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Zur Weltgeschichte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends

(1935)

Die folgenden Skizzen sind aus zehnjährigen Vorarbeiten zu einer Weltgeschichte »von Anfang an« entstanden, das heißt von der Zeit an, wo die menschliche Seele sich innerlich von der Tierseele abzuheben beginnt, vielfältiger und leidenvoller wird, und damit das menschliche Leben und seine Wirkung nach außen eine eigene, vertiefte Bedeutung erhält. Nachdem ich im »Untergang des Abendlandes« die Morphologie der Hoch- und Endkulturen gegeben hatte, wollte ich die geschichtlichen Voraussetzungen dafür, die primitiveren Kulturformen und -stufen bis zu ihrem frühesten Keim verfolgen. Diese Untersuchungen erhielten aber einen Umfang und führten zu Einsichten, die es rechtfertigen, wenn wenigstens ein Teil von ihnen für sich der Öffentlichkeit übergeben wird.

Es stellte sich unter anderm heraus, daß das zweite Jahrtausend v. Chr. im Schicksal des weltgeschichtlichen Menschen entscheidend gewesen ist. Die alten, heißen Südkulturen, Ägypten und Babylon, gehen zu Ende. Der Schwerpunkt des großen Geschehens wandert nach dem kälteren, strenger durchgeistigten, härter kämpfenden Norden, und diese Bewegung hat sich fortgesetzt. Hier, in einer ungeheuren Ausdehnung von Westeuropa bis nach Ostasien hin, entstehen innerlich verwandte, neue Arten menschlichen Seelentums, denen das lässige Weltgefühl des Südens fremd ist. Hier beginnt man das Leben als Rätsel zu empfinden, weil es nicht leicht und nicht mehr ganz selbstverständlich ist. Das Denken, von Nähe und Augenblick und vom unmittelbaren Tun sich abwendend, gewinnt erst hier eine große Form. Der Lebens inhalt, die Tat, wird wichtiger als das bloße lebendige Vorhandensein. Und auf die Tat richtet sich nun das Fühlen und Nachdenken des einzelnen. Auf dieser Grundlage, im Kampf mit jenem älteren Weltgefühl, erwachsen nebeneinander die antike, indische und chinesische Hochkultur, alle drei halbnordisch, persönlicher, herrenhafter, sich mit schweren Erlebnissen herumschlagend, stolz auf sie statt sie zu meiden, aber im Süden und am Süden sich verzehrend.

Und dieses mächtige Werden und Vergehen beruht wieder auf seelischen Tatsachen des dritten, vierten und fünften Jahrtausends, die überall im Stil des Lebens und seiner Ausdruckswelten zutage treten. Ob sie uns bekannt sind oder nicht, sie sind dagewesen. Es geht nicht an, Geschichte in dem Augenblick beginnen zu lassen, wo wir etwas von ihr wissen.

Was bisher darüber gesagt worden ist, ist meist nicht richtig, nicht »metaphysisch« genug gesehen, zu eng, zu sehr an Zügen der Oberfläche haftend, oft überhaupt nicht gesehen, sondern nur stofflich kombiniert. Der Durchschnittsgelehrte erhebt sich nicht über die Tatsachenmasse. Er ist ihr Sklave, nicht ihr Meister. Das weltgeschichtliche Schauen, erst seit hundert Jahren unter uns entstehend, ist noch nicht auf die mögliche Höhe gelangt. Erst die ungeheure späte Krise, welche das 19. und 20. Jahrhundert für die abendländische Kultur, die nördlichste und vielleicht die letzte, darstellt, hat das Auge dafür geschaffen. Das weltgeschichtliche Denken ist die eigentliche Philosophie der Zeit, Deshalb ist Philosophiegeschichte das letzte lebendige Gebiet der Philosophie geworden; Kunstgeschichte löst die Systeme der Ästhetik ab; selbst die Geschichte der naturwissenschaftlichen Theoriebildung ist in ihrer großartigen Skepsis gegenüber den Ergebnissen abstrakten Denkens wichtiger geworden als die einzelne Theorie, an die selbst ihr Urheber nicht unbedingt glaubt. Sie ist Arbeitshypothese, nicht »Wahrheit«. eine tiefe Skepsis gegenüber der Tatsache »Mensch«, auf die man samt ihren Gedanken, Taten, Schöpfungen und allen »ewigen« Werken herabsehen muß, um sie zu verstehen, zu durchschauen.

