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Denken und Beobachten

 

Die Dichter als Denker

In meinen Knabenjahren hatte ich mich oft verwundert gefragt: «Warum macht man nur so viel Wesens aus den Sprüchen der Dichter? Warum gelten die großen Dichter immer zugleich für die besten Denker? Was in aller Welt hat denn ein Drama, ein Epos, ein Lied mit der Weisheit zu schaffen?»

Darüber ist einige Zeit vergangen, und heute glaube ich die Antwort zu wissen.

Zunächst ist die Konkurrenz im Denken lange nicht so groß, als ich mirs vorgestellt hatte. Wer kommt denn eigentlich zur Vergleichung in Betracht? Die Gelehrten, die Forscher denken partiell, die Pädagogen, Ethiker und so weiter denken mit dem Zeigefinger, die Theologen denken – wenn ich mich so ausdrücken darf – am Leitseil, ob auch in Freiheit dressiert, der Politiker denkt nach dem Ziel, also an der Angel, die Tausende von gescheiten Leuten denken aphoristisch und beiläufig, als Sonntagsdenker, und die überwiegende Mehrzahl der Menschen denkt gar nicht.

Da sind freilich die Berufsdenker, die Philosophen. Die sollten doch, müßte man meinen, den Dichtern an Weisheit weit den Rang ablaufen.

Allein das philosophische Denken ist ja etwas ganz Besonderes für sich, das mit dem, was wir Denken nennen, nicht viel mehr zu tun hat als die Mathematik. Macht man sich nicht gewöhnlich eine ganz falsche Vorstellung von dem Tagewerk eines Philosophen? Über alles, was in der Welt geschieht und da ist, nachdenken sollten sie? Aber das wäre für einen Philosophen viel zu gemein. Sondern der Philosoph kriecht mit dem Denken hinter sein eigenes Denken und denkt nun hinter seinem Denken mit dem Denken über das Denken nach. Das ist philosophisches Denken. Ebenso falsch ist die gewöhnliche Vorstellung von der Sprache der Philosophen. Sie ist nicht etwa tiefsinnig und dunkel, sondern sie ist nebelregennaßnüchtern, sie hantiert mit vertrockneten, ihres Inhalts künstlich entleerten Worten, den sogenannten Begriffen, die kaum mehr Leben besitzen als Zahlen. Schopenhauer debütierte mit einer Schrift: «Von der vierfachen Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde». Da handelt sichs um etwas für die Logik sehr Wichtiges; aber was fängt der Ungelehrte damit an? Ich denke, dieses Beispiel genügt, um zu erklären, warum die Menschheit ihr Gedankenbedürfnis nicht bei den Philosophen befriedigen kann.

Der Dichter ist in dieser Beziehung dem Philosophen schon darum überlegen, weil er spürt, daß es kein anderes ersprießliches Denken gibt als das Denken in Vergleichen, und keine andere wahre Sprache als das Sprechen in Bildern.

Übrigens ist ja auch der Dichter im Grunde ein Berufsdenker. Ob er schon wollte, er könnte in seinen Werken das Denken nicht umgehen, weil ja sein Ausdrucksmittel die Sprache ist und jeder Satz der Sprache einen Gedanken voraussetzt oder einen Gedanken erzeugt. Er ist also ein Mußdenker. Er zerrt nie die Gedanken herbei, sondern sie drängen sich ihm auf. Im Gleichnis und im Bild ist ja der Dichter gerade in seinem eigensten Element, hier waltet er meisterlich und königlich, daß ihm darin niemand auch nur von weitem gleichkommt. Er wirkt in diesem Punkt, dem Hauptpunkt, sogar schöpferisch. Das Denken des Dichters ist mithin ein geniales Denken.

Und eine Hauptsache: Der Gegenstand des dichterischen Denkens ist der denkenswürdigste, weil für die Menschheit wichtigste und interessanteste. Des Dichters Geist beschäftigt sich vornehmlich mit den Gefühlen des Menschen und mit denjenigen Dingen, welche für das Gefühl Wert haben. An diesen Dingen denken die übrigen Denker verächtlich vorbei, der Menschheit aber sind sie das Allerwichtigste.

Ferner: Es gibt Zustände der Menschenseele, welche sehnlich und peinlich nach Aussprache ringen, jedoch diese Aussprache nicht finden. Der Dichter findet sie für alle, sein Denken ist mithin ein erlösendes Denken.

Ferner: Der Dichter denkt absichtslos und zwecklos, also ungefälscht. Er lügt nicht.

Dazu kommt dann noch die bestechende Form, die freilich auch den Dichter selber bestechen kann, und dann wird es böse. Wir erhalten dann die poetische Phrase oder, was noch schlimmer, weil irreführend ist, die halbwahre tönende Sentenz, bei welcher der Dichter oft selber schwer zu unterscheiden vermöchte, ob eigentlich seine Vernunft auch billigt, was sein rhythmisches Orakel donnert. Das ist die Achillesferse des dichterischen Denkens. Und darum dürfen Dichterzitate nicht unbesehen für Beweise gelten.

Alles verglichen und erwogen, glaube ich in der Tat, die Menschheit tut recht daran, ihre großen Dichter zugleich als ihre großen Denker zu feiern.

Aber nun, siehe da, ein merkwürdiges Phänomen: Die Dichter, obgleich die trefflichsten aller Denker, nehmen selber ihre Gedanken verächtlich als Nebensachen. Ob ein Dichter alle Weisheit der Welt in seinem Gehirn vereinigte, er würde diese seine gesamte Weisheit für Null anrechnen im Vergleich zu einem einzigen seiner vollkommenen Gedichte. Er urteilt hiermit, und zwar als befugter Richter: Die Tat ist der Rede, und Kunst und Poesie sind der Weisheit an Wert unendlich überlegen.

 

Denken und Beobachten, Philosophie und Eichhörnchen

Immer wieder bekomme ich die Bemerkung zu hören: «Sie müssen doch eigentlich neben Ihrer Poesie einen stark philosophischen Einschlag haben, daß Sie sich veranlaßt fühlen, beständig über Ihr Schaffen nachzudenken.» Hierauf habe ich zu antworten: Erstens sind Philosophie und Nachdenken etwas gründlich Verschiedenes, zweitens denke ich niemals nach, drittens denke ich überhaupt nicht, sondern ich kann nur nicht umhin, beiläufig zu beobachten, wenn ich etwas Bemerkenswertes bemerke. Wenn ein Eichhörnchen in Ihren Garten springt und Sie seinen Sprüngen zusehen, haben Sie darum einen stark philosophischen Einschlag? Nun, gerade so geht es mir mit meinem Schaffen, wie Ihnen mit Ihrem Eichhörnchen. Die Seele macht nämlich oft während des Schaffens merkwürdige Sprünge, denen ich zwar nicht im Augenblick des Schaffens zusehe, deren ich mich aber nachher erinnern muß, ob ich will oder nicht will, weil mir das poetische Eichhörnchen aufgefallen war. Ich will aber entschieden nicht, und gerade, weil ich nicht will, habe ich schließlich die Auskunft gefunden, meine Beobachtungen jeweilen flugs niederzuschreiben, da ich in dieser Prozedur das wirksamste Mittel erkannt habe, das leidige Eichhörnchen loszuwerden. Nachher, wenn ichs los bin, zerreiße ich gewöhnlich lebhaft, was ich niedergeschrieben, mitunter lasse ich mich aber auch durch Zureden bewegen, es mitzuteilen. Freilich, falls ich in den Pausen Skat spielte oder ins Theater ginge, würde das wahrscheinlich auch helfen. Allein wer weiß, dann würde ich vielleicht politisieren oder über das moderne Drama weise Dinge reden, und dann bekäme ich erst recht einen ‹philosophischen Einschlag›.

 

Die Selbstzeugnisse der Dichter

Jede Mitteilung eines Dichters über sein eigenes Schaffen setzt einsichtige und poesiekundige Leser voraus, zum mindesten gutwillige Leser. Sonst gibt es Mißverständnisse. Deshalb, weil zwischen dem, was der Dichter tut, und dem, was er von seiner Tätigkeit aussagt, notwendigerweise ein Mißverhältnis klaffen muß. Nicht zwar ein Mißverhältnis wie zwischen Wahrheit und Unwahrheit oder Wahrheit und Selbsttäuschung, aber ein räumliches Mißverhältnis, indem bei Selbstzeugnissen die Hauptsache zu kurz kommt, das Nebensächliche einen zu großen Platz einnimmt. Hauptsache in der Poesie, das weiß nachgerade in Deutschland jedes Kind, ist das Unbewußte. Von dem unbewußten Teil seines Schaffens aber wird ein Dichter schwerlich viel sagen, weil er eben vom Unbewußten in ihm nichts weiß, weil er ferner, wenn er auch davon wüßte, es doch nicht mit Worten auszusprechen vermöchte, weil er endlich darüber zu reden für unnötig hält, da jeder gebildete Leser die Oberherrschaft des Unbewußten bei einem Dichter als selbstverständlich voraussetzt. Da nun umgekehrt der vernünftige, bewußte Teil der Schaffenstätigkeit, also die Dichtkunst, der Selbstbeobachtung zugänglich und der Mitteilung fähig ist, so wird der Dichter, wenn er etwas von seinem Schaffen mitteilt, vorzugsweise, ja vielleicht einzig und allein von dem bewußten Teil seiner Tätigkeit, also von seiner Künstlertätigkeit Bericht erstatten. Er redet über seine Dichtkunst und schweigt über seine Poesie. Daraus aber, daß einer scharf und genau den bewußten Teil seines Schaffens beobachtet und triftig davon spricht, darf nicht etwa geschlossen werden – und dieses Mißverständnis ist es, dem ich steuern will –, er schaffe bewußter, nüchterner als jener, der nichts von dem bewußten Teil seines Schaffens meldet. Eher umgekehrt.

 

Allerlei Denken

Das natürliche, physiologische Denken

Das Denken ist eine immerwährend, beim Schlaf wie beim Wachen, sich betätigende Funktion des Menschenkörpers. Ob man will oder nicht will, das Denken geschieht. Verworren im Schlaf (‹Traum›), unzusammenhängend im Halbschlaf; von selbst auftauchend, keimend wie aus Samen, im Ruhezustand. Ursprünglich geschieht das Denken in Bildern (kindliches, naives und künstlerisches Denken, ‹Erinnerung›, ‹Phantasie›), später, nach Erwerbung der Sprache und der Sprachgewohnheit, daneben auch in logischen Gedanken. Logisches Denken und bildmäßiges Denken schließen einander aus. Kinder und naive Leute können überhaupt nicht logisch denken, Künstler hassen und verachten mit Recht das logische Denken. Dichter werden aber vom logischen Denken in gewaltsam gewollten ‹Ruhezuständen› ihres Schaffens heimgesucht. Wenn ich ‹ruhen› will, das heißt, wenn ich mich zwinge, nicht schaffen zu wollen, kommt mir zwangsweise das logische ‹Denken›. Ich verabscheue es, ich verachte es, es hilft alles nichts; es steigt auf, und keine Rettung davor, als bis ich mich wieder in das Bilddenken, also in das künstlerische Schaffen flüchte. Ich kann wohl einem Gedankenbündel entfliehen, indem ich mich seiner durch Niederschrift entledige – so sind diese Aufsätze entstanden –, allein sofort tauchen daneben hundert neue auf, und das nimmt niemals ein Ende, ehe ich wieder in die bildgemäße Arbeit springe. Beim natürlichen Denken, ob es in Bildern oder in logischer Sprache geschehe, handelt es sich also um ein Denken aus innerm Zwang, aus Phantasie.

Das befohlene Denken

Ein befohlenes Denken, ein Denken aus äußerm Zwang gibt es gar nicht, das heißt, das Ergebnis ist gleich Null oder pendelt um den Nullpunkt herum. Man kann ebensowenig über eine gegebene ‹Aufgabe› nachdenken, wie man auf Befehl verdauen kann, namentlich wenn man zuvor keine Speisen genossen hat. Jeder von uns erinnert sich des jammervollen Zustandes, da wir einst als Schulbuben einen Aufsatz schreiben mußten. Man kaut an der Feder, man runzelt die Stirn, es kommt nichts. Ich würde noch heute ebenso hilflos dasitzen, wenn ich einen Aufsatz schreiben müßte. Deshalb, weil Funktionen nicht gerufen werden können, die Gedanken müssen sich von selber einstellen, und sie stellen sich um so weniger ein, je gröber der Wille befiehlt. Vor der Peitsche weicht der Gedanke zurück.

Das wache, kräftige Denken

Wenn der Geist wach ist, das heißt, wenn er mit der Wirklichkeit Fühlung und Verbindung gewonnen hat, so steigert sich das physiologische Denken zum zielgerechten, zweckmäßigen Denken. Man denkt dann das, was einem das Leben als Anlaß oder als Aufgabe in den Weg wirft, mit andern Worten, man braucht seinen Verstand. Das ist gesundes Denken; so denkt das Tier, der Wilde, der Arbeiter, der Geschäftsmann, überhaupt jeder, insofern er lebt und sich betätigt. Hier hat das Denken einen Anlaß, es ist sachliches (objektives) Denken; ein gesundes, fruchtbares Denken ohne Anlaß gibt es aber überhaupt nicht; darum auch keine Denker von Fach. Was man einen ‹Denker› nennt, der hat ewig von neuem vorliegende Anlässe in seinem Geiste aufgespart und gibt darüber sein Urteil ab. Das gesunde Denken, weil es alle seine Anlässe aus der Wirklichkeit holt, bedient sich einer Bildsprache. Der Mensch kann überhaupt nicht anders fruchtbar denken, das heißt irgendeiner Wahrheit auf die Spur kommen und diese in Worten aussprechen, als mit Bildern und Vergleichungen. Abstrakt denken und abstrakt sprechen ist ein Gehirnspiel oder meinetwegen eine Gehirngymnastik, nicht aber eine Wahrhaftigkeitsbetätigung. Darum, weil der Dichter in Bildern, also sachlich denkt und spricht, ist er der fruchtbarere, tiefere, ernstere und wahrhaftigere Denker als der Philosoph.

Das erfinderische Denken

Das erfinderische Denken ist die höchste Steigerung des zweckmäßigen, auf ein Ziel gerichteten Denkens; es bleibt im Rahmen des gesunden Denkens, denn es ist Arbeitsdenken. Nur wird hier der Anlaß, das Thema, aus der Zukunft, aus der Möglichkeit bezogen. Aber auch beim erfinderischen Denken geschieht der entscheidende Gedanke, die Erfindung selbst, nicht durch den Willen, sondern von selber, durch den plötzlichen Einfall, wenn nicht gar durch Zufall.

Das wesenlose Denken

Geometrie, Trigonometrie, Arithmetik und so weiter, Schachspiel, Kartenspiel und so weiter sind geistige Betätigungen für sich, ohne jeden Zusammenhang mit dem gesunden und fruchtbaren Denken. Man kann der größte Dummkopf sein und sich in diesen Gebieten auszeichnen, man kann anderseits der genialste Mensch sein und darin jämmerlich bestehen. Diese Betätigungen erlauben, ja verlangen geduldigen Scharfsinn, aber Geduld und Scharfsinn ohne Zweck, wenigstens ohne einen solchen Zweck, welcher dem sachlichen, natürlichen Denker einleuchtet. Zwecklosigkeit ist aber nicht Nutzlosigkeit und keinerlei Geistestätigkeit, wenn sie vernünftig geschieht, ist verloren. Wir haben die wesenlose Arithmetik, die scheinbar zwecklose Geometrie und Trigonometrie den Naturwissenschaften, der Kriegswissenschaft, der Mechanik die allerhöchsten Dienste leisten gesehen. Aber darum stehen sie doch außerhalb des natürlichen, gesunden Denkens, ja stehen sogar in dem Geiste der Menschen im Gegensatz dazu. Die eine Art des Denkens schließt die andere aus. Künstlerisch veranlagte Menschen, also Bilderdenker, bringen nicht die Geduld auf, sich mit Problemen abzuplagen, die keinen Anschauungswert vorzeigen, darum gelten sie für unbefähigt in diesen Wissenschaften und erhalten in der Schule schlechte Zeugnisse in diesen Fächern. Umgekehrt kann man ziemlich sicher schließen: Wenn ein Knabe in Mathematik gute Zeugnisse erhält, so wird er im Aufsatz, in der Geschichte, in den Sprachen schlechte Zeugnisse aufweisen, und vollends zum Künstler oder Dichter wird er ganz und gar nicht taugen. Nichts Unvernünftigeres und Ungerechteres kann man daher begehen, als wenn man, wie das in einigen Staaten Europas geschieht, die Nummern der Schulzeugnisse aus verschiedenen Fächern mechanisch durcheinander dividiert, in der Hoffnung, hiemit den allgemeinen Zustand der geistigen Befähigung eines Schülers herauszurechnen. Schüler, welche sich im Aufsatz, in der Geschichte, in den Sprachen auszeichnen, sollte man vom Unterricht in den wesenlosen Fächern geradezu dispensieren. Es kommt ja doch nichts anderes dabei heraus als Unfriede.

Das philosophische Denken

Das philosophische Denken ist ein wesenloses Denken im Rahmen der Sprache. Um zur Wesenlosigkeit zu gelangen, wird die Sprache Punkt für Punkt ihrer Bilder entleert, bis man schließlich das erwünschte wesenlose Material, den abstrakten ‹Begriff› erhält. Die Entleerung geschieht mit Hilfe der Skepsis, das heißt, man setzt an jedes inhaltreiche Wort der menschlichen Sprache den kritischen Gedanken an, um die Unhaltbarkeit des Wortes vor der Prüfung des Geistes zu beweisen; das Experiment gelingt unfehlbar, weil die Sprache ja kein Produkt des Nachdenkens, sondern ein Erzeugnis der Not ist, und nichts Leichteres, als philosophisch nachzuweisen, daß überhaupt gar nichts existiert, weder irgendetwas in der Welt noch die Welt selber: das Lieblingskunststück der Philosophie. Mit den Begriffen hantiert dann der Philosoph in ähnlicher Weise wie der Mathematiker mit den Zahlen, nur daß die Philosophie dabei den Anspruch erhebt, die Wahrheit zu lehren, wenn nicht gar, die Welt zu erklären und nachzubauen (mittels Begriffen). Wenn man die Größe des Anspruchs mit der kindlichen Naivität des Unterfangens vergleicht, so möchte man oft versucht sein, die gesamte Philosophie als eine Kathederposse aufzufassen. Allein die Skepsis hat an sich Vorteile, sie putzt die Köpfe aus, und alles Denken im Rahmen der Sprache bringt ab und zu, unterwegs zur Welterklärung, Gedanken. Auch die Philosophen gehören zu den Denkern; es gibt sogar große Denker unter ihnen, aber sie sind es nicht durch ihre Philosophie, sondern nebenher oder trotz ihrer Philosophie. Das philosophische Denken an sich ist eines der kläglichsten Denken, und wo ein Philosoph innerhalb seines Systems doziert, begeht er vor lauter Logik oft die haarsträubendsten Denkschauerlichkeiten. Es kommen da geradezu unglaubliche Dinge vor. Hier ein Beispiel des philosophischen Denkens, allerneuesten Datums geschehen: Ein optimistisch veranlagter Philosoph, bestrebt, den Zuhörern den Schmerz der Vergänglichkeit alles Schönen zu heilen, lehrte in öffentlicher Versammlung folgendes: «Die Schönheit ist etwas Vollkommenes; es wäre niedrig und gemein gedacht, wenn man glaubte, sie bedürfe eines Zusatzes; wenn man nun der Schönheit die Dauer verliehe, so würde man ihr einen Zusatz geben, folglich würde man sie hiemit erniedrigen, folglich ist es eine Weisheit der Weltordnung, daß die Schönheit vergänglich ist.» Das sagte der Herr in vollem Ernst, im Glauben, eine tiefe Wahrheit gefunden zu haben.

 

Man muß recht haben

Der Verfasser ist im Irrtum; allein sein Irrtum ist verdienstlich, denn er reizt zum Widerspruch und fördert hiermit auf einem Umwege die Erkenntnis der Wahrheit.» Wie oft habe ich einst als Student diesen oder einen gleichbedeutenden Satz, vom Katheder herunter gesprochen, staunend vernommen. Und ähnlich noch heute täglich in Zeitungen und Zeitschriften: «Wir vermögen zwar den Worten unsres geehrten Mitarbeiters nicht beizustimmen, allein seine Ausführung wirkt ‹anregend›, und das ist im Grunde die Hauptsache.»

Hier stellt man sich also das Gehirn einer Nation als eine Art Korrekturmaschine vor, in welche jeder beliebige unbekümmert jede beliebige Unwahrheit hineinwerfen dürfe, oben in das Maul der Maschine; unten aus dem Bauch der Maschine springt dann die Wahrheit hervor. Vermutlich wird man dabei von der Voraussetzung geleitet, zwei einander entgegengesetzte Unwahrheiten glichen sich aus, höben einander auf, und das Ergebnis wäre mithin die Wahrheit. Leider ergeben zwei einander widersprechende Unwahrheiten ebensowenig die Wahrheit wie zwei einander widersprechende Dummheiten die Gescheitheit. Sondern das wirkliche Ergebnis solcher halbwahren Widersprüche ist eine ewig weiter gebärende Konfusion, dokumentiert durch immer frische Meinungen, in neuen Büchern vorgebracht. Ja, wenn das Bücherschreiben der Zweck des Denkens ist, dann wirkt allerdings der Irrtum förderlich, denn er reizt zu neuen Abhandlungen. So meinen es die Gelehrten, so meinte es Lessing der Sophist, als er das Suchen nach der Wahrheit der Wahrheit selber vorzog, so meinen es die Metaphysiker, deren Systeme sich als Ergänzungen und Korrekturen ihrer Vorgänger aufbauen, so meinen es auch unsre Zeitungen und Zeitschriften, welche vor allem immer neuen Stoff brauchen und denen es daher weniger auf die Lösung der Widersprüche als auf die Besprechung widerspruchsfähiger Themen ankommt.

Mit Verlaub: öffentlich etwas behaupten, über etwas oder jemand urteilen, ist eine ernste Sache, welche das Gewissen angeht, denn öffentliche Behauptungen und Urteile beeinflussen die Ansichten Unzähliger. Eine um so ernstere Sache, je weiter wir uns von dem Gebiet der einfachen Tatsachen, mithin von der Befugnis des kontrollierenden Verstandes entfernen, also zum Beispiel in Dingen der Ethik und Ästhetik. Hier werden die Wahrheiten durch Intuition, durch Eingebungen oder Visionen gefunden – wird überhaupt jemals eine Wahrheit auf andre Weise gefunden? –, und hier lautet für den gewissenhaften Denker das Gebot: Wenn du öffentlich behauptest oder urteilst, so mußt du in der Hauptsache recht haben; andernfalls schweige. Gewiß, jeder Mensch ist fehlbar, allein die Fehler dürfen nicht die Hauptsache berühren, und begangene Fehlurteile und falsche Behauptungen darf man nicht auf die leichte Achsel nehmen, sondern man soll dergleichen bereuen und sich dessen schämen.

 

Abrundung

Geht es Ihnen nicht auch wie mir? Ich muß immer erst eine gewisse Abneigung überwinden, um solche Abhandlungen, die erst gesprochen worden waren, also zum Beispiel wissenschaftliche oder ästhetische Vorträge, gedruckt zu lesen.

Es fehlt mir da nämlich nicht bloß etwas, also die Persönlichkeit, die Stimme des Redners, sondern es stört mich etwas. Was stört mich? Die Zubereitung, die der persönliche Vortrag erheischt und die daher jeder mehr oder weniger, bewußt oder unbewußt, gewährt.

Zunächst die Zutaten: die Einleitung und der Schluß, zwei Dinge, die nichts Wesentliches oder wenigstens nichts Unentbehrliches zur Sache beitragen, sondern ihren Daseinsgrund aus der Psychologie der Versammlung beziehen. Die Einleitung schmeichelt die Versammlung mit sanften logischen Strichen an das Thema heran, der Schluß wärmt sie mit mutigen Gedankenbewegungen wieder von der Stelle. Das ist ja nun nichts Böses, allein es ist etwas sachlich Überflüssiges, das beim Lesen muffig wirkt.

Jene Einleitungen und Schlüsse, die von vornherein für ein Buch geschrieben wurden, tönen ganz anders, gedankengenauer, sachlicher. Abgesehen davon, daß sehr ernste, ich meine wahrheitsernste Denker, die viel Wichtiges zu sagen haben, auch im Buch Einleitung und Schluß verabscheuen. Denn Einleitung und Schluß verallgemeinern, alles Wissenswerte aber ist etwas Bestimmtes, Besonderes. Darum kürzt, wer etwas Rechtes zu sagen hat, auch im Buch die Einleitung und den Schluß oder läßt gar beides einfach weg. Sehen Sie, wie zum Beispiel Jacob Burckhardt ungeduldig in die Materie hineingerät.

Kompliziert wird der Übelstand der Einleitung und des Schlusses, wenn der Redner aus gebildeten Gründen noch versucht, beides übereinzuklängeln, im Schluß auf die Einleitung zurückzukommen und ähnliches, ein sehr wirksames rhetorisches Rezept, ja sogar, wie manche urteilen, ein Erfordernis aller Redekunst; wie denn zum Beispiel die kirchliche Predigt durchaus nach diesem Schema zu verlaufen pflegt.

Worauf beruht die große, fast unfehlbare Wirkung des Zurückgreifens mit dem Schluß auf die Einleitung? Auf ästhetischen Momenten, nämlich auf den Gesetzen der Proportion und der Abrundung. Die Wahrheit ist aber nicht rund, sondern scharf, nicht freundlich, sondern rauh. Darum unser Unbehagen, wenn wir einen harmonischen Denker an der Wahrheit herumölen sehen; sei es nun aus rhetorischen oder kosmischen Gründen.

Dazu kommen dann noch andere Übelstände: die gefällige Gruppierung, die Streifung, statt des resoluten Anfassens, die Popularisierung und der unvermeidliche Optimismus; denn kein Redner darf ja doch seine Zuhörer mit trüben Vorstellungen entlassen.

Kurz, in einer meisterhaft abgerundeten mündlichen Abhandlung kommt so viel Kochkunst zur Verwendung, daß man nachher beim Lesen Mühe hat, das rein Sachliche aus dem schmackhaften Pudding wieder loszupräparieren.

 

AEIOU

Vor Jahren fuhr ich einmal von Reval nach Helsingfors, in einer Gesellschaft, welche aus den verschiedensten Nationalitäten zusammengewürfelt war. Das Gespräch drehte sich um Sprache und Aussprache; wobei die Frage erörtert wurde, ob es überhaupt möglich wäre, eine fremde Sprache derart zu reden, daß man sich nicht als Ausländer verrate.

Ein älterer Herr, der sich bisher nicht an der Unterhaltung beteiligt hatte, trat jetzt lächelnd vor und warf der Gesellschaft in russischer Sprache ein siegesbewußtes Dementi entgegen, mit der Aufforderung, aus seiner Aussprache gefälligst zu schließen, ob er geborener Großrusse oder Kleinrusse oder vielleicht gar Pole sei. «Sie sind aus dem Kanton Schaffhausen», urteilte ich ohne Zaudern. Das Lächeln machte einer unsäglichen Verblüffung Platz. «Wer hat Ihnen das verraten?» brummte er ärgerlich. «Ihre trauliche Klettgauer Vokalisation.»

Und so pflegt es allgemein zu geschehen. Wir bemühen uns lange Jahre um alle Feinheiten einer Sprache, um dann in London, Paris, Petersburg, ja vielleicht sogar in Berlin beim ersten Wort als Fremder entdeckt zu werden; wobei wir nicht wissen, wie das zugeht. Es geht aber fast ausnahmslos so zu, daß wir unsere Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Konsonanten statt auf die Vokale gerichtet hatten, in der Meinung, a, e, i, o, u wären harmlose, selbstverständliche Dinge, während gerade sie doch im Gegenteil die Hauptschwierigkeiten bieten. Im Vergleich zu den vokalischen Aufgaben einer fremden Sprache erkläre ich das vereinigte Konsonantenheer sämtlicher Völker für ein Kinderspiel.

 

Jedermann kennt die englischen Quetschungen der Vokale. Wenn wir jedoch diesen Brauch als etwas Besonderes anstaunen, so täuschen wir uns. Ähnliches kommt auch anderswo vor, zum Beispiel im Schwedischen, im Dänischen und in den slawischen Sprachen. Keine einzige Sprache aber gibt es, welche nicht die Keime hievon zeigte, keine, welche nicht die Neigung bekundete, die Vokale in eigentümlicher und willkürlicher Weise zu verändern. Denken Sie zum Beispiel daran, was die Franzosen aus dem lateinischen e gemacht haben: ‹rex› – ‹roi›, ‹videre› – ‹voir› oder was sie noch heute aus manchen e zu tun gedenken: ‹fouetter›, gesprochen ‹foitter›, und so weiter. Denken Sie an die Unterschiede des a von einer Stadt zur andern, wie da in einem Kanton ‹Gras›, im andern ‹Gros› und im dritten ‹Gräs› wächst. Und diejenigen Sprachen, welche die unbedeutendsten Vokalveränderungen aufweisen, sind natürlich die gefährlichsten, weil die Veränderungen gar leicht überhört werden.

Der ursprünglichste und normalste Vokal, das a, ist leider keineswegs leicht auszusprechen. Es gibt Millionen Menschen, die nie in ihrem Leben ein reines a zustande gebracht haben. Das deutsche Wörtchen ‹ja› kann als Prüfstein gelten. Die Gesanglehrer mögen Ihnen davon erzählen, was für Kummer ihnen das a der Süddeutschen bereitet. Andere Völker sind in der beneidenswerten Lage, von Jugend auf reine a zu hören und zu lernen; vor allem die Romanen. Ein italienisches oder französisches a im Anlaut ohne Zugabe eines Hauches zu intonieren, darf für den Deutschen als ein Kunststück gelten. Veränderungen erfährt die Aussprache des a durch Erhellung gegen das e hin oder durch Trübung nach dem o. Das erstere geschieht nach dem Sprachgesetz der affektierten Redeweise. Alle Menschenklassen, die sich etwas Besonderes dünken, sprechen das a fast oder ganz wie ä und glauben, damit etwas Wunderbares geleistet zu haben; vor allem die Hauptstädter. Am bescheidensten tut das noch der Mailänder und der Pariser; kaum merklich ist seine Erhellung des a, zum Beispiel in den Worten ‹café› oder ‹fat› oder ‹Madame›. Dagegen spricht der Norddeutsche schon mit großer Selbstgefälligkeit ‹fähren› statt ‹fahren›. Vollends der Kopenhager sagt: ‹väre› (sein) für ‹vara›. Ebenso der Holländer, der etwas auf sich hält: ‹den Hääch› für ‹den Haag› (La Haye) und ‹Ärnem› für ‹Arnhem›, mit etwas näselndem a. Das englische e für a wird ursprünglich den nämlichen Beweggrund gehabt haben. Psychologisch erkläre ich dieses Verfahren aus dem Gegensatz zu dem getrübten o-Klang des a, welcher hauptsächlich dem Landvolke eignet.

Der o-Klang ist das plebejische a. Im Süddeutschen haben Sie davon eine ganze Mustersammlung vom Elsaß bis an die ungarische Grenze. Während es aber leicht ist, über die o-Klänge des Nachbarn zu spotten und dieselben zu karikieren, wird es recht unangenehm, wenn wir genötigt werden, eine einzige genau bemessene o-Schattierung nachzuahmen. Und diese Aufgabe tritt nicht gar zu selten an uns heran, da mehrere Völker doppelte, ja dreifache a besitzen, helle und trübe. Der Ungar und der Schwede unterscheidet dieselben sogar durch die Schrift. Das dunkle a erhält im Schwedischen ein Ringlein und lautet wie ein tiefes, trübes o. Also zum Beispiel: ‹Åbo› wie ‹Obo›.

