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Das Leben im Haus Kasteller

Die Kinderstube im Hause Kasteller lag zu ebener Erde. Durch die großen Flügeltüren, die im Sommer immer offen standen, konnte man weit hinaus in den Garten schauen, bis zum großen Hof hinüber, wo das Häuschen des Gärtners stand. Das war für Squirrel sehr angenehm; so war sie immer halb im Garten und konnte auch sehr leicht zum Gärtnerhaus hinübergelangen, was besonders erfreulich für sie war, da sie mit den vier Buben des Gärtners, die ihre ergebenen Freunde waren, sehr viel zu verhandeln, oft auch ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen hatte. Allerlei notwendig auszuführende Dinge konnten nur unter ihrer Mitwirkung zustande kommen.

Eben jetzt lief Squirrel in großer Geschäftigkeit vom Garten ins Zimmer herein und wieder vom Zimmer in den Garten hinaus. Draußen standen die vier Gärtnerbuben an der Tür mit vier großen Körben voll Efeu, Gesträuch und Beerenzweigen, Ranken und Feldblumen.

»Suse, Suse!« schrie Squirrel jetzt aus vollem Halse ins Haus hinein, und es währte auch gar nicht lange, so kam die stets bereite hilfreiche Pflegerin und Beschützerin herbeigelaufen, um zu sehen, was fehle.

Eben schlug die große Uhr draußen auf dem Flur neun Uhr. Squirrel zog die gute Freundin zu den Knaben hinaus und redete sie im höchsten Eifer wegen allerlei Arbeit an, die nun getan werden sollte.

Aber Frau Suse hielt den Redestrom an und sagte: »Nicht jetzt, Squirrel, nachher; es hat neun geschlagen, und das Fräulein ist schon oben im Lehrzimmer. Lauf schnell und sei heut recht fleißig; weißt du, so recht brav, daß sie dich auch gleich um elf Uhr losläßt und du nicht etwa nachsitzen mußt. Dann komm nur schnell, ich mache vorher alles zurecht und arbeite dir vor.«

»Ja, aber die Blumen, Suse; ich muß es den Buben noch einmal sagen«, wandte Squirrel ein, und wollte den vieren ihre Erklärung erneuern.

Aber die Alte ließ es nicht zu: »Lauf, lauf, Squirrel, sonst gibt's Strafe; ich mache alles in Ordnung, Blumen und alles. Geh nur schnell, so kommst du zur rechten Zeit wieder; um elf Uhr machen wir dann alles fertig.«

Jetzt lief Squirrel und kam ins Lehrzimmer hinaufgestürzt. Fräulein Malwa saß schon an ihrem Platz, Buch und Hefte lagen bereit.

»Endlich! Der Lerneifer ist nie sehr groß bei dir«, sagte sie und rückte der Schülerin das Buch hin, daß sie zu lesen beginne.

Aber heute schien ein neuer Geist die Schülerin zu beseelen. Sie begann ihre Leseübungen und fuhr fort und fort, ohne ein einziges Mal nach den summenden Fliegen am Fenster oder nach der fleißig tickenden Uhr an der Wand zu schauen, ohne eine einzige unnütze Frage an die Lehrerin zu richten, was sonst gar nicht selten inmitten völlig unzertrennbarer Sätze geschah, ohne ein einziges Mal zu seufzen, als wollte sie ihr schweres Los andeuten. Fräulein Malwa schaute sie ein paarmal verwundert an.

Als die Lesestunde zu Ende war, begann die Schreibübung. Squirrel schrieb darauf los, als wäre es ihre Lieblingsbeschäftigung.

»Nur langsam, nur nicht eilen«, mahnte die Lehrerin; aber Squirrel fuhr fort, zu schreiben und zu schreiben, als könnte sie gar nicht genug bekommen. Ein einziges Mal hob sie den Kopf in die Höhe und schaute nach der Uhr. Nur noch zehn Minuten bis elf Uhr zeigte diese. Squirrels Feder füllte vor Eifer Blatt um Blatt.

»So«, sagte plötzlich Fräulein Malwa, »heut bist du einmal halbwegs, wie du sein solltest. Bei dir muß man aber das Eisen schmieden, wenn es warm ist; nun wollen wir auch gleich noch ein wenig Grammatik treiben.«

»Nein, nein, nur nicht Grammatik«, schrie Squirrel auf; »es ist gleich elf Uhr, und bei der Grammatik muß ich immer tausendmal dasselbe sagen, weil ich es nie recht weiß, und das ist schrecklich und währt furchtbar lange.«

»Schäm dich doch, nichts lernen zu wollen«, sagte Fräulein Malwa strafend. »Du solltest nun wirklich in dem Alter sein zu begreifen, daß es ein Vorteil ist zu lernen, und solltest Freude daran haben, Fortschritte zu machen. Du bist acht Jahre, und ich kannte einen Schüler, der war noch nicht neun –«

»Ja, ich weiß schon, er heißt Adolf; Sie haben es schon dreimal gesagt!« rief Squirrel hastig, als könnte sie dadurch schneller fortkommen.

»Sei nicht unverschämt, Squirrell – Und das sag ich dir«, fuhr Fräulein Malwa weiter fort, »seine Grammatik kannte der neunjährige Adolf, wie du kaum dein Abc kennst, und das ist zum Schämen für dich, das solltest du fühlen. Nun komm, was du gestern gelernt hast, das wiederholst du mir jetzt.«

»Oh, nun schlägt's elf Uhr« schrie Squirrel wie außer sich, »und nun soll ich noch anfangen, und dann muß ich's immer noch einmal sagen; und nun erwartet mich Suse, und wir werden nicht mehr fertig. O nein, nur heut nicht; morgen dann!«

Squirrel war vom Stuhl gesprungen, der Tür zugerannt und hatte diese aufgerissen. Aber Fräulein Malwa hielt sie unter der offenen Tür fest und wollte ihr erklären, daß es nur zu ihrem eigenen Besten sei, wenn ihre Lehrerin von ihr begehre, daß sie etwas Rechtes lerne; das tue die Lehrerin nur, um die Schülerin zu fördern, und nicht zu ihrer eigenen Freude, und Squirrel sollte dankbar und nicht so störrisch gegen sie sein. Aber Squirrel dachte nur noch an ihr Vorhaben, die Stunde war ja zu Ende; sie rief immer lauter, nun müsse sie gehen, sonst werde sie nicht mehr fertig.

Jetzt kam Frau Suse die Treppe herauf; sie hatte unten den Lärm vernommen und gleich verstanden, worum es sich handle, da Squirrel nicht erschien und elf Uhr nun längst vorbei war.

»Suse, komme und hol mich!« schrie ihr Squirrel entgegen, »die Stunde ist aus, und nun soll ich noch Grammatik lernen.«

»In diese Sache haben Sie sich wohl nicht zu mischen«, sagte Fräulein Malwa kurz, als sich Frau Suse entschlossenen Schrittes näherte.

»Die Unterrichtsstunde ist doch zu Ende, und nachher ist jedem Schüler ein Augenblick der Freude zu gönnen; das wäre meine Meinung«, sagte Frau Suse ganz zahm und langsam; denn sie wollte das Spiel nicht verderben.

Aber Fräulein Malwa wollte keine Einmischung in eine Sache dulden, die sie am besten verstehen mußte; sehr abweisend entgegnete sie: »Wenn von Waschtrog und Zimmerputzen die Rede ist, können Sie Ihre Meinung abgeben; der Unterricht ist nicht Ihr Feld; Sie werden wohl kaum wissen, was die Kenntnis der Grammatik im Leben zu bedeuten hat.«

»Kann sein, und bin doch mit Ehren sechsundsechzig Jahre alt geworden«, fuhr jetzt Frau Suse auf und stemmte ihre Arme in die Seite, zum Zeichen, daß sie von dem Schlag nicht eingeschüchtert sei. »Und wissen Sie was, Fräulein, es gibt dann noch manches, was der Mensch für sein Fortkommen und Wohlergehen kennen und erlernen muß; das geht der Grammatik noch vor; und wäre das, was Sie meinen, das Allererste und Wichtigste für den Menschen, so würde geschrieben stehen: ›Am Anfang schuf Gott eine Grammatik‹; aber es steht anders geschrieben.«

Jetzt wandte sich Frau Suse und ging; sie hatte fertig geredet. Sie hatte auch unten auf dem Flur Schritte gehört, die ihr Hoffnung machten, die Sache werde nun auch ohne sie zum Abschluß kommen. Herr Kasteller erschien auf der Treppe.

»Na, was ist denn da wieder los?« fragte er, oben angekommen. »Was machst du für Augen, Squirrel? Wär's dunkel, man müßte die Funken sprühen sehen.«

Jetzt schoß Squirrel los: »Ja, ja, Papa, hörst du's? Jetzt schlägt es halb zwölf, und um elf Uhr war die Schule aus, und ich wollte gehen, weil ich noch so große Arbeit vor Tisch zu machen habe. Und nun sollte ich noch Grammatik haben; aber ich will gern noch einmal sagen, was ich gestern gelernt habe, daß ich endlich nachher gehen kann: ›der gute Mensch, des guten Mensches –‹«

»Da haben wir's«, unterbrach Fräulein Malwa, »nun kann der Herr Papa selbst urteilen, wie seine Tochter dekliniert, nachdem sie zwanzigmal dieselbe Übung durchgemacht hat.«

Das Kind trippelte wie ein Pferdchen, das nicht mehr stillstehen kann.

»Squirrel, deine Deklination ist schauerlich«, sagte der Vater so ernsthaft als es ihm möglich war. »Ein andermal mach's besser. Jetzt lauf!«

Wie ein abgeschossener Pfeil flog Squirrel davon.

»Mein liebes Fräulein«, fuhr Herr Kasteller fort, »künftig würde ich an Ihrer Stelle dem Kinde von guten Menschen erzählen, ihm solche zeigen und lieb werden lassen. Unterdessen wird in Squirrel dann die Erkenntnis reifen, daß ›der gute Mensch‹ auch dekliniert werden muß, und es wird mit dieser Arbeit besser gehen.«

Nun ging er nach dem Zimmer seiner Frau.

Fräulein Malwa schaute Herrn Kasteller verwundert und ein wenig mitleidig nach. Daß eine Person ohne Bildung sprechen konnte wie die alte Suse, das war ihr nicht verwunderlich; was verstand sie von Wissen und Studieren! Aber daß Herr Kasteller mit solcher Gleichgültigkeit ein Hauptfach des Unterrichts behandeln konnte, war ihr unbegreiflich. Freilich, er selbst war schon lange aus der Schule und hatte sich seither so selten oder gar nicht mehr damit befaßt, daß er wohl selbst den Wert der verschiedenen Lehrfächer nicht mehr recht unterscheiden konnte; nur so konnte sie sich die leichte Behandlung eines Hauptfaches erklären.

Squirrel kam mit hochroten Wangen zu Tisch, sie mußte eifrig an ihrer großen Arbeit gewirkt haben.

»Squirrel«, sagte der Vater, als die Mahlzeit im Gange war, »du wirst daran denken, daß heut unser Gast anlangen wird; von drei Uhr an kann er jeden Augenblick kommen. Du mußt ihn empfangen, Fräulein Malwa wird mit dabei sein; ich kann erst gegen Abend kommen. Du denkst doch daran, was du mir versprochen hast?«

»O ja, Papa, und ich denke noch an viel mehr«, antwortete Squirrel gewichtig.

Der Vater lachte.

»Sehr schön, nur so fortgefahren, meine Tochter«, sagte er, »immer mehr halten als versprechen und niemals mehr versprechen als du halten kannst; das ist ein guter Grundsatz, den mußt du festhalten.«

Herr Kasteller trat erst noch einmal bei seiner Frau ein, bevor er das Haus verließ; er mußte sie nochmals über die bevorstehende Ankunft des Fremden beruhigen.

Sobald Fräulein Malwa sich, wie gewöhnlich um diese Zeit, in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, begann eine große Tätigkeit im Eßzimmer, und Squirrel und Suse liefen hin und her, aus und ein, treppab, treppauf, nicht anders, als hätten sie durchs ganze Haus das Oberste zuunterst und das unterste zuoberst zu kehren.

Dann trat Ruhe ein, und Squirrel ging, ihrer Mutter einen kleinen Besuch zu machen. Sie setzte sich auf ihr Stühlchen an das Ruhebett hin, legte die Hände aufeinander und blieb schweigend und unbeweglich so sitzen.

