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IX.

Es war am Sonnabend der Woche, welche so traurig für mich und alle meine Freunde begonnen hatte. Der Oberst und Pahlen hatten vom Morgen an fast ohne Unterbrechung gearbeitet. Der Verleger drängte sehr; auch dem Oberst war darum zu thun, die Angriffe, welche die konservativen Blätter fortfuhren, gegen ihn und »sein System« zu bringen, so schnell als möglich zurückzuweisen. Ich hatte nur als Schreiber fungiert, der sich den Schein selbständiger Arbeit dadurch zu wahren suchte, daß er dem, was ihm die Verfasser in die Feder diktierten, hin und wieder eine ihm genehmere Form gab. Gegen Abend war auch Adalbert gekommen, die Redaktion eines Abschnittes, der in das juristische Fach schlug, zu übernehmen. So mochte es neun Uhr geworden sein, als der Oberst das Werkchen, welches ich noch einmal von Anfang bis zu Ende hatte vorlesen müssen, für fertig zum Druck erklärte und die Herren bat, im Salon mit einem kleinen Imbiß vorlieb zu nehmen. Ellinor war mit Adele draußen bei der Mutter und Maria. Die Damen wurden erst gegen elf erwartet, da wir geglaubt hatten, daß die Arbeit uns so lange in Anspruch nehmen würde. Nun that es uns fast leid, so früh fertig geworden zu sein und zum schlechten Lohn für unsern Fleiß der Gegenwart der Lieben entbehren zu sollen. Indessen geschah dadurch der Munterkeit der Unterhaltung kein Abbruch. Wie es nach gethaner Arbeit, die man für wohlgeraten hält, zu sein pflegt, waren der Oberst und Pahlen in gehobener Stimmung; Adalbert in jener uns unfaßbaren gesprächig-mitteilsamen Laune. Auch ich hatte, von dem Eifer der Männer mitentzündet, für einmal meine Sorgen in den Hintergrund gedrängt, den seltenen Augenblick rein zu genießen; und ließ mir denselben auch durch die Schmerzen nicht verdüstern, welche mir das vielstundenlange Schreiben in meinem Arm zu Wege gebracht.

Das frugale Abendbrot war bald eingenommen; der Oberst ersuchte seine Gäste, mit ihm in die Bibliothek zurückzukehren, wo inzwischen die Ingredienzien zu dem Lieblingsgetränk Pahlens bereit gestellt waren, die nur er selbst richtig mischen zu können behauptete und in der That meisterlich zu mischen verstand. Bald konnten wir uns an einem Nebentisch um die Bowle setzen, durch deren Dampf der Rauch von Adalberts und Pahlens Zigaretten wirbelte.

Anfangs hatte das Gespräch sich wieder um die hier vollbrachte Arbeit gedreht, aber bald nahm es eine allgemeinere Wendung zu einer Erörterung der Vorzüge und Schwächen der verschiedenen Kulturnationen, in welcher Pahlen, der so ziemlich alle Länder Europas bereist hatte, dazu ganz Vorderasien und Sibirien bis zu dem fernsten Osten kannte, die Führung zufiel. Wir horchten mit immer steigendem Interesse seinen geistvollen Schilderungen von Land und Leuten in den verschiedensten Zonen, nicht wissend, ob wir mehr den Scharf- und Schnellblick bewundern sollten, mit welchem der Mann das Große und das Kleine erfaßt; oder sein Gedächtnis, dem jedes Datum, jeder Name gegenwärtig war, und das ihn unter anderem befähigte, fünf oder sechs Sprachen mit gleicher Vollendung zu sprechen.

Und wenn Sie nun doch einer unter allen Nationen den Vorzug geben sollten, fragte der Oberst, welche würde die glückliche sein?

Aber, lieber Freund, ich bin Russe, erwiderte Pahlen lächelnd.

Ein mir nicht ganz unbekanntes Faktum, gab der Oberst scherzend zurück. Nur daß meine Frage nicht an den Russen, sondern an den Weltbürger gerichtet war.