Was zunächst entstand, waren Fachwissenschaften, deren große Zeit das vorige Jahrhundert gewesen ist. Gelehrte großen Stils vom Typus Mommsens oder Helmholtz' wird es in Zukunft nicht mehr geben, wie es sie vorher nicht gab. Was in Zukunft den Rang auch des Fachgelehrten bestimmt, ist die Fähigkeit, weit über sein Gebiet nicht nur hinauszusehen, sondern hinauszudenken. Auch die Sondergeschichten einzelner Zeiten, Völker, Religionen, Künste, Sitten gehören dazu. Man beherrscht nur einen begrenzten Stoff und hat den Horizont dieses Bereichs. Der künstlich isolierte Stoff entwickelt aus seinen Bedingungen die Methode des Darübernachdenkens und die vollkommen gewordene Methode enthält schon, ist schon das Resultat. Sie erschließt nicht, sondern ersetzt den Blick in die Wirklichkeit. Ihre Strenge bestimmt den Rang des Fachmanns. Aber es handelt sich heute nicht mehr um dies oder jenes, sondern um alles, und nicht mehr um ein Sammeln und Ordnen von Einzelheiten, sondern um einen Gesamtblick über die große Einheit des Geschehens hin. Philologie, Archäologie, Prähistorie, Ethnographie, Psychologie sind Vorwissenschaften der Geschichtsschreibung. Man muß sie kennen, alle zusammen, aber niemand bilde sich ein, in einer von ihnen das Wesen menschlichen Geschehens anzurühren. Ihr Wissen ist der Stoff und das Mittel des letzten Schauens, nicht dieses selbst. Die große Geschichtsschreibung aber ist überhaupt keine »Wissenschaft« – so wenig als echte Philosophie Wissenschaft ist –, sondern eine Kunst, schöpferische Dichtung, Verschmelzung der Seele des Schauenden mit der Seele der Welt. Sie ist mit der großen Epik und Tragödie und der großen Philosophie in der Tiefe identisch. Sie ist Metaphysik.

Auch was der Historiker der Einzelgeschichte aufbaut, etwa eine Geschichte Ägyptens, Japans, des Islam, der Reformation, ist ohne diesen Blick nur Vorarbeit, ein Bericht über Funde in Literaturen, Archiven, Museen, Sprachresten und Ruinen, »kausal« oder chronologisch geordnet, kein Bild des auf der Erdrinde strömenden Lebens, in dem dessen letzte Geheimnisse spürbar werden.

Nur wenige Forscher wie Ranke und Eduard Meyer haben sich zuletzt von der Sklaverei gelehrter Sondermethoden befreit und Schritte in das weite Gebiet getan, von dem hier die Rede ist. Die meisten blieben im Banne des Sonderhorizonts ihres Faches und des Ehrgeizes ihrer Spezialität. Wer über ein Kapitel der schriftlich reicher bezeugten Geschichte Ägyptens, Chinas oder der Antike schrieb, haftete an dessen Daten und Urkunden, ohne die innerlich zughörigen Epochen ferner und früherer Kulturen eines gründlichen Vergleiches zu würdigen. Aber seit dem zweiten Jahrtausend v. Chr. stehen z. B. Westeuropa und Ostasien in beständiger Beziehung zueinander, die enger ist und tiefer liegt, als daß gelegentliche Erwähnung genügte. Literarisch wenig bekannte Zeitalter wurden durch das Fernglas von Philologie und Archäologie gesehen, und was man so sah, waren im Grunde nur Leute, die in bestimmten grammatischen Formen sprachen, bestimmte Häuser und Geräte herstellten und schließlich in einer bestimmten Art begraben wurden. Aber das ist keine Geschichte. Und was die »Vorgeschichte« betrifft, das heißt nach herrschender Meinung die Weltgeschichte aus unliterarischen Quellen, so ist sie noch heute nicht viel mehr als ein zeitlich geordneter Kommentar zu Museumsbeständen. Man redet von Fundschichten, die sich verdrängen, Verbreitungsgebieten, die sich dehnen und zusammenziehen, von wandernden Ornamenten, Verbalformen und Topfarten, als ob das Quallen oder Raupen wären. Aber weder Konsonanten noch Topfhenkel wandern, sondern Menschen, die etwas wollen; und nicht aus Schichten von Scherben und Mauerresten liest man wirkliche Geschichte ab. All diese Gelehrsamkeit ist im Grunde Systematik. Geschichte aber ist das Unsystematische an sich, das Einmalige, das Persönliche, das Unvorhergesehene. Geschichte ist Schicksal.

