Artur hatte diese Schilderung, während welcher er immerfort die traurige Frau vor sich sah und ihren Jammerton hörte, einen solchen Eindruck gemacht, daß er ganz still und nachdenklich den Rest des Tages auf der Bank im Garten neben Squirrel zubrachte, die von all den heutigen Erlebnissen so zahm geworden war, daß sie eine ganze Weile lang stillsitzen konnte, dann aber plötzlich aufschoß und mit Freudengeschrei dem Wege zulief. Da kam die ganze große Schar der Geißen von der Bergweide heim, weiße und schwarze, große und kleine, die hüpften und schellten und wogten alle durcheinander so nett und so lustig, und hinterher kam der Geißbub so fröhlich pfeifend und seine Rute schwingend, daß Squirrels höchster Wunsch jetzt war: »Oh, wenn ich nur ein Geißenhüterbub werden könnte!« Dieser Gedanke wurde so lebendig in ihr, daß sie sogleich mit Artur ausmachen wollte, ob sie beide als Geißenhüter gleich für immer in Engelberg bleiben wollten; denn daß Artur mitmachen würde, war ihr zweifellos. Er schüttelte aber nur still den Kopf, und Squirrel beschloß, erst einmal mit dem Geißbuben zu sprechen, um dann dem Artur alle Freuden, die ihnen bevorständen, recht schildern zu können. Als sie nachher in ihr kleines Schlafgemach eintrat, fand sie ihr Arbeitskörbchen schön geordnet auf der Kommode stehen mit dem angefangenen Strickstrumpf darin. Daneben waren die verschiedenen Lehrbücher ordentlich aufeinandergelegt zu sehen, obenauf die Grammatik. Ein andermal hätte Squirrel über die immerwährende Gesellschaft dieses Buches aufbegehrt; aber jetzt schwieg sie ganz still; denn sie sah auf einmal wieder die kleinen hastigen Füße an dem Buch und den vorgestreckten Hals. Sie kehrte sich schnell um und schaute nicht mehr hin. Squirrel mußte schwer träumen in dieser Nacht; mehrmals stöhnte sie so laut, daß Fräulein Malwa durch die offene Tür ihres Zimmers hinüberrief: »Was ist's, Squirrel, ist dir schlecht?« Sie erhielt keine Antwort, das Kind mußte schlafen. Aber jetzt stieß Squirrel einen so furchtbaren Schrei aus, daß es Fräulein Malwa hoch aufwarf in ihrem Bett. »Was hast du denn? Was ist mit dir?« rief sie erschrocken hinüber.

»Oh«, stöhnte Squirrel, »die Grammatik läuft mir durch alle Zimmer nach mit den schrecklichen schnellen Füßen, und ich kann ihr gar nicht entfliehen.«

»Schläfst du oder wachst du, Squirrel!« rief Fräulein Malwa erregt zurück. »Wenn du wachst, so schwatz nicht so dummes Zeug, und wenn du geträumt hast, so ist es eine Warnung für dich; einem lernbegierigen Kinde laufen die Bücher nicht nach.«

Als Squirrel merkte, daß sie kein Mitgefühl für ihren Schrecken fand, kroch sie unter die Decke und zog diese so weit über den Kopf hinaus, daß kein Verfolger sie mehr entdecken konnte. Fräulein Malwa schaute den Herrn Professor an, als wüßte sie nicht recht, ob er im Scherz oder Ernst rede; er sah aber wirklich aus, als sei es ihm Ernst. Als Squirrel nachher mit Artur allein war, sagte sie seufzend: »Du solltest nur wissen, wie mir in der Nacht die Grammatik mit den schnellen, boshaften Füßen und den bohrenden Augen nachgelaufen ist! Es war so schrecklich! Oh, ich will nie mehr den bösen Wunsch tun, daß sich einer verwandle.« Artur bestärkte sie sehr in diesem guten Vorsatz.

Die Unterrichtsfrage, die am Morgen nur so oberflächlich berührt worden war, wollte Fräulein Malwa wieder aufnehmen und gründlich mit dem Professor besprechen. Die beste Gelegenheit dazu bot sich beim Mittagessen, das um der vielen Gäste willen lange dauerte, und da der Herr an ihrer Seite saß, war ein eingehendes Gespräch sehr wohl zu führen. Fräulein Malwa begann auch gleich, um keine Zeit zu verlieren, sobald man sich gesetzt hatte, und vertiefte sich in ihren Gegenstand.