Wenn Sie die Schlinge ihrer Frage so weit öffnen, ist es freilich nicht schwer, hindurchzuschlüpfen, erwiderte der Graf. Denn welcher Nation könnte der Weltbürger wohl den Preis erteilen, als derjenigen, die am meisten dazu beiträgt, eine Zukunft heraufzuführen, in der sein Begriff nicht mehr wie heute einen Widerspruch in sich schließt?

Ich hätte freilich auf diese problematische Antwort gefaßt sein sollen, erwiderte der Oberst.

Und die doch gar nicht so problematisch ist, für Sie nicht ist. Seien wir aufrichtig, lieber Freund! Meine Antwort genügt Ihnen vollkommen, denn im Grunde Ihrer Seele sind Sie überzeugt, daß die betreffende Nation gar keine andere, als eben die Ihre sein kann, trotz der schweren Schäden, an denen Sie gerade jetzt Leib und Seele derselben kranken sehen. Oder würde sonst Tag und Nacht Ihr Sinnen sein, wie die Nation von diesen Schäden geheilt werden möchte? Damit sie in dem Entscheidungskampfe, der hereindroht, – dem Kampfe zwischen dem Germanentum und Slaventum – den Sieg an ihre Fahne hefte? Den Sieg, den diejenige Partei davontragen wird, welche nicht numerisch, sondern moralisch die stärkere ist – moralisch im großen weltbürgerlichen Sinne, nicht im engherzig-chauvinistischen, banausisch-krämerhaften, junkerlich-protzigen, der heuer bei Euch im Schwange ist? Und wenn ich Ihnen in diesem Streben nach meinen schwachen Kräften redlich beistehe, so werden Sie mir, glaube ich, den Preis der höheren Uneigennützigkeit zuerkennen müssen. Denn, wir mögen uns stellen, wie wir wollen, aus der Haut unsrer Nationalität können wir nicht fahren und den nagenden Schmerz und die brennende Scham nicht verwinden, daß es eben nicht unsre Nation sein soll, welcher in der Wallfahrt der Menschheit nach dem Ziele der höchstmöglichen Vollendung die Führerrolle zufällt. Ihnen freilich traue ich zu, daß, wären Sie in meiner Lage, Sie denken und handeln würden, wie ich. Aber Sie sind es nun einmal nicht; sind in der glücklichen, für Ihre Nation und für Ihre Menschheitsideale zugleich streben zu dürfen in der Erwartung und Hoffnung, die Nation werde die Kraft haben, mit ihren größeren Zwecken und Pflichten zu wachsen äußerlich und innerlich.

Die sonst so klare, feste Stimme des Mannes bebte, und der Glanz seiner braunen Augen schien gedämpft, wie durch einen Flor, als er, sich in seinen Stuhl zurücklehnend und bald die Arme über der Brust verschränkend, bald mit denselben leidenschaftlich die Luft durchschneidend, also fortfuhr:

Ja, wachsen und anschwellen – unaufhaltsam! Ich sehe es. Ich sehe die Germanen den Weg rückwärts nehmen, den vor Jahrtausenden ihre Vorfahren gekommen sind; sehe sie ihre Rosse wieder aus den Fluten der Wolga tränken, ihre Schiffe schwimmen auf den Wogen des Pontus, ihre Herrscherflagge wehen auf den Zinnen von Byzanz, während das Slaventum vor ihrem Siegerschritt zurückweicht in die Steppen Asiens. Schritt um Schritt, über endlose blutgetränkte Felder, denn ein Riese, auch wenn man ihm die thönernen Füße zerschlagen hat und er rettungslos am Boden liegt, ist furchtbar, und schwer wälzt der Ueberwinder die ungeheure Masse vor sich her. O, mein Gott, mein Gott, daß ich das denken, daß ich das sagen muß! Schützen mich denn wirklich vor dem Fluch und der Verdammnis des Apostaten diese meine Haare, gebleicht in den Kerkern der Tyrannei, von der ich mein Vaterland erlösen wollte? Könnt Ihr hier friedlich sitzen und ohne Ekel aus einem Gefäße trinken mit ihm, der die Hand erhebt gegen seinen Vater? der seine Mutter verhöhnt? seinen Bruder verkauft an den fremden Mann? Könnt Ihr das?