Merkwürdig nimmt sich die Verwandlung von ea oder a in i für den Deutschen aus. Das erstere leistet nicht allein der Engländer, sondern auch der Grieche. ‹Anthea› lautet im Griechischen: ‹Anfi›, mit nasalem französischem n.

A verwandelt resolut in i der Russe. Der behauptet, daß ein a, wenn man es schnell spreche, von selbst zum i werde. In der Tat lautet ‹tschassy› wie ‹tschissy›, und zwar in korrekter Aussprache. Das Volk leistet inkorrekt noch ein übriges, es sagt statt ‹schampansky› (Champagner): ‹schimpansky›; woraus folgt, daß der Russe schon beim ersten Glas Champagner einen Affen hat.

Das e ist der schwierigste Buchstabe des ganzen Alphabetes. In jeder Sprache anders und innerhalb jeder Sprache mannigfach variiert. Das Deutsche besitzt einiges davon, ein wichtiges Gebiet dagegen, dasjenige des offenen e, geht ihm fast ganz ab. Bloß der baltische Deutsche spricht kühn und bewußt: ‹Määr› für ‹Meer›, ‹gärn› für ‹gern.› Unter den europäischen Sprachen im engern Sinn herrscht das e im Französischen vor; man hat das e nicht mit Unrecht die Seele der französischen Sprache genannt. ‹Etat›, ‹chéri›, ‹père›, ‹elle›, ‹j'aurai›, ‹j'aurais›, ‹passé›, ‹être›, ‹paraître›: alle diese e haben eine Aussprache, die untereinander leicht, aber unveränderlich abweicht. An diesen Abweichungen bemißt der Franzose den gesellschaftlichen Rang und die Bildung des Sprechenden.

Die Russen aber haben einen Reichtum von e, gegen welchen selbst das Französische noch eine Kleinigkeit scheint. Wenn Sie Russisch lernen, fürchten Sie sich nicht vor den Konsonanten, aber segnen Sie sich vor den e. Nicht weniger als drei verschiedene Buchstaben für e! Das e bald je, bald i, bald ä, bald o, bald gar nicht gesprochen, nur nie und nimmer e! ‹Orel›, gesprochen ‹Arjól›; ‹Murawief›, gesprochen ‹Muráwjof›. Ferner vor jedem e noch ein vokalischer unbestimmter und unsäglicher Vorschlag, vor welchem Sie sich bekreuzigen mögen. Dieser Vorschlag leistet in den e-Lauten, was unser j in den i-Lauten, nur daß er nicht geschrieben wird. Ich kann es nicht anders nennen als ein konsonantisches e. Lassen Sie sich einmal von einem Russen die Worte ‹tschelovek› oder ‹reptschik› vorsprechen und versuchen Sies nachzumachen! Darum wird der Fremde in Rußland nicht etwa wegen seiner Konsonanten, sondern wegen der e gehänselt.

Das i sollte man wenigstens für harmlos halten, nicht wahr? Lassen Sie uns doch sehen. Sprechen Sie in Berlin das Wörtchen ‹richtig›, so wie wir es in der Schweiz in der Schule lernen, so sind Sie sofort als Schweizer ertappt. Sie könnens aber schon in Karlsruhe mit dem Worte ‹Philipp› erreichen. Ebenso mit dem Wörtchen ‹Krim› in Rußland, welches ‹Krym› lautet.

Das normale i tönt an sich schon so hell, daß es kaum noch einer weitern Erhellung fähig ist; einzig der finnländische Schwede und der Zürcher spricht das i hie und da noch heller als normal. Jener singt: ‹springa›, ‹simma› mit fast komischer Reinheit. Der Zürcher nimmt in dem Worte ‹Fisch› das i um eine Nummer zu hell. Im ganzen und großen handelt es sich beim i um schwächere oder stärkere Trübung. Und zwar leisten hier die germanischen Völker das Verschiedenste und das Erstaunlichste. Da gibt es Trübungen bis zum ä oder ö. Der Däne sagt ‹Krästian› für ‹Christian› und ‹skräft› für ‹Schrift›. Der Holländer: ‹ik bän› für ‹ich bin›. Der Schwede: ‹tschörka› für ‹kirka› (englisch: ‹church›).

Das in ei gedehnte i der Engländer finden Sie auch im Dänischen und Schwedischen ansatzweise. Schwedisch ‹mig›, ‹dig› lautet gesprochen: ‹mei›, ‹dei›. Die korrekte holländische Aussprache dehnt die Doppel-i (ij) in ei: ‹Rhijn› wie ‹Rhein›, ja der Holländer sagt sogar ‹Pareis› und ‹Berlein› für ‹Paris› und ‹Berlin›. Das Wort ‹Mijnheer› dagegen macht aus dem Doppel-i ein stummes e. Man spricht: ‹M'nheer›.

Neben dem gewöhnlichen i besitzen die Schweden noch ein zweites, das nach dem ü hinüberklingt und y geschrieben wird. ‹Ny› (neu), ‹by› (Dorf) fast: ‹nü›, ‹bü›. Doch nicht ganz. Wer unser ü hiefür spricht, verrät sich als Ausländer. Wie bei allen schwedischen Vokalen ist auch hier die genaue Schattierung schwer zu treffen, schwerer als im Englischen.

Ein einzigartiges Phänomen ist die Tendenz fast sämtlicher slawischer Vokale, sich unter Umständen in i zu verwandeln. Vom a und vom e haben wir das schon erwähnt; aber auch ia und o, ja sogar volltönende Diphthonge wie aja und oje werden i gesprochen. Statt ‹Gortschakof› sagt das Volk: ‹Girtschikóf›, statt ‹korridor›: ‹kirridor›, statt ‹schokolad›: ‹schtschikalad› und jedermann spricht korrekt statt ‹nowaja›: ‹nöwia›, statt ‹Zarskoje›: ‹Zarskie›. Außerdem besitzen die Russen noch zwei besondere Buchstaben für das eigentliche i.

Ähnliche Auflösungen der Vokale in i leistet das Neugriechische, wahrscheinlich slawischen Einflüssen unterliegend.

Nun sollte ich logischerweise noch das o und das u schildern. Allein man muß nicht immer alles tun, was man sollte. Nur andeutungsweise seien einige Bemerkungen von mehr praktischer Wichtigkeit berührt. Offenes und geschlossenes o muß man unterscheiden lernen. An dem Mangel dieser Unterscheidung erkennt man sofort den Deutschen in Italien und anderswo. Im Französischen ist die Unterscheidung ebenfalls wichtig. Das Wort ‹Bordeaux› enthält beiderlei o, in der ersten Silbe das offene, in der zweiten das geschlossene. Die Slawen haben mancherlei o, obgleich sie sich mit einem einzigen Buchstaben dafür begnügen. Diejenigen o, welche vor dem Wortakzent liegen, werden im Russischen in deutliche reine a verwandelt. ‹Choroscho›, gesprochen: ‹charaschó›.

Ein eigentümlich stoßendes, kurzes, zwischen o und a liegendes o spricht der Pole, so daß er hieran in allen Sprachen leicht erkannt wird. ‹Zo› (was), ‹to› (das): fast ‹za›, ‹ta›. Darum trägt der Pole den Übernamen ‹Zoto-Polak›. Zwei Laute enthält das schwedische o, abgesehen von dem dunklen a. Der eine gibt unser deutsches geschlossenes, helles o: ‹drottning›, gesprochen: ‹drohning›; der andere klingt sehr nahe an das u hinüber. ‹Bloma› (Blume), gesprochen: fast ‹bluma›. ‹Oxenstjerna› gesprochen: ‹Uxenschärna›. ‹Fjord›: fast ‹fjurd›. Dagegen ‹Skjold› gesprochen ‹Schöld›.

Im u bereiten uns neben dem Englischen natürlich wieder die skandinavischen Sprachen Sorgen. Meistens wird das u fast in ü erhellt. ‹Sju›: fast ‹schü›; ‹tjugu›: fast ‹tschügü›. So etwas wie das elsässische ‹sü› für ‹sou›. Andere Male lautet das u dunkel: ‹upföre›, ‹Upsala›; wieder andere Male wird es leicht gequetscht: ‹mulen›: fast wie ein englisches u.

So! Das wären die fünf Vokale! Ich sage: ‹die fünf Vokale›. Als ob es selbstverständlich wäre, daß jedes Volk gerade fünf und nicht mehr oder weniger Vokale hätte. Weniger ließen wir uns gerne gefallen, aber mehr? Leider gibt es einen mehr: im Slawischen. Er besitzt im Russischen einen besondern Buchstaben, wird dagegen in denjenigen slawischen Sprachen, welche sich ungeschicktermaßen des lateinischen Alphabets bedienen, mit y umschrieben und lautet unaussprechlich, von ferne an den französischen Diphthong ui anklingend: ‹wy›, ‹byl›, ‹byli›, ‹byli li wy›. Ich denke, Sie werden mir wohl allmählich beistimmen, daß die Vokale schlimmer sind als die Konsonanten.

Und dabei überging ich noch gänzlich die Umlaute, welche in den altaischen Sprachen von größter Wichtigkeit sind, die Diphthonge, die Halbvokale, den Anhauch, die Nasallaute und die Mouillierung durch den Halbvokal j.

A propos Mouillierung. Ist es von vornherein ausgemacht, daß man bloß das l mouillieren kann? Was würden Sie zum Beispiel zu einem mouillierten t oder n sagen? Nun, die Slawen haben beides: ‹skasat(j)›, ‹drän(j)›. Ja, sie mouillieren sogar das r. Der bekannte Titel des russischen Kaisers ‹Zar› lautet: ‹Z???àrj›, mit mouilliertem r. Außerdem bewirkt die Mouillierung noch eine andere Tonschattierung des vorangehenden a. ‹Skasatj›: fast wie ‹skasätj›. Sehen Sie, dergleichen nenne ich Schwierigkeiten.

 

Von der ‹singenden› Aussprache

Vor allem ist klarzustellen, daß das ‹Singen› der Rede mit dem musikalischen Singen nicht das mindeste zu tun hat, auch nicht so viel, daß etwa musikalisch veranlagte Völker eine größere Neigung verspürten, in der Rede zu singen. Ganz im Gegenteil: es ‹singen› am ehesten diejenigen, die nicht singen können. Die Italiener ‹singen› nicht. Wenn Patti neben ihrer Gesangspartie ein paar Worte zu sprechen hat, so spricht sie diese Worte überaus kalt und nüchtern.

Es wird denn auch das Singen der Rede nirgends als ein Vorzug, sondern überall als ein Fehler betrachtet, weshalb jede Provinz mit Vorliebe dem Nachbarn Singen zuschreibt, keine sich selber dazu bekennt.

Was versteht man nun aber eigentlich unter singender Aussprache oder genauer unter singendem Tonfall?

Singen heißt nicht etwa die Musik des Tones, also die mathematisch genaue Beobachtung einer gewissen Tonhöhe; auch nicht der jähe Wechsel zwischen hohen und tiefen Tönen; auch nicht die Tonfolge im Dreiklang.

Das alles ist nicht Singen; es ist sogar das Gegenteil des Singens. Der Slawe, der bald in den höchsten Fisteltönen, bald im tiefen Brummbaß redet und ganze Sätze auf eine einzige Note stimmt, singt nicht. Der Süddeutsche und Schweizer dagegen, wenn er sich auch noch so monoton zwischen zwei naheliegenden Intervallen bewegt, singt. Nämlich unter Singen versteht man das Schwanken der Tonhöhe innerhalb eines einzigen Vokals, und wäre die Schwankung noch so gering. Solch eine Schwankung entsteht aber, wenn der Sprechende einen Gefühlsausdruck in den Vokal legen will, in der Weise, daß er durch verschiedene Ton stufen das Gefühl versinnbildlichen möchte. Ein freudiges ‹Ja›, ein ärgerliches ‹Nein› durchläuft bei dem Süddeutschen eine ganze Tonskala, was einem Romanen, einem Slawen niemals widerfährt. Was tun denn diese im vorliegenden Fall? Sie verwenden das Tempo, die Tonstärke und die Tonhöhe, sie fügen erklärende Adjektiva hinzu, aber unter keinen Umständen werden sie von der einmal angeschlagenen Tonhöhe innerhalb des nämlichen Vokals hinauf- oder hinabgleiten. Nie werden Sie aus italienischem Munde ein ‹No› in so ausdrucksvoller Weise vernehmen wie unser ‹Nein›; es bleibt bei einem festen ‹No›. Sie können den Unterschied innerhalb des Deutschen selbst wahrnehmen: Schildert einer seine überstandenen furchtbaren Zahnschmerzen derart, daß er durch die Töne, die er in das a und u des Wortes ‹furchtbar› legt, Eindruck zu machen versucht, dann singt er. Der andere, nicht Singende, verlegt zu demselben Zweck das ganze Wort ‹furchtbar› in die höchste Fistelregion.

Dem Singenden wird seine Aussprache ‹gemütvoll›, die entgegengesetzte, rufende Redeweise eisigkalt erscheinen. Und so verhält es sich auch in der Tat. Nichtsdestoweniger bedeutet das rufende Sagen eine höhere Stufe, weil es neben Stimmfestigkeit größere Selbstbeherrschung und Objektivität voraussetzt, weil es ferner dem Zweck der Umgangssprache, das heißt der Verständigung, angemessener ist. Wir haben ja die Rede nicht, um Gefühle nachzuahmen, sondern um Gedanken auszudrücken. Sprachmalereien und -schauspielereien sind allemal primitive, naive Unternehmungen. Dazu kommt noch, daß der letzte Grund des Singens aus einer gewissen Schwerfälligkeit der Gedanken oder der Zunge stammt; man wirkt durch den Ton, weil das bequemer ist, als das Gefühl mittels ergänzender Worte auszudrücken. Demgemäß eignet das Singen den gemütlichen, etwas maulfaulen Provinzbewohnern, während die redegewandten Hauptstädte und die uralten Kultursprachen das kühlere, aber vornehmere Sagen, Rufen und Flüstern pflegen.

Zur Erlernung fremder Sprachen ist ein singender Tonfall der Muttersprache eines der allergrößten Hindernisse.

 

e e e e!

Lebewesen›, ‹Zellgewebe›! Was tun Sie, wenn Sie so etwas in einem naturwissenschaftlichen Aufsatz antreffen? Ich für meinen Teil springe vom Stuhl, so hoch ich kann, und stoße ein halbes Dutzend Verwünschungen aus, so kräftig ich kann. Nämlich über das gott- und naturverlassene Kathederdeutsch, das im Grunde scholastisches Übersetzungsdeutsch ist. Kommt denn nicht endlich jemand, der deutsch genug kann, um die Naturwissenschaften sprechen zu lehren? Wirklich lebendig sprechen in denkbaren, vorstellbaren Worten, statt in entfärbten, bleichen Silbengerippen, deren bloßer Klapperklang schon alles Leben verscheucht! ‹Lebewesen›, ‹Zellgewebe›! Schon diese scheußlichen, kraftlosen vier e hintereinander sollten einen Menschen zurückhalten, solche Worte zu verüben. Und der Gedankeninhalt ist auch danach! ‹Lebewesen›! Warum nicht gar! ‹Lebewesen› gibt es gar nicht. Ist ein Tiger, ist die schöne Otero, ist ein General ein ‹Lebewesen›? Es gibt ‹Menschen› und ‹Tiere› und ‹Pflanzen› oder, wenn man zusammenfassen will, ‹Geschöpfe› oder meinetwegen ‹Leblinge›, aber ‹Lebewesen› gibt es nicht, schon darum, weil es keine ‹Wesen› gibt. Was ist ein ‹Wesen›? Jedenfalls etwas Wesenloses! ‹Zellgewebe›. Was stellt sich ein gesunder deutscher Mensch unter einer ‹Zelle›, was unter einem ‹Gewebe› vor? ‹Zelle› bedeutet ihm einen Kerker, wo jemand drin sitzt, ein Mönch oder ein Verbrecher. ‹Gewebe› bedeutet ihm das Ergebnis der Arbeit eines Webers. Folglich sitzt in dem ‹Zellgewebe› ein Arbeiter, der sich selber seine vier Kerkerwände fabriziert, wie die Spinne. Jetzt frage ich: Was ist für den Gedanken wichtiger, der Arbeiter in der Zelle, der sich seine Zelle schafft, oder die Zelle? Gewiß der Arbeiter. Folglich richten wir an die Naturwissenschaft die Frage nicht nach der Zelle, sondern nach dem Inhalt der Zelle. Die Antwort lautet ‹Protoplasma›; diesmal zur Abwechslung spricht also die Naturwissenschaft griechisch. In dem einen und dem andern Fall, ob griechisch oder kathederdeutsch, immer scheint es geflissentlich darauf abgelegt, daß man sich nur ja nichts dabei vorstellen könne. Am fürchterlichsten sieht es hiemit in der Chemie aus mit ihren ‹Säuren› und ‹Basen›, mit ihren ‹Stoffen› mit ihrer ‹gebundenen› Wärme und so weiter: Bilder am unrechten Ort nur zu viele, aber niemals glückliche, sondern irreleitende Bilder. ‹Kohlenstoff›! Stoff ist ein viel zu derb sinnliches Wort für die zu bezeichnende Sache. Ah! ‹Arsen›, ‹Dynamit›, das sind echte Wörter, denn sie sagen etwas für die Sache Bezeichnendes, das heißt für den, der griechisch kann. ‹Höllenstein.› Ah, das ist wieder ein echtes Wort, freilich keines nach dem Geschmack des Katheders! Warum versteht nun unsere Sprache, ‹Höllenstein› zu sagen, warum versteht sie dagegen kein vernünftiges vorstellbares Wort für Kohlenstoff zu finden? Weil die Sache ‹Höllenstein› dem sprachbildenden Teil der Nation, dem Volk, unter die Augen und in die Erfahrung gekommen ist. Wie wir aus demselben Grunde ein sehr schönes und reiches deutsches Wörterbuch für die botanischen und zoologischen Dinge besitzen. Folglich müßte man, um Chemie und Naturgeschichte Deutsch zu lehren, einen gesunden Bauern mit Chemie füttern und ihn dabei fragen: «Wie würdest du jetzt das und das nennen?» Dann würde er vielleicht für Dynamit antworten: «Den starken Teufel.»

Wenn wir doch nur endlich so weit wären, daß alle Welt, Philosophie und Wissenschaft inbegriffen, einsieht, daß jedes echte Denken in Bildern geschieht – aber in richtigen Bildern – und daß alles begriffliche, abstrahierende Denken den Gegenstand, um den es sich handelt, entgeistigt, des Lebens und hiemit des Interesses beraubt. Man handelt vom Leben und bedient sich hiefür der leblosesten, staubigsten Rede.

 

Zur Fremdwörterfrage

Wie bekannt, ist in Deutschland seit Jahren eine Bewegung zur Reinigung der deutschen Sprache von überflüssigen Fremdwörtern im Gange; eine eigene Verbindung hat sich zu diesem Zwecke gebildet, eine regelmäßig erscheinende Zeitschrift sucht die Sache dem Volke ans Herz zu legen; die Obrigkeit leiht ihr ihre Gunst und starke Mithilfe, so daß gegenwärtig wohl kaum ein Fach oder ein Geistesgebiet gänzlich von diesem nationalen Streben unberührt geblieben ist.

Stellen wir uns nun auf den unparteiischen Standpunkt eines Beobachters, den die Sache praktisch gar nichts anginge, so werden wir wohl kaum zaudern, die Bestrebungen der deutschen Sprachreiniger im großen und ganzen gut und vernünftig zu heißen. Denn ein Besen tat weiß Gott not, das wird jeder bestätigen, der die norddeutsche Umgangssprache an der Quelle zu kosten Gelegenheit hatte und der sich darüber klar geworden ist, aus welchen Beweggründen die Bescherung stammte. Die Mehrzahl der Fremdwörter verdankt ja ihre Aufenthaltsbewilligung in der deutschen Sprache keineswegs, wie die Gegner glauben machen wollen, einem logischen Bedürfnis, einer Begriffsnot, einer Wortarmut, sondern vielmehr der schmählichen, abgeschmackten Prahlsucht. Gewisse Stände dünken sich vornehm, wenn sie französische, andere, wenn sie lateinische Brocken zum besten geben; nicht um ein feineres Verständnis zu vermitteln, sondern im Gegenteil, um womöglich gar nicht verstanden zu werden, reden sie in Zungen; denn nicht verstanden werden halten sie für gleichbedeutend mit einer Auszeichnung. Die Überhebung, mit welcher andere Völker dem Fremden begegnen, übt der Deutsche an seinen Volks- und Sprachgenossen; das gehört zu seinem Nationalvergnügen. Der Russe ist stolz darauf, daß einzig er die lateinischen Abstraktworte, das Gemeingut der übrigen europäischen Völker, nicht braucht, weil er die zartesten Begriffe aus eigenen slawischen Wurzeln zu bilden versteht; der Franzose verleiht jedem Fremdwort, das nicht der lateinischen Mutter- oder der griechischen Tantensprache entstammt, eine verächtliche Nebenbedeutung; der Deutsche umgekehrt hält das geliehene Wort stets für das vornehmere. Die verdiente Strafe für eine solche Gesinnung liefert der Humor der Weltordnung, indem er die gelehrttuerische Prahlerei der Unwissenheit überführt und der Lächerlichkeit überantwortet. Denn ohne die plumpsten Fehler hinsichtlich der Betonung, der Aussprache und der Sprachregeln geht es an denjenigen Orten, wo Fremdwörter als Verzierungen betrachtet werden, niemals ab, zumal wenn es sich um französische Brocken handelt. Der Berliner Ovisier und Portiö, der deutsche Zahlóng, die Chansonette (statt Chanteuse), die Balleteuse (statt Ballerine), die Table d'eau und unzählige andere Beispiele geben dafür Zeugnis. Jedes französische Wort muß schon deswegen ohne Ausnahme und ohne Gnade und Barmherzigkeit aus der deutschen Sprache entfernt werden, weil der Deutsche unvermeidlich bei diesem Anlaß wenigstens einen, meistens drei Fehler und obendrein allerlei Tonabscheulichkeiten begeht.

Mit den lateinischen und griechischen Fremdwörtern verhält es sich scheinbar besser, doch nur deshalb, weil dem überlieferten Sinn und der einmal angenommenen Aussprache kein lebendiges Muster gegenübersteht. Wer jedoch darum meinen sollte, die Benützung dieser Brocken hätte nichts auf sich, die Verpönung derselben entspringe lediglich einer puristischen Schrulle, dem empfehle ich zwar nicht, weitläufige Abhandlungen zu lesen, wohl aber zwei Proben an sich selbst anzustellen.

Schreibt mein Leser selbst, so versuche er es einmal, Neugier halber, einen seiner rasch hingeschriebenen Aufsätze nachträglich von allen Fremdwörtern strengstens zu reinigen. Das wird ihn gewiß sauer ankommen, und nicht überall wird es gelingen; allein unter zehn Fällen gelingt es sechs- oder siebenmal. Vergleicht er dann den solchermaßen veränderten Aufsatz mit dem frühern, ursprünglichen, so wird er zu seiner mehr oder weniger großen Überraschung unfehlbar den Eindruck erhalten, daß der letztere nicht bloß sauberer, sondern zugleich vornehmer, klarer und eigentümlicher, ich meine, die Ansichten und den Charakter des Verfassers treuer widerspiegelnd, lautet. Das kommt daher, daß die Fremdwörter Gemeinplätze sind, Redensarten, aber nicht Gedanken bedeutend und mindestens drei bis vier ähnliche, doch verschiedene Begriffe verschwommen bezeichnend. Darum eben wird uns die Verdeutschung so schwer, weil sie den Geist nötigt, aus dem verschwommenen Nebel den genauen Gedanken herauszulesen, weil sie ihn zur Wahl zwischen mehreren Ersatzwörtern zwingt, welche natürlich niemals vollständig dem Fremdwort entsprechen können, da sich um das Fremdwort durch den täglichen Gebrauch allerlei unklare Begriffsbeimischungen angehäuft haben. Ich möchte das Fremdwort mit einer Münze vergleichen, deren Inschrift niemand mehr liest, an deren zweifelhafter Überkrustung jedoch die Spuren von jedermanns Händen wahrnehmbar bleiben. Ein solches Geld mag einem durch Gewohnheit vertraut werden, dasselbe ist auch ohne Zweifel wohlfeiler, bequemer und leichter erhältlich; allein die Zumutung an den Schriftsteller, edles Gold auszugeben und sein eigenes Bild deutlich darauf zu prägen, ist für ihn ebenso ehrenvoll wie heilsam. Eine mit Fremdwörtern gespickte Schreibart wird schwerlich eigenartig und ursprünglich sein.

Dies der erste Versuch. Nunmehr der zweite, noch einfachere. Wer nicht selbst schreibt, der nehme auf Geratewohl einige deutsche Bücher aus den letzten Jahrhunderten oder auch Jahrzehnten vor. Dabei wird er, wenn er seine Eindrücke aufmerksam prüft, folgendes Ergebnis finden: Die darin enthaltenen deutschen Worte, die heutzutage nicht mehr gebräuchlich sind, werden ihn mitunter befremden, andere Male etwas bäuerlich anmuten, so daß er über dieselben freundlich lächelt, wie man über die Einfalt eines ungelenken Kindes lächelt; weit häufiger jedoch werden sie seine unmittelbare Zustimmung gewinnen, so daß er den alten Schriftsteller darum beneidet und vielleicht gar unbewußterweise sie ihm ablernt. Der Gesamteindruck des außer Gebrauch gesetzten deutschen Wortschatzes bleibt derjenige der Kraft und Ursprünglichkeit, etwa einmal auch der Unbeholfenheit, doch nicht derjenige des Alters und des Moders. Sobald dagegen ein einziges Fremdwort, das wir heutzutage nicht mehr anwenden, aus dem Satz ins Auge sticht, nimmt sich dasselbe jetzt so über die Maßen wunderlich aus, daß wir hell auflachen müssen. Das ist nun Zopf, das ist alt, das ist geschmacklos. Vollends ein mit Fremdwörtern durchspickter Stil aus früherer Zeit scheint uns in das fernste rohe Mittelalter zu versetzen, obwohl das Buch vielleicht nicht hundert Jahre alt ist. Man vergleiche nur Hallers Briefwechsel mit demjenigen Lessings: Haller scheint aus fernen Jahrhunderten zu uns zu sprechen, während Lessing sich so frisch ausnimmt, als hätte er gestern geschrieben. Auch Luthers Bibelübersetzung verdankt ihre unvergängliche Jugend nicht zum wenigsten der kühnen Verdeutschung des unmöglichsten Tohuwabohu; an Berechtigung, einige zehntausend hebräische Sprachbildungen stehen zu lassen, ‹weil die Verdeutschung den Sinn nicht vollständig wiederzugeben vermöge›, hätte es ihm wahrlich nicht gefehlt. Eine zweite Hauptwahrheit lautet mithin folgendermaßen: Wer ohne jedes Bedenken oder gar mit Behagen Fremdwörter in seinen Stil sät, wird zwar bei seinen Mitlebenden möglicherweise den Schein hervorragender Schulbildung gewinnen, dafür aber ohne jeden Zweifel bei der Nachwelt das Urteil der Barockheit eintauschen. Und zwar, wohlverstanden, bereits bei der nächsten Nachwelt, denn Fremdwörter veralten unglaublich rasch, kaum weniger rasch als die Mode, weil an die Stelle der einstigen Lieblinge andere gesetzt werden.

 

Fremdname und Orthographie

Wenn ich im Italienischen ‹Kokodril› statt ‹Krokodil›, ‹Politeama› statt ‹Polytheama› als Regel zu Recht bestehen sehe, wenn ich ‹Anfitheater› für ‹Amphitheater› sprechen höre, so überkommt mich eine barbarische, aber innige Seligkeit. Da ist nun ein Volk, das systematisch alle griechischen th und ph, deren Vernachlässigung uns in der Schule wie eine Todsünde gegen den heiligen Geist der Kultur dargestellt wurde, einfach in t und f vereinfacht. Und dieses Volk ist dasselbe, welches uns den Geist der antiken Kultur wiedergeschenkt hat. Es scheint also, daß die pünktliche Nachschreibung griechischer Namen und griechischer Geist doch etwas weiter voneinander entfernt ist, als unsere humanistische Scholarchie aus dritter Hand meint. Die Fehler einer Generation werden zu Regeln für die Nachkommen: wir strafen den Gymnasialschüler, welcher ‹Xerxes› oder ‹Ahasverus› unrichtig schreibt, während diese Worte doch ihrerseits nichts anderes sind als griechische und lateinische Verballhornungen persischer Namen. In griechischem Geist handelt der, welcher sich um die Rechtsprechung und Rechtschreibung fremder Namen einen Kuckuck kümmert.

Es stände besser um unsere deutsche Sprache, wenn sie wieder wie ehedem und wie das Italienische von heute den Mut und die Kraft besäße, unbekümmert um die Gelehrtheit, die Fremdwörter barbarisch, aber mundgerecht zurechtzustutzen. Schreibe ich dagegen ‹Bacchus› und ‹Sappho›, nachdem die deutsche Sprache schon glücklich über diese alphabetischen Ungeheuer weggeschritten, so mache ich mich einfach des Dünkels schuldig. «Seht es und hört es, ihr Völker, ich weiß, daß im Griechischen noch ein k vor dem ch und ein p vor dem ph gestanden hat.» Eine wichtige Weisheit! und eine feine Überlegenheit! Da tut mir die italienische ‹Sinfonie› in der Seele wohl, welche zwar zwei schauerliche orthographische Schnitzer enthält, aber der Welt die Instrumentalmusik geschenkt hat.

 

‹Ohne es›

Da lese ich in einem Nekrolog über die Wolter: «Aber das Theater besuchte sie regelmäßig. Ohne es war das Leben für sie kein Leben.»

Schön. Dahin sind wir also glücklich gelangt. ‹Ohne es.› Der Verfasser wollte natürlich sagen: ‹ohne dasselbe›; aber das wagte er nicht, weil er voraussah, kritische Prügel zu erhalten, wenn er sich das verfemte Wörtchen, gegen welches seit einigen Jahren eine bissige Hetzjagd im Schwang ist, zuschulden kommen ließe.

Nämlich es wird nachgerade eine förmliche Seuche. Einer nach dem andern springt auf die Kanzel, um uns im gröbsten Prophetenton dieses oder jenes harmlose Wort der täglichen Sprache, das bisher jedermann unbedenklich gebraucht, verleiden, nein, verbieten zu wollen. Das fing, wenn ich nicht irre, mit ‹voll und ganz› an und frißt nun weiter, bis schließlich nichts als die vollsaftigsten Hauptwörter und Eigenschaftswörter im Satz stehen bleiben werden.

Ich will ‹voll und ganz› nicht verteidigen, weine ihm auch keine Träne nach. Immerhin, wenn Gottfried Keller jeden einen Esel nannte, der ‹voll und ganz› schreiben könne, so erinnere ich mich eines berühmten Professors des Deutschen, der jeden einen Pfuscher hieß, der ‹nun aber› schreibt. Gottfried Keller schreibt nun aber ‹nun aber› mit wahrem Behagen: ist er ‹nun aber› deshalb wirklich ein Pfuscher? Also bitte etwas weniger zuversichtlich! Ich mache mich anheischig, eine Unmenge armer kleiner hilfloser Hilfswörter zu bezeichnen, die man mit gutem pedantischem Willen ‹Unsinn› und mit guter pädagogischer Grobheit ‹Eseleien› nennen kann. In der Tat, wenn das so weiter geht, wer steht uns dafür, daß nicht irgend ein Eiferer nach zehn oder zwanzig Jahren Anstoß an dem Worte ‹auch› oder ‹plötzlich› oder ‹damit› nimmt und dann in wütendster Stimmung nachschnüffelt, wie oft einer von uns das scheußliche Wort verübt habe.