Diese Forschung eines Jahrhunderts hat ein ungeheures, vielfach geringes und überflüssiges Material zusammengebracht, das sich immer noch vermehrt. Es liegt da, durch allzuenge Deutungsversuche eher noch einmal verschüttet als erschlossen, und wartet darauf, ob es gelingt, ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Alles was je gefunden worden ist, redet vom Leben, das einmal war. Im Leben aber, und sei es das geringste, liegt die ganze Metaphysik der wirklichen Welt.

Die folgenden Versuche wollen nichts als zeigen, wie man sehen kann und muß, und wie unendlich viel mehr sich sehen läßt, wenn man den Blick dafür hat.

I. Tartessos und Alaschia

1

Was war Tartessos? Wo lag es und wie lange bestand das, was der Name bezeichnet? Die Frage ist in der letzten Zeit immer wieder gestellt worden und mit Recht. Denn die Erhellung des Dunkels, das darüber liegt, ist noch viel aufschlußreicher als die Fragenden geahnt haben. Daß Tartessos in Spanien lag – schon eine griechische Tradition seit den jonischen Seefahrten ins westliche Mittelmeer –, ist heute mit gleich überzeugenden Gründen bewiesen und bestritten worden. Aber offenbar hat es kein Grieche gesehen. Sie hatten alle nur davon gehört, und man weiß, was griechische Fantasie, namentlich von Seeleuten, aus solchem Hörensagen machen kann.

Aber ebenso ist die Bedeutung des Namens Alaschia nicht gesichert, obwohl jetzt allgemein die Insel Kypros dafür gehalten wird. W. M. Müller (Asien und Europa S. 261 f.), H. R. Hall (J. of Manch. Eg. and Or. Soc. 1912/13 S. 33 ff.), Wainwright (Klio 14 S. 1 ff.) u. a. haben das bestritten. Der letztere sucht es an der nordsyrischen Küste, Baudissin u. a. Theologen halten Karthago dafür. Es ist nie bemerkt worden, daß die beiden Begriffe ursprünglich zusammengehören und ein Paar geographischer Gegensätze bilden. So erscheinen sie noch in der Völkertafel der Genesis. Die Liste der Nachkommen Japhets (1. Mos. 10, 2 ff.), aus P, nicht aus J erhalten, setzt die Lage des 7. Jahrhunderts voraus. Die Kimmerier und Skythen sind noch, die Perser noch nicht genannt. Der Verfasser, ein Binnenländer, hat sein ganzes Wissen, meist bloße Namen, die offenbar zum großen Teil von tyrischen Kaufleuten stammten, darin untergebracht, vielfach ohne deren Bedeutung zu kennen. Teilweise hat er sie sogar falsch gehört oder geschrieben wie Magog und Riphat, so daß man nicht mehr feststellen kann, was gemeint war. Hier steht » Tarschisch und Elissa«, offenbar eine feste Formel im Sprachgebrauch der tyrischen Seeleute, dahinter zwei Plurale, »die Kittim und Rodanim«, also die Bewohner von Kypros und Rhodos, alles zusammen als »Söhne Jawans«, als Jonier bezeichnet. Da sind also Ausdrücke der Seemannssprache, die Fahrtrichtungen bezeichneten, mißverstanden worden. Es ist der kaufmännische Horizont einer Hafenstadt, keine ethnographische Skizze. In genau demselben Sinne sagt die gleichzeitige protzige Inschrift Assarhaddons von Assur Meißner, DLZ 1917, 410., »daß sich alle Könige in der Mitte des Meeres, von Jadnana (Kypros) und Jawan (hier Kilikien) bis zum Lande Tarsisi seiner Führung unterworfen hätten«. Auch da liegt die Formel Tarschisch und Elissa, die sein Schreiber in Tyrus gehört hatte, zugrunde. Er hat ihre Bedeutung ebensowenig begriffen.