Wir können es; sagte der Oberst, die Hand des ganz Erschütterten ergreifend; wir können Ihren Schmerz verstehen, wenn Sie sich auch von ihm zu weit und ins Maßlose fortreißen lassen. Sie vergessen ganz, mein Freund, daß wir anderen hier, wie wir hier sitzen, in den Augen der Erbpächter des deutschen Patriotismus Vaterlandsverräter sind, wie Sie in den Augen der Stockrussen. In Ihren eigenen Augen aber nicht sein sollten – auch nicht in trüben Stunden, wie eben eine über Sie gekommen ist. Durch meine Schuld. Ich bedaure von Herzen meine thörichte Frage, die Sie nicht beantworten konnten, ohne daß kaum verheilte Wunden wieder zu bluten begannen. Verzeihen Sie mir!

Dessen bedarf es nicht; erwiderte der Graf mit trübem Lächeln. Eher hätte ich um Verzeihung zu bitten, daß der alte Revolutionär sich gebärdet wie ein Anfänger, der noch an dem ABC seines Metier studiert. Wer nicht den Mut hat, die letzten Konsequenzen zu ziehen, der bleibe davon. Sie freilich wissen, daß es mir an diesem Mute nicht gebricht; daß ich trotz meiner Klagen der ungeheuren Thatsache, die sich eben in Europa zu vollziehen beginnt, ruhig ins Auge sehen kann, weil ich ihre Notwendigkeit begreife. Weltbewegende Ideen brauchen Weltreiche, um zur Herrschaft zu gelangen. Der Same des Evangeliums wäre erstickt auf dem steinigen Boden Judäas und unter den Dornen des borniertesten aller Lokalpatriotismen, hätte das Römerreich ihm nicht den orbis terrarum materiell erschlossen und philosophisch-juridisch-moralisch nivelliert. Ohne das Römerreich wiederum kein Weltreich Caroli Magni und die Vertiefung des Christentums, wie sie eben nur der germanischen Rasse möglich war. Und daß die germanische Rasse nach tausend Jahren noch nicht abgedankt hat, daß sie berufen ist, und sich berufen zeigt, die Weltherrschaft von neuem anzutreten, wer, der Augen hat zu sehen, könnte daran zweifeln? Nun denn: auf dieser Weltherrschaft und nur auf ihr, kann sich das neue Millenium aufbauen, das tausendjährige Reich des reinen Menschtums, hinter dem der wüste Streit der Nationalitäten, in welchem wir unser trauervolles Dasein verbringen, liegen wird in nebelgrauer Vergangenheit, wie für uns der Kampf unsrer Altvorderen der Steinzeit mit dem Ur und dem Höhlenbären.

Und Sie glauben wirklich an das Millenium? sagte Adalbert.

Er hatte, während der Oberst mit Pahlen diesen Diskurs führte, schweigsam seine Zigarette rauchend, nach seiner Weise etwas vornübergebeugt in seinem Stuhl gesessen, nur jezuweilen für einen Moment den Blick auf den gerade Redenden heftend, um dann wieder mit gesenkten Augen vor sich hin zu brüten.

Gewiß glaube ich daran, erwiderte der Graf, wenn Sie mich nicht, wie ich annehme, auf das Wort festnageln, vielmehr darunter ein Stadium verstehen wollen, in welches die Menschheit treten wird, nicht, um in demselben zu verharren – das würde eine langweilige Sache werden – sondern, um sich aus demselben zu abermaligem neuen Fortschritt aufzuraffen. Mein Gott, das glauben Sie doch auch! Ich wüßte sonst wahrlich nicht, weshalb Sie eine Kraft und Energie, die wir bewundern, ohne es Ihnen gleich thun zu können, an eine Sache wenden, welche Sie für hoffnungs- und aussichtslos halten. Aber Sie werden mich auslachen, daß ich Ihre Frage au sérieux nehme.

Sie sehen, ich lache nicht; sagte Adalbert.