Gegenwärtig ist es namentlich das unglückliche ‹derselbe›, das da herhalten muß. Ich habe mich schon lange darauf gefreut, was für verblüffte Mienen die Herren schneiden werden, wenn sie endlich vor die Tatsache stoßen, daß unsere allerersten Dichter das Wort ‹derselbe› mit Vorliebe gebrauchen. Die Tatsache steht fest: Goethe, Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer haben sich nicht im mindesten besonnen, ‹derselbe› für ‹er› und ‹dasselbe› für ‹es› zu setzen. In meiner Naivität zog ich daraus den Schluß, wenn Sprachmeister ersten Ranges ein Wort gerne in den Mund nehmen, so werde das Wort wohl kein so sträflicher Unsinn sein. Es scheint, daß dieser Schluß unrichtig ist. Wie wir neuestens in einer Abhandlung lesen konnten, soll zwar einerseits an sich das Wort ‹derselbe› allerdings ein unverzeihlicher Unsinn sein, dagegen soll es anderseits wieder einen Beweis für die Genialität Gottfried Kellers abgeben, daß er das unsinnige Wort benützte. Wenn das nicht byzantinische Scholastik ist, was ist byzantinische Scholastik? Entweder oder. Entweder ist ‹derselbe› wirklich ein scheußliches, unverantwortliches Wort, dann muß man sagen: es bleibt zu bedauern, daß Gottfried Keller seinen Stil damit verunstaltet hat; oder man muß sagen: es kann nicht so schlimm mit diesem papiernen Wort stehen, da es Gottfried Keller gebraucht hat, mit dessen Sprachgefühl es doch nicht so übel bestellt war. Von Wahrheiten, hinsichtlich deren (o weh: ‹hinsichtlich›, das ist auch verpönt, wenn ich mich nicht täusche) es ein Beweis von Größe sein soll, wenn man sie umstößt, will ich überhaupt nichts wissen. Ich sage mir, es kann möglicherweise auch ein Beweis von Gedankengröße sein, wenn wir diese ganze Prophetenweisheit für nichts achten.

Woher haben wir denn das Wort ‹derselbe›? Wer hat dieses Wort in den papiernen Stil eingeführt? Etwa Kaufleute, Richter, Großräte, Advokaten, Kanzlisten und ähnliche Sprachmörder? Durchaus nicht, sondern unsere Professoren und Sprachgelehrten. Wackernagel vor allem, der große Germanist, der doch auch Deutsch konnte, war ein beredter Fürsprecher des nun so angefeindeten Wörtchens. Wackernagel lehrte: Jedes persönliche Fürwort, das sich nicht auf das Subjekt bezieht, darf, und wenn Subjekt und Objekt dasselbe Genus haben, muß mit ‹derselbe› vertauscht werden. Ferner: Jedes ‹es› ohne Ausnahme, das nicht unpersönlich ist (‹es› regnet), sondern sich auf ein Ding oder eine Person bezieht, muß in ‹dasselbe› verwandelt werden. ‹Ohne es› hätte er als einen haarsträubenden Fehler mit zwei Ausrufungszeichen versehen. Und mit Recht. Denn ‹ohne es› ist nicht deutsch. Das Volk sagt ‹ohne ihns›, der Gebildete ‹ohne dasselbe›. Und jetzt plötzlich soll es ein sträflicher Unsinn sein, das Wort ‹derselbe› nur in die Feder zu nehmen?

Weil das Wort den Ton verloren hat, also ‹enklitisch› geworden ist, deshalb müßten wir es verpönen? Nun, das Volk der vollkommensten Sprache, nämlich die Griechen, hatten eine wahre Vorliebe für enklitische Ausdrücke. Weil drei unbetonte Silben aufeinanderstießen, deshalb wäre es ein ‹Monstrum›? Erlauben Sie mir, etwas anderes ein Monstrum zu nennen: die gänzlich willkürliche Behauptung unserer Grammatiken, es gebe in keiner Sprache mehr als zwei unbetonte Silben nacheinander und könne keine geben. Die slawischen Sprachen haben fünf unbetonte Silben hintereinander. Ein Franzose gleitet mitunter über einen ganzen Satz ohne Ton, um nur eine einzige Silbe zu betonen.

Im Gegenteil. Weil ‹dasselbe› drei unbetonte Silben hat, bedeutet das Wort einen Fortschritt in der deutschen Sprache, ein Hoffnungszeichen, daß endlich auch der Deutsche, gegenwärtig noch der schlechteste Sprecher von ganz Europa, lerne, sich geläufig in fließender Rede auszudrücken. Denn die Vorherrschaft des logischen Satztones über den einzelnen Wortton ist ein Fortschritt. Wie denn auch die besten Sprachen und Sprecher den Wortton dem Satze unterordnen, also zur Enklitik neigen: Griechen, Franzosen und Slawen. Also gerade weil ‹derselbe› gegen eine absurde Behauptung unserer Grammatik verstößt, müssen wir es heilig hüten, als einen Protest gegen Aberwitz.

Es ist übrigens nicht das einzelne Wort ‹derselbe› oder ‹welcher›, noch irgend ein anderes, das mich dermaßen rührte, daß ich es verteidigen muß; es ist vielmehr die ganze Richtung, die darauf hinzielt, aus unserer Prosa das ‹Überflüssige›, das sogenannte ‹Blasse›, ‹Papierene›, ‹Exakte› oder, wie man ehedem sagte, das ‹Abstrakte› zu entfernen. Eine Richtung, die bereits dahin gelangt ist, wie ich aus einer Besprechung entnehme, mit dem ‹obschon› und ‹ungeachtet› Krieg anzubändeln. Als ob nicht eine Konzessivpartikel eine ideale Erbschaft wäre, die unendliche Geistesarbeit voraussetzt, als ob nicht ein einziges ‹obschon› den Europäer vom Neger unterschiede, als ob nicht ein logischer Satzbau Krieg und Blutvergießen wert wäre, so gut wie Religion und Moral!

Wer hat denn die meisten ‹farblosen›, ‹blassen›, ‹papierenen› Wörtchen im Satzbau? Die Griechen! Und wer unter den Griechen am meisten? Die Athener. Möchten Sie wie die Schulbuben etwa auch die ‹men› und ‹de› und ‹te› und ‹ge› und ‹gun› aus dem griechischen Satze wegschneiden? Oder betrachten Sie vielleicht die hebräische Wortklotzerei für vollkommener als den griechischen logischen subtilen Satzbau? Das Hebräische, das so wenig ‹farblose› Wörtchen hat, daß es nicht einmal ‹weil› von ‹obschon› unterscheiden kann, daß man nie mit Sicherheit weiß, ist von der Vergangenheit oder von der Zukunft die Rede? Das wäre also euer Ideal?

Aller Fortschritt des Menschengehirns geschieht nicht durch Poesie und Bildlichkeit, denn hier gibt es keinen Fortschritt, sondern durch Geist, und Geist ist Abstraktion, so sehr, daß am Abstraktionsvermögen sich die Geisteshöhe ermessen läßt. Zuerst und zu oberst kommt der Verstand. Eine Prosa, in welcher nicht der Verstand, mithin die Logik, mithin die Partikel, mithin das papierene Wort die Herrschaft führt, ist möglicherweise eine poetische Mißgeburt, ist aber niemals eine gute Prosa.

Zu dünn ist euch der papierene Stil? Ich weiß etwas, das noch viel dünner ist als das dünnste Fließpapier und doch kein Unsinn: der Gedanke.

Wie das Volk spricht, so sollten wir schreiben? Ja, wie spricht denn das Volk? ‹Poetisch›, das will sagen bildlich im Wort, kräftig im Ausdruck, dagegen einförmig im Satz und über die Maßen unbeholfen im Satzgefüge. Wer geläufig redet, spricht in Aphorismen, wer mühsam oder ungern, in Interjektionen, hingeworfenen Satzstummeln, verdeutlicht durch Gebärden, vervollständigt durch unartikulierte Laute. Manchem genügt wohl auch ein halbes Dutzend Schimpfwörter für einen halben Tag, die vielleicht an sich recht kräftig und poetisch sein mögen. So oder so, Periodenbau, Unterordnungen, feinere logische Abstufungen gibt es da nicht.

Das ist nun alles schön und gut, es reicht für den täglichen Hausgebrauch glänzend aus. Aber wenn nun dasselbe mundgewaltige Volk zusammenhängend in erzählender oder gar in begründender Weise reden soll, also zum Beispiel vor Gericht? Was gibt es dann für ein hilfloses Gestackel! Und warum hilflos? Weil dem Volk fehlt, was der Sprachgebildete hat, nämlich Übung in logischer Entwickelung des Gedankens, in der Ordnung und Verbindung der Sätze.

Die Herren haben etwas läuten hören, wissen aber nicht was. Wer soll schreiben, wie das Volk spricht? Wer soll sich einer bildlichen markigen Sprache befleißen, also alles Blasse, Abstrakte, Papierne wie Gift meiden? Der Dichter, der Prosa dichtet. Also der Erzähler hohen Stils, der Novellist und so weiter. Daß diese Art Prosa jedoch nur eine Scheinprosa ist, nichts anderes als eine verkappte Poesie, daß sie deshalb nach dem poetischen, nicht nach dem prosaischen Reglement marschiert, folglich die Gesetze der literarischen Erzählungsprosa nicht auf die echte Prosa übertragen werden dürfen, sondern das, was hier eine Tugend ist, dort zum Fehler wird, dieses Geheimnis ist ihnen scheints noch nicht verraten worden. Die echte Prosa, die Prosa des Gedankens hat ihre eigenen Stil- und Sprachgesetze. Diese lauten: Klarheit und abermals Klarheit. Dann noch einmal Klarheit, hierauf logische Gliederung, endlich Flüssigkeit. Hier heißt es nicht: ‹Schreibe, wie man spricht› – sondern umgekehrt: ‹Sprich, wie man schreibt; schreib, wie man denkt, und denke, wie dichs der Verstand lehrt›.

 

Ein wundertätiges Zeitwort

Das Zeitwort ‹lieben› hat nachgerade in der Literatur der Gegenwart eine so exzeptionelle Stellung erhalten, daß es auf der einen Seite an das Mystische und auf der andern ans Kindische streift.

Ich will nicht davon reden, daß der Inhalt dieses Wortes schließlich das einzige Thema bleibt, um welches sich heute ein Lesepublikum noch interessiert. Obschon sich davon viel reden ließe; denn wiewohl die Poesie ewig die Liebe als ihren süßesten Zucker verwenden wird, so kommt es doch einem Armutszeugnis gleich, wenn eine Generation in der Literatur schlechterdings nichts anderes mehr zu genießen vermag als die Verliebtheit eines Menschen. Da rächt sich eben, wie Riehl nachgewiesen hat, die beständige Rücksicht, nicht auf die Weiblichkeit, aber auf die Mittelmäßigkeit unter der Weiblichkeit. Allein, wie gesagt, davon sei hier nicht die Rede; es würde uns auch viel zu weit führen. Nicht die Vorherrschaft des Liebesverhältnisses in der Literatur, sondern bloß die pedantische Alleinherrschaft einer bestimmten konventionellen Ausdrucksformel für das Liebesverhältnis will ich kritisieren.

Wie rührend und wie überzeugend in ihrer natürlichen Einfalt lauten doch die populären wahrhaftigen Liebesgeständnisse! Es sind meistens Umschreibungen, ganz entsprechend der zaghaften Verwirrung im kritischen Augenblicke. Wir Schweizer kennen ja überhaupt das Zeitwort ‹lieben› gar nicht. Und wir dürfen uns Glück dazu wünschen. «I ha di gärn» – ist das nicht unendlich besser, als: «Ich liebe Sie, ja, Emma, ich liebe Sie mit der ganzen Glut meines Herzens und meiner Seele; von dem ersten Augenblick, da ich Sie sah, kannte ich keine größere Wonne, und so weiter», wie das konventionelle Romangeschwätz lautet. Ähnlich drückt sich das wahre Gefühl in allen Dialekten und Sprachen aus: «I mag di gar zu gern, i mag di leiden.» Der Schwede, gleich dem Schweizer, vermeidet ebenfalls das direkte Zeitwort der Liebe, ‹älskar›, und sagt: «Jag tycker om dig.» Am aller schönsten wird es immer wirken, wenn das direkte logische Geständnis gänzlich ausbleibt, wie in jener poetischen Szene Kellers, wo beim Anhören eines gemütlichen Gesanges die beiden sich plötzlich in die Arme fallen.

Von all dieser Mannigfaltigkeit in der Wahrheit ist nun in der großen Romanschwemme nicht mehr die Rede. Da gibt es bloß noch ein einziges offiziell gestempeltes Wort, ohne welches niemand mehr glaubt auskommen zu können. Gewiß ist es dem Leser schon aufgefallen, wie hinter jedem tatsächlich fertigen Geständnis noch das Wort ‹Liebe› als letzter und höchster Trumpf ausgespielt wird; es ist das Tüpfchen auf dem i, ohne welches keine volle Rührung erwartet wird. Wie man auf der Orgel ein Register zieht, damit sie tremoliere, so sicher rechnet man mit dem Vorweisen jenes konventionellen Wörtchens auf ein Tremolo beim Leser. Und das ist in allen Sprachen dasselbe. Natürlich schwillt dann ein solches Symbol zu ungeheurer Bedeutung auf, welche die lächerlichsten Folgen bringt.

Einmal erhält das Zauberwörtchen einen mystisch-geschlechtlichen Beigeschmack, so daß es zu Freundschaftsdiensten nicht mehr taugt, wie wir an dem französischen Sprachgebrauch gesehen haben. Nun möchte ich wissen, warum man nicht einen Freund soll ‹lieben› können, da wir auch unsere Eltern oder unsere Kinder ‹lieben›, ohne daß wir dabei an Venus und Amor erinnert werden.

Ferner habe ich Menschen gefunden, welche sich darüber entrüsten, wenn jemand sich ausdrückt: «Ich liebe den Rheinwein.» «Aber Rheinwein kann man ja doch nicht lieben; trinken kann man ihn und schätzen (und bezahlen?), aber doch nicht lieben!» Natürlich, wenn man bei dem Wörtchen ‹lieben› nichts anderes mehr zu denken vermag als: «Emma, seit dem ersten Augenblick, da ich Sie gesehen», dann kann man Rheinwein nicht ‹lieben›. Ein gerader Mensch hingegen wird fortfahren, Rheinwein, Bordeaux und Gänsebraten und alle guten und schönen Menschen und Dinge unbedenklich zu lieben; jedes auf seine Art, wie sichs bei Verständigen versteht.

Endlich wird man notwendig dahin getrieben, das allmächtige Wörtchen, welches in jedem Buch den Ausschlag gibt, immer mehr zu betonen. Nun kennt leider die Grammatik für Zeit- und Hauptwörter keinen Superlativ; man kann nicht im Stil des Don Quichotte sprechen: «Je t'aimissime»; man muß sich also anders helfen. Und bei der wirklichen Rede, das heißt beim mündlichen Vortrag, läßt sich auch gar leicht helfen, wie jeder Theaterbesucher aus Erfahrung weiß. Es handelt sich nämlich einfach darum, das Wort ‹ich liebe› mit möglichster Prätension und Stimmkraft in die Ohren zu drücken, wie das Blei in einen hohlen Zahn. Das empfiehlt sich auch fürs Vorlesen. Immer muß jenes Wörtchen gleichsam ‹gesperrt› und ‹fett› – um mich der Setzersprache zu bedienen – ausgerufen werden. Warum übt man aber dasselbe System nicht in der Schrift? Warum druckt man dort jenes Zeitwort nicht auch ‹gesperrt› und ‹fett› oder je nach der Konstitution des Liebenden ‹halbfett›? Ohne Zweifel bedarf es nur eines Anstoßes, um diese Verbesserung einzuführen. Auch ist der Anfang wirklich unlängst gemacht worden. Es liegt vor mir ein Drama namens «Saul», gepriesen von Krethi und Plethi und gerühmt vom Don bis Berseba. Die Verfasserin, übrigens eine anmutige Wienerin, läßt jedesmal, wenn das Wort Liebe an die Reihe kommt, und das geschieht nicht selten, dasselbe so auffällig als möglich drucken. Und mit dem größten Erfolg; man hört ordentlich den Schauspieler das Hieroglyph aus der tiefsten Brust gen Himmel hinaufwerfen. Das darf also zur Nachahmung empfohlen werden.

 

Verleumderische Wörter in der Rechts- und Sittensprache

Es gibt in der Rechts- und Sittensprache Wörter, meistens dem mittelalterlichen, feierlichen, hexenbrandlustigen Lexikon entnommen, die ein Verbrechen oder ein Laster nicht bloß benennen, wie es sich gehört, oder gleichzeitig tadeln, wie es angeht, sondern mit solchen drastischen, fürchterlichen Namen belegen, daß sich bei ihrem bloßen Klange schon die Herzen und Nerven empören, die Fäuste des Pöbels ballen. Eigentlich aufreizende Namen. ‹Blutschänder!› Für solch ein Scheusal scheint ja der Tod noch zu gelinde. Man bedenke doch! ‹Blut› und ‹Schänderei› multipliziert! Nun, das Verbrechen beschränkte sich vielleicht darauf, daß einer seine hübsche Cousine heiratete. Ähnlich verhält es sich mit ‹Kirchenschänder›, ‹Leichenschänder›, mit ‹Selbstbefleckung›, mit ‹Spielhölle› und so weiter. Bei allen solchen Namen macht sich die Rechts- und Sittensprache der Unehrlichkeit schuldig, eine verhältnismäßig unbedeutende Rechts- oder Sittenwidrigkeit mit einem derartig alarmierenden Namen zu belegen, daß die Phantasie des Hörers in Aufruhr gegen den Delinquenten gerät, indem sie dem gedankenlosen Denken greuliche unrichtige Vorstellungen vorgaukelt. Diese Namen wirken daher verleumderisch. Insbesondere das Wort ‹Spielhölle› mit seinem betrügerischen Vertauschen der Vorstellungen ‹Hölle› und ‹Höhle› ist ein wahres ethisches Gaunerstückchen.

 

‹Corriger la fortune›

Darf man wirklich mit Lessing die direkt und gröblich brandmarkende Verurteilung gegenüber der schonend umschriebenen für den Beweis eines einfachern, gesundern Sittlichkeitsgefühls betrachten? So leicht geht das doch nicht. Es gibt peinlichste Rechtlichkeit und Strenge gegen sich selbst, vereint mit Schonung des fehlbaren Nächsten, es gibt ferner Kulturhöhen und Gesellschafts- und Geisteshöhen, wo jeder direkte, gröblich brandmarkende Ausdruck deshalb durch einen gelindern umschrieben wird, weil dieser genau denselben Dienst tut und dabei das Ohr der Umstehenden nicht verletzt, auch die unschuldigen Angehörigen des Schuldigen weniger mittrifft. Ob ich sage: «X hat gestohlen» oder: «X a commis une indélicatesse» oder: «X hat unfair gehandelt», kommt aufs selbe hinaus, wofern nur X aus jeder anständigen Gesellschaft ausgeschlossen wird. Oder wenn es in einer französischen Zeitung heißt: «Y est un personnage peu intéressant», so wirkt das genau so vernichtend, wie wenn eine deutsche Zeitung mitteilen würde: «Y hat sich gegen den Paragraphen so und so des Reichsgesetzbuches vergangen.»

 

Enthüllungen über das Treiben der deutschen Professoren

Wenn der geneigte Leser die Mühe nicht scheut, an einem wolkenlosen Morgen auf die Höhe der Zeit zu steigen – eine ganz kurze und keineswegs anstrengende Tour, die wir selbst Damen und Rekonvaleszenten empfehlen –, dann kann er, falls er über ein gutes Auge verfügt, das interessante Schauspiel beobachten, wie von allen Seiten Deutschlands her die Professoren und Privatdozenten nach dem Tempel der Weisheit pilgern, die einen auf der prächtigen goldenen Mittelstraße, die andern auf dem Wege des empirischen Verfahrens, während diejenigen, welche die bequemere Wasserkommunikation vorziehen, ihr Schifflein oder ein zu diesem Zweck gemietetes Fahrzeug mit vollen Segeln dem Hafen der Erkenntnis zusteuern.

Nachdem sie sich alle auf dem Sammelplatze einer Elite der vornehmsten Geister vereinigt, appellieren sie an die berühmtesten Namen der Gegenwart, um zu sehen, ob auch wirklich jeder von ihnen dabei sei, worauf sie sich gemäß ihrem Rang und Stand in drei große Klassen trennen.

 

Die ordentlichen Professoren begeben sich nach dem Tummelplatz aller Talente.

Dort beginnen sie, wie gebührlich, mit dem Freiturnen, indem sie, auf den Schultern ihrer Vordermänner stehend, sich vor der Macht der Beweise beugen und sich der Ansicht ihres verehrten Freundes und Kollegen zuneigen. Dann führen sie, einer in des andern Fußstapfen tretend, einen Turnlauf aus, wobei sie, mit einer Geschicklichkeit, die man den teilweise wohlbeleibten Herren nicht zutrauen sollte, sich über die größten Schwierigkeiten hinwegsetzen und ganze Berge von aufgehäuftem totem Material überspringen.

Hierauf schreiten sie an die Geräte. Die erste Riege geht an den Barren, um sich auf frühere Untersuchungen zu stützen. Die zweite schwingt sich am Reck zur Erkenntnis auf. Die dritte geht an die Leiter, wo sie, von Stufe zu Stufe emporsteigend, den Gipfel der Wissenschaft erklimmt, um dann sanft und unvermerkt von einem Gebiet in das andere wieder herunterzugleiten. Die schwierigste Arbeit hat die vierte Riege, welcher die Strickleiter zugefallen ist. Da gilt es nämlich, sich an einem roten Faden fortzubewegen, ohne denselben fahren zu lassen, was ungemein anstrengt. Weit leichter ist das Schaukeln; hier braucht man sich bloß in die Sicherheit zu setzen und sich darin zu wiegen.

Zum Schluß kommt das Schwimmen und das Nationalturnen an die Reihe, wobei jeder die Wahl hat, sich der einen oder der andern Abteilung anzuschließen. Die erste Gruppe wandelt zum Wasser hinunter und schwimmt gegen den Strom. Die Geschickteren tauchen dabei in dem Genuß der Schönheit unter; die Furchtsamen im Gegenteil halten sich gegenseitig auf dem laufenden, damit sie nicht untersinken. Während dieser Zeit wirft die zweite Gruppe Vermutungen und gewichtige Behauptungen auf, wälzt großartige Gedanken herum, schiebt die schwere Verantwortlichkeit der Reihe nach jedem zu und ringt mit der Wahrheit.

 

Die Privatdozenten unterdessen vergnügen sich auf dem Schauplatz ihrer Tätigkeit mit einem Dilettantentheater. Wenn es hiebei auch an komischen Szenen nicht fehlt, so erhält doch im ganzen das ernste Drama den Vorzug. Sie machen einander ernste Vorstellungen, also Trauerspiele, oder führen aus größeren Werken einzelne besonders schöne Abschnitte auf, etwa den vierten Akt der Selbstaufopferung oder den zweiten der Menschenliebe. Geistliche Stoffe nach Art der mittelalterlichen Mysterien mögen sie ganz besonders; sie gefallen sich in der Rolle eines Propheten oder Märtyrers. Ihre mimische Kunst ist nicht gering anzuschlagen. Sie verstehen ihre Meister nachzuahmen, den «Verkannten» zu spielen, die Miene der Vornehmheit und der Überlegenheit anzunehmen und mit der Stimme der Wahrheit und dem Ton der Überzeugung zu reden. Eine kleine, aber gewählte theatralische Garderobe, unter welcher wir die Maske der Uneigennützigkeit, das Gewand der Unschuld und den Mantel der Demut bemerken, unterstützt ihre kunstsinnigen Bestrebungen.

 

Gegen alles dies habe ich nicht das mindeste einzuwenden. Ganz anders aber verhält es sich mit den un-ordentlichen Professoren. Hier ist es endlich an der Zeit, daß das deutsche Publikum erfahre, welch ein schamloses, empörendes, allen Grenzen und Sitten hohnsprechendes Treiben sich hinter dem pompösen Titel der Wissenschaft verbirgt. Ich erkläre ausdrücklich, daß ich für die buchstäbliche Genauigkeit meiner Erzählung bürge, und mache mich, wenn es verlangt wird, anheischig, die Dokumente vor Gericht zu deponieren und die Namen und Adressen mitzuteilen.

Heimlich den Schlüssel des Verständnisses hervorsuchend, schleichen sie, während ihre Kollegen auf dem Tummel- und Schauplatze beschäftigt sind, nach dem Tempel der Weisheit.

Kaum eingetreten, stürzen sie in tempelräuberischer Begierde nach dem Schatze des Wissens, welcher fabelhafte Reichtümer enthält: die Krone der Entsagung, den Kelch des Leidens, das Siegel der Verschwiegenheit, das Band der Eintracht, das zweischneidige Schwert der Geschichte, den klaren Diamant einer jungfräulichen Seele, die Perlen der Lyrik und Novellistik, das reine Gold der Poesie, das Silberlächeln ihres Mundes, die Palme des Sieges, den Lohn langjähriger Mühe und Arbeit, ungerechnet die unbezahlbaren Einfälle und tausend andere Gegenstände von höchstem Werte.

Hier wühlen, graben und forschen sie mit vollen Händen, bis sie einen herrlichen Gewinn für das ganze Leben davongetragen haben. Daß nachher jeder sein Scherflein auf den Altar der Wissenschaft niederlegt, erhöht in meinen Augen noch die Schändlichkeit ihrer Handlung, indem dadurch dem Verbrechen noch der Spott und die Heuchelei beigefügt wird.

Die gestohlenen Gegenstände schieben sie auf die lange Bank, und nachdem sie an alles denselben Maßstab angelegt und das Gewicht ihrer Urteile in die Waagschale geworfen, eröffnen sie eine Versteigerung, indem sie einander in allen Dingen zu überbieten suchen. Darauf tauschen sie die Meinungen miteinander aus und teilen ihre Ansichten, wobei sie sich nicht entblöden, sondern den Schein annehmen und das Material für brauchbar halten.

Das Bisherige hatte zum wenigsten einen Zweck, wenn schon einen verdammungswürdigen; weit schmählicher noch erscheint mir aber die grund- und nutzlose Zerstörungslust, die Schadenfreude, welche sich nunmehr offenbart.

Gleich einer Rotte entmenschter Barbaren reißen sie der Wahrheit den Schleier herunter, entkleiden, ohne sich an das Geschrei der Mißbräuche im mindesten zu kehren, die Berichte ihres Nimbus und halten einander die nackten Tatsachen, ohne ihnen Zeit zu lassen, sich notdürftig zu schminken, unmittelbar vor Augen, ja werfen sich dieselben ins Gesicht. Auf alle Dinge drücken sie das Siegel ihres Geistes und den Stempel ihrer Individualität, wodurch dieselben natürlich gänzlich verunstaltet werden; damit nicht zufrieden, nehmen sie dieselben noch unters kritische Messer, schneiden alle Einwände von vornherein ab und schälen in rohester Weise den Kern aus den Überlieferungen heraus. Was dem Messer widersteht, versuchen sie auf andere Art zu zerstören, indem sie alles biegen oder brechen, überall Einwürfe machen, die kostbarsten Bemerkungen fallen lassen, die Ansichten vertreten, die Autoritäten umstoßen oder an den Worten grübeln und klauben oder an den Grundfesten der Systeme rütteln oder den Stoff brutal zusammendrängen, während sie anderseits mit raffinierter Bosheit die Erfahrungen bis ins Unendliche ausdehnen.

Rohe Menschen sind immer zugleich kindisch. Einer der Herren gleitet an einer schlüpfrigen Stelle aus, strauchelt über einen Paragraphen und fällt ins Barocke. Während er nun, mit beiden Händen an eine Hoffnung sich anklammernd, sich mühsam erhebt, streift er ans Erhabene und bleibt an dem Gegenstande kleben. Sogleich ist es um allen Ernst geschehen, und jedermann zeigt sich um die Wette bemüht, einen knabenhaften Spaß zu ersinnen.

So setzen sie die verschiedensten Aussprüche einander gegenüber, gruppieren die Ereignisse anders, häufen die Beweise auf, drehen den Spieß um, spinnen und weben an den Gedanken weiter, knüpfen Betrachtungen an, öffnen neue Perspektiven und setzen eine Ehre darein, während sie umgekehrt die Untersuchungen abschließen, blasen Kartenhäuser zusammen und suchen alle Nägel auf den Kopf zu treffen. Eine andere Richtung erhält ihr Übermut, als plötzlich durch das Fenster ein grelles Streiflicht auf ein Bild von unsäglicher sittlicher Verkommenheit fällt. Das erweckt in ihnen malerische Gelüste. Freilich Menschen oder Baumschlag zu zeichnen vermögen sie nicht; also malen sie den Teufel und den Wolf an die Wand (man kann sich denken wie!) und entwerfen in großen Freskozügen das Bild unserer Zeit, wobei sie schon in der Wahl des Stoffes ihre Unfähigkeit beweisen, weil ja nicht die kalte, nüchterne Allegorie, sondern das volle, satte Leben die Aufgabe der Kunst ist. Wir würden daher auch denjenigen zustimmen, welche, statt zu malen, sich bescheiden in die Annalen der Geschichte schreiben, wenn sie dies nur mit Bleistift oder Feder und Tinte statt mit ehernem Griffel und glühenden Lettern und Flammenzügen täten, was natürlich das Buch verdirbt.

Ihren Abschluß findet die ganze Orgie in der mittelalterlichen Sammlung, welche sich im obern Stock befindet. Dort erheben sie jetzt einen Lärm, als wollten sie aller Welt verkünden, was für ein herrliches Werk sie vollbracht. Der eine schlägt auf die große Trommel, der andere paukt Pandekten ein, ein dritter zieht die große Glocke, ein vierter stößt ins große Horn, ein fünfter in die Posaune; wer sich keines Instrumentes zu bemächtigen weiß, der ruft mit gewaltiger Kraft in das Jahrhundert oder stimmt mit andern überein oder pocht auf sein Verdienst und pfeift auf die ganze Kritik. Eine Bande setzt alle Hebel in Bewegung, um den Lärm zu vermehren, andere holen die Waffen des Geistes aus dem Schrank hervor und schlagen damit aufeinander los, die übrigen werfen möglichst viel Staub auf und streuen einander Sand in die Augen. Kurz, es ist ein ausgelassenes Treiben, wie wir es allenfalls übermütigen Studenten verzeihen könnten, nicht aber den Koryphäen der Bildung, welche vielmehr ihr schönstes und ehrenvollstes Vorrecht darin erblicken sollten, dem heranwachsenden Geschlecht mit dem Beispiel eines würdigen und gesitteten Betragens voranzuschreiten.

Bei dieser Arbeit kann es nicht fehlen, daß sich endlich Hunger und Durst einstellt. Allein wo etwas Genießbares finden? In solchen Fällen leisten die Pioniere der Wissenschaft unschätzbare Dienste, welche denn auch jetzt, wie immer, mutig bis an die Grenzen des menschlichen Wissens vordringend und unbekannte Horizonte mit ahnendem Blick durchfliegend die interessantesten Beobachtungen und Entdeckungen machen. Nämlich, siehe da: in dem ungeheuren Arbeitsfelde, das vor ihren Blicken liegt, etwas im Nebel der Vergangenheit verborgen, die Pflanz- und Pflegestätte der Kultur, ein weitläufiger und ansehnlicher Gebäudekomplex.