»Was ist dir, Kind?« fragte ängstlich die Mutter, »so habe ich dich noch nie dasitzen sehen; hast du etwas angestellt?«

»O nein, Mama«, entgegnete Squirrel in einer Weise, als ob so etwas kaum möglich wäre, »ich muß so stark nachdenken und erwarten; denn jetzt kann der fremde Gast gleich kommen, und kein Mensch weiß, wie er aussieht.«

»Da wäre es mir ganz lieb, die Erwartung dauerte noch einige Zeit fort, da sie dich so hübsch still und ruhig macht«, meinte die Mutter. »Wenn nur durch die Ankunft des Gastes nicht ein Rückschlag erfolgt, der schlimmer ist als alles Vorhergegangene.«

»Nein, nein, darum brauchst du nicht Angst zu haben, Mama«, beruhigte Squirrel; »Papa hat gesagt, er sei vielleicht sehr artig, und Fräulein Malwa hat gesagt, artiger als ich sei er jedenfalls.«

»Aber wenn er nun so lebendig ist wie du und gerade noch einmal so laut, da er doch ein Knabe ist, wie soll ich's aushalten?«

»Oh, Mama, wenn er so lärmt und dir Kopfweh macht, dann will ich ihm schon sagen, daß man das bei uns nicht tun darf. Sei du nur ganz fröhlich, Mama, ich will dich schon behüten«, tröstete Squirrel.

»Aber wenn du doch so gut weißt, was nicht sein soll, liebes Kind, warum bist du denn oft selbst so laut und so unruhig, daß mir ganz bange wird, du werdest niemals brav und ein vernünftiges und arbeitsames Mädchen werden?«

»Oh, es ist nur, weil ich's immer vergesse, wie es sein soll«, meinte Squirrel; »aber wenn ich einmal daran denke, dann sollst du sehen, wie brav ich bin.«

»Aber, Squirrel, wann wird dann wohl die Zeit kommen, da du daran denkst?« fragte lächelnd die Mutter.

In diesem Augenblicke ertönte die Hausglocke in sehr vernehmlicher Weise. Squirrel sprang in die Höhe und stürzte zur Tür hinaus. Frau Suse kam die Treppe herauf und machte die geheimnisvollsten Zeichen. Squirrel trat auf die Seite, damit die Tür des Wohnzimmers ganz frei zu sehen war.

Jetzt kamen zwei Knaben die Treppe heraufgestiegen; Artur kam voran, Georg ein wenig hintendrein. Voll Verwunderung blieben beide vor der großen eichenen Doppeltür stehen, die zum Wohnzimmer führte. Ein ungeheurer Kranz von Efeublättern und Zweigen, dicht mit roten Türkenhelmen, stammenden Königskronen und vielen glitzernden Feldblumen verflochten, faßte die Türen ein. Da und dort schauten ganze Büschel blauer Kornblumen und golden leuchtender Zitterhalme zwischen den grünen Zweigen heraus. Stumm und staunend schauten die Knaben zu dem schimmernden Kranze empor, und mit Nicken und leisem Anstoßen machten sie sich gegenseitig auf das große weiße Blatt aufmerksam, das in der Mitte des Kranzes hing und auf dem mit ungeheuren, aber etwas unsicheren Buchstaben geschrieben stand:

»Trit hier herein und freu dich sehr,
denn hier gibt's keine Schuhle mehr.«

Nun trat Squirrel ein wenig näher; sie mußte doch sehen, welchen Eindruck ihre Veranstaltungen auf die Angekommenen machten. Noch standen die Knaben still und ein wenig verblüfft vor der Inschrift; denn sie wußten nicht recht, was sie tun sollten. Erst jetzt erblickten die beiden die Kleine, die, halb in eine Türnische gedrückt, sie so aufmerksam betrachtete. Artur ging gleich auf sie zu und bot ihr die Hand. Georg machte erst eine Verbeugung; denn die Mutter hatte ihm eingeschärft, im Hause Kasteller immer zum Gruß und beim Abschied eine Verbeugung zu machen – dann sagte er: »Eine schöne Empfehlung von meiner Mutter an meinen Herrn Vormund, und ist mein Herr Vormund nicht zu Hause?«

»Nein«, gab Squirrel kurz zurück; denn die ruhig betrachtende Weise der Knaben verdroß sie ein wenig. »Aber freut ihr euch denn gar nicht, daß ihr nun in die Ferien kommt und keine Schule mehr habt?« Unterdessen war auch Fräulein Malwa erschienen und hatte einen Blick auf die bekränzte Inschrift geworfen.

»Mich nimmt nur wunder, daß du's in deinem Gedicht bei zwei orthographischen Fehlern hast bewenden lassen und nicht in jedem Wort einen angebracht hast«, warf sie hin.

»Oh, das hätte ich vielleicht schon getan; aber die Suse hat mir geholfen«, antwortete Squirrel, »und das Gedicht hat sie auch gemacht.«

»Es ist danach«, sagte Fräulein Malwa, die Tür öffnend, damit die Gäste ins Zimmer eintreten konnten, wo die Zurüstungen zu der Empfangsschokolade den Tisch schmückten. Die Unterhaltung zu dem Festmahl war etwas einseitig. Squirrel kam immer wieder auf die unbeantwortete Frage zurück, ob denn die beiden sich nicht ungeheuer darüber freuten, daß sie nun in die Ferien kämen und lange nichts mehr von der Schule hören müßten. Jedesmal aber erhielt die unermüdlich Fragende einen so strafenden Blick von der Lehrerin, daß die Knaben sich nicht getrauten, der Wahrheit gemäß zu antworten; etwas anderes aber wollten sie doch auch nicht sagen. So saßen sie über ihre Tassen gebeugt und tranken langsam ihre Schokolade zu Ende, als wäre es eine Aufgabe, die nun gelöst werden mußte. Jetzt trat Herr Kasteller ein und brachte eine neue und frische Luft mit, die jedem willkommen war. Squirrel mußte ihrer Empfindung sogleich Ausdruck geben.

»Es ist so gut, daß du kommst, Papa«, sagte sie erleichtert. »Es war wie eine Grammatikstunde, wo man immer so den Kopf über das Buch hinhält und nichts zu antworten weiß.«

»Glücklicherweise sind nicht alle Leute wie du, daß ihnen das Bild aller Langeweile eine Grammatikstunde ist«, entgegnete Fräulein Malwa empfindlich.

»Ja, ja, glücklicherweise, da muß ich Ihnen wirklich recht geben, mein liebes Fräulein«, sagte Herr Kasteller begütigend, »wenn die Welt voll Squirrel wäre, was sollte dann aus allen vernünftigen Menschen werden? Nun, meine lieben Jungen, wollen wir recht gute Bekanntschaft machen. Mit Georg brauche ich sie nur zu erneuern; aber mit unserm Gaste, Artur Stein, muß ich sie ganz neu schließen. Erst soll uns nun Georg Bericht geben, wie es auf der Schule geht, was man da lernt und wie man die Freistunden zubringt; nachher hoffe ich vieles von Artur zu vernehmen. Vor allem setzen wir uns nun zusammen zu der Festschokolade nieder, die ich auch kennen lernen muß, und jeder tut noch einmal sein Bestes dabei.« Nun belegte Herr Kasteller alle Teller mit den süßen Kuchen, die noch unberührt auf dem Tische standen, und unter seiner Mitwirkung und freundlichen Aufmunterung begann nun ein behagliches Festmahl, ganz anders, als es vorher stattgefunden hatte. Erst berichtete Georg nun ganz geläufig über alles, was der Herr Vormund wissen wollte, dann wandte sich dieser zu Artur. Der Junge sollte ihm nun recht deutlich sein Pfarrhaus auf Lärchenhöh beschreiben, den Garten, die Kirche und die nächste Umgebung des Hauses. Das war Artur nun eine liebe Aufgabe, und er wurde bei seiner Beschreibung so lebendig, daß ihn Georg verwundert anstarrte; denn so hatte er seinen Freund noch nie gesehen. Aber auf einmal hatte Artur beide Augen voll großer Tränen und konnte nicht mehr weiter.

»Schon gut, schon gut, mein Junge«, sagte Herr Kasteller mit großer Freundlichkeit, »das hast du mir alles so lebendig vor Augen geführt, daß ich mich nun vollständig zurechtfinde. Es ist kein Zweifel mehr, daß ich in deinem Pfarrhaus, bei deinen guten Großeltern jene schöne Ferienzeit zugebracht habe. Wie freue ich mich, dich nun auch für einige Zeit unter meinem Dach beherbergen und dir womöglich einige Freude bereiten zu können. Nun sage mir noch eines: den Sohn des Hauses, der also dein Vater war, kannte ich nicht, er war fort, erst auf der Schule in der Stadt, dann, wie ich glaube, auf einer Ferienreise. Aber ich hatte eine kleine Freundin, die kam fast täglich ins Pfarrhaus, um mit mir zu spielen, und nachher brachte ich sie nach Hause und wurde dann gewöhnlich von der Mutter meiner Freundin mit einer großen goldgelben Birne belohnt. Der Weg zu dem Hause ging vom Pfarrhaus die Straße hinunter einem Walde zu, an dessen Rand ein wasserreicher Bergbach hinrauschte. Dort standen zwei große Gebäude, ein Fabrikgebäude und ein Wohnhaus. Hier wohnte meine kleine Freundin, ich glaube, ihr Name war Ella, wenn ich mich recht erinnere. Kannst du mir sagen, wer die Leute waren und was aus meiner Freundin geworden ist?«

Artur war vor innerer Bewegung ganz rot geworden. »Ja, das Haus und die Fabrik kenne ich gut«, entgegnete er, »sie gehörten meinem Großvater, und meine Mutter wohnte dort als Kind, sie hieß Ella.«

»Sieh, sieh«, rief Herr Kasteller ganz erfreut aus, »so bist du mir ja ein doppelter Bekannter, der Sohn aus zwei mir lieben und befreundeten Häusern. So ist meine kleine Freundin aus der Fabrik nach dem Pfarrhause hinaufgezogen, und du bist wohl ihr einziger Sohn?«

»Ja«, sagte Artur; aber schon zuckte es ihm wieder so schmerzlich um den Mund, daß Herr Kasteller das Gespräch nun nicht weiterführen wollte. Er wandte sich zu seiner Tochter und sagte: »Siehst du, Squirrel, wie nett für dich! Wie Arturs Mutter meine gute Freundin war, so kannst du nun seine Freundin sein und ihm alle Freundlichkeit zurückgeben, die seine Mutter mir erwiesen hat.« Squirrel nickte ganz einverstanden. Georg stand nun auf, um sich zu verabschieden.

»Wirst du mich dann einmal beim Onkel besuchen?« fragte er Artur, als er diesem Lebewohl sagte. Artur schaute Herrn Kasteller fragend an, und dieser antwortete, Georg solle das nicht so bestimmt annehmen, im Hause des Onkels herrsche Krankheit, da könne ein Besuch nicht so sehr erwünscht sein; aber es währe ja nicht sehr lange, bis die Freunde wieder im Institut zusammenkämen und dort noch eine gute Zeit miteinander zu verleben hätten. Bis er wiederkomme, sollte Squirrel nun ihren Gast noch unterhalten, setzte Herr Kasteller noch hinzu; damit begleitete er Georg auf den Flur hinaus und ging dann, seiner Frau mitzuteilen, daß der erste Eindruck, den er von Artur Stein empfangen habe, ein recht günstiger sei. Er glaube, der Junge habe ein ruhiges, nachdenkliches Wesen, ganz im Gegensatz zu Squirrels Natur, so daß man hoffen könne, es werde mit den beiden gut gehen. Aber Frau Kasteller sah die Sache nicht sogleich von der guten Seite an. Sie meinte, im Anfang sähen alle Kinder in einem fremden Hause ruhig und nachdenklich aus, wenn sie so unter den ersten Eindrücken stünden; aber nachher, wenn sie warm geworden wären, komme es meist ganz anders.

»Wenn nur unter der augenblicklich obwaltenden Ruhe nicht ein Sturm lauert, der dann so losbricht, daß ich Squirrel, mit dem Kameraden verbunden, viel wilder als je sehen muß«, schloß sie seufzend.