Ich blickte ihn an und erschrak, denn ich glaubte, schier in dasselbe Gesicht zu blicken, das ich vor wenigen Tagen auf dem Totenbette gesehen: still und kalt und groß, wie eines Gottes Angesicht, der das Schicksal einer Welt in seinem Rat erwogen hat und darüber zu einem fürchterlichen Schluß gekommen ist. Auch Pahlen und der Oberst waren augenscheinlich von dem Anblick betroffen. Der Oberst faßte sich am schnellsten und sagte in seiner liebevollen Weise: daß Sie über etwas, es sei, was es sei, jetzt und auf lange Zeit hinaus lachen sollten, lieber Werin, wird sicher keiner von uns erwarten.

Sie sind gütig wie immer, erwiderte Adalbert; aber für diesmal kann ich Ihre Güte nicht annehmen. Ich habe in der That diese Tage sehr gegen meine Gewohnheit wiederholt gelacht. Wissen Sie worüber? Ueber die echt menschliche, speziell echt christliche Thorheit, geduldig im Parterre sitzen zu bleiben, nachdem das Stück auf der Bühne angefangen hat, uns langweilig und schal zu werden.

Sie haben das Leben nie leicht genommen, lieber Werin, sagte der Oberst; wie wäre es möglich, daß Sie es jetzt anders als schwer nähmen? Aber eine Kraft wie die Ihre gleicht der des Magneten, welche wächst mit dem Gewicht der Lasten, die man an ihn hängt. Ueberdies – »der Morgen hat alles wohl besser gemacht«; singt der Dichter.

Wer an ein Morgen glaubte! erwiderte Adalbert mit melancholischem Lächeln. Ich habe daran geglaubt – o ja, in der Zeit, als ich Dir – erinnerst Du Dich, Lothar? – in dem Ratskeller die schöne Zukunftsrede hielt von dem Pfingsten, welcher der Menschheit unsrer Tage kommen werde mit gewaltigem Brausen, daß die draußen auf der Gasse sich entsetzen und untereinander sprechen und fragen würden: was will das werden? Da stand auch ich noch auf der Gasse und fragte es und lauschte pochenden Herzens auf die geheimnisvolle Stimme von oben, die mir antworten und sagen würde: das will es werden! Ich frage es jetzt nicht mehr. Ich weiß, daß es nichts werden will. Daß es sein wird, wie es war und wie es ist, dem Meere gleich, welches dasselbe bleibt, ob es ebbet oder flutet; im Sonnenschein ausgebreitet liegt wie ein Teppich, oder im nächtlichen Sturm den Gischt bis zu den Wolken spritzt. Dem Schiffer und dem armen Schaltier ist es nicht einerlei, ob das Meer die Krallen reckt oder einzieht; aber ich kenne noch einen andern Standpunkt als den des Schiffers oder Schaltieres. Ich verlange nicht, daß jene ihn kennen; ich verlange es von niemandem; noch weniger, daß er sich auf diesen Standpunkt stelle. Es vermag das auch keiner, er sei denn als ein Freier geboren, des Scharfsinnes zu spotten, mit welchem die Menschen alles, was ihnen ihr liebes Dasein fristen kann, zu einem religiösen Dogma oder zu einer Forderung der Moral, womöglich zu einem Paragraphen im Strafgesetzbuch machen. Mir nun ward das Unglück oder das Glück, wie man es nehmen will, ein Sohn der Freiheit sans phrase zu sein. Ich habe das auch eigentlich immer gewußt; aber wenn man seines Platzes sicher ist, so hat man es nicht eben eilig, denselben einzunehmen. Sondern man streicht daran herum und macht zum Beispiel mit ernstem Bemühen seine Schularbeiten, obgleich man sich gar nichts für die Zukunft von ihnen verspricht, oder seine Staatsexamina mit Prädikaten, oder ruft: nach Utopien! und wirft sich in die Sozialdemokratie und schreibt scharfsinnige Broschüren und hält lange Reden für dieselbe im Schweiße seines Angesichts. Und, meine Besten, wenn es nun wirklich das sozialdemokratische Utopien gäbe – wie ich mich überzeugt halte, daß es keines gibt – und die Menschheit erreichte es, wäre sie dann nur um ein Haar besser daran als zuvor? Werden die Mütter nicht so weiter in Schmerzen gebären? Die Sterbenden sich nicht so weiter in Todesangst winden? Und wenn auch die brutalen Leiden der Natur gemildert; und die sozialen, mit denen wir uns jetzt gegenseitig zerfleischen, ganz beseitigt werden könnten, – bei der notwendigen unendlichen Steigerung der Empfindlichkeit auch für kleinere, jetzt noch gar nicht gespürte Leiden, würde sich das Leidensniveau der Menschheit auf genau derselben Höhe halten. Schopenhauer hat das längst gedacht und gesagt; aber er hat den, welcher sich der Leiden, die unsres Fleisches und wahrlich noch viel mehr und viel grimmiger: unsrer Seele Erbteil, durch einen freiwilligen Tod entzieht, mit mystischen Strafen bedroht. Glaubte er an die finale Unwirksamkeit des Selbstmords, so war er, in diesem Punkte wenigstens, ein Narr; wollte er sich mit dem krausen Schlüssel dieser Behauptung ein Hinterthürchen öffnen, durch das er den Konsequenzen der eigenen Lehre entfliehen könnte, so war er ein Charlatan. Wer weder das eine noch das andere ist, muß früher oder später zu dem Punkte kommen, wo er gegebenen Falls mit ruhiger Hand die letzte Konsequenz zieht und sich die letzte Freiheit nimmt.