Vorn in der Mitte einige Bildungsstufen, zur Pforte der Humanität hinanführend; linker Hand der Gemüsegarten mit den Wurzeln des Übels, dem Samen der Zwietracht, den Keimen des Verfalls und dem Unkraut des Aberglaubens; etwas weiter zurück die Baumschule mit den Früchten langjährigen Fleißes und dem Holz, woraus man die großen Männer schnitzt. Rechts das Hospital oder vielmehr Pfrundhaus, mit zwei gesonderten Abteilungen, einer orthopädischen und einer klinischen. In der ersteren werden die hinkenden Gleichnisse, die lahmen Vergleiche und die schiefen Redensarten behandelt; in der letzteren finden die schwächlichen Erzeugnisse einer krankhaften Phantasie eine kräftige und gesunde Nahrung. Das Irrenhaus, wo die tollen und wahnwitzigen Einfälle und die bissigen Satiren sich befinden, liegt etwas davon entfernt, desgleichen natürlich das Absonderungsgebäude für ansteckende Krankheiten mit den faulen Witzen.

Das Innere sieht recht wohnlich aus. In den Korridoren hängen berühmte Bilder, unter welchen wir nur das düstere Gemälde der Zukunft und das grausige Bild der Verwüstung hervorheben. Das Schlafgemach ist geräumig und enthält viele Betten, namentlich aber Wiegen, zum Beispiel der Kunst und der Menschheit. Überaus wohlversorgt ist die Speisekammer. Da findet man die Hefe des Volkes, den Abschaum der Menschheit, die Creme der Gesellschaft, den Honig, der von den Lippen fließt, den Extrakt des menschlichen Wissens, ferner eingefleischte Gewohnheiten und Gebräuche und eine Menge roher Ausdrucksweisen. In der Küche glimmt und schlummert stets der Funke der Zivilisation unter der Asche, so daß man nur ein wenig heraufzuschrauben braucht; auch führt eine Gasleitung durch die Anstalt, und immer brennen einige Fragen. Weder Schule noch Badezimmer fehlen. Die Schule ist eine zweiteilige: die Schule der Erfahrung und des Lebens, nach ihren Direktoren so genannt; beide nach den modernen Grundsätzen des Anschauungsunterrichtes geleitet. Das Badezimmer hat einen Fehler: es ist entschieden zu klein; was die Unannehmlichkeit zur Folge hat, daß immer ein Kind in der einzigen Wanne sitzt, welches man, wenn man sich waschen will, zuvor mit dem Bade ausschütten muß. Für die dringendsten Reparaturen, damit man nicht jedesmal nötig hat, in die Stadt zu laufen, ist eine kleine geheimnisvolle Werkstätte des Genies eingerichtet. Im Hofe befinden sich einige Spiel- und Erholungsgeräte. Da steht unter anderm die Zielscheibe des Spottes, wo derjenige, welcher ins Zentrum spottet, einen Preis erhält; ferner der Kegelplatz, auf welchem man neue Ideen in Umlauf setzt. Vom Stall werden wir später reden; hingegen würde ich fürchten, ungerecht zu sein, wenn ich den Abgrund der Verworfenheit unerwähnt ließe, welcher, mit einem grauenvollen Bilde der Verworfenheit stimmungs- und stilvoll geschmückt, nach den Grundsätzen des modernen Kanalisationssystems die Abfallstoffe geruchfrei in die unterirdische Höhle des Lasters und von da in das Meer der Vergessenheit hinüberleitet.

 

Dies also ist der Schauplatz, auf welchem sich unsere Geschichte weiter abspielt. Hienach nehme ich den Faden meiner Erzählung wieder auf.

Der geneigte Leser erinnert sich vielleicht, wie wir die unordentlichen Professoren in dem Augenblick verließen, als sie die Pioniere der Wissenschaften um Nahrung ausschickten. Gewiß hat er auch schon erraten, daß ein Überfall von Seiten der hungrigen Herren erfolgen werde. Und in der Tat, kaum erblicken sie die Pflegestätte der Kultur, so riechen sie den Braten, worauf sie alsogleich hinübereilen – die Pioniere der Wissenschaft voran, welche, das Ziel unverwandt im Auge behaltend, überall den Boden für ihre Nachfolger ebnen –, um nach einer kurzen Übergangszeit des Sturmes und Dranges mit der Türe ins Haus zu fallen und sich über die Vorräte herzumachen.

Der eine faßt sich ein Herz, der andere schwelgt in dem süßen Bewußtsein oder genießt das seltene Vergnügen, die hohe Befriedigung und den herrlichen Lohn; dann pflücken sie ein Hühnchen miteinander und rupfen einander etwas vor. Die zuletzt Gekommenen freilich sind übel daran; unfähig, noch etwas Eßbares zu entdecken, greifen sie zu den widernatürlichsten Mitteln, um ihren nagenden Hunger zu stillen oder vielmehr zu täuschen. Einige sieht man Urkunden verschlingen; andere ihren eigenen Zorn verbeißen und ihren Ärger hinunterschlucken; ja, in widriger Geschmacksverirrung saugt der eine und der andere etwas von Kindsbeinen an ein, wobei sie sich natürlich den Magen verderben, so daß es in ihnen gärt und ihnen Zweifel aufstoßen. Unterdessen entwickelt sich in der Küche ein reges Leben. Dort läßt man sichs heiß werden, dämpft den jugendlichen Eifer, schöpft Verdacht und streut gesalzene Bemerkungen ein, rennt auch wohl ab und zu in den Garten, um Vorurteile auszurotten. Unüberlegterweise sitzt einer, der wohl etwas kurzsichtig ist, auf glühenden Kohlen, was, da er natürlich lebhaft aufspringt, zur Folge hat, daß das Becken umfällt und ihnen allen der Boden unter den Füßen zu brennen anfängt. Zum Glück ist Wasser reichlich vorhanden, weil unter dem Druck der gegenwärtigen Notlage überall im Hofe die Quellen emporsprudeln. Nachdem sie ihren Appetit gestillt, dringen sie in den Keller, wo sie einander reinen Wein einschenken (statt etwas Wasser hineinzugießen), das Maß voll machen und den Becher mutig bis auf die Hefe austrinken (statt langsam in Spitzgläsern und etwas Brot dazu zu essen), so daß sie sich völlig betrinken. Wer Damenweine vorzieht, der berauscht sich in dem süßen Gedanken. Was nun folgt, spottet jeder Beschreibung: Ehe sie den Keller verlassen, schlagen sie dem Faß den Boden aus und lassen alles laufen, dann kehren sie heimlich zurück und schleichen sich vor das Boudoir, wo sie der Stimme der Weisheit lauschen, welche mit ihrer Mutter, der Vorsicht, über intime Angelegenheiten verhandelt, eine Taktlosigkeit ohnegleichen, die sie gleichwohl noch zu übertreffen verstehen, indem sie in das Schlafgemach stürmen, unbekümmert darum, ob sie die Talente und die Wißbegierde wecken. Vor dem Spiegel des Jahrhunderts waschen sie einander gehörig den Kopf und scheren sich einen Teufel darum, ein etwas undeutlicher Ausdruck, mit welchem aber nur eine Frisur à la Mephistopheles gemeint sein kann, die den Herren auch gar wohl paßt. Dergestalt geschmückt, laufen sie in das Badezimmer hinüber und nennen das Kind beim Namen, so daß das arme Ding nicht weiß, welcher von ihnen der Papa ist, und in atemloser Hast von dem einen zum andern rennt. Nachdem sie von Stock zu Stock allerlei Unfug verübt, steigen sie in den Stall hinunter, fassen den Stier bei den Hörnern und setzen sich auf das hohe Roß, um aus dem Stegreif zu reden und in benachbarte Gebiete hinüberzuschweifen; wer aber nicht sattelfest ist, der reitet immer auf demselben Gegenstande herum, bis dem armen Tiere schwindlig wird. Im Hühnerhause entdecken sie ein ganzes Nest von Trugschlüssen und falschen Voraussetzungen; da hecken sie neue Systeme aus und brüten über metaphysischen Problemen, ohne zu bedenken, daß sie sich damit die Beinkleider verderben und ihren Frauen eine unliebsame Überraschung bereiten. Im Garten benehmen sie sich nicht besser; dort werfen sie Kraut und Rüben durcheinander, schwatzen, um sich den Anschein zu geben, als verständen sie etwas von Botanik, Kohl und reden durch die Blume. Bei diesem Anlaß scheuchen sie zwei Hasen auf, welchen sie nachjagen, obgleich Schonzeit ist und keiner von ihnen ein Jagdpatent hat. Selbst die Passanten sind vor ihnen nicht sicher; keine Gelegenheit lassen sie vorbeigehen, ohne sie beim Schopf zu fassen.

Wer da dächte, das Krankenhaus geböte ihrem trunkenen Mutwillen Einhalt, der würde sich sehr täuschen. Was selbst den wildesten Völkern heilig ist, das Leiden, dient diesen sogenannten Gebildeten nur als willkommener Anlaß zu rohem und grausamem Schabernack. Tauben Ohren predigen sie, den Blinden sprechen sie von Farben, den Lahmen decken sie die Achillesferse auf, so daß sie sich erkälten. Von den Geschwüren reißen sie die Binde; wo sie einen zarten oder kitzligen oder wunden Punkt an einem Menschen bemerken, berühren sie ihn; treffen sie einen, der Zahnschmerzen hat, so fühlen sie ihm auf den Zahn. Unter den Blinden ist ein Einäugiger König, um sie zu regieren; da drücken sie ein Auge zu, natürlich dasjenige des Einäugigen. Jemand Furcht einzuflößen, scheint ihnen eine Heldentat. Dem Zeitalter greifen sie den Puls, so daß es ganz ängstlich wird, und an alle Wunden legen sie das Messer an, nur um die Kranken zu erschrecken. Die gefährlichsten Operationen, zu welchen selbst ein erprobter Spezialist nur mit geheimem Bangen schreitet, führen sie leichtsinnig wie zum Spiel aus, und zwar, ohne die Patienten zu chloroformieren. So stechen sie den Star, sondieren das Herz, was in den meisten Fällen eine Perikarditis hervorruft, bringen mit schonungslosem Griffel (ein Griffel als chirurgisches Instrument!) das Innerste des Menschen an den Tag, um seinen Charakter zu zergliedern, eine eigentliche Vivisektion, und legen die verborgensten Gedankengänge bloß, was furchtbar schmerzhaft ist, weil sich im Gehirn sämtliche sensitiven Nerven wie in einem Brennpunkte vereinigen.

 

Doch genug; die Feder sträubt sich mir, all die Scheußlichkeiten zu erzählen, welche hier im Namen der Wissenschaft und der deutschen Bildung begangen werden. Wir zweifeln übrigens nicht, daß die «Pall Mall Gazette» von unsern Enthüllungen Notiz nehmen und weitere Schritte in dieser Angelegenheit tun wird.

Aber, so wird vielleicht einer unserer Leser fragen, tut denn die Polizei nichts in dieser Angelegenheit? Können wirklich solche Dinge vor dem Lichte des neunzehnten Jahrhunderts verborgen bleiben?

Worauf wir leider antworten müssen: Entweder macht die Polizei gute Miene zum bösen Spiel, oder aber, wenn sie jemals die Verbrecher auf der Tat zu ertappen redlich willens ist, so flüchten sich die Herren schnell zu den Akten und vertiefen sich über Hals und Kopf in das Studium derselben, so daß man sie nicht sieht, oder steigen in verborgene und unerforschliche Schächte des Wissens hinab oder versenken sich in ein Meer der Schönheit oder verschwinden gänzlich vor der Größe und dem Glanze der griechischen Kultur, bis die Gefahr vorüber ist.

 

Die Zimperlichkeit der Druckerschwärze

In irgendeinem Unterhaltungsblatte lese ich folgende humoristische Grabschrift:

Es war ein Schneider
Leider!
Hat nie das Maß getroffen,
War oft bes-

Es soll natürlich lauten ‹besoffen›. Dem Generalmajor der Setzer hat es indessen nicht gefallen, daß seine schwarzen Lettern über diesem abscheulichen Worte erröten müßten, und er hat dafür einen schamhaften Gedankenstrich angebracht. Als ob das nun besser wäre! Als ob nicht der Reim mit Naturgewalt das Wort ergänzte! Und wenn man jetzt das Verschen vorliest, soll man dann aussprechen ‹bes› und das übrige dem Verständnis des Hörers überlassen?

Ich gehöre wahrlich nicht zu denjenigen, welche in der Derbheit und Unflätigkeit des Stils Kraft und Urwüchsigkeit oder gar Genialität erblicken; im Gegenteil, die Verfeinerung des Ausdrucks von Seiten des Autors und der Gefühlszensur von seiten der Genießenden gilt mir für einen unbedingten Gewinn. Allein hierbei unterscheide ich zwei Dinge. Der Schall unziemlicher oder grober Worte wirkt im höchsten Grade beleidigend, weil aufdringlich. Im Buch dagegen verhält es sich anders. Da steht es jedem frei, über Mißfälliges rasch wegzugleiten, ohne es nur ins Bewußtsein aufzunehmen. Man kann Zeilen und Seiten überschlagen und nötigenfalls das Buch wegwerfen. Der gedruckte Text zwingt sich eben nicht auf. Dazu kommt noch der überaus wichtige Umstand, daß wir beim Lesen keine Zeugen haben; mag es der Moralist tadeln, das bildet nun einmal einen gewaltigen Unterschied. Darum nimmt sich auch im Buch die ängstliche Scheu vor dem gesunden, geraden Wort kleinlich aus und heißt Zimperlichkeit. Überträgt sich vollends diese Scheu auf ganz unverfängliche Ausdrücke, so wird die Zimperlichkeit zur Lächerlichkeit, welche Spott und Hohn verdient. Eine Lächerlichkeit nun nenne ich es, das Wort ‹besoffen› als unanständig aus dem Druck zu verbannen. Gewiß ist dasselbe nichts weniger als elegant, und ‹betrunken› dürfte denselben Dienst tun; allein zwischen einem ordinären und einem unflätigen Wort besteht denn doch eine gewaltige Kluft. Dieses muß unbedingt von jedem Gebildeten in Rede und Schrift gemieden werden, jenes ist Sache des Stils und sehr häufig sogar Sache des Wohnorts. In der Schweiz wird bekanntlich statt Mund ‹Maul› gesagt, was auch nicht elegant, aber darum doch nicht unflätig ist; mit demselben Recht nun, wie ‹bes–› statt ‹besoffen›, müßte der Setzer ‹M–› statt ‹Maul› drucken. Überdies ist das Wort ‹betrunken› in gewissen Gegenden des deutschen Sprachgebietes, zum Beispiel in den Ostseeprovinzen, gerade so ungebräuchlich wie das Wort ‹Mund› in der Schweiz. Die vornehmste Dame in Reval oder Petersburg sagt: «Unser Kutscher war besoffen.» Was aber eine gebildete Dame zu sagen wagt, darüber braucht ein Setzer nicht zu erröten.

Handelte es sich hierbei um eine vereinzelte Erscheinung, ich hielte es nicht der Mühe wert, davon zu sprechen. Allein die Gedankenstrichseuche wird nachgerade im deutschen Druck epidemisch. So wagt beinahe kein Redaktor mehr den Namen ‹Teufel› buchstäblich hinzustellen; wir lesen immer ‹T–l›. Auch das nenne ich lächerlich, und zwar über die Maßen lächerlich. Ja, wenn wir noch den hörner- und klauenfesten Glauben des Mittelalters besäßen, wo die Leute bei der bloßen Vorstellung des schwarzen Ungeheuers die Gänsehaut bekamen, da ließe sich diese Vorsichtsmaßregel rechtfertigen. Doch heute, da wir über die Juden spotten, welche den Namen Gottes nicht zu schreiben wagten, da ferner neun Zehntel der Menschheit nicht einmal mehr an die Existenz des T–ls glaubt, da endlich selbst das letzte Zehntel den T–l als das b–e Pr–p auffaßt, heute ist die metaphysische Scheu ganz einfach eine D–t. Und wie steht es dann mit den Zusammensetzungen? Wenn wir jenen entsetzlichen Namen, der kaum noch die Kinder schreckt, nicht mehr anders als ‹T–l› zu drucken wagen, so werden zahlreiche Familien- und Ortsbezeichnungen hemisonym; es gibt fortan keine Manteuffel, sondern Man–l, und niemand wird in Zukunft über die Teufelsbrücke, sondern über die T–lsbrücke fahren. Im Druck nimmt sich das sehr schön aus; aber wenn ich nun mündlich erzählen will, ich sei auf der T–sbrücke gewesen, wie in aller Welt soll ich das aussprechen? Soll ich sagen: «Ich war auf der Z–brücke» oder «auf der Gottseibeiunsbrücke»? Abergläubischer und kindischer konnten selbst die alten Römer nicht verfahren.

Weil dann ein Gesetz der menschlichen Entwickelung verlangt, daß eine D–t stets eine größere D–t hervorruft, sucht einer den andern an Skrupelhaftigkeit zu überbieten. So habe ich in einem berühmten Werk über Afrika gelesen, daß der Autor irgendwo Menschenfr–r antraf. Das fehlte eben noch. Gewiß ist es ja im höchsten Grade sträflich, Menschen zu fr–n, auch will ich zugeben, daß dieses Wortbild nicht eben eine liebliche Vorstellung erweckt. Allein wenn wir einmal anfangen wollten, neben sämtlichen unedeln oder metaphysisch unheimlichen Begriffen obendrein noch alle unangenehmen oder sträflichen Handlungen mit Gedankenstrichen auszudrücken, so würde ich vorschlagen, statt römischer oder gotischer Lettern lieber gleich das Telegraphenalphabet anzuwenden. Denn wenn ich Menschenfr–r schreibe, weil das Menschenfr–n etwas Absch–es ist, so muß ich auch M–r und R–r schreiben, weil ja das Morden und Rauben ebenfalls das Gewissen und die Vorstellung empört. Und wo soll das enden? Ein zartfühlender Schriftsteller wird uns mitteilen, daß man ihm einen Zahn ausgez–n oder die Uhr gest–n habe. Und die Zeitungen werden unter der Rubrik: «Verschiedenes» folgenderlei Nachrichten bringen:

Schw–nfurt, den 10. F–r. Unsere sonst so friedliche Stadt ist durch ein ents–s Verbr–n in Aufr–g versetzt worden. In der Wirtschaft zum goldenen O–n gerieten einige betr–e Burschen in Str–t, der sich zuerst in Sch–pfwörtern äußerte, bald jedoch in eine bl–e Schl–ei ausartete. Leider wurden auch M–r gez–n, wobei mehrere Personen, zum Teil lebensgef–ch, verw–t wurden. Ein Tierarzt aus dem H–srück geb–g, Vater von drei unerzogenen Kindern, erhielt einen St–ch in den Sch–l, welcher die Pulsader durchsch–tt. Ein M–r aus der Umgegend er–tt einen St–ch in den U–b, so daß die E–e herausqu–n. Der Wirt, welcher Frieden stiften wollte, wurde von den r–n Gesellen so sch–ch m–t, daß er schr–d und bl–tüberstr–t zu Boden st–e; seine Frau, die sich in ges–n U–n befindet und bald ihre N–t erwartet, wurde von einem Bierkrug an die Br–st getr–n und f–l in O–t. Die T–r sind verhaftet; an dem Aufkommen der u–n O–r wird gezweifelt. Dem Tierarzt ist heute das B–n an der H–e abgen–n worden. Schl–r noch ist der Zustand des M–rs; das h–e F–r und die unertr–n Schm–n, welche von der Diagnose als Symptome einer sch–en P–s (Entz–g der B–e) aufgefaßt werden, lassen einen t–n Ausgang bef–n. Der Wirt dagegen wird mit dem bl–n Schr–n davonkommen: außer verschiedenen Q–n, Sch–n, E–n und leichtern W–n (darunter ein Armbr–ch), hat er nämlich keine Verl–n erl–n. Auch seine Frau wird vermutlich, wenn keine weiteren K–n eintreten, bald von ihrer Br–w–e hergestellt sein; doch muß sie das B–tt hüten. Es liegt im Interesse der öffentlichen Sicherheit, daß die E–n, welche schon wiederholt durch ähnliche R–en Ä–s gegeben, vor dem Richter die str–e, wohlverdiente St–e tr–e, damit unsere friedliche Stadt endlich aufhöre, als Schauplatz für Ver–n, R–n, G–n und U–n jeder Art und als Herberge für D–e, M–r, R–r, Br–r, L–r, D–n und allerlei Ge–l zu dienen.

 

Vom ‹Widerlegen› guter Sprichwörter

Es gelingt mitunter im Laufe der Jahrhunderte nicht bloß einzelnen hervorragenden Denkern, sondern auch der anonymen Weisheit der Nationen, gewisse wichtige Erfahrungstatsachen so kurz und eindrucksvoll zu prägen, daß sie weithin in die Nachwelt klingen. ‹Niemand ist unersetzlich.› ‹Das Alter ist an und für sich schon eine Krankheit.› ‹Wider Tatsachen helfen keine Argumente.› ‹Nach diesem, folglich wegen diesem.› ‹Das Weib ist wegen des Mutterorganes von der Natur geschaffen.› Derlei bedeutet nicht nur Schlagwörter, sondern erlebte Wahrheiten. Ferner haben wir neben vielen fadenscheinigen Sprichwörtern eine Menge von trefflichen, zum Beispiel: ‹Einmal ist keinmal.›

Solche wahrhaftige und kräftig ausgedrückte Erfahrungssprüche mit entgegengesetzten Tatsachen anzufechten, ist ein leichtes Spiel, namentlich wenn man sich Mühe gibt, sie vorerst mißzuverstehen; was aber dabei herauskommt, ist eine schwächliche Wahrheit aus der Gegend der Binsen, eine triviale Wisserei, deren Aussprache sich gar nicht lohnt, weil sie sich von selber versteht. Keines der oben genannten Beispiele ist unanfechtbar, keines, das nicht schon grimmig angefochten worden wäre, von unbedachten Denkern; keines, das nicht allen Anfechtungen siegreich trotzte, wenn man den Spruch so versteht, wie er Verstand hat.

Sehen wir uns probeweise einige dieser Anfechtungen an. ‹Einmal ist keinmal.› «Falsch!» lautet es eifrig. «Einmal ist nicht keinmal.» So eifert der Schullehrer vor seinen Jungen, wenn sie einmal etwas pekzieren. Der ficht also mit einem kleinen pädagogischen Papiermesser gegen die große Lebenswahrheit, daß ein einziger Anlauf nicht genügt, sondern daß man etwas Rechtes öfters tun muß. Er hat das Sprichwort, das er bekämpft, in seinem Sinne nicht erfaßt.

‹Niemand ist unersetzlich.› Welch ein tiefernster, bitterer und trauriger Spruch! Aber auch welch ein wahrer Spruch, wenn man ihn versteht als eine Erfahrung aus dem sozialen Gebiet. So wenig wie in der Natur ein Loch entsteht, wenn ein Mensch stirbt, und wäre es selbst der bedeutendste, so wenig klafft bei seinem Tod im Leben der Nation eine ewige Lücke; es muß ohne ihn gehn, und es geht ohne ihn. Dagegen nun zu zürnen: «Das ist nicht wahr, kein Mensch kann einen andern jemals ersetzen, denn keiner ist dem andern gleich», das bedeutet ein Binsenbüschel, auf ein Mißverständnis gepflanzt.

‹Nach diesem, folglich wegen diesem.› Es ist seit Doktor Bock in Leipzig Mode in der heutigen medizinischen Wissenschaft geworden, diesen Satz – ich glaube, er ist scholastischen Ursprungs – erbittert zu bekämpfen; nein, bloß zu verhöhnen; denn so albern erscheint er den Herren, daß er gar nicht eine Widerlegung verdiene. Nur die ganz Dummen, behaupten sie, könnten schließen: post hoc, ergo propter hoc. Aber schwerlich hat jemals der berüchtigte Spruch gemeint, wenn einer einen Brief schreibt und eine halbe Stunde später auf der Treppe das Bein bricht, das komme vom Briefschreiben. Hingegen wenn ein Bub unreife Äpfel ißt und nachher Bauchkrämpfe bekommt, glauben Sie nicht auch, Herr Doktor, das komme von den unreifen Äpfeln? «Das ist etwas andres; das können wir erklären, denn hier liegt Ursache und Wirkung vor.» Nun haben wir die Streitfrage am richtigen Zipfel. Ja, wenn die Wissenschaft alles zu erklären, überall Ursache und Wirkung darzulegen vermöchte, dann dürften wir jenen Spruch verhöhnen. Da das aber nicht der Fall ist, so bleibt er, richtig verstanden, zu Recht bestehen: ‹Auch da, wo wir nicht imstande sind, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung einzusehn, dürfen und müssen wir im täglichen Leben aus der wiederkehrenden zeitlichen Folge Ursache und Wirkung vermuten.› Wer so denkt, so schließt und demgemäß handelt, der handelt nicht dumm, sondern höchst verständig. Oder nicht? Wenn sechs Kinder auf der Wiese Sauerampfer essen und nachher alle sechs krank werden, so warten wir vernünftigerweise nicht, bis die Wissenschaft darüber ins reine kommt, warum sie erkrankt sind, und ob es möglich sei, daß der Sauerampfer schuld wäre, sondern wir warnen einstweilen die Kinder davor, Sauerampfer auf jener Wiese zu essen. Was dabei herauskommt, wenn man den Spruch hochmütig verachtet, sehen wir an jenen überklugen Gerichtsärzten, welche bei einem Schädelbruch nach einem Hammerschlag auf den Kopf darüber spintisieren, ob wirklich auch der Hammerschlag die Todesursache gewesen sei und nicht vielleicht eine schleichende Krankheit.

Mit den übrigen angeführten Sprüchen verhält es sich ähnlich. Wer nicht versteht, wer nicht nachdenkt, wer nicht weiß und fühlt, daß gute Wahrheiten sich gut nur in paradoxer Form aussprechen lassen, wer nicht ahnt, daß die paradox ausgesprochene Wahrheit sämtliche möglichen kleinen Einwände kennt, zugibt, aber sie vernachlässigt, weil der Wahrspruch in der Hauptsache recht hat, der kann jede aus der Erfahrung gewonnene Lebensweisheit mühelos anfechten. Was leistet er aber damit? Er setzt mit kindischen Händen Unkraut in den Garten. Kurz, ehe man jahrhundertealte Wahrsprüche anficht, verstehe man sie auch, wie sie diese Jahrhunderte her verstanden worden sind. Oder man ist kein überlegen moderner, sondern nur ein grüner Geist.

 

Entmannte Sprichwörter

Moralisierende, pädagogische und andragogische Weisheit kann den kräftigen Lebenswitz der gesunden Volksseele nicht vertragen; sie biegt dem Sprichwort die Ecken um oder verkehrt gar den Sinn ins Gegenteil, damit er ja nicht etwa erziehungswidrig wirke. Die meisten unserer Sprichwörter, die ein ‹nicht› enthalten, lauteten ursprünglich positiv. Das ‹nicht› wurde erst nachträglich in abschwächender Meinung, aus Vorsicht, eingeschaltet. ‹Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.› Solch eine Binsenwahrheit verkündet kein Sprichwort. ‹Aufgeschoben, aufgehoben›, das ist eine Lebenswahrheit, ein echter, aus Erfahrung gewonnener, warnender Volksspruch. ‹Wagen gewinnt, wagen verliert› ist Eunuchenweisheit; um diese zu kennen, brauchen wir keinen Spruch. Die natürliche Unentschlossenheit des willenlosen Menschen reicht hin. ‹Wie waagt, die wint› (‹Wer wagt, der gewinnt›), sagt der Holländer, und so sagte ohne Zweifel einst auch der Deutsche. Mit der leidigen Ethnogogie und Moralschulmeisterei hängt es auch zusammen, daß wir gegenwärtig im Deutschen so wenig fröhliche, mutige Sprichwörter besitzen. Wie hübsch tröstet in Holländisch-Indien den Unglücklichen das Sprichwort: ‹In Indien endigt alles gut.› Und wie sonnig klingt der italienische Volksspruch: ‹Einem fröhlichen Menschen hilft Gott.›

 

Die Kunst der Entnennung

Die Namengebung hat hundert gute Zwecke und bringt tausend Vorteile, aber diese Vorteile liegen sämtlich im Gebiete des Verstandes. Der Name orientiert, trennt, sichtet, ordnet; er unterstützt die Tätigkeit des Urteils, er schärft die Kraft der Sinne, denn er bringt die Erfahrung mit sich, die von den heute von mir gesehenen Dingen schon tausend frühere abgezogen und auch zu meinem Gebrauche aufgehoben hat. Schon das bloße Sehen des Auges, ich meine das deutliche Sehen des Auges, verlangt daher Namenkenntnis. Was einer nicht namentlich zu bezeichnen weiß, sieht er nicht ebenso scharf umrissen wie der Namenskundige; eine minder bestimmte Gesamtvorstellung genügt ihm, und sobald der gesehene Gegenstand entschwunden, mithin die Möglichkeit der Kontrolle verzogen ist, verwischt ihm die Phantasie Gestalt und Eigenschaften, so daß er über das Gesehene märchenhafte Dinge berichtet. Hierfür einige Beispiele: Wenn ein weibliches Wesen einen sitzenden Schmetterling gesehen und beobachtet hat, meinetwegen noch so lange, und du fragst sie nachher, wie der Schmetterling ausgesehen habe, so schildert sie ihn in bestem Glauben mit den abenteuerlichsten, unmöglichsten Gestalten und Farben. Deshalb, weil sie die verschiedenen Schmetterlinge nicht kennt, sie nicht zu benennen, nicht zu unterscheiden, folglich nicht deutlich zu sehen vermag. Ein andres Beispiel: Wenn wir auf einem Aussichtsberge stehen, so verlangt unser Bedürfnis, wenn wir scharf sehen wollen, nach einem Kundigen, der uns nenne, was wir sehen. Nicht etwa bloß, um nachher sagen zu können, wir haben das und das gesehen, nein, sondern um der Verwirrung, der Unruhe, der Verschwommenheit zu entgehen, welche das ratlos blickende Auge heimsuchen. Der Finger des Kundigen leitet dann den Blick auf eine bestimmte Gegend, die Nennung der Dinge ermöglicht uns, daß wir sie jetzt deutlich, das heißt begrenzt und von der Nachbarschaft unterschieden, sehen. Auch die bekannte Beobachtung, daß Kinder aus der Erinnerung die fabelhaftesten Tiere zeichnen, gehört teilweise hierher. Sie zeichnen das, was ihnen durch die Benennung im Gedächtnis haften geblieben ist; das übrige tut die Phantasie. Den Höcker des Kamels, die Hörner der Kuh wird schwerlich eines zu zeichnen vergessen. Namengebung entspringt einem geistigen Bedürfnis und unterstützt geistige Tätigkeiten, denn auch das Geschäft der Sinne, das Urteil des Auges, das Sehen ist ja eine geistige Tätigkeit.

Gerade umgekehrt verhält es sich mit dem seelischen Bedürfnis. Wenn ich etwas mit der Seele und dem Herzen schauen will, wenn ich aus einer Landschaft Stimmung, Offenbarung, Ahnung lesen möchte, so ist der Name ein Hindernis, ja er mordet geradezu die Andacht. Denn was mir jetzt ins Gefühl zu schweben beginnt, ist ein Hauch aus dem Unendlichen; und nun kommt der Name und begrenzt mir das örtlich, mit tausend unnützen und ernüchternden Nebenvorstellungen. Mit einem Wort: Jetzt wirkt der Name prosaisch. Aus diesem Grunde verzichtet die Landschaftsmalerei auf Benennung der Örtlichkeit, und wo sie einmal nicht darauf verzichtet, empfindet das der Schauende als einen kalten Wasserstrahl. Auch darum lassen uns die Veduten so gleichgültig. Ich erinnere mich der peinlichen Enttäuschung, als ich einst von meinem geliebten phantasievollen Ludwig Richter ein Gemäldeabbild zu Gesicht bekam, das den Namen trug: «Der Watzmann am Abend» oder am Morgen oder im Herbst, ich weiß nicht mehr. Wir wollen in der Landschaftsmalerei weder einen Watzmann noch einen Rigi, weder Rom noch Neapel sehen, wir wollen die geheimnisvolle, noch von keinem Menschen erklärte, aber von jedem Menschen geahnte und gefühlte Verbindung schauen, welche die Seele der Außenwelt mit unsrer Menschenseele eingeht.