»Was ist das? Wo ist Squirrel?« rief sie plötzlich überrascht aus, als sie beim dritten Gang bemerkte, daß Squirrel nicht mehr neben ihr saß. Artur sagte, sie sei hinausgegangen, er wisse nicht, warum. Ein Herr, der Fräulein Malwa gegenübersaß und etwas verspätet zu Tisch gekommen war, mischte sich nun in das Gespräch und berichtete, er habe soeben das Mädchen, das vermißt werde, getroffen, wie es den Fußpfad hinaufgestiegen sei, einen Teller voll Suppe sehr vorsichtig vor sich hertragend.

»Den Fußweg hinauf mit ihrer Suppe!« rief Fräulein Malwa erregt. »Was ist das für ein neuer Streich! Es ist nicht abzusehen, was sie noch tun wird.« Eben trat Squirrel fröhlich wieder ein. »Du unartiges Ding, was hast du nun wieder angestellt?« fuhr Fräulein Malwa in Aufregung mit halblauter Stimme Squirrel an; denn sie wollte nicht die ganze Gesellschaft auf eine neue Untat ihres Zöglings aufmerksam machen.

»Ich habe nur die Suppe dem Staseli und dem Muck gebracht, wie der Herr Professor gesagt hat«, antwortete Squirrel ganz laut und vergnügt, »sie sind gewiß bedürftig, sie sind barfuß und haben die Suppe so gern gegessen. Und die Strümpfe, die ich stricke, habe ich auch dem Staseli gebracht, wie der Herr Professor gesagt hat. Es hat sie gleich angezogen; der eine hat keinen Fuß, er war nicht fertig; aber es hat gesagt, es sei gleich, die Strümpfe hätten ihm doch gefallen.« Da der Name des Professors so mit der Sache verwickelt war, wußte sich Fräulein Malwa nicht recht zu helfen.

»Da sehen Sie's selbst, da sehen Sie's, Herr Professor«, sagte sie, ihm die Sache übergebend. »Es ist kein Fertigwerden! Es ist keine Möglichkeit, sie in Ordnung zu halten. Hab ich wohl recht, daß allerlei Tücken Platz greifen, wo keine Lernbegier ist und kein Trieb zu geistiger Tätigkeit?«

»Hoffen wir, daß der Trieb, der keineswegs fehlt, noch in die rechte Richtung gelange, verehrte Kollegin«, sagte der Herr Professor, seinen Hustenanfall, der fast wie das Lachen der Gäste ringsum klang, unterdrückend. »Squirrel meinte wohl nur zu tun, was ich gutgeheißen hatte; daß es ihr gerade gut paßte, es auszuführen, war wohl für sie ein nicht unerwünschtes Zusammentreffen. Wir werden ihr nun begreiflich machen, daß man nicht diejenige Suppe wegschenkt, die man selber essen sollte, und daß man seine Strümpfe erst fertig strickt, bevor man sie an Bedürftige schenkt.«

Sobald Squirrel den Rest ihres Mittagessens verzehrt hatte, zog sie Artur mit sich fort; er hatte schon lange ausgedacht, wie der Nachmittag zugebracht werden sollte. Mit der Kupferbibel unter dem Arm, wanderte er jetzt den schmalen Weg hinauf, Squirrel hüpfte neben ihm her. Vor dem Häuschen droben standen Staseli und Muck wie immer; aber sie starrten nicht mehr so fremd auf die beiden Ankommenden. Sie lachten mit den ganzen Gesichtern. Die Suppe und die roten Strümpfe hatten sie ganz zutraulich gemacht. Nun setzte sich Artur auf den Boden, die drei andern mußten sich um ihn herumsetzen, so daß sie alle ins Buch schauen konnten. Da wurde nun ein Bild nach dem andern gezeigt, und zu jedem wußte Artur eine schöne Geschichte zu erzählen. Die Kinder waren ganz stumm vor Erstaunen, und Staseli machte die Augen soweit auf, als könne sie gar nicht genug aufnehmen von den schönen Bildern und dann wieder von den Geschichten, die dazu gehörten. Sie verlor kein Wörtchen von allem, was Artur erzählte.