So mögen Sie denn wenigstens zum Besten unsrer Sache möglichst spät zu dem Punkte gelangen; sagte der Oberst mit einem sehr ernsten Lächeln. Aber mir deucht, wir haben unter diesen melancholischen Betrachtungen ganz die Heiterkeit eingebüßt, die unser Gespräch vorhin beflügelte.

Ich bitte um Verzeihung, sagte Adalbert; Sie besonders, Herr Oberst, dessen Lebensgrundsätze das diametrale Gegenteil derjenigen sind, für welche ich hier plaidiere, und dem ich durch dies Plaidoyer einen wirklichen Schmerz bereite. Aber auch Sie, lieber Pahlen, dessen sanguinisches Temperament meiner Schwarzseherei spottet. Und auch Dich, Lothar, der Du mit Bedauern siehst, daß Dein schöner dichterischer Enthusiasmus bei dem alten prosaisch-nüchternen Kameraden so gar nicht hat zünden wollen. Ich wollte keinen von Ihnen kränken, im Gegenteil: ich wollte Ihnen allen für die Liebe danken, die Sie dem unliebenswürdigsten der Menschen stets bewiesen; für die Langmut, mit der Sie jederzeit seine Unleidlichkeit gelitten und ertragen haben.

Wir blickten einander verstohlen an. Das klang denn doch wahrlich wie ein Abschied für immer. Oder war es nur der Jammer um den Tod der Mutter, welchen er so lange in sich verschlossen hatte, und der sich nun in diesen schauerlichen Phantasien Luft machte?

Sie haben nichts von uns empfangen, erwiderte für uns alle der Oberst, was Sie uns nicht doppelt und dreifach zurückgegeben hätten.

Er hatte Adalbert die Hand gereicht, von dessen Gesicht die grausige Starrheit, die uns entsetzt hatte, gewichen war. Pahlen und ich gaben uns alle Mühe, das Gespräch wieder in glatte Bahnen zu bringen; es wollte uns nicht gelingen. Ich erinnere mich nicht mehr wie, aber die Rede war auf jenes Aktenstück gekommen, welches aus dem Schrank des Oberst verschwunden war.

Da ich doch nicht an Zauberei glauben kann, sagte der Oberst, so bleibt schließlich nur die Annahme eines Diebstahls übrig. Ich habe mich nachträglich mit aller Bestimmtheit darauf besonnen, daß ich die Papiere am Morgen des – er nannte ein Datum – zum letztenmale in der Hand gehabt und in den Schrank gelegt hatte, welchen ich – da er nur die sekretesten Sachen enthielt – nicht geöffnet habe, bis es zur Ablieferung des Inhaltes des Schrankes kam, in welchem gerade jenes Faszikel obenauf lag, so daß es einem Dieb, der danach suchte, oder auch nur das erste beste nahm, sofort in die Hand fallen mußte.