Auch außerhalb der Malerei, im Leben, müssen wir die Entnennung vollziehen, wenn wir selig sein wollen. Das ist aber eine Kunst, eine gar nicht allgemeine Lebenskunst; nicht viele verstehen sie; wenige wissen überhaupt darum. Das Kind versteht sie, und darum sind auch Kinderspaziergänge so beseligend. Während der Vater und die Mutter von Dingsheim nach Ixikofen spazieren, spaziert das Kind in die Welt; es schaut mit der Seele alles, was es sieht, weil nicht gehemmt von der prosaischen Örtlichkeits- und Namenskunde. Auch die Liebenden verstehen es, wenn sie nicht zu gebildet sind und den Baedeker zu gewissenhaft studiert haben. Wer aber selig zu sein verstehen will, der muß den Antibaedeker studieren, er muß vergessen können, daß er in Neapel oder am Vierwaldstättersee wandelt; er muß nur die Bäume, das Wasser, den Himmel und das alles vereinigende Licht schauen, mit der Seele die Spinnenfäden ahnen, welche dieses Bild mit der Unendlichkeit verknüpfen; er muß nicht bloß im Augenblick, zeitlich begrenzt, zu leben verstehen, sondern auch im Augenbild, örtlich begrenzt. Es lohnt sich, dies zu lernen; die Vorbedingung aber, um dies zu erlernen, lautet: die Namenkenntnis, oder mit einem andern Wort das prosaische geographische Ortsbewußtsein entlassen zu können.

 

Unteilbarkeit der Phantasiebilder

Warum schmücken sich die Frauen? Halten sie uns etwa allen Ernstes für so dumm, daß wir den von außen hinzugelegten Flitter ihrem Wesen, ihrem persönlichen Wert zuzählen würden? Nein, für so dumm halten sie uns nicht, wohl aber für so töricht. Und mit Recht. Ob ich nämlich noch so klar weiß und mir noch so deutlich vorsage: «Diesen Saphir und diesen Brokat oder diese Glasperlen und dieses rote Mieder legt sie um und wieder weg, und Gott weiß, wie sie morgens um sechs Uhr aussehen mag» – das hilft mir nichts. Hat einmal bei günstig vorbereitetem Aufnahmeapparat der Sinn das Momentphantasiebild in die Seele eingegraben, so kann das Bild zwar meinetwegen mit der Zeit verblassen oder durch nachträgliche andere Bilder verdeckt werden, aber es bleibt immer ein Gesamtbild, das da leuchtet oder verblaßt, niemals kann ich hinfort die einzelnen Teile des Bildes nachträglich gesondert schauen.

Also in unserm Beispiel: dieses Frauenbild erscheint immer mit dem Glanz, mit der Farbe des Schmuckes, in welchem ich es gesehn, ja sogar mit der Sonne, die drüber leuchtete, mit dem Berge, dem Walde, der dahinter prangte. Die fremdartigen Zutaten kann ich ja mit Leichtigkeit wegdenken, nicht aber wegsehen oder wegerinnern. Also die Phantasie zählt in der Tat den äußern Schmuck, den Flitter, den Farbenwiderschein, die umgebende Naturschönheit zum Wesen eines Frauenbildes; denn was ich von einem Ding nicht trennen kann, das gehört zu seinem Wesen. Da nun jeder Mensch, selbst der nüchternste, seine Seeleneindrücke nicht durch den Verstand, sondern durch die Phantasie erhält, da ferner farbige und glänzende Eindrücke sich am tiefsten einhaken, da endlich des Mannes Herz hauptsächlich durch optischen Schwefel und Phosphor entzündet wird, darum schmücken sich die Frauen. Ihr Instinkt sagt ihnen, daß ein Naturgesetz – ich meine das Gesetz von der Unteilbarkeit der Phantasiebilder – auch den weisesten und erfahrensten Mann, trotz aller Besserwisserei seines Verstandes, immer wieder unausweichlich dazu zwingt, den szenischen Apparat dem Wert der kleinen Schauspielerinnen beizuzählen.

 

Maße und Schranken der Phantasie

Jedermann kennt das naive Erstaunen des Landvolkes darüber, daß der erwartete König, wenn er endlich erscheint, nicht ‹größer› ist als andere Menschen. Das belächeln wir; indessen tun wir ganz dasselbe an einem anderen Orte, nämlich im Theater, wo wir einen kleinen Schock verspüren, wenn Lear oder Hamlet zum ersten Male auftreten. Auch wir hatten uns Lear in der Phantasie im Verhältnis zur Umgebung unwillkürlich größer gedacht. Da kommen wir einem Naturgesetz der Phantasie auf die Spur. Verfolgen wir die Spur. Beim Lesen eines Epos ist es rein unmöglich, sich die Landschaft zu den handelnden Personen in den richtigen Größenverhältnissen vorzustellen. Die Mauern, die Städte, die Berge, die Wälder, alles duckt sich nieder, der Mensch dagegen wächst empor. Versuche man nur einmal, Achilles mit der Phantasie durch eine Haustür zu befördern. Es geht einfach nicht, entweder ist es nicht mehr Achilles, sondern ein griechischer Soldat, oder die Haustür verduftet, oder Achilles bleibt davor stehen.

Und so weiter in tausend Beispielen. Auch der nüchternste Mensch kann keine Raum- und Zeitabschnitte in der Erinnerung fassen. Der bloße seelische Eindruck für sich allein, ohne Nachhilfe, vermag nicht von gestern auf heute zu entscheiden, welcher Tunnel der längere, welcher Kirchturm, welcher Berg der höhere war. Ferner: Keine Phantasie, keine Erinnerung vermag stetig fortzuschreiten, sie bewegt sich in Sprüngen, von Bild zu Bild, und jedes Bild hat einen festen Augenpunkt. Ferner: Ein Vortragender, ein Dichter schildert uns mit genauen Maßen und Linien eine Landschaft, ein Gesicht. Ganz umsonst, die Phantasie kann das niemals halten, geschweige denn summieren. Dantes Hölle ist geometrisch so genau gezeichnet, daß man topographische Karten davon angefertigt hat; aber wer kann Dantes Hölle in der Phantasie bildklar nachschauen? Schließlich noch ein Beispiel, welches beweist, daß die Phantasie sich weigert, durch eine andere Tür einzutreten als durch die Herzkammertür. Wer kennt nicht Rom und Montecitorio, mit dem Parlamentsgebäude? Wer kann sich das nicht leicht in der Erinnerung vorstellen? Gut. Aber wenn wir nun in der Zeitung unter den Depeschen lesen: «Rom, 20. Dezember. Im Parlamente brachte heute der Ackerbauminister eine Vorlage ein, und so weiter» – wer von den Lesern sieht bei diesen Zeilen Rom wirklich vor Augen, das steinerne Rom mit Farbe, Licht und Schatten? Niemand. Hier begnügen wir uns mit dem geographischen Begriff Rom, dem Landkartenrom; das leibhaftige Rom erscheint vor der Erinnerung bloß, wenn eine Gemütsschwingung das Bild ehrerbietig einlädt.

Genug. Aus allen Erforschungen erhellt, daß Phantasie und Erinnerung die natürlichen, wirklichen Größenverhältnisse bestreiten. Statt der Raummaße gelten hier Wert- und Wichtigkeitsmaße; hinter einen ins Heroische vergrößerten Menschenleib wird die gesamte Welt in den Hintergrund gedrückt und dort verkürzt, verwischt und verschrumpft. Das heilt kein Doktor.

 

Die Verulkung des Märchens in der Illustration

Ich habe ein illustriertes Märchenbuch vor mir, und zwar noch eines der allerbesten aus der neueren Zeit. Was sehe ich? Operettenkönige und -königinnen, possenhafte Höflinge, Fastnachtsnarren, feiste Menschenfresserköche, das Volk in allerlei vergangenen oder nie dagewesenen Trachten verkleidet, bald in Biedermeier, bald in Landsknechte, bald in kokette Marquis aus der Régence, dazwischen plötzlich wieder ultrarealistische Figuren wie vom Fischmarkt photographiert neben wesenlosen Klischees aus französischen Romanillustrationen der 1830er Jahre, dazu entweder ein regennüchterner Stadthintergrund oder, um das Märchen zu markieren, phantastisch bizarre Umgegenden mit fratzenhaften Ungeheuern im Stile Dorés. Was ist das? Das ist Grimasse, das ist humorverlassener Ulk, aus den Weihnachtsvorstellungen, Karnevalsaufzügen, Ballettpantomimen und vor allem aus der französischen Operette bezogen. Und woher hat es die französische Operette? Sie hat es davon, daß der Franzose als ein Verstandesmensch das Märchen nicht ernst nimmt und sich durch Ulk für die Unwahrscheinlichkeiten der Erzählung glaubt entschädigen und entschuldigen zu sollen. Nun frage ich: Haben wir die nämlichen Anschauungen vom Märchen? Ich denke, wir halten das Märchen für eine tiefsinnige, herzinnige Poesieform, für epische Volkspoesie, nicht minderwertiger als die Volkslyrik. Und da soll uns ein Zeichner mit seinen flüchtigen Schnurrpfeifereien aufwarten, die er selber nicht ernst nimmt und die sich über den Inhalt des Märchens lustig machen? Wer ein Märchen illustrieren will, soll uns jedenfalls nicht die Poesie des Märchens zerstören, es gibt da nichts zu karikieren und nichts zu naturalisieren; die Poesie des Märchens ist innig und warm, und wo es lacht, ist das das Lachen des Humors, der das Alltägliche verklärt, aber nie das grinsende Lachen der nüchternen, spöttischen Verstandesüberlegenheit. Doch was braucht es vieler Worte? Wie ein Märchen durch den Stift zu schmücken sei, davon haben wir ja vortreffliche Beispiele: Schwind und Ludwig Richter. Und was ist ihr Geheimnis? Schwind und Richter kennen die Märchen der Luft und Landschaft; in diese haben sie sich mit dem Herzen hineingelebt, und darum wirkt bei ihnen eine schwache Horizontlinie, ein Taubenflug am Himmel so innig und so märchenhaft, und darum vermögen sie die Märchenerzählung noch zu vertiefen, indem sie sie beseelen und beseligen.

 

Amor

Es ist in der deutschen Ästhetik von jeher viel von Berechtigung oder Nichtberechtigung der Allegorie die Rede gewesen. Hierüber sind die Ansichten verschieden und meine Ansichten verschieden von den übrigen. In der Ausübung hat sich mittlerweile die Sache so gestaltet, daß die Allegorie da, wo sie hingehört, nämlich in die Kunst des Gedankens, wie ein Skorpion geflohen, hingegen da, wo sie am wenigsten taugt, nämlich in der bildenden Kunst, wie ein Schatz verliebt von Geschlecht zu Geschlecht weiter geschleppt wird. Ich bin der letzte, der bildenden Kunst dieses Vorrecht zu mißgönnen, nur meine ich, sie sollte die herkömmlichen allegorischen Motive jeweilen auf ihre Brauchbarkeit näher ansehen und überhaupt die archäologische Erbschaft bloß sub beneficio inventarii antreten.

Unter den überlieferten Allegorien aber ist eine, deren volkstümliche Allerweltsbeliebtheit im schroffsten Gegensatz zu ihrem Wert, ja zu ihrer Erträglichkeit steht: ich meine den Amor als Buben, mit oder ohne Bogen, Flügel und Taschentuch.

Ich denke, über die Grundsätze, nach welchen der Wert einer bestimmten Allegorie für die bildende Kunst zu beurteilen sei – wenn wir die Allegorie im allgemeinen zulassen –, ist man einig. Es handelt sich nicht darum, ob der Gedanke, welcher in einem besonderen Fall versinnbildlicht werden will, seinen guten Reim habe, sondern darum, ob das Gleichnis, das zum Ausdruck des Gedankens gewählt wird, vor dem schauenden Auge bestehe. Nun ist ja der Gedanke, der den bübischen Amor gezeugt, klar und einleuchtend, erschreckend klar und einleuchtend: Schönheit gebiert Liebe, folglich ist der Liebesgott ein Sohn der Schönheitsgöttin. Die Schönheitsgöttin wird schwerlich eine Matrone sein, sie bedarf vielmehr des Reizes der blühenden Jugend; eine blutjunge Göttin kann aber unmöglich einen erwachsenen Sohn besitzen, folglich ist Amor ein Knabe; fertig. Die Liebe ist ferner blind; geben wir also dem Buben eine Binde, wie der Justitia. Die Liebe hat bekanntlich Launen, Mucken und Tücken; nichts leichter als das: Amor bekommt ein schelmisches Grübchen und ein schalkhaftes Lächeln. Die Liebe verwundet und schmerzt, sie trifft oft plötzlich, und ihre Wunden heilen schwer: eine Kinderei für den geschulten Allegoriker; ein Bogen, ein Köcher und ein Bündel Pfeile mit Widerhaken, wer könnte das nicht verstehen?

Das alles ist ebenso mathematisch einfach als seicht und nüchtern; zu einer rhetorischen Schmuckfigur reicht es eben hin, und eine allegorische Dichtkunst mag meinetwegen mit dem rattenkahlen Gleichnis weiter wirtschaften, wenn sie sich damit begnügen will, abgegriffene Scheidemünze abzugeben. Allein die Malerei! Was bietet die Malerei dem Beschauer, indem sie jene dünnen abstrakten Gedankenfäden als zusammengewickelten Knäuel körperlich vor Augen stellt? Das Scheußlichste, was ausgeheckt werden kann: einen Buben als Kuppler, und zwar wohlverstanden, als einen Kuppler, der genau weiß, worum es sich handelt; das bezeugt seine kokettierende Haltung, seine verschämte Miene und sein verschmitztes Lächeln. Gibt es nun im ganzen Gebiet der Liederlichkeit etwas Ekelhafteres, als solch ein Müsterchen von einem achtjährigen Schlingel? Ein achtjähriger Kuppler, das ist nicht bloß unnatürlich, sondern geradezu unmöglich. Und dergleichen führt man uns seit Jahrhunderten mit überzeugter Andacht zu Gesicht, in Bildsäulen, Gemälden und Stichen; und jedermann nimmt es als die harmloseste, selbstverständlichste Sache gläubig hin.

Den Gipfel der Liebenswürdigkeit erreicht der interessante Junge, wenn er angesichts eines nahenden Liebhabers seiner Mama mit pfiffigem Lächeln die letzte Hülle vom Leibe zieht. Was für eine nette Gemütsbeschaffenheit, Welterfahrung und Menschenkenntnis setzt das bei dem holden Früchtlein voraus! und was für eine abgelebte Blasiertheit obendrein!

Hierüber Worte zu verlieren, ist doch wohl hoffentlich unnötig; ich denke, es genügt, auf den schauerlichen Widerstreit zwischen Sinn und Versinnbildlichung hingewiesen zu haben. Die geehrten Herren Künstler aber möchte ich im Namen des Verstandes und des Geschmackes flehentlich bitten, uns hinfort mit dem faulen Kuppelbuben gütigst zu verschonen.

 

Speck

Wirklich Speck, im eigentlichsten, buchstäblichsten Sinne des Wortes Speck. Ich kanns nicht anders nennen. Nur nicht Schweinespeck, sondern Menschenspeck. Nämlich Bubenspeck, Kinderspeck, Säuglingsspeck.

Das gilt jetzt unserem duckmäuserischen Zeitalter, welches über einen schönen nackten Busen Sittio schreit, für den Inbegriff des Sittlichen. Was sage ich? Für eine Kuranstalt gegen die Unsittlichkeit.

Wer hat sie nicht im Gedächtnis, die holden Buben und Säuglinge, wie sie uns in den Familienzeitungen, in den Schauläden der Photographen und Kunsthändler mit kokettem Grinsen ihre Unaussprechlichsten entgegenstrecken, oft Dutzende zugleich in den unanständigsten Stellungen?

Was soll das? Was bedeutet das?

Das bedeutet eine schmähliche Konzession an den Ammeninstinkt des Weibes. Meinetwegen; was geht mich das an? Ich bin nicht Amme; ich brauche also einfach die Augen abzuwenden.

Allein wenn man mir nun dergleichen als über die Maßen sittsam verkaufen will, so entgegne ich: Der Ammeninstinkt des Weibes, also in unserm Fall das lüsterne Wohlgefallen am Kinderspeck, gehört genau in dieselbe Rubrik wie die übrigen Instinkte, welche die Fortdauer des Menschengeschlechtes zum Ziel haben. Und ob ein Instinkt höher stände als ein anderer, das ist noch eine Frage.

 

Aus dem Zirkus

Der ästhetische Wert des Zirkus ist kein geringer, da körperliche Kraft- und Kunstleistungen Anmut zum Lohn eintragen. Er könnte noch bedeutend erhöht werden, wenn statt der virtuosen Kunstfertigkeit die Schönheit der Leistung als Zweck ins Auge gefaßt würde. Der Zirkus, als eine Anstalt der höheren Gymnastik im Dienste der Ästhetik aufgefaßt und dementsprechend geleitet, müßte unfehlbar für den bildenden Künstler und den Freund der bildenden Kunst eine Anschauungsschule ersten Ranges werden, wie er es tatsächlich zum Teil schon jetzt ist, trotz seiner Grundsatzlosigkeit, Unsicherheit und Unzulänglichkeit. Hat doch zum Beispiel der französische Maler Ingres die Vermutung gewagt, die Griechen hätten die lebendigen Modelle ihrer Statuen in Trikot gesteckt.

Das neueste Herzuziehen von Umzügen und Tänzen ist dabei vom Standpunkt des Genießenden zu billigen; daß die Theater an einigen Orten den obrigkeitlichen Schutz gegen die Zirkusballetvorstellungen angerufen und erhalten haben, spricht gewiß nicht gegen deren Reiz; denn man wehrt sich nicht gegen ungefährliche Nebenbuhlerschaften. Neben der Gymnastik aller Art besitzt übrigens der Zirkus noch eine Anziehungskraft, die er gegenwärtig nur spärlich und gar kläglich benützt, nämlich die Mimik. Erinnern wir uns, was für eine Rolle die selbständige Mimik im Altertum spielte, und vergleichen wir damit die untergeordneten Dienste, welche die Mimik im modernen Theater zu verrichten hat, so bleibt ein unabsehbarer Rest von Möglichkeiten, der naturgemäß dem Zirkus zufällt, da das Theater ihn verschmäht. Es ist ja nicht gesagt, daß es durchaus Pantomimen und daß die Pantomimen durchaus läppisch sein müssen; der Mensch kann noch etwas anderes mit seinen Gliedern anfangen, als sich in einen Kasten mit drei Klappen zu verkriechen. Überhaupt legt der Zirkus eine merkwürdige Erfindungslosigkeit an den Tag, sobald die Phantasie sich von den Pferdeställen entfernt; und wenn ich hiermit einige Übelstände rüge, so geschieht es nicht aus Feindseligkeit gegen den Zirkus, sondern aus dem freundschaftlichen Wunsch, ihn diejenige Vollkommenheit erreichen zu sehen, die ihm gebührt und die ihm so nahe liegt.

Warum erscheint der Zirkus so manchen unter uns unaussprechlich langweilig? Weil er, statt seine unermeßliche Freiheit zu benützen, uns mit alten Kunststückchen abspeist, von welchen viele niemals einem vernünftigen Auge Vergnügen bereitet haben. Im Gebiete der Pferdedressur gehört hierher alles, was der Natur des Pferdes widerspricht und seiner Schönheit Abbruch tut: zum Beispiel das Niederknieen, das Sich-auf-dem-Rücken-wälzen, das Herumrutschen der Hinterbeine im Sand, während die Vorderfüße entweder auf den Schranken oder auf rollenden Wagen stehen, und ähnliches; im Gebiete der ‹berittenen Gymnastik› das Reif- und Teppichspringen, welches zwar dem Auge Vergnügen gewährt, allein im Unterschied von den Voltigierkünsten ein so bescheidenes, daß die endlose Wiederholung Überdruß hervorrufen muß. Der Ersatz des elastischen Tanzseils durch den Eisendraht darf kaum eine glückliche Neuerung heißen; denn es ist ohne Zweifel sinniger und schöner, daß eine elastische Gestalt von einem elastischen Seil in die Höhe gefedert werde, als daß jemand mit breiten Schuhen und plumpen Tritten schwerfällig die Luft bergan wate wie durch einen Sumpf.

Am übelsten sieht es in der humoristischen Gegend des Zirkus aus. Da sind die Clowns, die bestellten Lustigmacher, die rechtmäßigen Erben des Shakespeareschen Narrenhumors, von welchen ich zwar beileibe nicht verlangen möchte, daß sie zwischen Tränen lächelten – das fehlte gerade noch! –, aber von welchen wir fordern dürfen, daß sie uns erheitern, um so mehr als ihnen keine ästhetischen Verbote Hindernisse bereiten, als ihnen von jedermann das Recht zugestanden wird, in dem ganzen ungeheuren Gebiet der Sprache und Gebärde irgend etwas Fröhliches gleichviel welchen Stils zu erjagen. Was ließe sich daraus machen! Und was machen sie daraus! Schon ihre Kleidung ist eine Bankerotterklärung des Witzes und obendrein noch eine Beleidigung. Komisch wirkt ein Kleid, wenn es ein Motiv aus dem Leben karikiert; wofür jedoch keinerlei Anhaltungs- und Vergleichungspunkte aus der Anschauung gegeben sind, das kann einem vernünftigen Menschen kein Lachen abgewinnen. Was sollen uns diese Mehlgespenster mit ihren spitzen Perückenhelmen, mit ihren chinesischen Malereien auf Pariser Fräcken, mit ihren unter den Achseln festgebundenen feuerroten Pluderhosen? An wen oder an was erinnern sie? Was wollen sie verspotten? Nichts; sie sind bloß Ausgeburten des Aberwitzes, sinnlos für den Geist und häßlich für das Auge, dazu mit ihren Ansprüchen auf unsere Lachmuskeln widerwärtig aufdringlich. Die richtige Ausstaffierung des Clowns wäre naturgemäß die Übertreibung wirklich vorhandener Kleidertrachten oder Körperformen, vom Menschen hinab bis zur Tierwelt; alle Masken der Volkskomödie beruhen ja ursprünglich auf diesem Grundsatz, der englische Clown nicht weniger als der französische Paillasse oder der italienische Pantalone oder der deutsche Hanswurst. Wer verwehrt denn dem Zirkusnarren, aus der Mitte des großstädtischen Lebens nicht noch tausend andere Typen zu holen als den Dummen August, die einzige komische Figur, welche der Witz vieler Tausende während langer Jahre zu erfinden gewußt hat? Niemand verwehrt es ihm, als seine Unfähigkeit und unsere unglaubliche Anspruchslosigkeit. Wenn vier Clowns einen Elefanten oder ihrer zwei ein Ehepaar von Katzen darstellen, dann sind sie in ihrem Gebiet, dann erheitern sie uns, dann zwingen sie uns zum Lachen, ob wir wollen oder nicht. Allein gibt es denn nicht noch mehr Tiere auf der Welt? Soll denn selbst in der Parodie die Schablone herrschen? Sind wir dazu verdammt, überall nur in ausgetretenen Geleisen zu wandeln? Gibt es denn kein Fünkchen gesunden Übermuts, fröhlichen Spasses mehr? Allein die Herren Clowns dünken sich wohl zu vornehm, um ihren Narrenberuf mit Ernst durchzudenken und auszuführen; sie haben ja auch viel Erhabenes zu tun. Ehe man sich dessen versieht, wupp, steht einer dem andern auf den Schultern, ein dritter auf dem zweiten, und dreht seinen Filz während anderthalb Ewigkeiten. Das mag vielleicht schwierig sein, langweilig ist es jedenfalls. Daß sich für die Filzkunststücke eine hübsche Komik gewinnen ließe, wenn die Clowns sich dabei als Tataren einführten, fällt ihnen natürlich nicht ein. Um solche Wahrheiten zu finden, bedarf es vermutlich der Gedankenarbeit mehrerer Jahrhunderte. Überhaupt fallen die Leute jeden Augenblick aus ihrer Rolle. Jetzt schellen sie mit Kuhglocken, oder klimpern Xylophon, oder kratzen den unvermeidlichen «Karneval von Venedig» in den verzerrtesten Stellungen, nicht etwa, um uns Freude zu gönnen, sondern damit wir ihre Geschicklichkeit bewundern. Wenn uns jedoch eine Maske erheitern soll, dann darf sie nicht zwischenhinein um Beifall winseln wie ein Tenorsänger; sie muß denselben erschleichen und erzwingen, nicht erbetteln. Von dem gesprochenen Witz der Clowns laßt uns schweigen. Nur ein Beispiel dafür, wie auch hier wieder sklavische Befangenheit in der Konvention statt des fröhlichen Einfalles herrscht: ein unleidliches blasses Englisch-Deutsch scheint so ziemlich alles zu sein, was die Leute von der Komik der Aussprache wissen, und selbst das üben sie nicht unsertwegen, sondern weil sie glauben, sich durch Englisch einen vornehmen Anstrich zu geben. Sie sollten doch im Lustspiel nachsehen, welches Vergnügen die Zuschauer bekunden, sobald ein Ungar oder Schwabe oder Russe auftritt; im Theater freilich erwecken solche Mittel der Komik das Achselzucken der Kritiker, weil sie für zu plump gelten; im Zirkus, neben dressierten Schweinen, werden sie wohl schwerlich zu gering sein. Verspotteten doch die Herren nicht frostige Hirngespinste, sondern das Publikum, mich und meine Nachbarn, damit wir einmal herzlich lachen könnten!

Es gibt übrigens noch eine unleidlichere Gesellschaft im Zirkus als die abstrakten Filznarren: das sind die Statuenmännchen. Weshalb ein verehrliches Publikum diese Mehlwürmer nicht in gebührender Weise mit Schimpf und Schalen aus der Arena jagt, ist mir stets ein Rätsel geblieben. Vergeblich zerbreche ich mir den Kopf darüber, was diesen Attentätern auf den gesunden Menschengeschmack Gnade erwirkt; hingegen weiß ich gar wohl, warum ich sie unausstehlich finde. Wenn ich nämlich nicht irre, so beruht die Schönheit einer Statue hauptsächlich auf ihrer Schönheit; daß jedoch diese in Badehosen, faltige Wollenjacken und Schnabelstrümpfe gesteckten Gesellen mit ihren aufgeklebten Perücken, mit ihren verschmierten Gesichtern, mit ihren roten Hälsen, die vom Saum des Wamses geköpft werden, mit ihren frechen, beifallslüsternen Blicken und Gebärden schön wären, wird schwerlich jemand behaupten. Ein andrer wesentlicher Vorzug in Marmorgruppen scheint mir im Marmor zu liegen; ob man aber den Marmor mit Glück durch Brei, Mehl und Schweiß ersetzen könne, bleibt mir fraglich. Doch wahrscheinlich ist es schon ein Bildungsgenuß, überhaupt nur an antike Statuen erinnert zu werden, einerlei wie? Da erhalten wir denn ein liebliches Gleichnis: die Alten ahmten mit ihren Statuen den menschlichen Körper nach, im edelsten Stoff und in den idealsten Formen ihn verschönernd; wir äffen durch den menschlichen Körper die antiken Statuen nach, mit den abscheulichsten Leibern und mit den gemeinsten Stoffen dieselben verballhornend. Noch ein Schritt weiter, so werden unsere Bildhauer die Mehlakrobaten des Zirkus in Marmor ausführen, um auf diesem Wege zur Natur und zur Antike zu gelangen. Der Gipfel des Geistes aber wird es sein, wenn nun die gescheckten Filzvirtuosen, von Neid über den Erfolg ihrer gipsernen Kollegen erfüllt, den letztern ins Handwerk pfuschen, sich in ihren roten Fräcken in die Narrenbrust werfen, martialische Gesichter schneiden wie ein Fechter von Bologna und die Faust erheben wie ein Patriarch, der seinen Sohn verflucht. Auch das kommt vor und erregt natürlich einen wahnsinnigen Beifallssturm.

 

Die Ballettpantomime

Wer sich einmal gewöhnt hat, die menschlichen Einrichtungen in Kunst und Leben nach ihrer Zweckmäßigkeit und ihrem Eigenwert zu beurteilen, wird überall Seltsamkeiten und Widersprüchen begegnen, weil zufällige Ursachen und gläubige Befolgung eines einmal gegebenen Beispiels bestimmenden Einfluß bis in ferne Zeiten auszuüben pflegen. Der philosophische Denker spürt solche Ungereimtheiten hauptsächlich in den höchsten Gebieten des Menschengeistes; ich will jedoch an einem Beispiele zeigen, daß die Heiligung der Schablone durch Überlieferung sich selbst in den untergeordnetsten Gebieten geltend macht, daß wir merkwürdigerweise sogar solche Dinge, die niemand ernst nimmt, als unantastbar behandeln.

Ein hauptstädtisches Theater kündigt eine Ballettvorstellung an. Was werden wir da erhalten? Wir wissen es im wesentlichen zum voraus: ein Gymnasium von Trikots und kurzen Röcklein, farbenfunkelnde Aufmärsche, magische Verwandlungen, kaleidoskopische Szenenbilder, choreographische Evolutionen, geschniegelte Tänzer, welche als Korkzieher schraubenförmig in die Luft schnellen, und mehr oder weniger schöne Damen, welche die Arme, mitunter auch die Beine über den Kopf erheben. Das alles verständigt sich untereinander mit Zeichen, in einer Geheimsprache der quergestreiften Muskeln, die wir nicht kennen, da sie leider nicht zu den Unterrichtsgegenständen der Schule gehört. Darunter aber braust ein volles Orchester, das alle Effekte der neuesten Instrumentation gewissenhaft ausbeutet.

Dazu erlaube ich mir eine Frage: Sind alle die Herren und Damen auf der Bühne taubstumm? Nein? Warum sprechen sie denn kein einziges Wort? Weil es nicht erlaubt ist. Wer hat es ihnen aber verboten? und was für eine entsetzliche Strafe erwartet die Übertretung des Verbotes, daß dieses so ängstlich beobachtet wird? Darauf wird wohl die Antwort schweigen müssen. Und jetzt gestatte ich mir eine zweite Frage: Gibt es ein possierlicheres Schauspiel in der Welt, als ein Publikum, das mit feierlichem Ernst eine Taubstummenoper anhört, wo aus einem Grunde, den keiner von ihnen kennt, statt des natürlichen Mittels der Sprache die Handlung durch Symptome des Blödsinns erklärt werden soll? Bedarf man etwa zur Erholung vom Konversationsstück die unumstößliche Gewißheit, daß heute ja kein Wort verlaute? Gut. Ist es jedoch zugleich nötig, den Eindruck zu erhalten, als wäre sämtlichen Personen die Zunge abgeschnitten worden? Diesen Eindruck aber zwingt uns eine sentimentale Intrige auf, bei welcher die Liebenden einander verzweifelt angestikulieren, auf Mund und Herz und Handsohlen zeigend und nach dem Himmel weisend.