Die Sonne war schon untergegangen; aber die Kinder hatten es nicht bemerkt. Noch saßen sie alle vier auf einem Fleck zusammen, Kopf an Kopf über das Buch gebeugt. Jetzt ertönte ein lautes Jodeln und Singen, und viele kleine Schellen tönten durcheinander; es kam immer näher vom Berg herunter.

»Die Geißen kommen und der Hirtenbub«, schrie Squirrel auf, »seht, seht! da kommen sie alle!« Die Kinder schauten nicht auf, da war eben noch ein so schönes Bild, die Geißen hatten sie oft gesehen. Aber Artur wollte aufstehen, er sagte, es sei Zeit, heimzugehen.

»Nur noch ein einziges«, bat Staseli mit verlangenden Augen.

»Ja, noch eines«, sagte Artur willig, Staselis Eifer gefiel ihm. Auf dem Bilde, das noch kam, lag ein lahmer Mann auf dem Boden mit einem schrecklich traurigen Gesicht. Vor ihm stand der Herr Jesus und gab ihm eben seine Hand und sagte: »Steh auf und geh wieder.« – »Da konnte er auf einmal aufstehen und fortgehen«, erzählte Artur, »und ihr könnt euch gar nicht denken, wie froh er war und wie dankbar und wie lieb ihm der Herr Jesus wurde, der ihm so geholfen hatte.«

»Darf ich das nicht dem Großvater zeigen?« fragte Staseli schüchtern.

»Doch, freilich, so wollen wir mit dir hineingehen«, sagte Artur aufstehend, und nun zog das ganze Trüppchen in die kleine niedrige Stube ein. Auf einem ärmlichen Lager saß der alte Mann und schaute verwundert auf die neue Erscheinung.

»Großvater, es ist einer wie du in dem Buch, und sieh, wie er gesund geworden ist«, sagte Staseli, zu ihm tretend. Artur trat mit seinem offenen Buch vor den Alten hin, der bald das Bild, bald den Jungen anschaute und dazu den Kopf schüttelte, als wüßte er nicht recht, was man mit ihm wollte.

»Wenn ich's nur erzählen könnte«, sagte Staseli. Da faßte Artur Mut und erzählte dem alten Mann die Geschichte des geheilten Lahmen. Der Alte hörte mit gefalteten Händen andächtig zu, und als die Geschichte zu Ende war, sagte er: »Das habe ich gern gehört. Wie kommst du zu mir?«

Artur sagte, Staseli habe ihn hereingeführt, und fragte, ob er wiederkommen solle, es seien noch viele Bilder und Geschichten da. »Ja, ja, gern, der Tag ist so lang«, sagte der Alte.

Artur ging ganz erfreut mit seinem Buch davon; er hatte ja ganz und gar erreicht, was er gewünscht hatte und noch mehr; denn daß der alte Großvater auch noch Freude an seinen Bildern und Geschichten haben würde und gerne noch davon sehen und hören wollte, das hatte er nicht erwartet. Jeden Tag baten nun Artur und Squirrel darum, ihre neuen Freunde besuchen zu dürfen, und es wurde ihnen gerne erlaubt, wußten doch der Herr Professor und Fräulein Malwa wohl, wen sie besuchten und was sie da taten. Squirrel hatte ihr eigenes Feld der Tätigkeit ihren Schützlingen gegenüber. Sie raffte täglich alle kleinen übrig gebliebenen Brötchen und alles, was von der Tafel weggetragen werden konnte, zusammen und brachte so bei jedem Besuch ein Paket mit, dem der Muck mit noch viel erfreuteren Blicken entgegensah, als dem Buch unter Arturs Arm. Was für herrliche Dinge kramte auch Squirrel jedesmal aus ihren Paketen hervor! Sie hatte auch selbst ihre helle Freude an ihren zusammengebrachten Schätzen und dachte bei jeder Gelegenheit daran, wo wieder etwas zu erobern war. Sie hatte nicht vergessen, mit welcher Wonne die Kinder damals ihre Suppe bis zum letzten Tropfen ausgeschöpft hatten, wie mußten sie darum diese ganz anders guten Dinge erfreuen! Auch der Großvater schaute sie dankbar an, wenn ihm Squirrel so schöne Schnittchen Wurst brachte und ein gutes Brötchen dazu, und sagte jedesmal so freundlich: »Vergelt's Gott.«

Artur hatte schon mehrmals suchend das Treppchen hinaufgeblickt, wenn er mit Squirrel unten beim Großvater eintrat.