»Nein, nein, so sieht es nun gar nicht aus«, versicherte ihr Mann beruhigend; »wir dürfen doch auch annehmen, daß wir rechttun, wenn wir die alte Schuld an dem alleinstehenden Knaben abtragen.«

»Ach ja«, stimmte die Frau bei; »ich kann mir auch nur dadurch über meine Angst, was alles kommen könnte, hinweghelfen, daß ich mir sage, gewiß hat der liebe Gott nicht umsonst den Waisenknaben in unsere Hand geführt, ohne daß wir etwas von ihm wußten.« In diesem Augenblick ertönte lautes Reden, Schelten und Schreien draußen auf dem Flur. »Hörst du's? Hörst du's?« sagte Frau Kasteller erschrocken, »da geht wohl der ganze Lärm los, bevor nur der erste Tag vorüber ist.« Herr Kasteller ging rasch hinaus. Draußen war eine große Aufregung. Squirrel schrie ihm aus allen Kräften zu: »Papa! Papa! sie reißt ihnen die Köpfe ab!«

Frau Suse kam ihm entgegen und sagte mitleidig: »Sie weiß es nicht besser; daß man die Blumen festbindet, um einen Kranz zu machen, und man sie darum nicht nur so wieder herausnehmen kann, wie die Fliegen aus der Suppe, das sieht sie mit offenen Augen nicht, es steht eben nicht im Lesebuch.«

Squirrel schrie noch einmal auf: »Oh, die blauen Blumen, die schönen blauen Blumen, sie haben keine Köpfe mehr!« Erst jetzt erblickte Herr Kasteller Fräulein Malwa, die hoch oben auf einem Stuhl stand und an dem Kranz herumrupfte. In ihrem Eifer mußte sie nicht gehört haben, daß der Herr herangetreten war.

»Aber Fräulein, was haben Ihnen denn die blauen Blumen getan, an denen Sie reißen?« rief er nun hinauf. Das Fräulein sprang vom Stuhl herunter. Sie hielt einige zerrissene Kornblumen in der Hand, einige lagen schon am Boden.

»Oh, Herr Kasteller«, rief sie sehr erregt, »ich hoffte, ich könnte noch gutmachen, was Squirrel wieder angestellt hat. Denken Sie nur, wie schrecklich: da hat der Herr Professor seine Haushälterin, Frau Monrad, heruntergeschickt, um fragen zu lassen, ob denn niemand von uns etwas davon wisse, wo die Kornblumen und die Zitterhalme hingekommen seien, die er eigens von einem großen Spaziergang heimgebracht und dann unten im Garten am Springbrunnen niedergelegt habe, damit sie dort in dem Staubregen wieder frisch würden. Der Herr Professor sei sonst schon ein Menschenfeind, und solche Sachen brächten ihn viel mehr auf als andere Leute, weil er meine, jemand tue es ihm zuleide. Und wie ich nun sage, wir wüßten nichts davon, kommt Squirrel und schreit, so laut sie kann, als hätte sie noch eine besondere Tat zu verkünden, die Blumen habe sie aufgelesen und alle in den Kranz gebunden. Nun suche ich mit aller Mühe, die Blumen herauszunehmen, um sie dem Herrn zurückzubringen; aber die sind so fest eingebunden, daß man sie nur in Stücken herausbekommt.«

»Das ist eine schlimme Geschichte«, sagte Herr Kasteller. »Zwar, daß Squirrel ihre Untat laut bekannt hat, finde ich recht, nur gleich heraus damit, wenn man etwas Verkehrtes getan hat! Aber wie kommst du denn dazu, etwas so Verkehrtes zu machen, Squirrel? Du kannst doch wohl wissen, daß man nicht Blumen nimmt, die einem andern gehören, um seinen Freunden Kränze davon zu winden.«

»Gewiß nicht, Papa, sie waren aber nicht wie Blumen, die einem anderen gehören«, versicherte Squirrel, »sie lagen ganz allein am Boden, und niemand war dabei, und sie konnten verdorren.«

»Ja, ja, das glaube ich wohl, daß du sie niemandem weggenommen hättest, der dastand und sie festhielt«, sagte der Vater; »wenn du aber etwas so allein auf dem Boden liegen siehst und denkst, das könnte verderben, so kannst du es wohl aufheben, aber nicht gleich in deinen Kranz flechten, sondern du fragst dann jeden Menschen, den du kennst: ›Hast du was verloren?‹ So findet sich dann der Eigentümer, und du führst nicht solche Aufregungen auf beiden Stockwerken herbei. Sie, mein liebes Fräulein, tun wohl besser. Sie lassen nun den Kranz so, wie er ist, und steigen dagegen zum Herrn Professor hinauf, um ihm die Sache zu erklären und ihm mein Bedauern auszusprechen, daß es so gehen mußte; denn daß er die Blumen in der Form, wie sie in Ihrer Hand zu sehen sind, noch zu besitzen wünscht, ist mir nicht wahrscheinlich.« Fräulein Malwa erwiderte nichts mehr; mit einem leisen Achselzucken ging sie der Treppe zu.

Während der ganzen Zeit hatte Artur so still und stumm in einer Ecke gestanden, daß man ihn ganz vergessen hatte. Jetzt fiel Herrn Kastellers Blick auf die großen, ernsten Augen des Knaben. »Da ist ja Artur, unser Gast«, sagte er, dem Knaben freundlich auf die Schulter klopfend. »Das war kein guter Anfang, mein Freund, morgen wird es besser kommen. Du bist doch nicht traurig? Kein Heimweh oder so was? Komm, Squirrel, führe deinen neuen Freund hinunter zu einem friedlichen Domino, das wird euch bis zum Nachtessen hübsch die Zeit ausfüllen.«

Der Vorschlag gefiel Squirrel sehr. Sie ergriff Arturs Hand und rannte mit ihm die Treppe hinab nach der großen Kinderstube. Als Squirrel hier die Tür öffnete und Artur mit sich hineinzog, wußte dieser erst gar nicht, was er vor sich sah. Da stand er wie mitten in einem ungeheuren Bilderbuch. Von allen Wänden schimmerten in den lebhaftesten Farben hundert und hundert Bildchen von allen Größen und Formen zu ihm nieder. Das war Squirrels Reich, wo sie herrschte und alles so ordnete, wie es ihr gefiel. Nun hatte sie eine große Vorliebe für allerlei Bildchen, aber nur für die bemalten, und sowie ihr eines geschenkt wurde, und sie es recht angeschaut hatte, steckte sie eine Nadel hinein und spießte es an der Wandtapete fest.

»Gefallen dir meine Bilder? Welches gefällt dir am besten?« fragte sie den unbeweglich in Erstaunen dastehenden Artur, dem zumute war, als umgebe ihn ein Märchen, so blitzte es golden, rot und blau von allen Wänden nieder. Da schimmerten bunte Blumen und Früchte und rosige Engel, goldhaarige Löwen und weiße Schwäne auf blauen Seen, vielfarbige Vögel und Bäume mit goldenen Äpfeln, Rosen und Lilien und Kirschen und Beeren an grün flimmernden Zweigen. Artur stand völlig festgebannt von dem Anblick. »Siehst du, wie es dir gefällt!« sagte Squirrel befriedigt, »und Fräulein Malwa sagt, es sei ein Durcheinander und nicht geordnet und die Bilder gehörten nur in Bücher. Aber gelt, es ist schön! Weißt du, in den Büchern sieht man sie nicht immer, und man vergißt sie und weiß nicht mehr, wo sie sind, wenn man sie ansehen will, und hier kann man sie immer alle sehen, und der Papa sagt, meine Stube kann ich so haben, wie sie mir gefällt. Dir gefällt sie auch, das seh ich schon, gelt, du willst deine Stube auch so haben, sobald du wieder daheim bist?« Plötzlich kam ein so trauriger Ausdruck in Arturs Augen, daß Squirrel es gleich bemerkte. »So komm«, sagte sie, ihn bei der Hand nehmend, »wir wollen schnell Domino spielen, vielleicht macht es dich traurig, daß deine Stube nicht so ist; aber du kannst sie dann auch so machen, weil du nun weißt, daß man das tun kann.«

In der Ecke beim Fenster stand ein niedriger Tisch mit zwei so einladenden Stühlchen davor, daß Artur sich gern dahin führen ließ und nach Squirrels Anordnung auf eins derselben sich hinsetzte, während sie aus der Schublade des Tischchens das Dominospiel hervorholte und die Steine auszuteilen begann.

»Warum sagt man zu dir denn Squirrel?« fragte jetzt Artur, der sich schon lange über den Namen verwundert hatte.

»Dann kann ich auch fragen, warum sagt man zu dir Artur?« meinte Squirrel.

»Nein, das ist nicht dasselbe«, belehrte der Freund. »Siehst du, Artur ist ein Name, der steht im Kalender, und viele Leute heißen so; aber wie du, so heißt sonst niemand, und so ein Name steht gewiß nicht im Kalender.«

»Ja, jetzt fällt mir alles ein, ich will dir's erklären«, sagte Squirrel bereitwillig. »Siehst du, mein Papa war einmal in Rom und kannte ein Kind, das war so nett, daß er dachte, so müsse ich heißen. Und als er heimkam, sagte meine Mama, ich müsse heißen wie andere Kinder und auch wie meine Großmutter hieß. Dann bekam ich beide Namen, und das zusammen machte Squirrel.«

»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Artur so bestimmt, daß Squirrel zu näherem Nachdenken angeregt wurde.

»Dann weiß ich es vielleicht nicht mehr so recht; aber Papa erklärt es dir dann schon beim Nachtessen, wenn du es nicht verstehen kannst«, sagte sie beruhigend. »Jetzt wollen wir spielen.« Sie legte den ersten Stein hin. »Denk, Artur«, fuhr sie gleich wieder fort, »bei uns droben wohnt ein gräßlicher Herr Professor, er ist Menschenfeind, das habe ich heut von Fräulein Malwa gehört. Was ist ein Menschenfeind? Weißt du's?«

»Ich denke, einer, der aller Menschen Feind ist, der keinen leiden mag«, erläuterte Artur.

»Ist er denn ein Feind, so wie in der Schlacht, und tötet er die Menschen, wenn er sie antrifft?« forschte Squirrel weiter.

»Nein, das glaube ich nicht, das darf er ja nicht«, sagte Artur versichernd. Aber Squirrel schien nicht überzeugt zu sein.

»Ich darf manchmal auch etwas nicht tun, und dann tue ich's doch; vielleicht macht er's auch so«, meinte sie mit einem kläglichen Seufzer. »Denke, Artur, wir können ihm jeden Augenblick auf der Treppe begegnen, wenn er von oben herunterkommt, und er hat einen furchtbaren Bart.« Jetzt legte Squirrel den zweiten Stein hin; aber sie war noch gar nicht fertig mit dem neuen Freund; da war noch so vieles zu fragen: »Wie alt bist du, Artur?« war die nächste Frage.

»Zwölf Jahre bin ich gewesen, im Herbst werde ich dreizehn.«

»Oh, das ist herrlich, dann bist du bald erwachsen. Ich bin nur acht, und im Herbst werde ich neun. Und siehst du, weil Fräulein Malwa einmal einen Buben gekannt hat, der Adolf hieß, und weil der schon so gut die Grammatik lernte, als er neun Jahr alt war, darum sagte sie, ich sei dumm und bös, weil ich nichts kann in der Grammatik, und die Grammatik ist das Schrecklichste von allem, was es gibt.«

Jetzt ertönte die Tischglocke. Schnell wurden die ungebrauchten Dominosteine wieder eingepackt; dann stiegen die beiden wieder dem bekränzten Zimmer zu. Am Tisch war nach langer Zeit zum erstenmal der Platz, wo sonst die Mutter gesessen hatte, Squirrel gegenüber, wieder besetzt; da saß nun Artur. Das war für Squirrel eine Neuigkeit, die sie sehr in Anspruch nahm. Während alle andern sich in Tätigkeit gesetzt hatten, saß sie, den Löffel in der Hand, und betrachtete aufmerksam, wie Artur so manierlich und ohne sich zu besinnen, hintereinander seine Suppe aß. Da ihr Interesse an der Mahlzeit durch dieses Gericht noch nicht geweckt war, konnte sie um so ungestörter die Bewegungen ihres Freundes verfolgen.

»Squirrel! Squirrel!« sagte der Papa plötzlich laut mahnend. »Nun ißt jedermann seine Suppe und stellt nicht Betrachtungen an bis zu dem Augenblick, da man sagen kann: ›Nun ist die Suppe kalt, ich kann sie nicht mehr essen‹.« Der doppelte Aufruf brachte Squirrel plötzlich auf neue Gedanken.

»Denk, Papa«, sagte sie eifrig, »Artur will gar nicht glauben, daß die beiden Namen, die ich habe, dann zusammen Squirrel ausgemacht haben.«

»Das begreif ich, wenn du die Sache so erklärt hast. Weißt du das nicht besser, Squirrel?« fragte der Vater.