Zwei verschiedene Dinge sind zu unterscheiden: der Tanz und die Handlung. Der Tanz bedarf natürlich keiner Worte, und will man das Ballett in unzusammenhängende Einzeltänze auflösen, so bin ich herzlich damit einverstanden. Dagegen widerspricht der Einfall, über einem Symphonieorchester eine Intrige mehrere Akte hindurch pantomimisch statt rezitierend verlaufen zu lassen, nicht allein der Vernunft, sondern auch, was wichtiger ist, der Musik. Dadurch wird nämlich der Komponist genötigt, sich zu einer himmelschreienden Gefühlsekstase für die nichtigsten Anlässe zu versteigen, damit er die szenischen Vorgänge annähernd verdeutliche, und die Ballettmusik geht dabei ihres schönsten Vorrechtes, der frischen, mutigen Fröhlichkeit, verlustig. Freilich hat Auber eine Stumme von Portici und Mozart einen Papageno mit dem Schloß vor dem Munde gestikulieren lassen; allein eine Liebschaft zwischen Papageno und Fenella, nebst einem obligaten Chor von aufgeregten Paralytikern durch mehrere Akte hindurch in Partitur zu setzen, dessen hätten sie sich wohl beide nicht unterfangen. Wahrlich, ich wundere mich nicht mehr über die Schwierigkeit, mit einem schöpferischen Gedanken in wichtigen Kunstangelegenheiten durchzudringen, wenn die Menschheit nicht einmal den Mut aufzubringen vermag, den heiligen traditionellen Unsinn einer Ballettpantomime zu korrigieren. Die Ballettpantomime mitsamt ihrem manierierten Idealbeinstil ist ein Anachronismus; sie stellt ein Überbleibsel aus jenem steifen, petrifizierten Renaissanceklassizismus der Franzosen dar, den wir anderswo so scharf, ja allzu scharf verdammen. Wir haben den Tänzerinnen die altehrwürdigen Reifröcke gestutzt, und nicht wenig; ich schlage noch einen kräftigen Schnitt in den Zopf vor.

 

Großstadt und Großstädter

Bei einer ‹Großstadt›, ein Wort, das beiläufig gesagt, nicht gleichbedeutend mit einer großen Stadt ist, da zum Beispiel Lyon und Bordeaux trotz ihrer halben Million Einwohner echte Provinzstädte vorstellen, bei einer richtigen Großstadt muß das Stammbürgertum von der nationalen und internationalen Einwohnerschaft unterschieden und ausgeschieden werden. Das Stammbürgertum ist selbst in den ersten Städten Europas so spießbürgerlich als nur möglich, spießbürgerlicher als im kleinsten Krähwinkelstädtchen, da es den Zusammenhang mit der Natur und den bürgerlichen Ernst verloren hat. Nirgends ist der Horizont so eng, der Geist so beschränkt, die Denkungsart kleinlicher und die Klatschsucht größer als bei dem ‹richtigen geborenen› Großstädter. Wie geläufig er auch reden, wie viele Witze er auskramen mag, es ist alles von außen angeflogen, es ist ein Harlekingewand von Avenuetrivialitäten, hinter welchem eine Null in Ziffern steckt, verblaßtes Philistertum, dem sogar die komisch-originellen Züge der kleinen Nester abhanden gekommen sind.

In jeder unserer Millionenstädte steckt solch ein tauber Philisterkern, das entgeistete Überbleibsel einstiger städtischer Individualität. Da diese Menschenklasse überdies ein ansehnliches Größenbewußtsein mit sich herum spazierenführt, das sie von den Monumenten bezieht, an welchen sie täglich vorüberstreift, weiß sie sich auf sommerlichen Völkerwanderungen beträchtlich unleidlich zu machen. Das ist keineswegs etwa ein Vorrecht des ‹richtigen geborenen Berliners›; der echte Pariser Bourgeois, der Petersburger und Wiener Kleinbürger geben ihm hierin nichts nach, nur reisen sie weniger, weil sie ihren heimischen Großstadtklatsch selbst nicht für einige Wochen zu missen vermögen.

Neben und über diesem gottbegnadeten Philistertum befindet sich das erste charakteristische Element der Großstadt: die ‹Gesellschaft› im höchsten Sinn: ‹le monde›. Historisch betrachtet ist diese eine Dependenz des Hofes, wie denn ihre Sitten ursprünglich höfisch (später ‹höflich›) und ihre Träger der Hofadel waren. ‹La cour et la ville› hieß es früher, in dem Sinne, daß der Hof den Ton angab, die Hauptstadt ihn nachahmte. Im Hofleben früherer Jahrhunderte waren nun schon die wichtigsten Elemente einer ‹Gesellschaft› im heutigen Sinne des Wortes enthalten, nämlich eine gewisse Nivellierung der Stände vor der Person des Monarchen und vor allem die Hoffähigkeit des Geistes. Längst vor der französischen Revolution erkannte man eine ‹noblesse de l'esprit› tatsächlich an, im kleinen an den Höfen der italienischen Renaissance, im großen bei den französischen Bourbonen.

Endlich war das wichtigste Element der ‹Gesellschaft› am französischen Hofe schon seit dem siebzehnten Jahrhundert gegeben: die moderne Galanterie oder die Vorherrschaft der Frauen. Solange freilich der Hof den Mittelpunkt bildete, um welchen sich die Gesellschaft gruppierte, entbehrte die letztere der Merkmale des Großstädtischen; man hatte den Hofklatsch neben dem Stadtklatsch und meistens beides zusammen. Wenn wir die französischen Memoiren des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts lesen, so erstaunen wir über die virtuose Fähigkeit, alles und jedes, selbst die Fragen der europäischen Politik, unter dem Gesichtspunkte des Klatsches zu behandeln. Es kam jedoch ein Moment, da die Gesellschaft sich geistig vom Hofe emanzipierte, ihre Gesetze aus sich selbst bezog und den Thron kritisierte. Wenn wir die Marschallin von Luxemburg den König Gustav von Schweden verächtlich einen ‹Provinzialen›, das heißt einen Kleinstädter, nennen hören, weil er sich nicht richtig zu kleiden verstand, das heißt, weil er rosaseidene Bänder trug, wenn wir die Damen des französischen Adels sich danach erkundigen sehen, ob der ehrwürdige römische Kaiser deutscher Nation Joseph II. sich zu benehmen verstehe, so haben wir schon die moderne ‹Gesellschaft›, ‹le monde›, obschon noch nicht völlig die großstädtische.

Die großstädtische Gesellschaft bedarf nämlich noch eines weitern Charakterzugs: der Vorherrschaft der Masse über die Elite. Sie hat sich in diesem Jahrhundert vollzogen. Mit einer gewissen Bevölkerungszahl, oder richtiger mit einem gewissen Bevölkerungsübergewicht, schwindet die Fähigkeit der geistigen oder adeligen Elite, einer Stadt die Gesetze der Gesellschaft zu diktieren; es findet vielmehr eine Invasion von unten statt: das Boulevard siegt über das Faubourg, die Kokotte über die Dame, der Pflastertreter über den Edelmann; zwischen diesen beiden Gewalten vollzieht sich schließlich eine fortwährende Ausgleichung, die wesentlich für den Charakter der Großstädte ist, während das Zopfbürgertum immer das nämliche bleibt. In der Privatgesellschaft streng gesondert, finden sich beiderlei großstädtische Elemente in der Öffentlichkeit zusammen, auf der Straße, an Festen, im Theater. Sie nehmen voneinander an; der Vornehme liebt sich zu ‹enkanaillieren›, der Emporkömmling sucht sich in seinen Manieren der guten Gesellschaft anzupassen: dem Kleinstädter begegnen sie gemeinschaftlich mit spöttischer Geringschätzung. ‹Kanaille› gilt für ein berechtigtes Genre, ‹provinziell› niemals. Ein Prinz darf mit einem Stallknecht, nicht aber mit einem bürgerlichen Professor fraternisieren. Diese fusionierte großstädtische Bevölkerung zeigt nun ganz eigentümliche Veranlagungen, die sich überall und in jedem Jahrhundert unter ähnlichen Bedingungen fast genau wiederholen: in Athen zur Zeit des Nikias, in Rom in den cäsarischen Jahrhunderten, im modernen Paris und Petersburg und so weiter. Auch das alte Syrakus zur Zeit der Hierone weist großstädtische Spuren.

Vor allem gibt es nun hier, was es in Kleinstädten nicht gibt: eine Geselligkeit, das heißt tägliche private Zusammenkünfte von Menschen beiderlei Geschlechtes, deren Auswahl nicht nach dem Standes- oder Familien- oder Berufsprinzip, sondern nach ihrer Unterhaltungsfähigkeit geschieht. Dazu gehört unbedingt die Vorherrschaft der Frauen; wo die Frau nicht den Ton angibt, da haben wir weder Gesellschaft noch Großstadt.

Daß der Einfluß der Frauen auf die Gesellschaft ein segensreicher ist, braucht nicht erst gesagt oder bewiesen zu werden. Er ist ein Kulturfaktor allerersten Ranges. Nehmen wir das glänzende Rekrutierungssystem hinzu, mittels dessen eine Großstadt neben anderen Bevölkerungsklassen auch die Elite der Nation versammelt, erinnern wir uns endlich der heilsamen Wechseleinflüsse des Zusammenseins hochgebildeter Menschen, also des täglichen Wettstreites in den zartesten Gebieten des Geistes- und Sittenlebens, so ist das Ergebnis leicht vorauszuberechnen, welches wir tatsächlich sehen: die Großstädte werden die Sammelpunkte der Kultur; sie erzeugen überdies noch von sich aus Geist, einen oberflächlichen Geist zwar, immerhin Geist. Beweglichkeit und Schnellfertigkeit sind einige der wichtigsten Merkmale des großstädtischen Geistes; überdies Gutartigkeit. Der Geist ist scharf, spottlustig, aber selten giftig; kommt man aus Großstädten in eine Kleinstadt zu wohnen, so fällt einem vor allem die Bösartigkeit des Urteils über den Nebenmenschen in der letzteren auf. Der Großstädter kennt alles und verzeiht alles; er verspottet, aber er verdammt nicht. Seine Gutherzigkeit in Beziehung auf Spenden ist mit Recht sprichwörtlich; er weiß zu geben, ohne den Empfänger zu erniedrigen, ein Talent, das den Wohltätigkeitsbezeugungen kleinerer Städte nur gar zu oft abgeht. Der Geist ist nicht eben männlich, vielmehr kindisch, ja er zeigt sogar eine merkliche Hinneigung zur Albernheit, mit welcher er gerne kokettiert, welche aber ja nicht mit Dummheit oder Beschränktheit verwechselt werden darf. Vom Kinde hat er die Unstetigkeit und Gutartigkeit, vom Weibe die Elastizität und die Schärfe; von beiden die Unselbständigkeit. Allein versteht der Großstädter nicht zu denken; er muß Gesellschaft dazu haben. In Kleinstädte versetzt, benimmt er sich wie ein verschmachtender Fisch, in der freien Gottesnatur wie ein verirrtes Huhn.

Vorurteilslosigkeit ist eine Hauptzierde der Großstädte; daher lebt sichs in ihnen leichter und freier. Empfänglichkeit für alles und jedes läßt sich der großstädtischen Bevölkerung ebenfalls nachrühmen, Empfänglichkeit für das Höchste wie für das Lächerlichste; die Empfänglichkeit aber entspringt einem dringenden Bedürfnis, dem Bedürfnis, Geistes- und Gesprächsstoff zu gewinnen. Womit das geschehe, ist unwesentlich, nur ja immer etwas, das zur gemeinsamen Unterhaltung diene. Denn der Großstädter fühlt immer kollektiv, und als Zweck alles Geschehens gilt das, was den wichtigsten Hebel der Geselligkeit bildet: das Gespräch.

Die Spottlust des Großstädters ist nichts anderes als eine Betätigung seiner geistigen Freisinnigkeit; denn der Witz erhellt, der Spott befreit. Diese Freisinnigkeit geht so weit, daß das, was den gewöhnlichen Menschen am meisten aufbringt, die Verspottung seiner selbst – wohlverstanden: von anderen verübt – dem Großstädter Vergnügen macht. Und zwar unbändiges Vergnügen. Wer innerhalb einer Großstadt den Großstädter auf die unbarmherzigste Weise verhöhnt, wird, wenn es nur mit Geist und Witz geschieht, unfehlbar der populärste Mann.

Der Großstädter ist nicht bloß elegant, sondern wohlgebaut und, was man nicht glauben sollte, durchschnittlich gesund, da er viel geht und sportet, reinlich ist und meistens leidlich mäßig lebt. Verkretinierte, versumpfte, verschmutzte, verwachsene, vertrunkene Gesamteinwohnerschaften gibt es da nicht. Der Großstädter hockt eben nicht. Aber die Gesundheit steigert sich kaum zur eigentlichen Lebenslust, zur kräftigen Muskelfröhlichkeit, zum Glücksgefühl. Das schöne, heitere, naive Lachen und Lächeln des Landbewohners wird man da kaum finden. Um seines Lebens einigermaßen froh zu werden, muß der Großstädter erst Toilette gemacht haben. Ehe das geschehen ist, bedauert er das Dasein im allgemeinen und sein Los im besonderen. Des Morgens beim Erwachen erhebt sich unfehlbar ein klägliches Gestöhn aus allen Betten; denn mit seinem Magen lebt der Großstädter auf gespanntem Fuß. Aber gegen Abend wird der Lebensüberdrüssige merkwürdig munter. Und nachts, zu der Zeit, da der Kleinstädter hinter dem Glase melancholisch wird, beginnt der Großstädter seine Kalauer. Die Kalauer aber stimmen ihn über die Maßen froh, ich meine jeden seine eigenen Kalauer.

Die Kunst nun findet auf diesem Boden ein Entgegenkommen, das auf den ersten Blick lauter Gewinn verspricht. Sie findet vor allem den Ruhm, der gegenwärtig von den Hauptstädten gänzlich in Pacht genommen ist. Der hauptstädtische Ruhm ist verhältnismäßig neidlos und namentlich geizlos, ja sogar verschwenderisch. Wer da hat, dem wird viel gegeben. Eben weil der empfänglichste Teil der Menschheit, die schöne Welt, ihn verteilt. Der hauptstädtische Ruhm ist auch süßer als jeder andere, weil seine Zinsen von einer feinfühligen Gesellschaft ausgezahlt werden. Darum sieht man die Künstler und Dichter so gerne in die Hauptstädte übersiedeln. Beim näheren Zusehen zeigen sich die Verhältnisse allerdings weniger günstig. Ich will nicht davon reden, daß die berühmten Leute ‹verwöhnt› oder ‹verdorben› werden; eher schon davon, daß die Unruhe, der Strudel des schnelleren Lebens ungünstigere Bedingungen der Produktion schafft, wie denn auch oft genug die Beobachtung gemacht worden ist, daß die Großstädte verhältnismäßig wenige produktive Geister erzeugen.

Am verhängnisvollsten erscheint mir der Umstand, daß der großstädtische Geschmack den Künsten indirekt das Gesetz vorschreibt oder wenigstens denjenigen Künstler, der nicht völlig charakterfest ist, verführt. Dieser Geschmack ist, im Unterschied zur ehemaligen höfischen Gesellschaft, nicht wählerisch und nicht fein, sondern, sagen wirs geradeheraus, herzlich roh. Das Auffällige, das Schreiende und, was in dieselbe Kategorie gehört, das Raffinierte, wird vorgezogen. Es wird auch überhaupt nicht individuell geurteilt, sondern klassen-, banden- oder kliquenweise. Was Erfolg hat, wird alsobald auch Mode und fortan kritiklos angebetet, bis man es eines trüben Morgens unter das alte Eisen wirft. Diejenigen Kunstgenüsse, die einsam genossen werden wollen, zum Beispiel Hausmusik und Buch, treten weit in den Hintergrund, dagegen verschlingen die Kollektivanstalten das ganze Interesse: Konzerte, Feste und namentlich das Theater in jeder Form, sei es nun Gladiatorenspiel und Tierkampf wie im alten Rom, oder Oper und Drama wie in der Gegenwart. Ich bin kein Feind von Oper und Drama; dagegen kann ich mich der Erfahrung nicht verschließen, daß jedesmal dann, wenn eine Nation sich einem unbeschränkten Theaterkultus ergab, ihre große Literatur ein Ende hatte. So unbedenklich ist also die Erscheinung nicht. Immerhin, wenn nur wenigstens im Theater die Kunst, nicht der Masseninstinkt des großstädtischen Publikums regiert. Geschieht das letztere, so erleben wir, daß derjenige, der entweder die raffiniertesten Effekte ausklügelt oder die konsequentesten Methoden erfindet, alle andern aus dem Felde schlägt.

Der großstädtische Geschmack bewegt sich in Gegensätzen fort, das Bewegungsorgan aber ist der Ekel vor sich selber. Alle zehn Jahre wird verdammt und in den Kot getreten, was man zehn Jahre lang bewundert hatte. Und wenn eine Großstadt alles versucht und jeden Ekel durchgekostet hat, dann verfällt sie aufs Kindische; damit hofft sie, die Natur wiederzufinden.

So frei der Großstädter in geistiger Beziehung ist, solch ein Sklave ist er an Charakter. Wer im höchsten Grade gesellig lebt, kollektiv denkt und herdenweise fühlt, kann unmöglich individuell und unabhängig sein. Verlangen Sie jeden Mut, jedes Opfer von ihm, nur nicht, daß er eine Krawatte trage, die verpönt ist, daß er sich zu einer Ansicht bekenne, die für lächerlich gilt. Kein asiatischer Despot tyrannisiert seine Untertanen widerstandsloser als die Gebote der Gesellschaft den Großstädter. Da nun aber Kunst, Literatur und Theater unter die Gebote der Gesellschaft fallen, so ist der Großstädter in Kunstsachen das folgsamste, willenloseste, unselbständigste Herdentier. Das Schlagwort peitscht ihn nach Belieben linkshin oder rechtshin wie der Wind die Wolke. Und ob er noch so spotte, er bewegt sich nicht nach der Richtung seines Spottes, sondern nach dem Schlagwort, über welches er spottet. Deshalb wirkt selbst der gebildete Großstädter in Kunstsachen als Pöbel. Schon darum, weil er sich den literarischen Stoff, über welchen er zwar oft überraschend gescheit urteilt, von der Mode vorschreiben läßt. Der Großstädter wird ein Buch, das Mode ist, möglicherweise verhöhnen, aber schwerlich ungelesen lassen.

Die tiefste, erbarmungswürdigste Sklaverei aber erleidet der Bewohner einer solchen Hauptstadt, die Großstadt sein möchte, ohne es noch völlig zu sein. Der muß nach Melodien gigerln, die er nicht hört, Gesetze befolgen, die er nicht kennt, eine Sprache reden, die er nicht versteht; er muß, mit einem Wort, der Fremde dienen. Denn nur die allerersten Großstädte haben das ehrwürdige Vorrecht, Narrheiten aus sich selbst zu gebären; die andern Hauptstädte beziehen sie aus dem Auslande, vornehmlich aus Paris. Und zwar meist nicht direkt von der Quelle, sondern durch den Zwischenhandel. Das ist ein mühseliges Exerzieren nach unsichtbaren Exerziermeistern, wie wir es seit drei Jahrzehnten, nämlich seit Berlin und München sich auf den Zehen strecken, um großstädtisch zu scheinen, in der deutschen Kunst und Literatur beobachten.

Da sehen wir zum Beispiel, wenn Paris in seinem blasierten Galgenwitz mit ‹fin de siècle› und ‹décadents› kokettierend spielt, eine leidlich gesunde militärtaugliche Jugend in Berlin, Wien und München sich literarisch faul stellen, um nur ja für großstädtisch zu gelten. Das heißt also: Weil der Nachbar krank ist oder sich wenigstens krank stellt – denn Paris übersteht ja alle Torheiten spurlos wie Kinderkrankheiten –, schminkt man sich Eiterbeulen auf die Wangen. Der Humor davon aber ist, daß man auf diese Weise, weil Paris sich rascher dreht, immer um einen oder zwei -ismus zu spät kommt. Kaum daß Berlin den Realismus aus Paris importiert hat, so ist er dort schon veraltet, und das Schlagwort lautet Naturalismus. Hat man das einzusehen begonnen, siehe da, ist in Paris der Naturalismus überwunden, und die Losung heißt Symbolismus, Präraffaelismus, Primitivismus. Das muß man jetzt selbstverständlich schleunigst wieder nachholen, so gut mans versteht. Man verstehts aber meistens nicht so gut. Kurz, es ist eine atemlose Hast und eine heillose Konfusion. Doch das schadet nichts, man fühlt sich dabei doch wenigstens als Großstädter.

 

Ein kindischer Brauch

Seit ungefähr fünfzehn Jahren hat sich in die Presse der Brauch eingeschlichen, jedesmal, wenn ein paar alte Leute irgendwo zusammensitzen, ihr Alter zusammenzurechnen. Nun würde selbst der beste Einfall durch fünfzehnjährige tägliche und allseitige Wiederholung nicht unbeträchtlich von seinem ursprünglichen Reiz verlieren, und wäre es den Redaktionen vergönnt, gegenwärtig zu sein, während ihre Zeitungen im Familienkreise gelesen werden, so würden ihnen die Interjektionen, die sich bei Anlaß der Altersberechnungen kundzugeben pflegen, längst gezeigt haben, daß an jenem Witze Überreproduktion herrscht. Auch dürfte man, nachdem einmal die Anregung des Rechenexempels gegeben worden, getrost dem Leser die nicht allzuschwierige Kunst zutrauen, die Addition selber zu verrichten, falls er nach einer solchen ein Bedürfnis verspürt.

So urteilen wir in der Voraussetzung, daß der Gedanke der Alterszusammenrechnung verschiedener Menschen ein vernünftiger wäre. Allein er ist nichts weniger als ein vernünftiger, sondern vielmehr ein so einfältiger und verschrobener als nur möglich.

Es gibt, nach dem Grade des Gedankenwertes gemessen, dreierlei Arten von Summierungen. Erstens interessante, wenn nämlich für eine richtige, aber schwierige Vorstellung durch die Summierung Anschaulichkeit gewonnen wird. Zweitens wertlose, müßige, spielende, wenn zwar die Summierung eine Anschauung vermittelt, aber eine solche, nach welcher kein vernünftiger Mensch fragt. Drittens eine kindische und aberwitzige, wenn Dinge summiert werden, die sich logischerweise gar nicht reimen lassen.

Interessant ist es zum Beispiel, die Summe des Weges auszurechnen, welche ein Briefbote während seiner Amtszeit zurücklegt, falls diese Rechnung dazu dienen soll, die Leistungsfähigkeit menschlicher Beine zu verdeutlichen, oder falls mit derselben eine die Phantasie übersteigende Entfernung, zum Beispiel die Länge des Äquators nach menschlichem Leistungsmaß soll illustriert werden. Dasselbe gilt von der Summierung der Strecke, die ein Lokomotivführer während seines Lebens überwindet, zum Behuf der Erläuterung der Monddistanz von der Erde, und ähnlichem. Hier bietet nämlich das Gehen und das Fahren, ein Vorgang, der in der Phantasie jedes Menschen anschaulich lebt, einen bildlichen Anhaltspunkt, während die abstrakte Entfernungszahl nur dem geübten Mathematiker etwas Bestimmtes mitteilt. Auch das Gewicht, die Größe, der Umfang und die Stärke mehrerer Menschen kann unter Umständen zu wertvollen Vergleichungen Anlaß geben.

Oder, um beim Lebensalter zu bleiben: Es ist interessant, ab und zu den Zeitraum zu demonstrieren, den eine Familie in der Aszendenz und Deszendenz zu umspannen vermag; denn dadurch wird der abstrakte Begriff eines Jahrhunderts, den die Phantasie nicht erfaßt und den sie nach ihrer Art aus demselben Grunde ins Märchenhafte vergrößert, dem Bewußtsein und dem Gedächtnis klarer und richtiger überliefert.

Gänzlich uninteressant, obschon nicht widersinnig, sind die bekannten Berechnungen müßiger alter Junggesellen, wie viele Schornsteine sich in einer Stadt befinden und welche Höhe sie erreichen würden, wenn man sie aufeinanderstellte. Oder wenn einer die Zahl der Jasse, die jährlich in Zürich gespielt werden, berechnen wollte oder die Länge der Nasen, wenn man alle Sulzberger zusammennähme, und dergleichen.

Dagegen ist es einfach kindisch und aberwitzig, durch Zusammenzählung unsummierbarer Dinge dem Auge Vorstellungen vorgaukeln zu wollen, welche der Verstand nicht ratifiziert, sondern als unlogisch augenblicklich wieder zertrümmert. Es ist nicht gescheiter, das Alter mehrerer anwesender Personen zusammenzutun, als es sein würde, die Höhe zu berechnen, welche mehrere Bergsteiger miteinander erzielten. Was würden Sie zu folgender Berichterstattung sagen: «Letzte Woche bestieg eine Gesellschaft von sieben Herren und sechs Damen in Begleitung von fünf Führern und vier Trägern den Montblanc. Sie erreichten miteinander eine Höhe von mehr als hundert Kilometern, also eine Höhe, welche den Jungfraugipfel um das Fünfundzwanzigfache übertrifft.» Das wäre um nichts kindischer. Oder mit ebendemselben Recht könnten wir in unseren Konzert-, Fest- und Krankenberichten stehende mathematische Rubriken aufstellen wie die folgenden: «In der gestrigen Aufführung des «Don Juan» sang die Elvira fünfzehnmal das hohe As, zehnmal das hohe B, Zerline achtmal das H, Donna Anna siebzigmal das G, und so weiter. Wenn wir das zusammenrechnen, so ergibt sich daraus ein Ton, welcher das Pfeifen einer Lokomotive achtzigundeinhalbmal an Höhe übertrifft.» Oder: «In unserem Spital liegen dermalen neunzig Typhuskranke. Der erste hat eine Temperatur von 39,6° Celsius, der zweite von 41°, der dritte von 42°, und so weiter. Ihre Temperatur zusammengerechnet würde hinreichen, um eine eiserne Kugel von drei Meter Durchmesser zum Schmelzen zu bringen.» Oder: «Am kantonalen Turnfest zeigte die Sektion B. folgende bemerkenswerte Leistungen: der erste sprang vier Meter weit, der zweite vierundeinhalb Meter, und so weiter. Zusammengerechnet wäre die Sektion B. über einen Graben gesprungen, der zweiundeinhalbmal so breit wäre als der Rhein bei Basel.»

Was schwebt dem Verfasser für eine Absicht vor, indem er uns die einfältigen Alterssummen mitteilt? Die Absicht, uns zu verdeutlichen, ein wie hohes Alter die Leute in diesem und jenem Orte erreichten. Zu diesem Zwecke aber genügt die Nennung der Zahl der dort existierenden und meinetwegen zufällig gleichzeitig anwesenden Hochbetagten; will er es besonders gut machen, so nenne er uns den Prozentsatz, welchen diese Zahl unter den Einwohnern bildet. Auch haben wir nichts dagegen, wenn er das idyllische und tröstliche Bild eines Dorfsenats im Wirtshaus mit entsprechenden Farben ausmalt, also, zum Beispiel, wenn er uns erzählt, wie sie miteinander kegelten oder jaßten; selbst die Zahl des Sausers, den sie gemeinschaftlich vertilgten, nehmen wir hier als humoristische Zugabe zum Genrebild gerne entgegen. Eine logische Summierung jedoch auf Grund der Vereinigung mehrerer alter Leute läßt sich nur in dem einen Falle gewinnen, daß dieselben ihre verschiedenen Erfahrungen austauschen. Denn Erfahrungen lassen sich glücklicherweise summieren. Ich fürchte aber sehr, die betreffenden Jubelgreise sprechen lieber vom Alkoholgesetz, oder sie lügen einander gegenseitig aus ihrer Jugend etwas vor. Deshalb möchte ich für die einfache Aufzählung der Altersjahre, verbunden mit einer erfreulichen Notiz über die Gesundheit des Betreffenden plädieren. Der Leser wird dem unbekannten wackeren Greise von Herzen gern ein ferneres Jahrzehnt wünschen, und dieses sein eigenes Jahrzehnt wird ihm willkommener sein als die vierhundertundfünfundsechzig Jahre, die man ihm aus seinen Nachbarn herüberrechnet.

 

Vom finanziellen Schamgefühl

Was ich zeitlebens nie habe nachfühlen können, das ist die ängstliche Scheu, im gesellschaftlich traulichen Gespräch die Geldverhältnisse seines Partners zu berühren und die eigenen Vermögensverhältnisse zu bekennen. Derselbe Mensch, der einem ungefragt mitteilt, wie alt er ist und wieviel Kinder er hat, der einem im harmlosesten Ton von seiner Gicht, von der Blinddarmentzündung seiner Frau erzählt, würde um nichts in der Welt offenbaren, wie viel er im Jahre einnimmt. Ich darf ihn fragen: «Wie geht es Ihnen?», aber wenn ich ihn fragte: «Sind Sie reich?», so würde er ein Gesicht ziehen wie ein englischer Pfarrer vor einer Gotteslästerung oder seine Frau vor der Leda mit dem Schwan. So etwas fragt man nicht, solche Dinge berührt man nicht, das ist eine Taktlosigkeit.

Ja, warum ist das eine Taktlosigkeit? Warum erträgt der nämliche Mensch, der einem von den Eingeweiden seiner Frau (Blinddarmentzündung) Intimitäten berichtet, nicht, daß ich mich teilnahmsvoll über den Zustand seines Geldbeutels erkundige? Ist etwa sein Geldbeutel etwas Unanständiges? Ich finde seine große Zehe, die er mir gesprächig aufwartet (Gicht), weit unanständiger. Oder wäre im Gegenteil Geld etwas so Heiliges, daß man seinen Namen auszusprechen vermeiden soll, wie den Namen Jehova?

Etwas dergleichen spukt allerdings bei der ängstlichen, fast religiösen Scheu vor der Berührung von Vermögensverhältnissen im Hintergrund. Es gibt in der Tat einen heiligen Mammon; manche beten zu ihm, und viele dienen ihm, gerne oder notgezwungen. Aber daß man dem Gott Mammon, nachdem man ihm den Tag über gefrönt, überdies erlaubt, noch die Sitte der gesellschaftlichen Vereinigungen zu beeinflussen, daß man es als selbstverständlich annimmt, die Vermögensverhältnisse eines Menschen wären sein Allerheiligstes, sein Tabu, das man mit keinem Blick, keinem Wort antasten dürfe, das finde nun ich unanständig, ja sogar schmählich.

Verhehlung einfacher Tatsachen, zum Beispiel der Tatsache, wie alt man ist, ob man verheiratet ist, ob man reich oder arm ist, hat nur dann einen verständigen Sinn, wenn man entweder seinem Gesprächspartner mißtraut oder selber ein schlechtes Gewissen hat. Wo Gauner herumschleichen, versteckt man mit Recht sein Geld, vor fremdem Volk auf der Reise tut man besser, sich nicht in den Geldbeutel sehen zu lassen, ebenso vor einem Menschen in Frack und Glanzschuhen, dem ich zutraue, er wolle mich anbetteln. Auch wer dem Staat die Steuern hinterzieht, hat Grund, nicht laut werden zu lassen, wie groß sein Vermögen ist. Also in schlechter Gesellschaft hat das ängstliche Verschweigen von finanziellen Tatsachen seine Berechtigung. Daß man aber seinem Nebenmenschen zu verstehen gibt, man fühle bei ihm sich in schlechter Gesellschaft, das finde ich nicht höflich.

In guter Gesellschaft kann ich für das finanzielle Schamgefühl keinen vernünftigen Boden entdecken. Im Gegenteil, da enthält es eine Beleidigung. Es ist entschieden artiger und verbindlicher, meinem Nebenmenschen zu bedeuten: «Zwischen unsereinem hat die zufällige Tatsache, ob mich oder dich das Schicksal mit Geld begütert hat, nicht die mindeste Bedeutung für unsere gegenseitige Wertschätzung», als wenn ich den Finanzzustand meines Nachbarn wie einen empfindlichen Weichteil oder eine Gefängnisangelegenheit taktvoll schone. Kurz, ich weigere mich, es erhebend zu finden, daß alle Welt nach der Voraussetzung handelt, die Vermögensverhältnisse eines jeden Menschen wären seine wunde oder unsaubere Gegend.