»Warum schaust du immer dorthin?« fragte Squirrel, als es wieder geschah. »Denkst du etwa, der böse Jörg fällt einmal die Treppe herab?«

»Nein, das habe ich wirklich noch nie gedacht«, entgegnete Artur abwehrend, »warum sollte er auch auf einmal da herunterfallen?«

»Zur Strafe, weil er so bös ist. Das könnte ganz gut sein«, fand Squirrel.

»Du meinst gewiß immer noch, der böse Jörg sei ein kleiner Bub. Das ist er gar nicht, ich weiß es ganz bestimmt«, versicherte Artur. »Den Mann, der in der Ecke saß und den Korb flocht, nennen sie so; er ist vielleicht auch gar nicht so bös. Und die traurige Grete nennen sie die Frau, weil sie immer so traurig ist, und gerade danach schau ich aus, ob die arme Frau nicht einmal dort oben steht und wieder so um ihre Kinder jammert, ich möchte ihr so gerne ein Bild zeigen.«

»So komm, wir gehen gleich hinauf und zeigen es ihr.« Squirrel stieg entschlossen das Treppchen hinan.

»Aber wart doch, Squirrel, man weiß ja nicht –« Artur stand noch zögernd auf der ersten Stufe. Aber Squirrel hatte schon die Tür aufgemacht. Die Frau stand in der kleinen Küche, sie floh in einen Winkel und hielt die Hände vor die Augen.

»Es ist nichts Böses, kommt nur, der Artur will Euch ein Bild zeigen«, sagte Squirrel beschützend. »Komm nur herauf, sie ist schon da«, rief sie dann die Treppe hinunter.

Artur erschien nun oben. Sobald die Frau ihn erblickte, fing sie kläglich an zu jammern. Es waren immer dieselben Klageworte um ihren Jörgli, der jetzt auch so groß wäre; es mußte an Artur etwas sein, das sie besonders an den Jörgli erinnerte.

»Ich wollte Euch zeigen, wie wohl es jetzt dem Jörgli und dem Greteli ist«, sagte Artur und schlug sein Buch auf, »wollt Ihr's nicht ansehen?«

Die Frau stand schon hinter Artur und schaute über seine Schulter. »Wo? Wo?« fragte sie in zitternder Aufregung.

»Da könnt Ihr sie sehen«, sagte Artur, ihr das Bild hinhaltend. »In der Mitte sitzt der Heiland, der will, daß alle Kinder zu ihm kommen, daß sie's bei ihm gut haben.«

»Wo ist der Jörgli und das Greteli?« fragte die Frau suchend.

»Ja, die sind auch da«, wollte jetzt Squirrel wissen. »Das ist gewiß der Jörgli, seht nur, wie froh er ist, dem ist es so wohl! Und dort hinten kommt das Greteli, Ihr seht, wie's fröhlich ist und lacht! Der Heiland streichelt es, er ist so gut zu ihm!«

Der Grete liefen die Tränen die Wangen herab, immer mehr, je länger sie hinsah. »Oh, oh!« schluchzte sie, »ist es ihnen so wohl, haben sie's einmal gut? Haben sie's so gut? Oh, wie wenig Gutes hatten sie hier! Oh, hätt ich es ihnen anders geben können, vielleicht lebten sie noch?«

»Aber sie leben ja noch, nur nicht hier«, sagte Artur, »sie leben im Himmel, und da ist es ihnen so wohl, wie es ihnen hier unten nie sein könnte.«

»Ja, seht nur, welche frohe Gesichter sie haben«, fiel Squirrel ein; »so sehen sie jetzt aus, wie Ihr hier seht, so sauber und schön, und es ist ihnen viel wohler, als dem Staseli und dem Muck; die sehen lange nicht so aus, und sie wollten gewiß gar nicht mehr zurückkommen, so wohl ist es ihnen!«

Die Frau schaute unverwandt auf das Bild. »Ach, ach, wenn ich das so vor mir sehen kann, wie fröhlich die Kinder aussehen und wie wohl es ihnen sein muß, das macht mir so wohl ums Herz, ach, wenn ich das immer so vor mir sehen könnte!« Dann fing sie wieder an zu weinen. Von dem Bild konnte sie ihre Blicke nicht abwenden. »Ach, wenn ich sie so um den guten Herrn versammelt sehe, wie er so freundlich zu ihnen ist, und denke, daß es ihnen viel wohler ist als allen armen Kindern, die noch da sind, dann wird's mir so, als könnt ich mich fast über sie freuen.« Jetzt fing die Grete wieder zu weinen an.