»Erzähle es nur, Papa, dann weiß ich's gleich wieder«, versicherte die Tochter, »ich habe es nur vergessen.«

»Sieh, Artur, das ging so zu«, begann Herr Kasteller die Erzählung. »Als ich als junger Mann in Rom war, hatte ich dort eine kleine Freundin, die Tochter meiner Hauswirtin, ein kleines zierliches Mägdlein, das hieß Quirita. Als ich dann nach einigen Jahren eine Frau hatte, später auch eine Tochter, da sagte ich: ›Diese soll Quirita heißen, wie meine kleine Römerin‹. Aber meine Frau sagte: ›Sie soll einen guten deutschen Namen haben und zwar den ihrer Großmutter, sie soll Elsa heißen‹. Da machten wir aus, so soll sie beide Namen haben. Damit nun keiner verloren gehe, wollten wir sie Elsa Quirita nennen. Wie sie nun so weit war, den Leuten zu sagen, wie sie heiße, da machte sie aus Elsa Quirita Squirrel, und keine Macht brachte sie dazu, ihren Namen anders auszusprechen. So blieben wir dabei; denn der Name hatte einen Sinn für sie, da es eine Sprache gibt, in der Squirrel Eichhörnchen heißt, und unsere Squirrel sich gerade so wie ein Eichhörnchen in lauter Sprüngen bewegte. Ich finde zwar, man könnte nun einen der echten Namen zu Ehren bringen und nach der Mutter Anordnung dich von jetzt an Elsa nennen.«

»Nein, nein, Papa«, schrie Squirrel in völliger Angst auf, »dann bin ich's ja gar nicht mehr selbst, oh, dann weiß ich gar nicht mehr, wer ich bin.«

»Sprich doch nicht so ohne Sinn«, sagte Fräulein Malwa tadelnd, »du wirst wohl ganz dieselbe bleiben, wie man dich auch nennen wird.« Aber Squirrel schrie angstvoll den Papa noch einmal an.

»Nur nicht gleich ein Zetergeschrei, Squirrel«, mahnte der Vater. »Ich glaube aber wirklich, liebes Fräulein, wir müssen für einstweilen noch bei dem gewohnten Namen bleiben; es kommt mir vor, als ob die große Veränderung etwas Unheimliches für das Kind hätte. Sie wissen ja, die Kinder hängen fest an dem Gewohnten. Ich glaube eigentlich selbst, man sollte ihnen auf keinem Gebiete das alte Bekannte plötzlich entreißen, um es durch ein Neues, Unbekanntes zu ersetzen. Entweder ist es ihnen unheimlich und fremd, oder sie werden selbst dadurch unstet und halten an nichts mehr fest. Und nun gar den eigenen Namen! Nein, sie soll ihn noch behalten. Einmal wird Squirrel eine junge Dame werden; dann wollen wir sehen, ob sie unter einem andern Namen sich zurechtfinden kann. Und nun wird Frau Suse Artur nach seinem Schlafgemach führen, wo er, wie ich hoffe, recht gut ausruhen wird. Morgen wird er dann auch der Mama vorgestellt werden. Dir, Squirrel, ist zu wünschen, daß morgen ein ruhigerer Tag für dich anbreche, als der heutige, damit unser Gast nicht auf die Vermutung komme, Geschrei und Aufregungen machten einen Hauptbestandteil unseres Lebens aus.«

Artur hatte heute so viel Neues erlebt, daß er jetzt, nachdem Frau Suse ihm in seiner Schlafstube alles zurechtgestellt und ihn dann verlassen hatte, mit weit offenen Augen auf seinem Bette sitzend, noch einmal alles überdenken mußte. Zuletzt kamen ihm noch Herrn Kastellers Worte in den Sinn, daß er morgen auch der Mama vorgestellt werden sollte. Nun stieg das Bild der eigenen Mutter vor seinen Augen auf. Schnell faltete er seine Hände und betete laut, so lange und so von Herzen, daß Frau Suse, die ihre Stube nebenan hatte, für sich sagte: »Wenn dieses Büblein auch seine Eltern verloren hat, sie haben ihm ein gutes Erbteil hinterlassen: das kennt seinen Vater im Himmel, der keines seiner Kinder vergebens um Trost und Hilfe bitten läßt.« an ihm hatte. Sie freute sich auch, sein sinniges Wesen wahrzunehmen, da er ihr nun von seinem Leben im stillen Pfarrhaus bei Vater und Mutter erzählte. Sie entließ dann die Kinder bald, nahm sich aber vor, den Jungen öfters zu sich kommen zu lassen, um sich mit ihm zu unterhalten. Eben dachte sie bei sich, ob ihr Mann wirklich recht haben könnte mit dem Anbruch einer neuen Zeit der Stille und des Friedens in ihrem Hause, als plötzlich ein fürchterliches Gepolter ertönte, noch mehr, immer mehr, es war, als sollte das Haus unter Poltern und Gekrach zusammenstürzen, so dröhnte es durch die hohen Gänge. »Wo ist's denn? Was ist's denn?« hörte sie Fräulein Malwa in großem Schrecken ausrufen. Aufgeregtes Hin- und Herlaufen ließ sich auf dem Gang und treppauf, treppab vernehmen; dann ertönte von neuem das entsetzliche Gepolter, von einem dumpfen, unterirdischen Geschrei begleitet. Fräulein Malwa war die Treppe hinaufgestürzt, Frau Suse die Treppe hinunter. »Welch ein Anfang einer stillen Zeit!« seufzte Frau Kasteller auf ihrem Ruhebett, von dem sie sich nicht erheben konnte, um, wie sie gewünscht hätte, auch nachzusehen, was geschehen war.

Artur kam aus der Kinderstube herausgestürzt; er lief erschrocken hinauf und dann wieder herunter. Squirrel war nirgends zu sehen. »Es ist Squirrel, glaube ich«, rief Artur hinauf, als die dumpfen Schreie wieder ertönten, wie aus einem vermauerten Loch im Treppenhaus.

»Ich weiß wo! Ich weiß wo!« rief Frau Suse und kam wieder die Treppe herabgelaufen.

Gleich nachher ertönte Squirrels Stimme in befreiter Weise, jedoch mit verdoppeltem Schreien und Schluchzen, nun das Kind auf die ausgestandenen Schrecken zurückschaute. Frau Suse besänftigte die Aufgeregte mit vielerlei Trostworten, besonders damit, daß der Schrecken ja nun vorüber sei. Aber Squirrel rief immer wieder: »Wenn ich doch erstickt wäre!« und im Rückblick auf diese Möglichkeit schrie sie neuerdings auf.

Jetzt kam Fräulein Malwa entgegengelaufen. »Was ist denn los? Was hast du gemacht?« rief sie halb in Schrecken und halb in Ärger aus, nun sie sah, daß Squirrel mit unversehrten Gliedern herankam.

»Ja, ja, wenn Sie nur wüßten, wie es war«, schluchzte Squirrel. »Ich wollte nur die Treppe hinunter, und auf einmal kam der Herr Professor heruntergelaufen, und der alte Schrank stand offen, und dann, oh, oh!« schrie Squirrel in der schrecklichen Erinnerung auf.

»Dann hat er dich in den Schrank eingesperrt«, ergänzte Fräulein Malwa. »Du wirst dich wohl danach aufgeführt haben, du hast ihn natürlich beleidigt.«

»Er hat mich gar nicht eingesperrt«, rief Squirrel, noch einmal aufschluchzend im Schmerz des Erlittenen, »ich habe ja den Herrn Professor –«

»Was! Du hast den Herrn Professor eingesperrt? Du bist doch ein schreckliches und unbegreiflich freches Ding. Wie hast du das gemacht?«

Diese Vorstellung ernüchterte Squirrel plötzlich vollständig; der Schrecken wich gänzlich aus ihrem Gesicht. »Ja, das wäre schön, wenn ein Herr Professor in einem Schrank so täte, wie ich getan habe«, sagte sie in Selbsterkenntnis.

»Ach was, kein Mensch versteht, was du berichtest«, sagte Fräulein Malwa geärgert. »Komm zur Mutter herauf, sie will wissen, was mit dir ist.«

Squirrel gehorchte. Hier kam nun klar zutage, was sich ereignet hatte. Auf dem Absatz zwischen den beiden Treppen stand ein uralter hoher Schrank, in den Frau Suse gern alle wenig gebrauchten Dinge hineinsteckte, in dem sie eben herumgekramt und dessen feste Tür sie nur angelehnt hatte. Als Squirrel den Herrn Professor hinter sich herlaufen hörte und er ihr nahe kam, flog sie in ihrem Schrecken vor ihm in den Schrank hinein und zog die Tür an sich. Das feste Schloß klappte zu, und Squirrel war im engen dunkeln Raum eingeschlossen. Ein fürchterlicher Schrecken befiel sie, niemand werde sie mehr finden, in dem dunkeln Loch müsse sie nun ersticken. Sie stieß in Verzweiflung mit ihren Stiefeln an die Tür, was in den hohen Gängen ein ungeheures Echo erweckte. Dazu schrie sie aus allen Kräften ohne Unterlaß; denn ihr Schrecken wurde immer größer, bis Frau Suse kam und sie erlöste.

»Warum machst du denn solches Zeug, Squirrel?« sagte die Mutter, als die Erzählung zu Ende war. »Du hast dich ja gar nicht zu fürchten vor dem Herrn Professor, wenn du nichts Böses getan hast; was sollte er dir denn zuleide tun? Er hätte dich wohl gar nicht beachtet!«

»O ja, Mama, vielleicht weißt du's nur noch nicht«, entgegnete Squirrel ernsthaft, »der Herr Professor ist ein Menschenfeind, Fräulein Malwa weiß es.«

»Das hat wohl Fräulein Malwa gar nicht so gemeint, wie du's verstanden hast«, fiel schnell die Mutter ein, und schnitt damit den Ausbruch einer großen Erregtheit ab, die sich auf Fräulein Malwas Gesicht zeigte. »Geh du nun zu deinem neuen Spielgenossen, der ja ganz allein ist; ich will selbst von Fräulein Malwa hören, was sie von dem Herrn Professor weiß.«

Squirrel ging. Unten im Kinderzimmer saß Artur, den Kopf auf die Hand gestützt; er schaute unverwandt nach einem der Bildchen an der Wand.

»Welches gefällt dir so gut?« fragte Squirrel eintretend und Arturs aufmerksame Betrachtung wahrnehmend.

»Das mit den Bäumen«, sagte er. »So war es gerade bei uns. So standen die Tannen und die Lärchenbäume bis hinauf, und von oben kamen die Bäche herunter und rieselten so schön. Dann war es wieder Frühling. Oh! und dann hörte ich es so rauschen und rieseln vom Garten aus, daß ich hinauslaufen mußte, zum Lärchenhügel hinauf, oh, das war so schön!« Artur legte seinen Kopf auf den Arm und stöhnte leise.

»Du mußt nicht weinen, Artur, siehst du, ich kann schon machen, daß du das hier auch hören kannst«, sagte Squirrel beschützend, »sei nur nicht traurig! Wart nur, du wirst schon noch fröhlich werden, glaube mir's nur!« Jetzt schleppte Squirrel ihr großes Bilderbuch herbei. »Sieh, hier kannst du noch viele schöne Bilder sehen und die Geschichten dazu lesen. Wart nur, ich zeige dir gleich eines.« Mit Geschäftigkeit blätterte Squirrel hin und her. »Hier«, rief sie erfreut, »hast du das auch schon gesehen?«

Artur hatte seine Tränen weggewischt, er schaute auf das Blatt. »Nicht auf einem Bild, nein«, entgegnete er; »aber so war es nun gerade bei uns im Herbst. Jeden Abend trieben die Buben, die auf den Wiesen die Kühe gehütet, diese dann heim, und jede hatte eine solche Glocke. Oh, das tönte so schön, so schön!«

»Siehst du, jetzt wirst du schon wieder traurig«, fiel Squirrel ein, »du mußt schnell etwas anderes ansehen, das dich nicht traurig macht; such dir etwas! Sieh, ich habe nun etwas Wichtiges vor, kannst du ein wenig allein sein?«

»Ja, das kann ich schon, ganz gut«, versicherte Artur, sich weiter in das schöne Buch vertiefend.

Squirrel verschwand. Auch am Nachmittag hatte Squirrel dringende Geschäfte. Um aber zu verhüten, daß Artur sie zu sehr vermisse, brachte sie ihm erst drei andere Bücher, ein großes Kugelspiel und eine Musikdose herbei, damit er sich immer wieder in einer anderen Art vergnügen könne. Endlich erschien Squirrel wieder freudestrahlend. »Jetzt komm mit mir, Artur«, rief sie ihm entgegen, »nun sollst du gleich sehen, ob man bei uns das Heimweh haben muß, komm nur schnell!«

Artur folgte ihr erwartungsvoll.