 

Allerlei Bemerkungen zu allerlei Unterricht

Der Semesteranfang an der Universität

Das Wintersemester rückt heran. Die verschiedenen Fakultäten der Universität werden in Bälde ihre Kurse wieder eröffnen, welche, zusammengerechnet, das gesamte Wissen der Gegenwart bedeuten. Ein reichhaltiges und verschiedenartiges Programm, in welchem die einzelnen Disziplinen himmelweit voneinander entfernt scheinen.

Wenn jedoch einer in den ersten Wochen des Semesters an einem und demselben Tage sämtliche Hörsäle absuchte, so würde er zu seinem Erstaunen überall die nämliche Tätigkeit, ja so ziemlich denselben Vortrag finden, nur mit anderen Eigennamen: Definitionen und logische Spitzfindigkeiten über den Titel der angekündigten Vorlesung, weitausholende Rückblicke über die Leistungen früherer Jahrhunderte auf dem angegebenen Gebiete, minutiöse Register der einschlägigen Bücher und Abhandlungen, verblümt mit kritischen Auseinandersetzungen und Zänkereien gegenüber den Vertretern anderer Professorenschulen. Das Thema, der Gegenstand der Vorlesung, kommt erst in der dritten oder vierten Woche an die Reihe, wenn es gut geht.

Die Erklärung dieser Erscheinung liegt auf der Hand. Der moderne Professor ist in erster Linie Gelehrter und erst in zweiter Linie Lehrer, häufig sogar erst in letzter Linie und manchmal in gar keiner Linie.

Dementsprechend arbeitet er unter dem Namen ‹Vorlesung› sein Manuskript nicht aus der Perspektive des Studenten, also nicht so, wie es die Psychologie gegenüber dem eifrigen Neuling verlangte, auch nicht, wie es das Examen später verlangen wird – und daß das letztere nicht geschieht, halte ich für ein Glück –, sondern er schreibt ein wissenschaftliches Werk, ein Buch mit einem Wort, und liest das Buch, ehe er es veröffentlicht, einstweilen auf dem Katheder in Bruchstücken den Studenten vor.

Ein solches Buch muß nun natürlich, um dem wissenschaftlichen Namen des Verfassers Ehre einzutragen, mit allen Erfordernissen der Gelehrsamkeit, also auch mit dem Kleinkram der Auseinandersetzungen hinsichtlich der einschlägigen Literatur ausgerüstet sein, da doch ein Buch Stellung nehmen und seine Existenzberechtigung innerhalb der Menge des bereits vorhandenen reichlichen Materials beweisen muß. Auch gehören Prinzipienbekenntnisse, Stellungnahme und einleitende Auseinandersetzungen mit bereits Vorhandenem selbstverständlich in einem gelehrten Buch an den Anfang. Darüber herrscht kein Zweifel.

Die Erklärung ist also leicht und plausibel. Nichtsdestoweniger zögere ich nicht, solange die Universität noch die Fiktion einer Hochschulanstalt für die Jugend aufrechterhält und sich nicht dazu bekennt, lediglich neue Professoren heranziehen zu wollen, jenen Brauch als einen Mißbrauch zu bezeichnen. Denn er ist so unpädagogisch wie möglich. Man denke sich einen zum Mittagessen Eingeladenen, welcher sich mit großem Appetit und Durst an die Tafel setzt und dem, bevor man die Suppe aufträgt, erst stundenlange Definitionen über Begriff und Umfang der Suppe geboten würden, nebst einer Geschichte des Mittagessens von Sardanapal bis Gargantua und kritischen Auseinandersetzungen über die Zubereitung der Saucen.

Wenn man mir aber einwendet, das Gleichnis treffe nicht zu, wenn man meint, der Gemütszustand eines Studierenden lasse sich demjenigen eines Hungrigen nicht an die Seite setzen, so erlaube ich mir zu entgegnen, daß man hiermit die Jugend ganz bedeutend unterschätzt. Es gibt einen Wissensdurst und einen Wissenshunger; ja, diese sind sogar bei einem normalen jungen Mann die Regel. Nichts aber wirkt niederschlagender, als wenn der Wissenshungrige, der nach Wissen und nicht nach dem Wissen vom Nichtwissen des Wissens verlangt, zunächst mit öden scholastischen Auseinandersetzungen und gelehrten Zänkereien abgespeist wird. Wenn ich Horaz oder Dogmatik belege, so will ich nicht erfahren, was Griffonius im Gegensatz zu Scribonius über Horaz geschrieben hat, was Minutius Rabulista im zwölften Jahrhundert unter dem Worte Dogmatik verstanden, sondern ich will meinen Horaz haben, und ich will wissen, ob ich dereinst in der Hölle gebraten oder geröstet werde. Das liegt mir nahe, das geht mir an die Haut, das brennt mich.

Mir schiene es deshalb richtiger, daß die Vorlesungen anders eingeleitet würden. Denn ohne jegliche Einleitung wird es schwerlich abgehen, wenn man nicht mit der Türe ins Haus fallen will. Ich gestatte mir folgenden Vorschlag: eine lebendige, geisterweckende Ansprache, die den Geist des zu behandelnden Wissensstoffes zum Gegenstand und die Seelenverfassung des wissensdurstigen Neulings zum Visier hätte. Das wäre freilich keine leichte, aber eine würdige und segensreiche Aufgabe, zugleich eine solche, wie man sie meines Erachtens einem Lehrer der staatlichen Hochschule zweimal im Jahr gar wohl zumuten dürfte.

Etwas Botanik

Steigen wir von den Hochschulen zu den Mittelschulen hinab. Unter den vielen, allzu vielen Lehrfächern unserer Schulen findet sich eines, dessen Name ‹Botanik› lautet. Botanik heißt, buchstäblich übersetzt: Wissenschaft von den Kräutern, welche die Kuh frißt. In dieser engen Beschränkung ist die Botanik zwar selbstverständlich in den Schulen nie gelehrt worden, da die Sennen solche Weisheit nicht nötig haben und die Schulbuben sie nicht brauchen. Die Botanik ist vielmehr in etwas anderer Form und zwar als Apothekerweisheit in die Pädagogik eingetreten; sie wollte ursprünglich die Kenntnis der heilsamen Kräutlein dem Volke und der Jugend vermitteln, zu Nutz und Frommen. Davon geben die vielen Beinamen ‹officinalis› in unsern lateinischen Pflanzenbestimmungen Kunde; es sind fossile Überreste aus der naiven Apothekerbotanik. Die Abstraktion von der Nützlichkeit zu einer objektiven Systematik, welche jeder Pflanze ohne Unterschied und ohne Rücksicht auf ihre Nützlichkeit oder Schädlichkeit ein Recht auf unser Interesse zuspricht, war ein weiterer Fortschritt, der um so leichter gegenüber dem alten Apothekerstandpunkt Recht behielt, als die moderne Medizin nicht mehr mit Pflanzengiften, sondern mit Mineralgiften wirtschaftet. Als endlich an die Stelle der trockenen Schematisierung noch die Pflanzenphysiologie trat, welche die Pflanze als lebendes Wesen versteht und erklärt, glaubte und glaubt man das Richtige gefunden zu haben.

Doch wenn wir nun den Erfolg der Schulbotanik auf unsre Jugend prüfen, so finden wir, daß er den Erwartungen durchaus nicht entspricht; denn das Interesse an der Pflanzenkunde hält nach beendigtem Schulunterricht nicht vor, ja gehört sogar während des Unterrichts zu den Ausnahmen. Wenn wir aber die gegenwärtig beliebten Handbücher konsultieren, so läßt sich der Mißerfolg gar wohl begreifen.

Aus der primitiven Nützlichkeitsbotanik hat die moderne Schulbotanik noch die Bevorzugung der Feld- und Wiesenkräuter herübergeschleppt, aus der scholastischen klassifizierenden Gelehrtenbotanik die gleichmäßige Verteilung des Interesses auf jede Pflanze, so daß dem Farnkraut so viel oder so wenig Aufmerksamkeit gegönnt wird wie der Palme. Dabei konnte es aber nicht einmal bleiben. Die Bevorzugung der heimischen Feldpflanzen, mit anderen Worten der Offizinalkräuter, brachte unvermutet eine Zurücksetzung, ja meistens geradezu eine Ausstoßung der Edelpflanzen aus dem Unterricht mit sich, wie denn tatsächlich die prachtvollen exotischen Blumen und Sträucher im botanischen Schulunterricht sehr stiefmütterlich behandelt werden. Die gleichmäßige Verteilung des Interesses auf das Interessante wie auf das Uninteressante führte ihrerseits unmerklicher-, aber notwendigerweise dazu, daß der Hauptton auf das Unscheinbarste, auf die Varietäten, auf verachtete, auf seltene Spezies der Pflanzen gelegt wurde und gelegt wird. Natürlich! Denn Pflanzensystematik ruft der Pflanzensammlung, und jeder Sammler strebt nicht nach Wichtigkeiten, sondern nach Seltenheiten.

So hat es sich allmählich gemacht, daß Botanik selbstverständlich als die Wissenschaft der wildwachsenden Feld-, Wiesen- und Wegpflanzen gilt, mit Ausschluß oder Vernachlässigung nicht bloß der exotischen Gewächse, sondern auch der importierten Edelpflanzen.

Für selbstverständlich gilt das, weil wir mit der Tatsache als einer Gewohnheit vertraut sind; vor dem Verstande und vor der Pädagogik dagegen erweist sich das Selbstverständliche als eine Ungeheuerlichkeit.

Wo in aller Welt folgten wir denn bei andern Schulfächern dem Grundsatz, daß nur die wild oder roh vorgefundenen Gegenstände Interesse beanspruchen dürften? daß ein Objekt mit dem Augenblick, da es veredelt wurde, seinen Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit verliert? Was würden wir dazu sagen, wenn in der Zoologie Löwe und Tiger übersprungen oder nebenbei abgetan würden, um unsern einheimischen Raubtieren, also etwa dem Floh, um so gespanntere Aufmerksamkeit zu schenken? So aber handelt unsere Botanik, wenn sie die heimischen Unkräuter den edlen exotischen Riesengewächsen voranstellt. Oder wenn dieselbe Zoologie über Pferd und Hund verächtlich mit zwei Worten hinwegginge, mit der Begründung, daß Pferd und Hund gekünstelte Zuchtprodukte und keine Naturwüchslinge wären? So handelt aber unsere Botanik, indem sie unsere herrlichen Gartenblumen einfach ignoriert.

Oder die Mineralogie? Soll man da vielleicht auch den Diamanten, das Gold und das Silber beiläufig abtun, weil sie nicht auf dem Ütliberg gefunden werden? Aber die Franken nimmt jeder gern, nicht wahr, trotzdem sie Kunstprodukte sind und das Rohmaterial aus Amerika stammt.

Der Garten als Unnatur aus der Botanik verwiesen! Damit spricht sich meines Erachtens die gegenwärtige Schulbotanik das Urteil. Unnatur gegen Unnatur: Darf ich sagen, was ich für Unnatur halte? Dem Unkraut den Vorzug vor dem Kraut, dem Gemüse vor der Blume, dem Wegerich vor der Rose, der Zichorie vor dem Kaffee geben, das halte ich für Unnatur. Für Unnatur halte ich es ferner, wenn einer auf den Albis nach Disteln steigt und den Gärten, die er unterwegs antrifft, keinen Blick schenkt, oder wenn er Lattich preßt, aber die Azaleen nicht einmal dem Namen nach kennt, oder wenn er auf der Furka nach einem von Gott vergessenen Schimmelpilz sucht und an den Blumenmagazinen der Bahnhofstraße achtlos vorbeigeht, das halte ich für Unnatur.

‹Natur.› Ich habe bisher nicht gewußt, daß die Schule Naturzustände erstrebt. Ist denn die Schule, ist die Botanik Natur?

Der Garten gehört in den botanischen Unterricht, das ist meine Überzeugung; und zwar obenan. Mit all seinen Blumen, und zwar namentlich mit seinen Blumen: Kamelien, Teerosen und Hyazinthen und so weiter. Und warum sollte ich meine Meinung nur halb sagen: Ich glaube, daß zu den Lehrmitteln des botanischen Schulunterrichts unbedingt der Katalog einer Handelsgärtnerei gehört, ferner, daß man die Schulkinder in die botanischen Gärten, in Privatgärten, in Handelsgärtnereien und Blumenmagazine führen soll, und behaupte, daß damit das Interesse der Gesamtheit der Schüler für die Botanik gewonnen würde, während es jetzt mittels unserer Sumpf- und Unkrautbotanik künstlich lahmgelegt wird. Den Schüler wollte ich sehen, dem nicht beim Anblick einer weißen Kamelie oder eines Gartenrhododendron das Herz aufginge; dagegen die Staubfäden eines Huflattichs zu zählen, ist nicht jedermanns Geschmack und soll nicht jedermanns Geschmack sein.

Wenn wir übrigens beobachten, wie geflissentlich von der Schulbotanik der Duft, die Farbe und die Pracht der Blume als Nebensache behandelt werden, während doch dem natürlichen Menschen gerade dies die Hauptsache ist, dann kommen wir noch einem andern tiefen Übelstande auf die Spur. Die Schule der Neuzeit – ich meine die auf dem Boden des Mittelalters gewachsene, mit Humanistik überzuckerte Gelehrsamkeitsanstalt, im Unterschied zu der hellenisch-römischen Erziehungsschule – hat gemäß ihrem scholastisch-doktrinären Ursprung von jeher Mühe gehabt, den Erziehungswert des Schönen anzuerkennen. Wie lange wurde nicht der Zeichnungsunterricht als müßiges Allotrium behandelt! Und auf der Hochschule sind Ästhetik und Kunstgeschichte jüngsten Datums.

Nun hat sich das ja theoretisch gebessert; man weiß heutzutage, und die Pädagogik gibt es zu, daß der Erziehungswert der Schönheit unschätzbar und unersetzlich ist; daß die Freude am Schönen das Gemüt nicht nur erheitert, sondern auch reinigt, daß der Schönheitssinn den Menschen gut macht, um es mit einem Wort zu sagen. Allein die Praxis hinkt langsam und spät hinter der Einsicht drein; und was die Einsicht zugibt, das ist deshalb noch nicht ins Gefühl, in Fleisch und Blut übergegangen. Noch krankt unsere Pädagogik, allen prinzipiellen Zugeständnissen zum Trotz, an der Annahme, Schönheit wäre erziehungswidrig. Und je tiefer wir in die Primarschulen hinabsteigen, desto zahlreichere und deutlichere Exempel von schönheitsfeindlichen Pädagogen können wir treffen. Die Volksschule kennt nur den Nützlichkeitsstandpunkt. Schönheit aber nützt bekanntlich nichts; wenigstens läßt sich ihre Nützlichkeit nicht demonstrieren wie die Nützlichkeit der Kuh und des Schafes.

Da liegt der Kern. Weil die Blume schön ist, weil der Garten ein Museum der schönsten Pflanzen darstellt, gerade deshalb geht die hochmütige Scholastenbotanik naserümpfend daran vorüber. «Die Natur kennt nichts Unbedeutendes, und es ist gut, daß der Schüler sich gewöhne, dem unscheinbarsten Schierling das nämliche Interesse abzugewinnen wie der prächtigsten Magnolie.» Ich bitte um Verzeihung. Für die wissenschaftliche Botanik gilt dieser Satz in vollem Umfang; nicht jedoch für die Pädagogik, folglich nicht für die Schule. Es herrscht doch nicht die Absicht, die Schüler zu Doktoren der Botanik auszubilden! Wenn wir wenigstens nur einmal so weit wären, daß der Grundsatz anerkannt würde: Schulmethode und wissenschaftliche Methode sind zweierlei, und letztere kann nicht einfach die erstere ersetzen. Aber gegen diesen Grundsatz sündigt die Praxis unserer Schulen noch auf Schritt und Tritt. Der Lateinlehrer übt Textkritik, als hätte er lauter angehende Philologen vor sich, und ähnlich verfährt jeder in seinem Fach.

Ich meine also, um meine Ansicht kurz zusammenzufassen, daß der botanische Schulunterricht noch einen großen Fortschritt zu machen hat: den Schritt zur ästhetischen Botanik, in welcher die Schönheit, die Farbe und der Wohlgeruch der Blumen nicht als Allotrium, sondern als Hauptsache behandelt wird. Und ich hoffe es noch zu erleben, daß die Botanik auf ihrem Weg vom Rinderstall durch die Apothekerküche schließlich beim Garten anlangt, wo sie Ersprießlicheres zu sehen und zu lehren findet. Dannzumal aber werden die Schüler, die aus der Schule ein lebhaftes Interesse für Pflanzenkunde mit ins Leben hinübernehmen, nicht mehr die Ausnahme bilden wie heute, sondern die Regel.

‹Leichte› Klavierstücke

Machen wir nun aus der Schule einen Abstecher in den Privatunterricht, und zwar in den musikalischen, speziell in den Klavierunterricht.

Manche Klavierlehrer glauben den Kindern sogenannte gefällige Melodien und kindliche, leicht verständliche Musikstücke anbieten zu sollen, unter denen dann noch diejenigen mit Vorliebe gewählt werden, welche für den Vortrag kleine unmerkliche Mucken haben, damit das Kind unbewußt lerne. Deshalb die Beliebtheit der magern Sonatinen, spindeldürren Rondo, der «Regimentstochter», des Ständchens aus «Don Juan» und ähnlicher Gesätzlein im Klavierunterricht.

Ich halte das für einen Fehlgriff. Zunächst sind die technischen Häkchen in solchen Stücklein oft sehr boshaft und stehen in keinem vernünftigen Verhältnis weder zum musikalischen Wert des Gebotenen noch zum primitiven Können des Kindes. Ja, wenn wir genauer zusehen, so setzen die meisten der vermeintlichen Kindergesätzlein nichts weniger als Virtuosität des Spielers voraus. Ein Rondo zum Beispiel ohne raffinierte Kunst des Anschlags, ein Scherzo ohne Leichtigkeit, ein Finale ohne Feuer des Vortrags sind geradezu unerträglich. Und zwar je ‹kindlicher›, das heißt je ärmlicher das Stück komponiert ist, um so mehr Vortragskunst ist vonnöten, um etwas daraus zu machen. Sonst bleibt nichts als eine öde, mörderliche Langeweile.

Ferner wirkt es entmutigend, wenn einer das nicht kann, was sich dem Ohr als leicht einschmeichelt. Alle solchen heimtückischen Stücke, und hiermit beispielsweise auch die beiden Beethovenschen Sonaten Opus 49, würde ich aus dem genannten Grunde aus dem Klavierunterricht verweisen. Ebenso aus demselben Grunde, also aus dem Grunde, weil sie täuschen und entmutigen, alle solchen Stücke, welche der Autor selber mit der Überschrift «Leicht» oder «Für die Anfänger» bedacht hat. Wenn diese einem Kinde schwer vorkommen, dann gibt es die Hoffnung auf. Jene Stücke sind aber gar nicht technisch leicht; sie sind bloß dünn komponiert, indem sie mit verhältnismäßig spärlichen Mitteln operieren. Bach überschreibt eine Fuge mit «Leicht», wenn sie nur zwei Stimmen hat, Mozart eine Sonate mit «Leicht», wenn sie auf harmonische und kontrapunktische Pracht verzichtet. Darum können die betreffenden Stücke doch sehr große Fingerfertigkeit voraussetzen und setzen sie auch tatsächlich voraus. Also: die Bezeichnungen ‹Anfänger›, ‹leicht›, ‹kindlich› im Munde eines klassischen Autors sollen uns nicht irreführen. Der Autor sagt ‹leicht› und meint damit ‹einfach› und ‹anspruchslos›. Die einfachen und anspruchslosen Kompositionen gehören aber zu allerletzt in den Klavierunterricht.

Und hiermit kommen wir zur Hauptsache: Das Kind der Legende und das wirkliche Kind sind zweierlei. Das wirkliche Kind verabscheut im Unterricht nichts mehr als das ‹Kindliche› – verstehe: das Tändelnde – und versteht in der Kunst nichts so schwer wie das Anmutige. Das Kind will ernst genommen werden, es will wachsen, das heißt sich erhöhen, vergrößern, es will sich nähren, begehrt also in der Wissenschaft Tatsachen Stoff, in der Kunst Fülle und Reichtum. Was ihm selber kindlich oder spielend oder leicht oder überwunden vorkommt, das ist ihm im Unterricht ein Gegenstand der Verachtung. Es gehört eine sehr große, nämlich eine reflektierende Bildung dazu, um unter der Kindlichkeit eines Themas die verborgene Kunst herauszufühlen. Den Wert einer Regimentstochtermelodie oder eines Sonatinchens trotz der gassenhauerschen Ohrenfälligkeit zu ermessen ist Sache der Erwachsenen, nicht der Jugend. Darum gehört auch meiner Meinung nach Clementi nicht in den Klavierunterricht der Jugend, weil er nicht stofflich reich genug ist, weil er dem Kinde in den Themen zu kindlich und in der Ausführung zu dürftig scheint. Man frage doch nach: alle Kinder hassen den Knochenmann Clementi. Deshalb wohl nennt man ihn den Klassiker der Jugend. Und mit Mozart verhält es sich unter andern Größenverhältnissen ähnlich. Die Jugend findet sich von Mozartschen Sonaten enttäuscht. Warum? Weil sie zu ansprechend, zu gefällig und damit zu unbedeutend scheinen. Die Jugend will eben nicht das Gefällige, sondern das Ernste. Das Allerbeste, das Allerhöchste ist eben auch in der Musik für die Jugend gerade das Richtige. Ich würde jedem Schüler den musikalischen Klassiker gewähren, der sein Herz beglückt; punktum. Denn ein Kunstwerk, das einen beglückt, versteht einer auch.

Der Neid der Götter in der Schule

Zum tröstlichen Schluß und abschreckenden Exempel noch eine abenteuerliche, aber wahrhaftige Anekdote aus dem literarischen Schulunterricht, für deren Genauigkeit ich bürge. Steht da in einem Schulbuch, das vor sechs Jahren in Kurs war und es wahrscheinlich noch ist, eine erbauliche Geschichte, betitelt: «Der Kirschbaum.» In dieser Geschichte wird einem weisen Manne der prächtige Kirschgarten eines Bauern gezeigt. Statt nun aber in freudige Bewunderung zu geraten, beginnt der weise Mann zu heulen: «Mir wird angst.» Und als man ihn fragt, wovor ihm angst werde, erklärt er feierlich: vor dem entsetzlichen Unglück, das den Eigentümer treffen müsse, weil seine Kirschen so lästerlich gut gediehen.

Wie gefällt Ihnen diese Geschichte, mit bitterem Ernst vorgeführt, in der Meinung, ein löbliches Exempel zu bringen, in einem Schulbuche?

Ein reizendes Schauspiel, wenn diese erbauliche Gesinnung um sich griffe! Du wirst zu Herrn Rothschild zum Mittagessen eingeladen; sobald die goldenen Kaffeelöffel aufmarschieren, fängst du an zu wimmern, weil dir vor dem gräßlichen Schicksale graust, das den Gastgeber erwartet, der goldenen Kaffeelöffel wegen. Im Ballsaal greine deine Tänzerin an, weil sie Brillanten trägt. Oder eine dörfliche Schulklasse, die auf der Ferienreise beim Anblick städtischer Herrlichkeit in Angstgeschrei ausbricht? Es wäre jedenfalls gut, zu erfahren, bei welchem Aktivkonto und vor welchen Stoffen sich der Neid der Götter einstellt, damit wir uns dagegen versichern und rückversichern können. Die Damen werden neidsichere Packtuchüberzüge über den seidenen Kleidern tragen, und man wird sich hüten, allzu viel Geld an derselben Örtlichkeit aufzuspeichern. Mich wundert bloß, daß die Bank von England bis jetzt vom Neid der Götter verschont blieb. Nach der Theorie müßte ja dort der Blitz alle Viertelstunden einschlagen. Und bei prosperierenden Aktiengesellschaften? Verteilt sich da der Neid der Götter auf die Aktionäre?

Mir scheint, wir haben am Neid der Menschen und der Progressivsteuer reichlich genug. Ich verstehe ja die löbliche Absicht. Der Verfasser jenes kuriosen Histörchens hat seinen «Ring des Polykrates», seine «Iphigenie» und weiß Gott was alles noch gelesen und glaubte, gebildet zu verfahren, indem er die vermeintliche Weltanschauung unserer Klassiker der Schuljugend zu Gemüte führte.

Darüber aber, nämlich über den Lehrgehalt der Dichter und die Ermittlung dieses Lehrgehaltes, sei bei diesem absonderlich naiven Anlaß noch ein Wörtchen gesagt. Dichterwahrheit ist nicht Lehrwahrheit. Sie darf nicht einfach buchstäblich als Verstandeswahrheit aufgefaßt und befolgt werden. Der Dichter kennt und übt die verschiedensten Arten von Wahrheit, zum Beispiel die Kostümwahrheit, die aus den Anschauungen eines bestimmten Zeitalters orakelt, die Charakterwahrheit, die aus der Individualität einer gegebenen Persönlichkeit tönt, die Bombenwahrheit, die sich an dem prächtigen Knall eines Reims oder eines Gleichnisses oder einer Satzwendung oder einer Sentenz ergötzt.

Im «Ring des Polykrates» nun erhalten wir die Kostümwahrheit mit der Bombenwahrheit vereinigt. Selbstverständlich fiel es ja Schiller nicht ein, persönlich an den Neid der Götter zu glauben, sondern er versetzte sich künstlich in die antike Weltanschauung und schrieb aus derselben mit Wohlgefallen an den daraus zu gewinnenden dichterischen und oratorischen Wirkungen seine schwungvolle Ballade. Uns das Dogma vom Neid der Götter nach zweitausend Jahren wieder einimpfen zu wollen, das war wahrlich nicht Schillers Meinung. Das Verständnis jener Ballade beruht mithin darin, daß wir einerseits die dichterischen Schönheiten der Erzählung erkennen und andererseits ja nicht versäumen, den ägyptischen Gastfreund einen albernen Heulmeier zu nennen.

 

Das Ermahnen

Es grinst im Durchschnittsmenschen ein häßlicher Charakterzug, mit der Bosheit verwandt, der sich in der Überzeugung kundgibt, man müsse den unerfahrenen, unfertigen Menschen, also die Jugend, das Kind, unaufhörlich ermahnen. Wenn von der Ameise oder der Biene die Rede ist, so lautet es: «Nimm dir ein Beispiel.» Mit welchem Recht, frage ich, hält man jungen Menschen Tiere als Beispiel vor? Soll man sich etwa auch ein Schwein zum Beispiel nehmen? Ah nein, die dienen als Gegenbeispiel. Also ein Teil der Tierheit soll Beispiel, ein anderer Teil Gegenbeispiel bilden. Auch eine Einteilung der Zoologie! Wahrscheinlich hat die Natur die Tiere zu pädagogischen Zwecken für die Volksschulen geschaffen. Einem richtigen Philister gibt überhaupt alles, was geschieht oder vorkommt, Anlaß zur Ermahnung. Spaziert er abends mit den Kindern durch den Wald oder kommt er nachts spät heim, so deutet er mit pädagogischem Gesicht nach der untergehenden Sonne oder nach dem Sternenzelt, als ob dort oben Aufgaben zu schreiben wären; guckt er von einem Berge herunter, so predigt er seinen Jungen von der Unendlichkeit der Natur und von der Kleinheit alles Irdischen, was ihn nicht hindert, eine Stunde später seinen Buben zu prügeln, wenn er ut mit dem Indikativ gesetzt hat. Geschieht ein Erdbeben oder eine Feuersbrunst, fressen die Würmer den Weinberg, so nimmt das am Sonntag der Pfarrer zum Anlaß, das seiner Gemeinde strafend und mahnend vorzuhalten. Sogar das Ticktack der Uhr muß einem in der Wolle gefärbten Schulmeister zu Ermahnungen herhalten. «Seht, wie schnell das menschliche Leben zerrinnt, also!» Ich bitte, was können denn die armen Buben dafür, daß die Zeit so schnell läuft?

Diese ganze auf ewige Ermahnungen gegründete Pädagogik ist eine teuflische Sucht; ich wiederhole, sie stammt, wie überhaupt ein Gutteil aller sogenannten Tugend, aus Bosheit; Dummheit und Selbstüberhebung als Entschuldigung zugegeben. Nicht zum Ermahnen ist die Jugend da, sondern zum Helfen, zum Anleiten, Nachhelfen und Unterrichten. Die Kinder sind nicht so schlecht, als man sich vorredet; jedenfalls mehr wert als ihre Erzieher.

 

Die jugendliche Gärung

Unter den mannigfachen Ursachen des Unbehagens, man darf mitunter auch sagen: des Unglücks der Schuljugend scheint mir die wichtigste die, daß die Natur sich nicht um die Erlasse der Erziehungsbehörden kümmert. Die Natur ist durch und durch unpädagogisch. Gerade dann, wenn sichs darum handelt, sich mit Anspannung aller Kräfte einzig um das Maturitätsexamen zu bemühen, beginnt sie im Körper des Jungen Unordnung zu stiften. Merkwürdige Veränderungen geschehen, die den Patienten in Erstaunen versetzen, ihn beunruhigen, ja ängstigen, und die eine so mächtige Stimme sprechen, daß es rein unmöglich wird, sie nicht zu vernehmen. Und diese Stimme will genau das Gegenteil von dem, was die Zucht der Menschen heischt. Hierdurch kommt zu der Unruhe, der Angst noch der Kampf, der schwierige, peinliche, täglich erneute Kampf gegen sich selbst, das heißt gegen die Gebote der Natur. Gehe, mein Junge, und studier lateinische Grammatik und Trigonometrie in dieser Stimmung! Von diesem schweren Kampf, anstatt ihn mit Freundestrost und Freundesrat zu erleichtern, hat sich die menschliche Gesellschaft das Wort gegeben, nichts zu wissen und nichts zu ahnen, obschon ihn jeder einzelne seinerzeit selbst durchgemacht hat. Die sogenannte körperliche Entwicklung ist für die meisten Schulen einfach nicht da. Was spielt sie dagegen in der Wirklichkeit für eine gewaltige Rolle! Alle die rätselhaften Melancholien und ein großer Teil der unerklärten Schülerselbstmorde stammen von ihr. Und zwar muß der Zeitpunkt, wo die Entwicklungsunruhe beginnt, viel früher angesetzt werden, als man gewöhnlich meint; die Schüler sind immer viel älter, als man glaubt', und in viel früherem Alter Vollmenschen, als die Theorie annimmt.

Mit der körperlichen Gärung geht eine seelische im Verein. Sonderbare Seelenphänomene, Exaltationen, Größenvelleitäten, Launen, tiefe Verstimmungen neben trotzigem Kraftbewußtsein schaffen ein neues Ich, das sich von dem alten Ich verschieden fühlt und das nicht weiß, wo aus und wohin; aber es muß unbedingt irgendwo hinaus, denn das gegenwärtige Gefühl ist ein so unzufriedenes, verzweifeltes, krankhaftes, daß es in diesem Zustande unleidlich auszuhalten ist. Jetzt geh und studier Trigonometrie und griechische Grammatik! Auch dieser Seelenzustand wird von der Schule meist einfach ignoriert und, wo er sich unnütz macht – und er macht sich unnütz, zum Beispiel durch Großhanserei, dramatischen und lyrischen Unfug und so weiter – grob zurückgewiesen oder gar verspottet.