Der Oberst hatte, so oft wir auch über die Angelegenheit gesprochen, noch nie die Angabe jenes Datums gemacht. Ich rechnete nach. Es war derselbe Tag, an welchem ich hier in der Bibliothek während der Abwesenheit des Oberst den Besuch Ellinors und Ulrichs empfangen hatte. Und außer und vor ihnen noch jemandes! – Deutlich sah ich ihn da stehen – da zwischen dem Schrank und dem Arbeitstisch – mit dem Gesicht nach der Thür – in langem grauem Ueberzieher, unter dem Arm das blaue Packet mit dem Thomas Münzer – ihn, der sich selbst mir gegenüber gerühmt hatte, daß es kein Schloß gebe, welches er nicht mit einem gebogenen Nagel öffnen könnte – und er war über eine halbe Stunde allein in der Bibliothek gewesen!

Es war ja nur ein Verdacht; aber der sich mir mit solcher Gewalt aufdrängte – ich konnte nicht damit zurückhalten. Der Oberst sah in der Vermutung kaum einen Schatten von Möglichkeit, anders der Graf und Adalbert. Sie hielten dafür, daß ein Mensch wie Weißfisch, wenn er einen Schrank, in welchem er vielleicht kostbare Orden und Geld vermutet, offenbar wichtige Papiere fände, auch mit diesen vorlieb nehme, um sie teuer an den Eigentümer zurück, oder teurer an die Feinde desselben weiter zu verkaufen. Das ist bei uns schon Dutzende von Malen vorgekommen, sagte der Graf, und aus solchen Papieren manchem ehrlichen Kerl der solideste Strick gedreht.

Bei mir ist auch ohne das so viel hochverräterisches Material aufgespeichert, sagte Adalbert, daß ich, als Staatsanwalt, fünfzehn Jahre Zuchthaus mindestens herausdestillieren würde.

Sie gehen in der That mit Ihren Papieren strafbar unvorsichtig um, sagte Pahlen.

In diesem Augenblicke wurde an der Flurglocke gezogen.

Die Damen! riefen der Oberst und Pahlen. Ich eilte zu öffnen, obgleich ich mich wunderte, daß ich auf der stillen Straße keinen Wagen gehört, und der Ton der Glocke anders geklungen hatte, als wenn sie von Ellinor oder Adele gezogen wurde. Die Lampe, mit welcher sie sich hatten hinaufleuchten sollen, mußte ihnen ausgegangen sein; es war völlig dunkel auf dem Treppenflur, zu dem ich die Thür mit einem: schönsten guten Abend! aufriß.

Aber ich taumelte zurück, als anstatt der Erwarteten ein Mann so rasch hereintrat, daß er fast an mich angerannt wäre, und ihm nach sofort sieben oder acht andere Männer drängten, ebenfalls sehr rasch und, wodurch die sonderbare Situation doppelt unheimlich wurde, lautlos, so gut wie lautlos. Der Wohnungsflur ward von ihnen erfüllt, bevor ich noch ein Wort hatte vorbringen können. Je ein Mann war vor die Thüren der drei Zimmer getreten, welche außer der Bibliothek mit dem Flur kommunizierten, während zwei, als kennten sie die Wohnung längst, hinter einer Glasthür verschwanden, durch die man über einen längeren Korridor zur Küche und zur Hinterthür gelangte. Zugleich war das Licht von ein paar Laternen aufgeflammt, welche die Männer unter ihren Mänteln verborgen gehalten haben mußten; ein Herr trat dicht vor mich und sagte, den Hut lüftend, in leisem, höflichem, aber dringendem Tone: Ich bin der Staatsanwalt von – ich konnte den Namen nicht verstehen – bitte, führen Sie mich zu dem Zimmer des Herrn Oberst! das heißt –

Er kam nicht weiter, denn in diesem Augenblicke öffnete der Oberst, der sich gewundert haben mochte, wo die Damen und ich so lange blieben, die Thür zur Bibliothek. Der Staatsanwalt trat sofort auf ihn zu, und ihm, der unwillkürlich oder, um die Freunde zu warnen, ein paar Schritte zurückwich, nach in das Zimmer, wohin ich ihm folgte, mit mir zwei der Männer, die an der Thür stehen blieben.