Sie führte ihn die Treppen hinauf. An der großen Glastüre oberhalb der ersten Treppe ging sie, ganz leise auf den Zehen trippelnd, vorüber. »Da drinnen wohnt der Herr Professor«, sagte sie geheimnisvoll, »weißt du, der Menschenfeind, gib recht acht, daß deine Schuhe nicht so krachen!« Nun ging es wieder eine hohe Treppe hinauf, dann kam eine schöne Estrichdiele, so groß, daß man recht Lust bekommen konnte, darauf herumzujagen. Aber Squirrel hatte das gar nicht im Sinn. »Siehst du, dort geht eine lange Treppe noch viel höher hinauf«, zeigte sie ihrem Freunde mit ausgestrecktem Arm, »dort mußt du aber nicht hinauf, nur ich allein, und du kannst hierbleiben. Du mußt dich nur dort auf die kleine Kiste setzen und ganz ruhig sitzen bleiben, dann kommt's auf einmal.«

»Was kommt dann?« wollte Artur wissen; aber Squirrel war schon weit oben auf der Treppe und gab keinen Bescheid mehr. Artur setzte sich gehorsam auf die Kiste. Es kam nichts.

Als er so ganz still weiter saß, schrie endlich Squirrel von oben herunter: »Hörst du denn nichts?«

»Nein«, rief Artur zurück, spitzte aber die Ohren. »Ich glaube, die Dachtraufe tropft, das höre ich«, rief er wieder. Das Tropfen wurde stärker; nun tönte es so, als tropfte ein wenig Wasser zu anderem Wasser. Artur verwunderte sich, daß es so seltsam hereinregne droben; er blieb ganz still.

»Hörst du denn immer noch nichts?« rief Squirrel jetzt ungeduldig.

»Nichts Besonderes, vielleicht regnet's ein wenig; das hör ich.«

»So wart nur, jetzt kommt's«, schrie Squirrel verheißend.

Plötzlich – hu! hu! Artur floh in die hinterste Ecke der Diele. Ein voller Wasserstrom stürzte über die Treppe nieder und spritzte hoch auf von den Stufen. Der hölzerne Zuber kam mit Gepolter nachgerollt.

»Hat's dich getroffen?« rief Squirrel erschrocken herunter.

»Nein, aber woher kam denn das Wasser?« tönte die Antwort ganz fern aus der Ecke hervor.

Squirrel stieg nun ganz behutsam die erste Treppe hernieder. Unten lief das Wasser über die Diele hin wie ein ruhiges Bächlein. »Komm, wir gehen nun zur Suse hinunter, die macht dann alles wieder in Ordnung. Komm nur aus der Ecke hervor«, sagte Squirrel ermunternd, »es ist nichts Furchtbares, unten erzähl ich dir dann schon, was es war.«

Jetzt kehrten die beiden zusammen wieder nach der Kinderstube zurück, wo Frau Suse gleich von dem Vorfall benachrichtigt wurde. Sie stieg eilends nach der Diele hinauf. Gleich darauf wurden die Kinder zu Tisch gerufen; es war spät geworden während der Unterhaltung auf dem Dachboden. Schon war Herr Kasteller seit einiger Zeit nach Hause gekommen; er hatte sich noch mit seiner Frau unterhalten und von ihr vernommen, in welcher Weise die stille Zeit am Morgen begonnen hatte.

»Das hängt nun weiter nicht mit dem Gast zusammen«, meinte Herr Kasteller, »auch ohne den hätte Squirrel ihre Tat ausführen können, da sie nun einmal den unbegründeten Schrecken vor dem Professor hat; den hat Fräulein Malwa bei ihr mit dem Namen Menschenfeind erweckt.«

»Wie sie nur zu diesem Beinamen kommt? Sieht denn der Professor so feindselig aus?« fragte Frau Kasteller.

»Nicht gerade; etwas seltsam Abweisendes hat er schon«, meinte Herr Kasteller. »Daß er Menschenfeind sei, hat seine Haushälterin erfunden und Fräulein Malwa mitgeteilt. Diese hat unglückseligerweise das Wort vor Squirrel ausgesprochen, da sitzt es nun fest. Ich habe noch kein Wort mit ihm gewechselt, seit er im Hause ist; das heißt, er nicht mit mir. Er weicht jeder Annäherung aus. Ganz sichtlich geht er mir aus dem Wege, wenn ich versuche, an ihn heranzukommen, um einmal ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Mir ist es lieb, wenn wir im Hause in keiner Weise an ihn herankommen, da er so abweisend ist.«

Herr Kasteller ging hinüber, sich mit den Kindern zu Tisch zu setzen. Sie sollten ihm nun erzählen, wie sie ihren Tag zugebracht hätten, und ob Artur sich gut in seinem Hause eingelebt habe. In diesem Augenblick wurde vom Herrn Professor eine Botschaft gesandt; Fräulein Malwa ging, sie in Empfang zu nehmen. Sie trat sehr aufgeregt wieder herein. »Der Herr Professor läßt Herrn Kasteller bitten, er möchte Ordnung in seinem Hause schaffen. Ohne daß nur der leiseste Regen gefallen sei, habe es von der Decke im Zimmer des Herrn Professors so zu tropfen begonnen, daß ihm Schriften und Bücher davon verdorben seien.« Sie warf dabei einen Blick auf Squirrel, der nicht undeutlich verriet, wo sie die Quelle des Unheils vermutete.

»Weißt du etwas von diesem Vorgang?« fragte der Vater ernst, zu Squirrel gewandt.

»Ja, freilich, Papa; aber daß es so stark kam, habe ich nicht mit Fleiß gemacht; aber wenn es nicht so gekommen wäre, so wäre es ganz so gewesen, wie es mußte, und du hast ja gesagt, ich müsse machen, daß der Artur kein Heimweh bekomme. Nur das habe ich gemacht, sonst gar nichts«, versicherte Squirrel.

»Ich versteh kein Wort. Erzähl mir klar und von Anfang an, was du getan hast«, befahl der Vater.

Nun kam der Vorgang deutlich zutage. Squirrel wollte dem Artur die Freude bereiten, daß er die Bäche seiner Heimat zu Tal rinnen höre. Suse mußte helfen. Sie hatte einen großen Zuber mit Wasser gefüllt, der stand auf einem Koffer. Auf dem Boden stand ein anderes leeres Gefäß. Das volle war aber ganz künstlich so schräg gestellt, daß immer etwas Wasser in das leere heruntertropfte. Nach und nach sollte Squirrel ein wenig mit den Händen nachhelfen, so hatte Frau Suse ihr gesagt. Alles ging nun ganz gut; aber wie auch Squirrel mit den Händen nachhalf, Artur wollte immer noch nicht in Entzücken geraten über das bekannte Bachrauschen. Nun wußte Squirrel Rat. Es war zu leise, das Rauschen mußte viel stärker sein. Sie stemmte sich fest gegen die Kaminwand und stieß mächtig mit dem Fuß gegen den Zuber, damit das Wasser etwas reicher herausquille. Jetzt überschlug sich das Gefäß, und die ganze Wassermasse kam auf einmal herunter.

»Wer wird aber auch Wasserbäche nachmachen wollen! Was ist das für eine wahnwitzige Idee von dir, Squirrel«, rief der Vater aus, als sie mit ihrer Beschreibung zu Ende gekommen war. »Deine Absicht war ja gut, aber solch schreckliches Zeug mußt du nicht erfinden. Ich muß Sie bitten, Fräulein Malwa, daß Sie hinaufgehen und in meinem Namen den Herrn Professor um Entschuldigung bitten, ihm auch erklären, wie die Sache gekommen, und daß ich gern zu aller Entschädigung, die er wünsche, bereit sei.«

Fräulein Malwa ging und brachte den Bericht zurück, der Herr Professor habe sich nicht gezeigt und ihr nur durch Frau Monrad sagen lassen, das einzige, was er von Herrn Kasteller wünsche, sei, daß dieser ähnliche Vorfälle in seinem Hause verhüten möge.

Als am andern Morgen Herr Kasteller sich wieder zum Weggehen rüstete, schärfte er Squirrel nochmals ein, für Artur eine unterhaltende Gesellschafterin zu sein, aber keine solchen nassen Freuden mehr zu erfinden. »Gar nichts derartiges mehr«, fügte er ermahnend hinzu. »Ihr bleibt hübsch im Trockenen zusammen und spielt in einer Weise, daß andere auch im Trockenen bleiben können.«

Squirrel bezeugte ernstlich, heute würde es ganz anders sein. Wirklich sollte es heute noch ganz anders kommen, als es gestern war. Bei seiner Heimkehr am Abend konnte Herr Kasteller nicht einmal ruhig zum Zimmer seiner Frau gelangen, was sonst täglich beim Heimkommen sein erstes war. Heute stürzte ihm Fräulein Malwa schon auf der Treppe entgegen: »Es ist ganz entsetzlich, Herr Kasteller, und wird immer ärger!« rief sie ihm in höchster Aufregung entgegen. »Da läßt der Herr Professor sagen, Sie möchten doch gleich zu ihm heraufkommen, um den Höllenlärm mitzugenießen, der über seinem Kopfe tobe. Und das alles ist wieder von Squirrel veranstaltet, von diesem schrecklichen Kinde, das kein Mensch zähmen kann. Es fürchtet sich vor nichts, alle Drohungen gleiten ab an ihm wie Öl vom Wasser. Freilich, natürlich, weil man sie eben nie ausführen kann.«

»Da haben Sie ganz recht, liebes Fräulein, leere Drohungen können keinen Eindruck machen«, bestätigte Herr Kasteller. »Ich bin überhaupt nicht für Drohungen; dagegen werde ich entschieden eine Strafe finden, die Squirrel fürchtet, das weiß ich, sie wird den Professor nicht mehr belästigen. Was hat sie denn jetzt wieder angestellt? Da kommt sie, sie soll es mir selbst erzählen, sie weiß am besten, wie sie diesen neuen Spektakel herbeigeführt hat.«

Squirrel kam ein wenig zerknirscht heran. »Es ist gewiß nichts Nasses, Papa, gewiß nicht, sie waren alle im Trockenen und der Herr Professor auch«, sagte sie, doch ein wenig kleinlaut.

»Komm, erzähle mir selbst, was du getan hast«, sagte der Vater, das Kind in die Stube hineinführend, wo Artur sehr erschrocken aussehend in einer Ecke saß.

Squirrel hatte sich schon wieder etwas erholt; denn des Vaters Angesicht sah nicht so fürchterlich aus, wie Fräulein Malwa gedroht hatte. Er hatte sich gesetzt. Sie stellte sich vor ihn hin: »So, Papa, nun will ich dir alles erzählen«, begann sie, »dann kannst du sehen, warum es so kam. Weißt du, Artur wollte alle Augenblicke wieder traurig werden und das Heimweh bekommen; aber ich hatte schon etwas mit den Gärtnersbuben vorbereitet, ich brauchte sie nur zu holen. Und wie wir nun mit dem Domino fertig waren, schaute Artur schon wieder so traurig an die Wand, weil er dort die Bäume sieht, die sind wie die seinigen daheim. Da habe ich schnell die vier Buben geholt, und sie brachten auch noch vier Freunde mit. Dann ging ich mit ihnen auf die obere Diele, und Suse kam und half mir. Sie hatte viele alte Glocken gesucht, von den Türen, und auch eine große alte Hausglocke war dabei und für mich ein Stecken mit einer Schnur daran, ich war der Hirtenbub. Dann haben wir jedem eine Glocke um den Hals gebunden, und Artur mußte auf der unteren Diele sitzen und warten; er wußte gar nicht, was nun kam. Dann sind wir die Treppe heruntergekommen, weißt du, Papa, so wie die Kühe von der Bergweide und hinterdrein der Hirtenbub. Es klang so schön, alle die Glocken die Treppe herunter. Artur machte ganz erstaunte Augen. Darum sagte ich unten: Jetzt könnt ihr hier auf der schönen Weide ein wenig grasen, weil da so schön Platz war und auch damit Artur noch ein wenig die schönen Glocken hören konnte. Da kam es den Buben in den Sinn, die Kühe auf der Weide nachzuahmen, und auf einmal machten sie furchtbare Sprünge und stießen die Köpfe aneinander, weißt du, das waren die Hörner, und die Glocken schallten so laut durcheinander, und dann kletterten sie auf die hohen Koffer hinauf, weißt du, so auf die Felsen, und sprangen gegeneinander; denn dort droben waren die Kühe wild geworden, und eine sprang über die andere herunter. Oh, es war so furchtbar lustig, was sie taten!«

Squirrel brach in lautes Lachen aus, die Erinnerung an diese Sprünge war zu mächtig in ihr.