Wenn mir etwas in der Seele zuwider ist, so ist es das Spotten über die ‹unreifen› Jugendpläne, Jugendgedichte, Jugendliebeleien der Primaner, Sekundaner und Tertianer. Was hat denn eine Nation Besseres als Primaner und Sekundaner? Und wer wären wir alle geworden ohne unsere unreifen Pläne, ohne unsern lächerlichen Größenwahn von damals? Was wir sind, was wir etwa geleistet haben, verdanken wir nicht unsern Universitätsjahren: denen verdanken wir höchstens unser Wissen, noch weniger unsern Mannesjahren: die ernten bloß, was wir in der Jugend säten, – alles, was wir sind und können, schulden wir der verspotteten Gymnasiastenzeit; dort, mitten in der für uns so unleidlichen, für andere so widerwärtigen Gärung, keimte unsre Persönlichkeit; und wenn man seelische Werte abwägen könnte, so würde sich möglicherweise herausstellen, daß wir als vielgescholtene Primaner wertvoller, das heißt edler, reiner, selbstloser waren, als wir jetzt sind, da man uns ehrt und rühmt.

«Wo hinaus mit mir?» schreit die nach Taten, nach Leistungen, nach Ruhm dürstende Seele des mannbaren Jungen, und schreit es schon im sechzehnten oder gar im fünfzehnten Lebensjahr. Nicht nach dem Maturitätsexamen schreit sie, wahrlich nicht, nach dem schreien bloß die Erzieher, sondern nach etwas viel Besserem, viel Wichtigerem, nach dem zukünftigen Ich, das dem werdenden Menschlein seine Daseinsberechtigung, seine innere Ruhe, sein Ansehen unter den Mitmenschen erobere.

Am schlimmsten sind in der Gärungszeit diejenigen Naturen mit der Schule daran, aus denen später etwas Besonderes, etwas Namhaftes wird, vor allem die Phantasiemenschen, die künftigen Dichter und Künstler. Ich will versuchen, ob es mir gelingt, etwas ungemein Wichtiges, das nicht wichtig genug aufgefaßt werden kann, in wenigen Worten gebührend eindrücklich auszusprechen. Wenn heute mir oder einem meiner Art oder einem namhaften Maler oder Musiker ein Mensch zumuten wollte, ich sollte ein großes Werk, das ich plane, liegen lassen, um mir dafür die Gleichungen des zweiten Grades oder die Geschichte der Päpste ins Hirn zu stopfen, so würden nicht bloß wir, an die jemand eine solche Zumutung stellte, sondern alle Welt würde das empört als eine lächerliche Frechheit empfinden. Nun wohl, damals in den Gymnasialjahren waren wir wesentlich dieselben, die wir heute sind, und planten noch etwas viel Wichtigeres als ein großes Werk, nämlich das Werden unsrer ganzen Persönlichkeit, aus welcher später die Werke entsprangen. Und in solchem Zustande wurde uns tatsächlich die Zumutung gestellt, alle die keimenden Kräfte, die uns heimsuchten, zu verleugnen, um dafür allerlei Kram und Quark für das Examen zu beherzigen. Ich denke, das genügt, um zu erklären, warum gerade die begabtesten Knaben, jene, aus welchen später etwas wird, was die Mitmenschen einem danken, in den sogenannten Entwicklungsjahren mit der Schule in Krieg stehen.

«Ja», sagt man, «wenn aber jene Kräfte, die den Jüngling bedrängen und erheben, keine heiligen Kräfte waren?» Will ich mich in seine Seele versetzen, so kommt es nicht darauf an, ob sie heilig sind, es kommt darauf an, ob er sie heilig glaubt. Und das ist es, worum diese Zeilen werben: daß sich mehr Menschen in die inneren Kämpfe der Jugend hineinfühlen, als das tun. Denn erst, wer das tut, kann ihr helfen, soweit er ihr eben helfen kann.

 

«Was nützt es ihm?»

Man spottet wohl über einen Beamten, der durch einen schönen Orden, den er auf dem Sterbebett erhält, sich beglückt zeigt: «Was nützt ihm der denn noch?», über einen alten Geizhals, der Gold zusammenschachert, ohne in seinem Geiz von dem zusammengeschacherten Gold den mindesten Gebrauch zu machen: «Was nützt ihm dann das Gold?» und meint, mit diesem Spott sehr gescheit zu sein. Aber man spottet nicht über einen Epaminondas, der, todwund, über die Nachricht vom Siege des Vaterlandes zufrieden in den Tod geht, oder über einen Denker, der sich für die Mißachtung seiner Zeitgenossen mit der Hoffnung auf Nachruhm tröstet. Was nützt denn dem Denker der Nachruhm, wenn er tot ist? Er erfährt doch nichts davon! Was nützt einem Epaminondas der Sieg der Thebaner, wenn er tot ist? Er hat ja als Toter kein Vaterland mehr. Der Spott mit dem Denkwedel ‹Was nützt es ihm?› ist also gar nicht so weise, wie er meint, und ein Mensch, der auf dem Sterbebette eine ‹unnütze› Befriedigung über irgend etwas genießt, ist deshalb noch nicht so töricht, wie er aussieht. Es wäre denn, daß man jeden, der sein Glück in sich selber und nicht in greifbaren äußeren Vorteilen sucht, töricht nennen wollte. Die Erreichung eines Zieles, dem man lange oder gar zeitlebens nachgestrebt, verschafft eben dem Menschen Befriedigung, auch dann, wenn das Ziel an sich windig war, wie bei dem Beamten mit dem Orden, oder gar verächtlich, wie beim Geizhals, und selbst dann, wenn das Ziel erst in der letzten Minute des Lebens erreicht wurde. Der Beamte mit dem Orden mag albern, der Geizhals widerwärtig sein, aber törichter sind sie beide nicht als Epaminondas, der sich in der Sterbestunde mit dem Gedanken an das siegreiche Vaterland, als der Denker, der sich mit der Hoffnung auf Nachwirkung tröstet. Der Beamte hatte Jahrzehnte nach dem Orden, der Geizhals nach Gold gelechzt; jetzt endlich hat er es, darum vergnügt es ihn, ob es ihm schon nichts nützt; nicht der Orden, nicht das Gold verursacht ihm das Vergnügen, sondern daß er erreicht hat, was er sehnlich begehrte.

Andere Beispiele, wo jedermann spöttisch aufzulachen versucht wird, während, wenn man nachdenkt, nichts Lächerliches dabei ist! Ein Kaufmann, der, während einer Kassarechnung von einem Räuber überrascht, den Räuber bittet, ihm zu erlauben, die Rechnung über die Kasse, die jener ihm rauben will, erst zu bereinigen, ist lächerlich, nicht wahr? Gut. Aber ein Wegarbeiter, der einen provisorischen Damm, welchen er am folgenden Morgen wieder wird zerstören müssen, sorgfältig und säuberlich, glatt und schön herrichtet, ist der auch lächerlich? Und ein Dichter, der einen begonnenen Abschnitt, von dem er weiß, daß er ihn schließlich verwerfen wird, nichtsdestoweniger mit allem Fleiß und mit angespannter mühevoller Arbeit erst zu Ende führt, ehe er ihn zerreißt, ist der auch lächerlich? Es scheint: ja; aber es ist nicht ja. Warum glättet denn der Wegemacher – nehmen wir an, ein italienischer, denn bei solch einem kann man das finden – den Damm wohlgefällig zurecht, den er am nächsten Morgen wieder zerstören muß? Deshalb, weil er nicht anders kann, weil sein angeborener Schönheitssinn ihm verbietet, ein häßliches Händewerk zu hinterlassen, und wäre es auch nur über eine einzige Nacht. Und warum vollendet der Dichter erst ein begonnenes Stück, von dem er weiß, daß er es schließlich doch wird verwerfen müssen? Weil er spürt, daß etwas Begonnenes und nicht zu Ende Gezwungenes ihm seelischen Schaden einbringen, ihn später als häßlicher Fleck belästigen würde, ähnlich, als ob er gepfuscht hätte. Ist all das töricht? Ich glaube, es ist etwas ganz anderes, etwas durchaus Richtiges, sogar Nachdenkenswertes und Beherzigungswertes. Und ähnlich steht es mit dem Kaufmann und dem Räuber. Der Ordnungssinn, den er in seinem Beruf als eine der obersten Tugenden hatte schätzen gelernt, erlaubte ihm nicht, eine Kasse in liederlichem Zustande zu verlassen. Immerhin, das gebe ich zu: Kaufleute, die in diesem Stile mit Räubern verkehren, würden wohl schwer aufzufinden sein; sie kennen eine praktischere Umgangsart mit Räubern und Dieben, und ich gebe ihnen recht. Hingegen den Dichter und den Italiener habe ich selbst gesehen und habe es nicht zustandegebracht, mir bei ihrem Tun nichts zu denken.

 

Von der Entrüstungsliteratur und ihrer Mache

In der Familie der Wohltätigkeitsliteratur gibt es eine untergeordnete, aber überaus effektvolle, populäre und dankbare Spezies, welche namentlich von den ebenso praktischen wie auf den moralischen Schein bedachten Angelsachsen diesseits und jenseits des Ozeans und ihrem kontinentalen Tugendschweife eifrig gepflegt wird: die Entrüstungsliteratur. Sie verhält sich zu den großen humanen, auf dauernde Verbesserung des Loses unglücklicher Menschenklassen hinzielenden Schriftwerken wie das Rührstück oder der Sensationsroman zum klassischen Gedicht. Ohne daß notwendigerweise die entwickelte Humanität unrein zu sein braucht, arbeitet doch die Entrüstungsliteratur über den angeblichen humanen Zweck weit hinaus auf den Lärmeffekt, in einer Reihe von Reden und Meetings Trost selbst dann gewinnend, wenn die denunzierten Übelstände tatsächlich so ziemlich beim alten geblieben sind, so daß es oft danach aussieht, als wären dem modernen Angelsachsen Entrüstungsmeetings überhaupt Bedürfnis und bis zu einem Grade Selbstzweck.

Solch eine Entrüstung kommt wie eine Windsbraut und verrauscht wie eine Mode, unabhängig von dem praktischen Ergebnis. In der Wahl der Mittel, um den Denunzierten vor der öffentlichen Meinung schwarz zu färben, ist die Entrüstungsliteratur nicht eben peinlich. Übertreibungen gehören noch zu den gelindesten Kunstgriffen; der Pflicht, die Dinge von allen Seiten zu betrachten, überhaupt der Gerechtigkeitspflicht hält man sich in diesem Falle für überhoben; man huldigt allen Ernstes dem Grundsatz, den ich privatim oft habe aussprechen hören, es könne gar nichts schaden, wenn man, um den Zweck zu erreichen, den Zustand schwärzer male, als er in der Tat sei; gut wäre er jedenfalls nicht. Also nicht Aufklärung, sondern grelle Fackelbeleuchtung mit möglichst dunklen Schlagschatten zeigen solche Gemälde. Dieselbe ‹Wahrheit› zu nennen, ist jedoch angenommene Regel.

Charakteristisch für die Entrüstungsliteratur ist ihre Willkürlichkeit, Launenhaftigkeit und Zufälligkeit in Hinsicht auf den Gegenstand der Entrüstung. Man geht nicht etwa darauf aus, das menschliche Unglück planmäßig zu erforschen und die Nachforschungen über sämtliche Länder der Erde gleichmäßig auszudehnen, damit das Unerträglichste gebessert werde. Nein: die himmelschreiendsten Verhältnisse können jahrzehntelang ungestört fortbestehen; plötzlich zündet jedoch irgendein Angelsachse dem es gerade beliebt, in irgendeinen Winkel, der vielleicht keineswegs der schlimmste ist, und nun soll die ganze Welt gerade darüber und einzig darüber auf sein Kommando in Aufregung geraten. Es handelt sich, wie mir scheint, hauptsächlich darum, daß von Zeit zu Zeit etwas an der großen Glocke hange, wogegen ich nichts einzuwenden habe, wenn nur der Gehängte der richtige ist, wenn die Glocke den reinen Ton und der Pendelschwinger jedesmal den einem Übelstande angemessenen Schwung bewahrt. Oft hängt indessen eine Mücke am Schwengel, während unten ein paar Elefanten behaglich grasen. Manchmal tönt auch die Glocke bedenklich wie eine große Trommel, und der Glockenzieher sieht mitunter einem Marktschreier verwünscht ähnlich.

In dieser Willkürlichkeit und Zufälligkeit lassen sich gleichwohl gewisse leitende Grundgesetze erkennen: Heimische, also englische oder amerikanische Zustände eignen sich nicht für eine Entrüstung; wer sich hier im Stoff vergreift, dem wird auf die Finger geklopft. Dagegen bietet der Orient immer eine unerschöpfliche Fülle von dankbaren Motiven. Ferner: Gegenüber kleinen oder finanziell oder militärisch schwachen Ländern gedeiht ein Entrüstungsfeldzug ungleich besser als gegenüber einem Großstaate. Über Zustände politisch befreundeter Großstaaten entrüstet man sich nicht. Entrüstungskampagnen haben stets einen politischen Hintergrund, so diejenigen des türkenfeindlichen Gladstone über Bulgarien, so auch jetzt wieder diejenige des radikaldemokratischen Kennan über Sibirien. Eine mit politischen Hintergedanken gespickte Humanität aber ist weder eine reine noch eine ganze Humanität. Sie hört nur mit dem linken Ohr, auf dem rechten ist sie stocktaub. Mit dem linken Ohr aber hört sie, was ihr in den politischen Kram paßt, schon zum voraus.

Noch ein anderes Merkmal, welches, wie ich hoffe, denjenigen, der um des sogenannten edlen Zweckes willen alle entstellenden Fehler der Entrüstungsliteratur entschuldigen möchte, zu einigem Nachdenken veranlassen wird: der Entrüstungsmacher selber teilt selten die optimistischen und etwas naiven Hoffnungen seines Publikums hinsichtlich der Wirksamkeit seiner Enthüllungen, also des Druckes, den eine aufgeregte öffentliche Meinung auf die Zustände eines fremden Landes ausüben könne und werde. Nehmen wir Herrn Kennan. Ein Schriftsteller, der selbst dem Leser meldet, der Grund alles Übels in den sibirischen Gefängnissen sei der, daß die Gelder, welche die Regierung zur Erstellung neuer Gefängnisse schicke, von dem Beamtenheer gestohlen werden, der ferner das ganze russische Regierungssystem, das heißt den Absolutismus, anklagt, der endlich in nackten Worten als einziges wirksames Korrektiv eine freie parlamentarische Verfassung in Rußland hinstellt, kann doch unmöglich hoffen, mit einem Buch, ein paar Entrüstungsmeetings und einem Haufen Zeitungsartikeln etwas Praktisches zu wirken. Oder meint vielleicht Herr Kennan, da die Sache so pressiert, bis zur russischen Verfassung den Zaren provisorisch durch eine angloamerikanische Humanitäts-Aktienkompagnie zu dirigieren? Oder etwa durch eine Konsularpfuscherei, wie ein geduldiges Balkanstätchen? Also, deutlich, ernsthaft und scharf gefragt: Hegt Herr Kennan die leiseste Hoffnung, daß Rußland in allernächster Zeit eine freie parlamentarische Regierung erhalte?

Die Antwort lautet: Nein. Dann ist aber auch Kennans Buch kein ernstgemeinter Versuch, die Lage der russischen Gefangenen tatsächlich zu verbessern, und mit dem Wohltätigkeitscharakter des Werkes und des Verfassers ist es vorbei.

«Es ist doch immerhin sehr schön, wenn es auch gänzlich unpraktisch sein mag», wird vielleicht ein Leser ausrufen. Ich antworte: Es ist leider sehr praktisch und gar nicht schön. Etwas sehr Schönes, das gänzlich unpraktisch ist, bestrebt sich nicht mit dieser Hast, «die öffentliche Meinung der ganzen gebildeten Welt aufzurütteln» und möglichst «schnell» den ersten Band «vermöge eines geringen Preises dem großen Publikum zugänglich zu machen», wenn zum voraus feststeht, daß die Aufrüttelung umsonst ist. Etwas sehr Schönes, gänzlich Unpraktisches jagt auch nicht, nachdem die erste Entrüstung den Herrn Verleger genötigt hat, «in Zeit von vier Monaten vier Auflagen drucken zu lassen», eine «neue Folge» von Entrüstung nach, als handle es sich um ein zweites Heft ungarischer Tänze. Diese Hast hat vielmehr eine verwünschte Ähnlichkeit mit dem äußerst praktischen Eifer, den eine Bandfabrik entwickelt, wenn ein Artikel einen Winter lang in der Mode ist.

Jedem Ding dient seine Entstehungsursache als die beste Erklärung. Ich will dem Leser einfach melden, in wessen Dienst und Auftrag Herr Kennan seine Instruktionsreise nach Sibirien angetreten hat: Er ist von einem amerikanischen Zeitungsverleger als Reporter auf Zeitungskosten nach Sibirien spediert worden. Ich weiß nicht, ob das sehr schön ist, praktisch ist es ohne Zweifel. Geniale Erfindungsgabe kann man der amerikanischen Presse nicht absprechen. Nachdem sie uns einen Entdecker geschenkt, beschert sie uns jetzt einen Enthüller. Um aber der Gefahr vorzubeugen, daß wir nächstens einen Heiland auf Zeitungskosten über den Ozean spediert erhalten, will ich mich die Mühe nicht verdrießen lassen, ausführlich nachzuweisen, daß die philanthropische Reporterstimme des Herrn Kennan im Grunde nichts anderes singt als den trauten, allbekannten, ewig von neuem das Herz erfrischenden Yankee-doodle.

 

Revolverhumanität

Die Welt kennt bereits eine Revolverpresse, sie soll, wie es scheint, jetzt noch eine Revolverhumanität erhalten.

Da wird nun schon seit langen Monaten ein unbescholtener, ehrenhafter Universitätsprofessor methodisch gehetzt, ruhelos und schonungslos, aus dem einzigen Grunde, weil er sich erkühnte, über ein asiatisches Volk eine mißliebige Meinung zu äußern.

Das kann ja nett werden. Ein mildtätiger Terrorismus? Philanthropische Zeloten, eine Sammelbüchse in der Linken, einen Maulkorb in der Rechten? Ein ‹Ring› des vereinigten Albion, Zion und Samarien, welcher jeden, der sich in Wohltätigkeitsangelegenheiten ein unabhängiges Urteil erlaubt, als Moabiter denunziert? Eine anglo-armenische Zensur über unsere Universitäten?

Es bleibe dahingestellt, ob die auffallende Bevorzugung kleinasiatischen Elendes vor jedem anderen menschlichen Elende billig, das heißt verhältnismäßig sei und ob sie wirklich nur deswegen stattfindet, weil vergossenes Blut gen Himmel schreit, oder nicht vielleicht eher, weil verletzte Politik von London schreit. Sondern so lautet die Frage, ob wir eine Menschenliebe mit dem Dolche haben wollen, wie Dörings Seife mit der Eule. Ob niemand mehr sollte mucksen dürfen, sobald es dem ersten besten Meetingheiligen behebt, eine Türkenhetze auszuposaunen.

Mildtätiger Terrorismus. Wirklich, wir sind gar nicht so weit mehr davon entfernt. Was ist denn Terrorismus? Das Schweigen aller, wenn einer geopfert wird. Mehr braucht es nicht. Es ist nicht die geringste tatsächliche Macht vonnöten, um einen Terrorismus zu begründen; es genügt, daß jedermann sich ducke.

Und mir scheint, wir hätten uns schon zu lange geduckt. Ein Hochschullehrer, wegen Armenierlästerung in den Grund und Boden verhetzt, verdächtigt, vermeuchelt! Ich wußte bisher von Gotteslästerung, hingegen Armenierlästerung, dieses Verbrechen ist mir neu. Wenn das so fortgeht, wird es bald ungefährlicher sein, in Rußland ein freies Wort über den Zaren, als bei uns ein freies Wort über Kleinasien verlauten zu lassen.

Da wird nun nicht anders zu helfen sein, als daß die Unbeteiligten dem isolierten Opfer philanthropischen Nächstenhasses an die Seite springen, bis die Beteiligten sich des gemeinsamen Interesses an der Freiheit der Meinungsäußerung erinnern.

Wer aber das allerdringendste Interesse daran hat, daß die schmähliche Berner Professorenhetze ein Ende nehme, das sind just die Armenier und ihre Beschützer, Fürsprecher und Freunde. Denn wenn etwas imstande ist, einem die sogenannte ‹Armenierbewegung› (das heißt den Landsturm der Frommen gegen die andersgläubige Türkei) gründlich zu verleiden, so ist es solch eine Einschüchterungskanonade. Nichts kühlt die Teilnahme jäher ab, als wenn über der bittenden Hand eine Bombe aus dem Ärmel zum Vorschein kommt, sei sie nun mit Pulver oder mit Gift oder mit Verdächtigungen geladen. Und nun vollends so eine wohlorganisierte internationale Lazarus-Artillerie! Streitbare Märtyrer!

‹Mitchristen›, schön. Aber Dyna-Mitchristen? Diese Marke von Brüdern im Herrn schmeckt meinem westeuropäischen Gaumen ein bißchen zu gepfeffert, zu nitroglyzerinsauer.

Nein, moralische Metzeleien in der Schweiz, als Anhang zu den Metzeleien in Armenien, im Namen der Menschlichkeit verübt, das ist ja die reinste Wohltätigkeitstürkei. Noch ein paar Monate solcher Krokodilsmenschlichkeit, und wir werden in den Fall kommen, mildtätige Sammlungen für die grausam dahingeschlachteten Opfer der Nächstenliebe eröffnen zu müssen.

 

Vom Neid

Das Wort ‹Neid› als Substantiv hat einen üblen Ruf, während jedermann ohne Schaden das dazugehörige Zeitwort von sich gebraucht. «Oh, wie ich dich darum beneide!» Um dieses üblen Rufes willen versteckt sich der Neid in das Kleid der Tugend, was ja überhaupt eine der beliebtesten, weil jedermann zugängliche und mit keinerlei Kosten verbundene Maskerade ist. Den offenen, ehrlichen Neid, also den Schmerz, einen andern vom Schicksal bevorzugter zu sehen, bekennt nur noch das Kind.

Der Erwachsene nennt heutzutage seinen Neid Sittlichkeit. Alle die frommen und puritanischen Sitten Wächter, die, weil sie sich selber den sinnlichen Lebensgenuß nicht gönnen dürfen, ihn auch der übrigen Menschheit verwehren möchten, sind nichts andres als Neidlinge. Darum auch das zähe, unablässige, fanatische Wühlen; das ist das richtige Kennzeichen der Mißgunst. Was aus echter tiefer Frömmigkeit stammt, hat nicht zelotisches Gepräge; wem es wirklich um die Tugend zu tun ist, hat an sich selbst Gelegenheit zur Beschäftigung genug. Religionsstifter, Apostel und Philosophen gehen geduldig neben Zöllnern und Sündern durch die Welt; dagegen die Kleinen, die Verbissenen, die Herzensharten, die leidens nicht, daß neben ihnen andre die Lebenslust genießen, die ihnen selber durch ihre Dogmen verwehrt ist. Daher diese intolerante, feindselige, gehässige Sittlichkeitsseuche.

Folgendes hübsche Stücklein frommen Neides habe ich einmal mitangesehen: In einer gewissen Stadt durften sich die Frommen den Theaterbesuch nicht erlauben; da bestellten sie sich einen grimmigen, bissigen Theaterkritiker, der Abend für Abend die Theateraufführungen herunterriß, damit sie das jubelnde Vergnügen genießen könnten, zu erfahren, daß die sündigen Weltkinder keine Freude im Theater fänden. Wenn das nicht Neid ist!

 

Vom fröhlichen Pessimisten und vom verdrossenen Optimisten

Man sollte ja meinen, daß der Pessimismus, also die Überzeugung, daß die Welt schlecht eingerichtet sei, den Patienten zu einem ewig ernsten, trauernden Menschen verurteile, der niemals oder doch nur selten oder widerwillig lache, und daß im Gegenteil der Optimist, also der Mensch, dem der Himmel voll Engel und Heiligen hangt, der an einen persönlichen lieben Gott glaubt, welcher alles zu einem seligen Ende führen werde, oder an eine gütige Mutter Natur oder wenigstens an eine weise immanente Weltordnung, daß ein solcher allzeit getrost und fröhlich herumspaziere. Aber die das meinen, überschätzen unendlich den Einfluß der Weltanschauung auf die Stimmung und auf das seelische Wohl- oder Übelbefinden des Menschen. Wie es sich da tatsächlich verhält, läßt sich am besten durch ein Gleichnis veranschaulichen.

Nehmen wir an, drei Gäste sitzen im nämlichen Gasthof an der nämlichen Tafel und erhalten die nämlichen Speisen zum selben Preis. Während des Essens beginnen sie ein Gespräch über die Wirtschaft und den Wirt. Der erste urteilt: «Meine Herren, beiläufig gesagt, wir befinden uns hier in einer Räuberhöhle.» Der zweite ereifert sich dagegen: «Durchaus nicht; ich kenne den Wirt persönlich, er ist ein grundehrlicher Mann; Sie werden sehen, wir sind hier aufs beste aufgehoben.» Der dritte stimmt ihm bei, mit der Einschränkung, der Wirt habe das Geschäft längst aufgegeben, es sei jetzt ein anonymes Aktienunternehmen; doch das ändere nichts an der Sache: die Wirtschaft wäre nach wie vor vorzüglich.

Wird jener, der den Wirt gepriesen hat, und jener, der die anonyme Wirtschaft gelobt hat, besser speisen als der erste, der die Wirtschaft eine Räuberhöhle nannte? Sie erhalten alle das nämliche Essen; es kommt kein Kellner mit einem Extraplättchen für die beiden gutgesinnten Gäste und nimmt dem bösen den Braten weg. Oder werden die beiden zustimmenden Gäste, also Nummer zwei und Nummer drei, besser verdauen und nachts besser schlafen als der absprechende Gast Nummer eins? Eher umgekehrt, denn Nummer eins wird, wenn das Essen schlecht ist, sagen: «Ich habe von einer solchen Räuberspelunke nichts andres erwartet; ich muß zufrieden sein, daß es mir nicht noch schlechter geht.» Gesagt, geht auf den Balkon und pfeift eine Polka. Unterdessen tobt Nummer zwei über das elende Essen und die abscheulichen Betten, schilt die Kellner aus und verlangt das Beschwerdebuch. «Der Wirt, der treue, ehrliche Mensch, mein lieber Freund und Bekannter, muß das erfahren; ohne Zweifel geschieht alles ohne sein Wissen und Wollen.» Ihm spricht der dritte malmend zu: «Das Essen ist keineswegs schlecht, es schmeckt uns nur schlecht; an und für sich ist es sogar vorzüglich, es kann überhaupt nicht anders als vorzüglich sein, denn die Köchin ist eine Tante von mir.»

Genau so verhält es sich mit der Weltanschauung. Der Gasthof ist die Welt. Der erste, der den Gasthof eine Räuberhöhle nennt, ist der Pessimist, die beiden andern sind die Optimisten; und zwar ist Nummer zwei, jener, der den Wirt persönlich gut kennt, der gottesgläubige Optimist, und Nummer drei, der mit der Köchin verwandt ist, der naturgläubige Optimist. Dem Pessimisten ergeht es in der Welt nicht schlechter als seinen beiden Kameraden, dem Himmelsoptimisten und dem Naturoptimisten; er ist auch nicht unzufriedener mit seinem Schicksal als jene; im Gegenteil, er schätzt sich glücklich, daß es nicht noch schlimmer gekommen ist.

Nun das nämliche in nüchterner Rede: Das seelische Wohlbefinden eines Menschen hängt von ganz andern Dingen ab als von seiner Meinung von der guten oder schlechten Welteinrichtung. Es hängt ab von seiner Gesundheit, von seiner Kunst, sich zu bescheiden und zu begnügen, von seinem Charakter, von seinem Geist, von seiner Güte, von seiner Größe. Gute und geistreiche Leute können fröhlich sein und lachen, zu ihrem und ihrer Nächsten Vorteil, selbst wenn sie die schwärzesten Pessimisten sind: denn es gibt weder einen Grund noch eine Verpflichtung für den Pessimisten, nicht fröhlich zu sein und nicht zu lachen. Die Girondisten haben am Vortage des Schafotts geistreich zu scherzen vermocht; es ist ihnen darum nicht schlimmer ergangen, als wenn sie gejammert hätten. Umgekehrt sieht man die eifrigsten Kirchengänger und überzeugtesten Optimisten manchmal sich und den Ihren das Leben sauer machen, jahraus, jahrein von einem Verdruß sich in den andern hinüberärgern, wenn sie kleinlich sind, wenn sie an das Schicksal Ansprüche machen, wenn sie dumm und mürrisch sind. Der Pessimismus fördert eher die Zufriedenheit, als daß er sie hemmte, wenn er groß stimmen und im Gedanken an die Gemeinschaft im Leiden der Welt der Verdrießlichkeit und Verbitterung über all die Widrigkeiten des Lebens wehren kann. Wer ein für allemal glaubt, die Welt sei schlecht, braucht nicht jedesmal über jede Unstimmigkeit in den Harnisch oder ins Taschentuch zu fahren.

Das Entscheidende ist wohl, Gesundheit vorausgesetzt, das Gefühl von fruchtbarer Tätigkeit. Tätige Menschen sind zufrieden, einerlei, welche Weltanschauung sie bekennen, die meisten haben überhaupt gar keine Weltanschauung; wer etwas Rechtes geleistet hat, er sei Optimist oder Pessimist, dem ist es in seiner Seele wohl.

Nun die Einwände: der angebliche Trost, den der Optimist im Unglück haben und der dem Pessimisten fehlen soll. Mit dem Trost der optimistischen Weltanschauung ist es aber eine eigene Sache: er wirkt, solange man ihn nicht nötig hat, und versagt in dem Augenblick, wo man ihn braucht. Denn eben dann kommt der Zweifel, ob wohl die Weltanschauung selber auch richtig war.

Kehren wir wieder zu unserm Gleichnis zurück. Unsern drei Bekannten im Gasthof wird eines Tages verraten, sie seien gefangen und umstellt und der riesige Hausknecht werde sie nächstens zum Fenster hinauswerfen, aus dem dritten Stock in den Abgrund. Der erste sagt bei dieser Nachricht: «Das stimmt; ich habe ja immer gewußt, es ist eine Räuberhöhle.» Der zweite sagt: «Und wenn auch? Sobald mich der Hausknecht hinausgeworfen hat, komme ich in den Himmel.» Der dritte: «Was schadets? Dann kommt meine Tante, die Köchin, die liest mich auf, kocht mich ein und macht aus mir etwas Neues.» Jetzt haben Nummer zwei und Nummer drei wirklich einen Trost vor Nummer eins voraus, aber ich fürchte: nur, bis der Hausknecht kommt; denn den mögen sie, wie die Erfahrung beweist, ebenso wenig gern wie Nummer eins. Wenn ein entgleister Eisenbahnzug in Brand gerät, so schreien die verkohlenden Optimisten nicht minder als die verkohlenden Pessimisten. Und wenn einem Optimisten jemand Liebes gestorben ist, so klagt und weint er nicht anders als ein Pessimist. Sie tun alle dasselbe: sie trauern; und wenn sie ausgetrauert haben, tröstet sie alle beide das nämliche: die Zeit, mit andern Worten die eingepflanzte Nötigung, leben wollen zu müssen.

Der Optimismus tröstet nicht den Menschen als Ganzes, er tröstet bloß die Gedanken des Menschen, indem er sie wiegt und einschläfert. Wenn aber ein Unglück einschlägt, dann erwacht der Schläfer, sieht sich entsetzt um, kennt sich nicht mehr aus und ruft: «Wehe, wo ist denn mein Trost hingekommen?»

So, meine ich, läuft die Sache unter den Durchschnittsmenschen ab. Daß es auch starke Geister gibt, bei denen sie anders abläuft, das wissen wir alle. Gläubige, denen ihr Gottvertrauen, Ungläubige, denen ihr Nirwanavertrauen die letzte Stunde leicht macht. Aber eben, daß diese starken Menschen auf allen Seiten zu finden sind, rechts, links und in der Mitten, eben das spricht auch für die Richtigkeit unsrer These.


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