Squirrel zupfte stark an Artur, daß er nun komme; denn sie freute sich schon lange darauf, das Paket, das sie immer fest im Arm hielt, vor Staselis und Mucks Augen auszubreiten. Heute hatte der Herr Professor am Tisch ein großes Stück Kuchen auf seinen Teller genommen, so groß, wie sie es nie hätte herausnehmen dürfen. Er hatte bemerkt, wie Squirrel seit einigen Tagen alles zusammenraffte und einsteckte, was sie vorher nicht angesehen hatte. Nun packte der Herr Professor auf einmal seinen Kuchen in ein Stück Papier ein, schob es Squirrel zu und sagte: »In die Sammlung.«

Jetzt lag das schöne Stück zwischen Brot und Wurst in dem Paket, und Squirrel konnte es kaum mehr erwarten zu sehen, wie Staseli und Muck sich daran erlaben würden.

Artur fragte, ob sie morgen wieder heraufkommen sollten mit dem Buch. Da sagte die Grete mit verlangenden Augen: »Ja, ja, kommt nur wieder! Kommt wieder zu mir! Kommt bald wieder!«

Und sie schaute den Kindern nach, bis sie vor der Tür unten verschwanden.

Draußen standen Staseli und Muck schon lange und lauschten hinauf, ob ihre Freunde bald kämen, und nun setzten sich die vier auf den Boden zusammen, und für Staseli und Muck begann nun ein Gastmahl, wie sie noch keines gehalten hatten. Von allem wurde auch ein Stück für den Großvater beiseitegelegt, und als Squirrel sich an Staselis und Mucks Appetit geweidet hatte, nahm sie schnell ihre weggelegten Stücke und trug sie zum Großvater hinein; sie mochte so gern sehen, wie er so zufrieden lächelte und dann sagte: »Vergelt's Gott.«

Als sie ihm jetzt sein Stück Kuchen reichte, sagte er: »Soll der Alte auch noch so Gutes essen?« Aber er aß es dann ganz gern, und nachher sagte er, Squirrel die Hand schüttelnd: »Bei uns ist alle Tag Festtag, seit das kleine Jüngferlein erschienen ist. Vergelt's Gott!«

Squirrel hatte heute abend ein so frohes Herz, daß sie auf dem Heimwege in lauter Sprüngen neben Artur herlief und vor Freuden alle Augenblicke seine Hand ergriff und ihn mitzog.

Auch er war so fröhlich, daß er mehrmals mit ihr hoch aufsprang; aber plötzlich mitten im lustigen Hüpfen hielt er inne, setzte sich auf den Boden am Wege nieder, und mit ganz traurigen Augen seine freudelachende Gefährtin anblickend, sagte er: »Oh, siehst du, Squirrel, wenn ich am allerfrohesten bin, dann geht es mir auf einmal wie ein furchtbarer Stich durchs Herz, daß es nun gleich aus ist, alles, alles; daß ich ins Institut zurück muß, wo sie mich gewiß alle mit Hohn empfangen, der große Eber vor allen, und die Lehrer mit Verachtung, du weißt schon, wegen der Rechtschreibung des Wortes ›Kupferbibel‹; ich kann dann nicht alles gleich erklären. Und auch sonst, dann ist alles aus für mich. Ich weiß, wie es sein wird!«

»Bekommst du dann wieder das Heimweh?« fragte Squirrel teilnehmend.

Artur nickte erschrocken über das Wort; er fürchtete sich davor, das Weh nur nennen zu hören.