»Ich begreife den Herrn Professor«, sagte Herr Kasteller, der mit einiger Mühe sein ernsthaftes Gesicht während der Schilderung beibehalten hatte. »Hast du denn auch keinen Augenblick nachgedacht, was die Sprünge und das Glockengeschell für einen Eindruck auf den Herrn Professor machen mußten, der seine Stube gerade unter der Diele hat?« fragte er jetzt, als Squirrel sich wieder beruhigt hatte.

»O nein, den hatte ich ganz vergessen, es war so furchtbar lustig anzusehen! Oh, Papa, wenn du nur dabei gewesen wärest!«

»Nein, das wünsche ich nun wirklich nicht«, bezeugte der Vater, »und siehst du, Squirrel, obschon du wieder etwas Gutes für Artur tun wolltest, so hast du dem Herrn Professor neuerdings einen solchen Mordskandal über dem Kopfe gemacht, daß du ihn dafür um Verzeihung zu bitten hast und zwar diesmal du selbst, nicht Fräulein Malwa, wie gestern.«

Squirrel schaute in unverkennbarem Schrecken den Vater an. Jetzt kam Artur aus seiner Ecke herbei, und mit einer reuigen Missetätermiene stellte er sich vor Herrn Kasteller hin und sagte: »Es ist mir leid, auch ich habe stark gelacht, auch ich habe nicht an den Herrn Professor gedacht.«

»Nein, nein, Artur, so ist es nun nicht gemeint«, sagte Herr Kasteller sehr freundlich, »du hast die Sache überhaupt nicht angestellt. Daß du lachen mußtest, ist ja begreiflich, ich hätte wahrscheinlich auch lachen müssen.«

»O ja, Papa, du hättest furchtbar lachen müssen«, bestätigte Squirrel schnell, »denke nur die Sprünge und das schreckliche Glockengeschell und die rasenden Kühe.«

»Nun schweigst du, kleiner Unfug, und sofort, bevor du noch dein Nachtessen einnimmst, gehst du zum Herrn Professor hinauf und bittest ihn um Verzeihung«, befahl der Vater.

»Oh, Papa, das kann ich gewiß nicht tun! Oh, das kann ich nicht«, wimmerte Squirrel.

Aber der Vater blieb unerbittlich fest. »Nein, du gehst, Squirrel, es hilft alles nichts, und zwar gehst du sogleich!« befahl er.

»Darf ich nicht für sie gehen und um Verzeihung bitten, weil ich doch dabei war?« fragte Artur schüchtern.

»Nein, Squirrel muß selbst gehen, und nun besinne dich nicht mehr! Komm, hier geht's hinauf.«

Herr Kasteller machte die Tür auf und führte Squirrel zur Treppe hin.

»Oh, Papa, ich komme vielleicht nie mehr zurück, leb wohl!« stöhnte Squirrel kläglich.

»Doch, doch, du kommst schon wieder, dein Nachtessen wartet auf dich. Jetzt nur frisch!« ermunterte der Papa.

Nun zog er sich zurück, Artur mit sich nehmend; denn solange Squirrel noch jemand da hatte, würde sie wohl immer noch versuchen, die gefürchtete Strafe aufzuschieben. Als die Zimmertür sich schloß und Squirrel allein dastand, schaute sie die Treppe hinauf und seufzte tief auf wie einer, der eine lange schwere Büßerfahrt vor sich hat. Auf der vierten Stufe setzte sie sich nieder und begann nachzudenken, was sie nun tun sollte, wenn der Herr Professor sie einsperren würde. Das wäre doch schrecklich. Und dazu in einen Ort, den sie gar nicht kannte. Oh, der fürchterliche Herr Professor! Was sollte sie nur tun. Wenn sie noch so laut schreien würde, Suse könnte sie nicht hören. Oh, wie schauderhaft! Squirrel mußte ein wenig über ihre Lage in dem unbekannten Versteck weinen. Endlich stand sie wieder auf und stieg mehrere Stufen weiter. Dann setzte sie sich wieder hin. Jetzt fing sie an nachzudenken, was sie denn dem Herrn Professor getan hatte, daß sie zu dieser großen Strafe gekommen war: zuerst das Wasser, das dem Herrn Professor vielleicht auf den Kopf getropft war; dann der Lärm, daß er vielleicht nicht mehr lesen konnte – aber als sie nun an den Lärm dachte und die Sprünge der tobenden Bergkühe vor sich sah, mußte sie auf einmal hell auflachen. In diesem Augenblick öffnete sich oben die Tür der Wohnung; Frau Monrad trat heraus. Squirrel legte nun den Rest der Stufen zurück, und vor die Frau hintretend sagte sie:

»Ist der Herr Professor etwa schon im Bett?«

»Nein, das ist er nicht, erst gehören die kleinen Unheilstifter dahin und andere unnütze Leute, lange bevor die Professoren dran kommen. Was willst du mit dem Herrn Professor?« fragte Frau Monrad dagegen.

»Wollen Sie ihm sagen, es sei mir leid mit dem Wasser und mit dem Lärm?«

Squirrel hatte schon den Rückweg angetreten; aber Frau Monrad hielt sie fest: »Nein, nein, so geht's nicht«, sagte sie, »gehe nur selbst hinein und sage, was du zu sagen hast. So brennend leid wird's dir nicht sein, wenn du noch auf der Treppe lachen kannst wie eine Rohrdommel. Da spazier hinein.« Jetzt war's aus, Squirrel mußte hinein.

Wie mußte es ihr da drinnen ergehen, wenn es schon da draußen so tönte! Frau Monrad hatte geklopft und dann die Tür zum Zimmer ihres Herrn weit aufgemacht. »Es ist Besuch für Sie da, Herr Professor«, rief sie hinein und ging.

»Sie wissen, daß ich keinen Besuch annehme«, rief der Herr zurück, so grimmig, daß Squirrel erbebte. Sie blieb regungslos an der Türe stehen. Jetzt schaute der Herr Professor auf. Er hatte einen dichten schwarzen Bart und breite schwarze Brauen über den Augen, die jetzt verwundert auf Squirrel blickten. »Bist du der Besuch, Kleine?« fragte er mit ganz veränderter Stimme.

»Ja, es ist mir leid, daß ich das Wasser und den Lärm über Ihrem Kopfe gemacht habe«, sagte Squirrel so schnell als möglich und hatte schon den Rückweg angetreten.

»Halt! Halt! Wir sind noch nicht fertig!« rief der Herr Professor. »Komm hier zu mir her. So, und nun erkläre mir, warum erfindest du so ungewöhnliche Unterhaltungen? Hast du Freude daran, die Leute zu erschrecken?«

»Nein, nicht darum, aber weil der Artur das Heimweh hatte«, entgegnete Squirrel.

»Sonderbares Mittel gegen Heimweh«, sagte der Professor. »Ist Artur dein Bruder? Wenn er daheim ist, warum hat er denn Heimweh?«

»Artur ist gar nicht mein Bruder, er ist unser Gast«, berichtigte Squirrel. »Es ist Artur Stein aus Lärchenhöh in der Schweiz. Und weil sie ihm seine Heimat genommen haben und er nicht mehr heimgehen kann, nie mehr, und weil er nun keine Heimat mehr hat, darum hat er das Heimweh und ist traurig. Und der Papa hat mir gesagt, ich soll ihm Freunde machen, daß er das Heimweh vergißt, und ich wußte schon, was ihm Freude macht, weil er das alles daheim gehört hat.«

Der Herr Professor hatte sehr nachdenklich zugehört: »Nun fange ich an, dein Tun etwas zu begreifen«, sagte er. »Nun hör, Kleine, da du alles um deines Freundes willen getan hast, so steht es ihm an, daß er mir auch einen Besuch macht; er hat sich zu entschuldigen über den Lärm, das sag ihm, und ich erwarte ihn morgen.«

»Ja, ich will's tun. Gute Nacht, Herr Professor«, sagte Squirrel jetzt eilig, streckte ihre Hand hin, zog sie dann schleunig wieder zurück, als könnte sie nicht schnell genug fortkommen, und rannte davon. Jetzt war sie unten. Ganz gemütlich saß der Papa am Tisch, Artur neben ihm, sie hatte sich nur an ihren Platz zu setzen.

»Na, und wie ist's gegangen?«, fragte der Vater, als Squirrel mit großem Behagen sich auf ihrem Stuhl breit machte und in stillem Vergnügen von Papa zu Artur und dann über den ganzen Tisch hin sah.

»Oh, gut!« antwortete sie tief aufatmend; »aber ich bin so froh, daß ich wieder daheim bin, zuletzt kam es mir wieder in den Sinn, daß er ein Menschenfeind ist.«

»Daß doch diese lächerliche Idee dir nicht mehr aus dem Kopfe zu bringen ist«, sagte der Vater, »ich hoffte, du würdest vernünftig, wenn du den Herrn näher siehst; war er denn so schrecklich?«

»Nein, Papa; aber wie es mir in den Sinn kam, bin ich schnell fortgelaufen.«

»Erzähle mir jetzt, wie es ging, das ist doch etwas Wirkliches; von deiner Einbildung wollen wir nichts hören«, sagte der Vater bestimmt. Squirrel erzählte nun, wie es ihr ergangen war, und atmete zwischendurch immer wieder mit einer Erleichterung auf, als wäre sie eben aus dem Rachen eines Löwen gerettet worden. »Jetzt kommt noch das Ärgste«, setzte Squirrel auf einmal hinzu, als Herr Kasteller schon aufstehen wollte, um seiner Frau Bericht zu erstatten: »Der Herr Professor hat noch befohlen, daß Artur morgen auch zu ihm komme; denn er habe auch Ursache, um Entschuldigung zu bitten.«

»Ja, das will ich schon tun«, sagte Artur willig.

»Er tut dir nichts, du mußt dich nicht fürchten«, meinte Squirrel nun tröstend, da sie es überstanden hatte.

»Ein sonderbarer Herr muß er doch sein, daß er das verlangt«, bemerkte Herr Kasteller kopfschüttelnd und ging nun zu seiner Frau hinein, um das Vorgefallene mit ihr zu besprechen. »Wie kommst du denn aus der Schweiz hierher, bist du ein Verwandter der Kasteller?« fragte er nun.

»Nein«, entgegnete Artur, »ich kam durch einen Freund zu Herrn Kasteller; aber er kannte meinen Großvater und meine Mutter; soll ich Ihnen alles erzählen?«

Der Professor nickte bejahend.

Nun erzählte Artur vom Institut, vom Freund Georg, von Herrn Kastellers Einladung und auch, wie dieser einmal im Pfarrhaus von Lärchenhöh gewesen sei und daß es ihm da so gut gefallen habe. Dabei ging nun dem Artur ganz das Herz auf. Er fing an zu schildern, wie schön es auf Lärchenhöh sei, im Pfarrgarten und unten am Wasser im Tannenwald, bei der großen Fabrik, und unerwartet kam er wieder zum Pfarrhaus zurück, zum alten steinernen Brunnen, zu der großen Trauerweide daneben und zu der verborgenen Bank darunter.

»Oh, so schön ist es nirgends, auch in dem schönen Garten drunten nicht! Oh, und auf Lärchenhöh draußen bei den Eschen sieht man die weißen Schneeberge drüben und weit, weit ins Tal hinab über die Wälder und die Bäche und die weiße Straße zwischendurch.«

Artur hatte ganz vergessen, wo er war; er mußte sich eine Träne wegwischen. Der Professor war aufgesprungen und ans Fenster getreten.

»So, Junge, du kannst nun gehen«, sagte er, ohne sich umzuwenden.

Artur stand eilig auf und grüßte höflich; dann ging er schnell hinaus. Es war ihm ein wenig angst, er habe den Herrn Professor gelangweilt; vielleicht hätte er nicht soviel erzählen sollen. Drunten stand Squirrel vor der Tür; schon seit einer halben Stunde hatte sie da gewartet, bleich vor Angst und Ungeduld, daß Artur so lange nicht zurückkehrte.

»Hat er dir etwas getan?« rief sie ihm jetzt entgegen.

»O nein, was denkst du?« gab Artur zurück.