Pahlen und Adalbert waren von ihren Sitzen aufgesprungen; Pahlen stand uns zunächst und vor dem Tisch, Adalbert stand hinter demselben und etwas zurück. Der Staatsanwalt, ein kleiner, schwärzlicher Herr mit einem scharfen Gesicht und einem Kneifer auf der energischen Nase, wandte sich zuerst an den Oberst:

Ich habe die Ehre, den Herrn Oberst außer Dienst Egbert von Vogtriz –?

Der Oberst verneigte sich.

Sie, mein Herr, – der kleine Herr hatte sich zu dem Grafen gewandt – sind Herr Graf Serge Alexei von Pahlen?

Der Graf lächelte und machte eine sehr höfliche Verbeugung.

Und Sie, mein Herr, fuhr der Staatsanwalt, Adalbert fixierend, fort, habe ich das Vergnügen, von Person zu kennen: Herr Referendar Doctor juris Adalbert von Werin?

Das Vergnügen ist gegenseitig, sagte Adalbert.

So wollen die Herren verzeihen, wenn ich meine peinliche Pflicht erfülle, fuhr der Staatsanwalt fort. Im Namen des Gesetzes: ich verhafte wegen des auf Ihnen ruhenden Verdachtes des Hochverrates Sie, Herr Oberst von Vogtriz; Sie, Herr Graf von Pahlen, und Sie, Herr Referendar von Werin; und ersuche Sie, mir auf der Stelle zu folgen. Ich nehme an, daß Sie dazu bereit sind.

Ich bin bereit; sagte der Oberst.

Auch ich; sagte der Graf.

Und Sie, Mein Herr?

Ich bin völlig bereit, sagte Adalbert, wenn Sie nur die Güte haben wollen, mir zu erlauben, eine kleine Veränderung mit mir vorzunehmen.

Ich erlaube mir zu bemerken, daß ich in großer Eile bin und eine längere Hinzögerung nicht verstatten kann; erwiderte der Staatsanwalt mit einiger Lebhaftigkeit.

Die Sache ist in einer Sekunde geschehen, sagte Adalbert.

Er hatte ohne Hast, wie zufällig, die großen Rohrlehnsessel so durcheinander geschoben, daß dieselben nebst dem runden Tisch eine Art von Schranke zwischen ihm und uns übrigen im Zimmer bildeten.

Jeder Widerstand ist vergeblich, rief der Staatsanwalt in großer Erregung.

Ich wußte nicht, wie der Mann zu dem Ausruf kam: die kleine Barrikade, auch wenn sie nicht zufällig entstanden, wie ich angenommen, konnte ihn doch unmöglich erschrecken. Und jetzt erst sah ich, was der Staatsanwalt zweifellos vor mir gesehen hatte: den blinkenden Lauf eines Revolvers in Adalberts herabhangender rechter Hand. Ich wollte mich auf ihn stürzen; er wehrte mit der erhobenen Linken ab: Lothar, willst Du dem Herrn da ins Handwerk greifen!

Er richtete sich straff auf und sagte, zu uns gewandt, mit völlig ruhiger, heiterer Stimme, während ein freundlicheres Lächeln, als ich es je an ihm gesehen, seine Lippen umspielte:

Der Unsinn siegt hier, wie er es ewig und immer thun wird. Ich aber habe keine Lust, über etwas, das mir so klar ist, ein Dutzend Jahre hinter Schloß und Riegel weiter nachzudenken. Leben Sie wohl, lieben Freunde! Grüßen Sie die Damen! und verzeihen Sie, Herr Staatsanwalt, die kleine Diversion!

Im nächsten Moment hielten wir in den Händen einen dahingestreckten Körper, der noch ein paarmal zuckte und dann die feinen schlanken Glieder streckte zum ewigen Schlaf.


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