»Das mit der Rechtschreibung haben sie nun schon lange vergessen. Siehst du, ich hatte es auch ganz vergessen«, sagte Squirrel tröstend. »Und dann kommst du doch zuerst mit uns heim und bleibst noch lange bei uns.«

»Nein, nein, Squirrel, du weißt es nicht, wie es sein wird; ich weiß bestimmt, daß ich nicht mehr zu euch komme; ich muß gleich ins Institut von hier aus«, versicherte Artur. »Der Herr Professor sagte einmal zu mir, wir blieben bis zur letzten Minute der Ferien hier, und die Ferienzeit vom Institut geht in acht Tagen zu Ende, ich weiß es genau.«

»Kommst du gar nicht mehr mit uns heim, Artur?« fragte Squirrel jetzt kläglich; denn der Gedanke war ihr noch nie gekommen, daß Artur überhaupt nicht mehr da sein könnte, und nun erst gar, daß er von hier weg auf einmal verschwinden und gar nicht mehr mit heimgehen würde – das war zuviel. »Dann freut mich auch gar nichts mehr«, brach Squirrel aus.

Aber das war nun auch wieder so traurig, daß ihr die Tränen kamen, und als Artur diese sah, strömten die seinen erst recht hervor; er hatte sie so lange zurückgedrängt.

So saßen sie eine Weile am Rande des Fußweges und weinten alle beide. Squirrel sprang zuerst wieder auf, sie hörte die Geißen kommen und den Hirtenbuben jodeln; das tönte ihr so fröhlich ins Herz hinein, daß wieder alle Hoffnung bei ihr aufstieg.

»Komm nur, Artur, vielleicht ist doch nicht alles aus«, sagte sie tröstend, »weißt du, es kann zu allerletzt noch ein Wunder geschehen, oder vielleicht findet mein Papa noch etwas, wenn wir ihm schreiben, daß es uns so traurig macht; nun wollen wir wieder fröhlich sein.«

Aber bei Artur ging es nicht so schnell, daß er wieder fröhlich sein konnte. Er schluckte seine Tränen hinunter und stand auf; aber er blieb ganz still.

Squirrel war am andern Tag wieder so ungeheuer fröhlich, daß sie auch Artur mitriß. Jeden Tag machten sie ihren Besuch bei den Jungen und bei den Alten im Häuschen am Abhang, und wenn einmal ein längerer Spaziergang vom Herrn Professor und Fräulein Malwa für den Tag in Aussicht genommen wurde, baten Artur und Squirrel jedesmal so flehentlich darum, vor- oder nachher noch ihre Freunde besuchen zu dürfen, daß der Herr Professor fand, wenn es so sei, so solle ein für allemal dieser tägliche Besuch festgesetzt werden. Jedesmal stand die Grete schon oben am Treppchen und erwartete die Kinder; daß sie aber schon seit einer Stunde und noch länger nach ihnen ausgeschaut hatte, wußten die Kinder nicht. Grete hatte nun auch schon viele von den andern Bildern kennen gelernt, und Artur hatte die Geschichten erzählt und manches Wort gesagt, das der Grete so tröstend ins Herz gedrungen war, daß sie täglich die Stunde kaum erwarten konnte, bis er wiederkam; und erzählte er, so sah sie aus, als wäre ihr das liebste, wenn er nicht mehr aufhören würde. Dann und wann strich sie ihm zärtlich über das helle Lockenhaar und sagte wie für sich: »Oh, du gutes Büblein, man könnte meinen, du wüßtest schon, was Kummer ist.« Am liebsten schaute sie immer wieder das Bild von den Kindern an, die so fröhlich um den Heiland versammelt waren und alle aussahen, als könne es keinem Menschen so wohl sein wie ihnen. Staseli und Muck lachten jetzt immer schon den Kindern zu, sobald sie von ferne das erste Pünktchen von ihnen erblicken konnten. Dann kamen sie ihnen entgegengerannt; denn sie waren nun ganz zutraulich geworden.

Die acht Feiertage, die Artur noch vor sich gesehen hatte, waren nun schon vorüber. Noch war es so schön da droben, jeder Tag brachte die alten, immer ersehnten Freuden und neue dazu. Artur entfernte mit aller Macht den drohenden Gedanken des nahen Endes, und Squirrel half ihm gut dabei, sie hatte durchaus keine Zeit, in seine Gedanken zu verfallen. Aber so recht fröhlich, wie er eine kleine Zeit lang hatte sein können, wurde er nicht mehr; er fühlte es immer wie ein schweres Gewicht über seinem Kopf hängen, das auf einmal niederfallen und ihn zusammendrücken würde.


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