»Oh, es ist gut, daß du nun wieder da bist und alles vorüber ist!« sagte Squirrel erfreut; »nun kann man auch recht viel Kirschkuchen essen; denn jetzt hat man gar keine Angst mehr. Die Suse hat einen furchtbar großen Kirschkuchen heimgebracht, sieh, so, fast so groß wie eine Tischplatte; denk, wie viele Stücke das gibt! Warum sagst du denn kein Wort, freust du dich denn nicht, daß jetzt alles fertig ist und wir ganz neu anfangen können, ohne Furcht vor dem Herrn Professor, und dann noch Kirschkuchen essen dazu?«

»Doch, ich freue mich schon; aber siehst du, ich habe doch noch ein wenig Angst«, sagte Artur; »ich glaube, der Herr Professor ist noch ein wenig böse; er hat mich gar nicht angesehen, wie ich fortging; er stand am Fenster und schaute hinaus.«

»Ja, wenn er nie mehr zufrieden sein will, so mag er's nur bleiben lassen«, erklärte Squirrel entrüstet. »Nun haben wir beide bei ihm Abbitte geleistet, und wenn er uns nun immer verfolgen will, so will ich dann schon noch einmal etwas erfinden wie damals, als das Wasser auf seinen Kopf tropfte.«

»Nein, nein, Squirrel, das darfst du nicht«, wehrte Artur erschrocken, »vielleicht war er ja nicht gerade böse; du darfst wirklich nichts mehr ausdenken!«

Jetzt hörte man unten in der Halle Herrn Kastellers Schritt; denn in ihrem Eifer waren die beiden immer noch im Flur stehen geblieben. Squirrel stürzte dem Vater entgegen.

»Er hat ihm nichts getan!« rief sie ihm schon von oben zu. »Aber denk, Papa«, fuhr sie fort, als sie unten war, »er hat ihn nicht angesehen, als er fortging, vielleicht ist er immer noch bös auf ihn; aber es ist gleich. Komm nur schnell, wir haben einen prachtvollen Kirschkuchen!«

»Er, ihn, er und auf ihn, wer soll daraus klug werden?« sagte der Vater, die hüpfende Squirrel hinaufführend. »Das einzig Klare an deinen Worten ist der Kirschkuchen.«

Als nun alle zu Tisch saßen, mußte Artur erzählen, wie es ihm beim Herrn Professor ergangen war. Er verhehlte nicht, daß der Herr Professor ihn nicht mehr angesehen, sondern aus dem Fenster geblickt habe, als Artur ging. Dann setzte er aufrichtig hinzu, vielleicht habe er den Herrn Professor auch müde gemacht, weil er soviel von Lärchenhöh erzählt habe.

In der höchsten Überraschung stand am folgenden Morgen Kerr Kasteller am Bette seiner Frau und las ihr ein Kärtchen vor, das er soeben erhalten hatte. Es enthielt die Nachricht, der Professor gedenke seine Ferienzeit in Engelberg in der Schweiz zuzubringen. Da er bemerkt habe, daß der junge Schweizer, der im Hause sei, an Heimweh leide, so möchte er ihn einladen, die Reise mitzumachen. Er gedenke fünf bis sechs Wochen in der Schweiz zu bleiben und wünsche, den Jungen so lange bei sich zu behalten. Die Erlaubnis, etwas über seine Ferienzeit hinaus fortzubleiben, werde wohl von dem Institutsvorsteher zu erhalten sein, wenn nicht, so würde er selbst dafür sorgen, daß der Junge unter gutem Geleit wieder im Institut ankomme.

»Hast du je in deinem Leben einen sonderbareren Menschen gesehen?« fragte Herr Kasteller, als er seiner Frau das Kärtchen vorgelesen hatte. »Noch gestern behandelt er den Jungen so seltsam, daß dieser annehmen muß, der Herr Professor sei noch gar nicht besonders freundlich gegen seine Ruhestörer gesinnt, und heute ladet er den Jungen zu einer sechswöchigen Schweizerreise ein. Ist dir je ein so seltsamer Mensch vorgekommen?«

»Ach, nun auch das noch, nun auch noch eine solche Verantwortung auf uns laden«, jammerte die Frau, »das ist zuviel! Der Junge sieht so gut, ruhig und einnehmend aus, und doch ist ja mit ihm von Stund an ein so unerhörter Lärm im Hause losgebrochen, daß ich nur fortwährend seufzen mußte: ›Ach, was wird das nächste sein!‹ Und dennoch, lieber will ich wieder und wieder den unerdenklichsten Dingen im Hause entgegensehen, wo ich doch die Kinder in rechtem Schutz weiß, als ein anvertrautes Kind in Hände geben, die ich nicht kenne. Nein, nein, lieber Mann, das kann durchaus nicht sein. Ich bitte dich, geh selbst hinauf und erkläre dem Professor, daß wir seinem Wunsche nicht nachkommen können, durchaus nicht. Will er dich überreden, so wirf nur alle Schuld auf mich; sag ihm, daß ich dir gar keine Ruhe mehr ließe.«

»So werde ich denn diesen Gang auch antreten müssen«, sagte Herr Kasteller seufzend. »Das Zimmer des Professors droben ist zum Wallfahrtsort für meine Familie geworden. Jeden Morgen kriecht wieder ein Büßer die Treppe hinan. Habe ich auch nichts zu büßen, so wird mir der Gang doch nicht weniger sauer als Squirrel. Es ist ja eine edle Regung von dem Sonderling da droben, daß ihn das Heimweh des Buben rührt; aber ein Sonderling ist er doch. Wer weiß, wie er meinen Vorschlag aufnehmen wird! So will ich denn hinaufgehen. Wenn er sich nur nicht als Menschenfeind benimmt!«

Herr Kasteller mußte selbst lachen, obgleich ihn der Gang wirklich sauer ankam. Er ging nun.

Daß ihr Mann so lange droben bleiben würde, hatte die Frau nicht erwartet. Zwei volle Stunden waren vergangen. Ob die beiden Männer so hart um Artur kämpften?

Endlich hörte sie, wie Herr Kasteller mit eiligen Schritten herankam und die Tür aufmachte.

»Es ist spät geworden«, rief er herein, »heute abend teile ich dir alles mit; ich muß ins Geschäft.«

Das begriff seine Frau wohl, nur dauerte es ihr lange, bis sie den Entscheid hören sollte.

Wunderbar still war es heute im Hause, so daß Frau Kasteller zu hoffen begann, der verständige Artur fange wirklich an, einen wohltätigen Einfluß auf Squirrel auszuüben.

Als die ruhige Abendstunde gekommen war, setzte sich Herr Kasteller am Bette seiner Frau nieder und hatte ein langes Gespräch mit ihr. Sie konnte immer noch nicht auf seine Anschauungen eingehen und sagte immer noch einmal: »Und dennoch kennen wir den Mann nicht recht, und Artur war uns einmal übergeben für diese Zeit, und wir geben ihn aus den Händen!«

»Da ist nun einmal nichts zu machen«, versicherte ihr Mann, »und du kannst dich wirklich beruhigen, liebe Frau; ich sage dir ja, daß ich volles Vertrauen in den Mann habe, er hat mich gänzlich für sich gewonnen. Hat er etwas Kurzes in seiner Art, so ist er deswegen durchaus nicht lieblos; über sein Gemüt hat sich nur eine Kruste gelegt, das kommt von schweren Erfahrungen. Ich gönne es ihm, den netten Artur mitnehmen zu können, und Artur ist in guten Händen. Übrigens ist der Junge noch selbst zu fragen; wünscht er nicht zu gehen, so will der Professor ihn nicht zwingen.«

»Ach, und gerade jetzt würde ich so ungern den Jungen fortlassen. Eben heute haben die beiden Kinder sich so vorzüglich unterhalten. Man hat den ganzen Tag keinen lauten Ton von Squirrel vernommen; es hat ganz den Anschein, als ob jetzt der stille Knabe die Oberhand gewonnen hätte und nun einen beruhigenden Eindruck auf das Kind ausübe.«

»Siehst du wohl!« rief Herr Kasteller erfreut aus, »das ist derselbe Knabe, vor dessen Ankunft du dich so sehr gefürchtet hast! Weißt du, was wir tun? Mir kommt ein rettender Gedanke. Wir schicken Squirrel gleich mit nach Engelberg, wohin der Professor reisen will. Fräulein Malwa begleitet sie, und wir sind plötzlich alle Sorge los, was mit dem Kinde zu tun sei, wenn ich mit dir ins Bad reisen muß, wohin wir ja Squirrel unmöglich mitnehmen können, nur schon um die Ruhe der andern Badegäste nicht zu gefährden; denn was könnte sie da anstellen!«

Zur Verwunderung ihres Mannes brach diesmal seine Frau in keinen Jammer aus. Sie hatte ein solches Zutrauen zu dem stillen Artur gefaßt, daß sie meinte, in solcher Gesellschaft wollte sie Squirrel gern den Aufenthalt in so schöner Luft gönnen. Nur Fräulein Malwa stand immer noch nicht im richtigen Verhältnis zu dem Kinde, das erregte ihr doch wieder Besorgnis, und der unbekannte Herr Professor dazu. – Aber Herr Kasteller unterbrach die aufsteigenden Besorgnisse mit der Versicherung, der Plan sei ganz herrlich und geradezu vom Himmel gefallen; denn er habe ja gar nicht nachgedacht und nichts gesucht, und wer schließlich am glücklichsten über den Ausgang sein werde, das sei seine Frau. Und nun wolle er sogleich erfahren, was Artur dazu sage. Die Kinder saßen auch jetzt noch in ungewohnter Gelassenheit zusammen. Artur erzählte von den vielen Vögeln im Pfarrgarten auf Lärchenhöh, und er konnte jeden, wie er sang und pfiff, so wundervoll nachahmen, daß Squirrel in heller Verwunderung war.

»Artur«, sagte Herr Kasteller hinzutretend, »es ist, als bereitetest du dich schon vor, mir eine Frage zu beantworten. Willst du nach der Schweiz reisen? Der Herr Professor reist dahin und will dich mitnehmen.«

Artur war vor innerer Bewegung dunkelrot geworden. »O ja, das will ich gewiß gern, darf ich?«

»Oh, geh nicht, Artur, geh nicht!« schrie Squirrel auf. »Bleib da, geh nicht fort mit dem schrecklichen Herrn Professor!«

»Squirrel«, sagte Herr Kasteller, »willst du mit Artur nach der Schweiz reisen?«

»O ja, Papa, das will ich«, schrie Squirrel plötzlich in anderem Tone, »wir gehen zu den Vögeln, Artur, nach Lärchenhöh und auf die Bank unter die Weide und zu den Eschen!«

»Und der Herr Professor geht mit«, setzte Herr Kasteller ein, »er ist ein sehr guter und freundlich gesinnter Herr, daß er Artur eine solche Einladung schickt, und Fräulein Malwa geht mit als Schutz und Schirm, das gibt eine prächtige Gesellschaft und eine wundervolle Reise. Ob's nach Lärchenhöh geht, das weiß ich nun nicht, zunächst geht's nach Engelberg.«

Nun war für Artur noch mehreres zu tun. Herr Kasteller erklärte ihm, der Herr Professor wünsche, daß er um längeren Urlaub bitte. Er solle also an den Vorsteher des Instituts schreiben, ob er nicht nur bis zum Schluß der Ferien, sondern auch noch einige Wochen darüber hinaus Erlaubnis zum Fortbleiben geben wollte. Auch sollte Artur bitten, daß man ihm noch mehr Kleider und was er sonst von seinen Sachen für einen längeren Aufenthalt begehrte, zusenden möchte. Jetzt fiel es Artur erst ein, daß es etwas recht Wunderbares sei, daß ihm der Herr Professor nun auf einmal eine solche Freundlichkeit zeige. Er hätte es doch gar nicht um den Herrn verdient, der durch ihn und seine Freundin solche Störung erlitten hatte. »Der Herr Professor ist doch gewiß kein schrecklicher Mensch«, sagte Artur zu Squirrel gewendet.

»Es ist auch gar nicht unmöglich«, bemerkte Herr Kasteller, »daß der Herr Professor den Kampf gegen dein Heimweh lieber selbst in die Hand nehmen will, als daß er ihn ferner der Squirrel überläßt. Er fährt jedenfalls besser dabei. Und siehst du, wenn uns einer etwas gibt, was wir gar nicht verdienen, so haben wir ihn um so lieber dafür, so wird es dann auch mit dem Herrn Professor sein, denkst du nicht auch so, Artur?«

»Ja gewiß, jetzt schon hab ich ihn lieb, weil er so gut gegen mich ist«, versicherte Artur. »Ich möchte auch so gerne gleich noch hinaufgehen und ihm danken.«

Aber Herr Kasteller fand, nun sei es zu spät, und morgen lasse man den Herrn erst fragen, wann er Zeit habe; diese Besuche könnten für seinen Geschmack zu sehr überhandnehmen.

Wirklich, am andern Morgen ließ der Herr Professor auf die Anfrage antworten, es sei nicht nötig, daß Artur einen Besuch mache; der Junge danke ihm auf die beste Weise dadurch, daß er gern mit ihm kommen wolle.

Nun hatte Artur seinen Brief an den Institutsvorsteher zu schreiben; die Ausführung wurde ihm aber nicht leicht. Einmal wußte er selbst nicht recht, was er für einen Bergaufenthalt am nötigsten habe, und dann wollte ihm Squirrel auch in dieser Sache beistehen. Sie schlug aber so sonderbare Dinge vor, die er kommen lassen sollte, daß er darüber sehr zerstreut wurde und Squirrel nur immer wieder erklären mußte, daß er solche Dinge nicht kommen lassen könne, die er wünsche, sondern nur, die er besitze. Endlich war der Brief fertig, und Squirrel ergriff ihn, um ihn Suse zur Weiterbeförderung zu überbringen; aber kaum war sie damit zur Tür hinaus, als ihr Artur nachrannte: »Oh, nun hab ich noch etwas vergessen, das reut mich so sehr«, sagte er voller Betrübnis, »ich hätte so gern meine Kupferbibel gehabt, da sind so schöne Bilder drin. Wenn wir dann so lange zusammen sind, möchte ich dir die Bilder alle zeigen und dir die Geschichten dazu erzählen, die weiß ich alle so gut, meine Mutter hat sie mir immer wieder erzählen müssen.«

»Du kannst nur den Brief aufreißen und noch hineinschreiben, da –« und Squirrel reichte sehr bereitwillig den Brief her; denn sie wollte die Geschichten auch gerne hören.

Aber Artur schüttelte sehr entschieden den Kopf: »Das darf man nie tun, wenn man dem Herrn Vorsteher schreibt, so etwas noch auf den Seitenrand hinsetzen, nie, nie«, versicherte er, »und zum Abschreiben ist keine Zeit mehr; hörst du deinen Vater auf der Treppe? Du weißt, er will, daß wir im Zimmer sind, wenn er zu Tisch kommt. Es ist nichts mehr zu machen, komm nur.«

»Ich weiß schon noch etwas zu tun«, tröstete Squirrel, »ich komme dann bald, und du sollst sehen, wie gut es herauskommt.«

Artur schaute die Trösterin etwas zweifelnd an, doch ließ er sie machen und ging nach dem Eßzimmer hinauf. Squirrel war in die Stube zurückgetreten und hatte ein Schnitzelchen Papier aus ihrer Schublade hervorgeholt. Darauf schrieb sie: schik noch die Kubverbibel. Dann schob sie mit ihren kleinen Fingern ganz gewandt das Papierchen oben unter den Briefumschlag hinein, wo dieser nicht festgeklebt war. Nun brachte sie den Brief der Suse hinauf und ging dann voller Befriedigung zu Tisch, wo sie eben noch im letzten erlaubten Augenblick erschien. Da das Essen aber gleich seinen Anfang nahm, konnte sie Artur nur noch mit allerlei lebhaften Zeichen zu verstehen geben, daß alles gelungen sei. Nach einigen Tagen kam die Antwort. Alles, was Artur gewünscht hatte, wurde gesandt, auch die Kupferbibel. Ein vernichtender Brief lag dabei. Er war nicht vom Herrn Vorsteher, sondern vom Lehrer der Klasse geschrieben, zu der Artur gehörte. Er schrieb: Ein Junge, der sich so unverzeihliche Nachlässigkeiten zuschulden kommen lasse, werde nicht erwarten, daß ihm die Ferienzeit verlängert werde; im Gegenteil, die schon gewährte Zeit der Ferien sei zu lange für ihn. Er habe gleich nach Ablauf dieser Zeit ins Institut zurückzukehren und seine Tage mit orthographischen Übungen zuzubringen, bis der Unterricht wieder beginne. »Daß ein Junge von Deinem Alter imstande ist«, hieß es weiter, »in vier Wörtern fünf orthographische Fehler anzubringen, ist unerhört. Die Eile, womit dieses beigelegte Schriftstück verfaßt ist, von der schon die unter aller Kritik holprige Handschrift zeugt, ist keine Entschuldigung für Dinge, wie sie hier auf dem Papiere stehen. Sieh Dir mit Deinen dreizehn Jahren einmal das erste Wort an: wie kann ein Schüler seinen Institutsvorsteher mit ›Du‹ anreden? Erster und unverzeihlicher Fehler. Wie kann ein Schüler, und hätte er nur die Hälfte Deiner Jahre, einen Satz mit einem kleinen Buchstaben beginnen? Zweiter Fehler. Wie kann ein Schüler, der seit sechs Jahren Schulunterricht genießt, schick mit einem einfachen k schreiben? Dritter Fehler in einem einsilbigen Wörtchen! Von den zwei allem Begreifen spottenden Fehlern im vierten Wort will ich nicht sprechen, schau Dir diese Beweise Deiner Nachlässigkeit solange an, bis Dir selbst so schlecht wird wie Deinem bedauernswerten Lehrer.«

Artur stand vor Schrecken schneeweiß und wie festgenagelt auf derselben Stelle und starrte auf den Papierstreifen in seiner Hand.

Squirrel hatte mit Spannung dem Auspacken beigewohnt und erwartet, Artur werde beim Anblick seiner Kupferbibel in ein Freudengeschrei ausbrechen. Nun stand er da wie einer, dem man das Licht ausgeblasen hat. »Was hast du denn, Artur? Freut dich denn deine Kupferbibel auf einmal nicht mehr?« fragte Squirrel halb ärgerlich, halb erschreckt von seinem Anblick.

»Hast du das geschrieben?« fragte Artur dagegen, ihr den verhängnisvollen Zettel hinhaltend.

»Ja, natürlich, und darum hat er die Kupferbibel geschickt«, entgegnete Squirrel erfreut über ihre Tat.

»Oh, wenn du wüßtest, was es nun für mich im Institut um des Zettels willen gibt«, jammerte Artur. »Der Herr Vorsteher und die Lehrer verachten mich, und alle Schüler werden mich verhöhnen; denn der Lehrer sagt gewiß allen, was auf dem Papier geschrieben stand, um mich zu strafen, das weiß ich wohl. Oh, ich kann es nicht aushalten! Und schon in ganz kurzer Zeit muß ich zurück; weil ich so geschrieben habe, werden mir keine Ferien bewilligt.« Squirrel begriff nicht, warum die Bitte um eine Kupferbibel so böse Folgen haben konnte. Nun erklärte ihr Artur die Sache eingehend und bewies ihr, welche schreckliche Rechtschreibung in dem Zettel herrsche, den sie aufgesetzt hatte.

Aber Squirrel wußte schnell einen Rat. »Schreib du nun gleich noch einen Brief an den Lehrer, ganz ohne Fehler«, schlug sie vor, »und schreib ihm, die Fehler hat Squirrel gemacht; dann sieht er ja, daß du nicht schuld bist. Aber sage es nur Fräulein Malwa nicht, sonst muß ich gewiß die Grammatik noch auf den Engelberg hinauf mitnehmen.«

Artur war nicht so leicht getröstet. Was erwartete ihn nun bei seiner Rückkehr ins Institut! Das war ein schrecklicher Gedanke, der ihn verfolgte, wo er ging und stand. Die Sache mußte nun auch Herrn Kasteller mitgeteilt werden, um der Verweigerung der Ferienausdehnung willen. Artur wartete damit noch einen ganzen Tag lang; denn hatte er auch keine Schuld an dem Mißgeschick, so waren ihm doch die Vorwürfe des Lehrers so schrecklich, daß er sich scheute, den Brief bekanntzugeben. Endlich spät am Abend des zweiten Tages mußte es sein; denn Herr Kasteller erkundigte sich, ob Antwort da sei. Artur erzählte kurz, was Squirrel in guter Meinung für ihn getan hatte, und übergab den Brief. Herr Kasteller überflog ihn und ging damit zu seiner Frau hinein. Fräulein Malwa hatte schon das Zimmer verlassen; die Kinder saßen allein noch zusammen und harrten auf des Vaters Rückkehr und sein Urteil über den Vorgang. Jetzt sagte Squirrel schlau: »Hörst du, wie der Papa drinnen lacht? Wenn er schon wieder lacht, dann ist er nicht so schrecklich bös über die Fehler. Aber wenn sie nur Fräulein Malwa nicht erfährt.«

Herr Kasteller fand es gut, dem Herrn Professor den Vorfall mitzuteilen, da dieser von der Verweigerung längerer Ferien für Artur in Kenntnis gesetzt werden mußte. Der Herr Professor antwortete darauf, er werde selbst über die Sache mit dem Institutsvorsteher verhandeln, Artur habe sich weiter nicht damit zu befassen.

Herr Kasteller und seine Frau hatten beschlossen, Fräulein Malwa sollte mit Squirrel erst einige Zeit nach der Abreise des Professors mit Artur ihre Reise nach Engelberg unternehmen; denn dem Herrn konnte man ja nicht zumuten, noch eine junge Dame und ein kleines unruhiges Mädchen im Gefolge zu haben. Als nun nach einigen Tagen Artur reisefertig dastand, überkam Squirrel ein ungeheures Mitleid. Sie mußte ein Mal ums andere ausrufen: »Du armer Artur, du armer Artur! Ganz allein mußt du so weit fortreisen mit einem Menschenfeind.« Aber Herr Kasteller schnitt den Jammer ab, führte Artur zum Abschiednehmen zu seiner Frau hinein, und unter vielen herzlichen Glückwünschen wurde der Junge von der freundlichen Familie verabschiedet und von Vater und Tochter zum Wagen hinunterbegleitet, wo er zum Herrn Professor hineinstieg und davonfuhr. Squirrel lief von einem Winkel in den andern, die Treppe hinunter und dann wieder hinauf und suchte immerzu und wußte nicht was. Arturs Gesellschaft war ihr so unentbehrlich geworden, daß sich mit seinem Verschwinden alle Dinge verändert hatten, so daß sie an nichts mehr Gefallen fand und wie ein ruheloser Vogel hin- und herirrte.

»Es ist ja begreiflich, daß ihr überall etwas fehlt«, sagte Herr Kasteller, als Fräulein Malwa sich über Squirrels Ruhelosigkeit beklagte. »Wenn man einen guten Kameraden gehabt hat und verliert ihn, so fehlt er uns überall. Es ist schade, daß der Junge nicht ihr Bruder ist, es wäre gut für Squirrel.«

»Eins wäre auch noch gut für Squirrel«, entgegnete Fräulein Malwa, »wenn sie ein wenig Lerneifer hätte, dann hätten Langeweile und Unheilstiften nicht so viel Raum bei ihr.«

»Ganz richtig, mein liebes Fräulein«, sagte Herr Kasteller, »hoffen wir, daß dieser sich noch einstelle, glücklicherweise haben wir noch Zeit vor uns. Fürs erste werden Sie nun reisen.«

Der Tag des Einpackens war gekommen, und geschäftig wanderte Squirrel hin und her, um zu holen und zu bringen, was in den Koffer kommen sollte. »Nun holst du dein Lesebuch und die Grammatik«, befahl Fräulein Malwa, die den Koffer packte.

»Nein, die nicht«, schrie Squirrel auf, »die geht nicht mit.«

»Die geht mit, und du bringst sie gleich samt dem Lesebuch«, wiederholte Fräulein Malwa bestimmt.

»Ich wollte nur gleich, daß –« die übrigen Worte sagte Squirrel nur in sich hinein. Sie brachte das Geforderte, die Grammatik reiste mit. Obschon Squirrel Papa und Mama nicht gerne zurückließ, so freute sie sich doch, dem Artur nachzureisen und zum Schutz bei ihm zu sein; denn wie mußte es doch dem armen Artur zumute sein, so allein mit dem Herrn Professor. Und noch eins erfüllte Squirrels Herz mit drängender Erwartung, den Engelberg zu sehen. Sie dachte, es sei ein hoher, sonniger Berg, auf dessen Spitze hoch oben im Himmelblau die kleinen Engel immerfort mit rosigen Flügeln hin- und herschwirrten.

So nahm sie getrost Abschied und zog mit Fräulein Malwa zu ihrer ersten Reise aus.


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