Aber eine ganz unerwartete Einsicht tat sich mir auf, als ich bei Untersuchungen über die frühgriechischen Ansichten vom Tod und dem Leben nach dem Tode bemerkte, daß Tartaros und Elysion, vorantike Worte, ebenfalls ein Paar von Gegensätzen gebildet haben, das zu jenem in sehr nahen Beziehungen stand. Die Wortbedeutung mußte verwandt sein, nicht nur aus derselben Sprache stammend, sondern auch aus dem gleichen Kreise der Weltanschauung.

Die nordischen Herrenstämme, welche die antike Kultur begründeten, haben diese Anschauung verachtet. Sie brachten, soweit sie sich überhaupt um derartiges kümmerten, die ziemlich leere Vorstellung vom Hades mit – eher Begriff als Bild Der ähnliche germanische Begriff Hel ist wahrscheinlich überhaupt erst unter spätantiken oder gar christlichen Eindrücken und Lehren entstanden. –, in dem der Mensch tatenlos und schwächlich hindämmert, wenn das taterfüllte Leben zu Ende ist. Ihnen war nur das wirkliche Leben von Wert. Deshalb ist es bei Homer undeutlich, und war es seinen Helden offenbar auch, was mit Tartaros und Elysion eigentlich gemeint war. Sie gehörten zum Glauben und der Sprache der Unterworfenen, mit denen sich die Herren nicht beschäftigten. Erst als diese Unterschicht in den späteren Städten und ihrer Demokratie wieder zur Geltung kam, entstand die Orphik des 6. Jahrhunderts, das »Dionysische«, in dem die alten Worte und Ideen wieder Leben gewonnen haben. In der Dichtung des Aischylos wird es kaum noch vom Apollinisch-Nordischen gebändigt. Aber in der Ilias sitzt einmal (8, 479 ff.) Japetos, ein Titane, also einer der vorgriechischen Heroen, im äußersten Westen, wohin die Sonne nicht dringt, vom Tartaros umgeben, und hier hat Strabo (III, 2, 12), wie es scheint, Tartessos gelesen oder verstanden. Der nordeurasische Mensch, von den Germanen bis zu den urchinesischen Stämmen am mittleren Hoang-ho, kümmerte sich nicht viel um das, was aus seiner Person nach dem Tode wurde. Daß mit dem Aufhören des Atems und dem Zerfall des Leibes das Leben – die Seele, das Ich, das individuelle Wesen oder wie man es sonst nennen will – endet, die Willenskraft und die Macht, Taten zu vollbringen, erlischt, war ihm selbstverständlich. Die Vorstellung eines leeren Lebens ohne diese Macht, eine »ewige Seligkeit« also, wäre ihm sinnlos und verächtlich erschienen. Daß der Tote noch eine Zeit lang spuken kann, umgeht Wotan, der an der Spitze der Toten nachts durch die Lüfte stürmt – das »wütende« Heer ist Wotans Heer –, ist ursprünglich nichts als die dämonische Macht der Zwietracht unter Menschen, persönlich als der große Verderber gefaßt, der unbedenkliche Erreger von Zank und Streit, der sich an der Masse der Gefallenen freut. Erst später ist er dichterisch zum Schlachtengott geadelt worden. und Schaden stiftet, ist eine allgemeine Erfahrung ursprünglicher Menschen und ebenso von Tieren wie Hunden und Pferden, deren Art seit Jahrhunderten mit Menschen zusammenlebt, und man sucht ihm irgendwie Ruhe zu verschaffen. Das wirkliche Nachleben des Toten aber besteht in der Nachkommenschaft, in welcher das Blut, also die Seele des Ahnen weiterwirkt, und darüber hinaus im Gedenken der späteren Geschlechter und im Ruhm der vollbrachten Werke. Was man mit falscher Verallgemeinerung Totenkult nennt, ist im Norden ausschließlich Ahnenverehrung, durch Erinnerungsmahle, Gedächtnisfeiern, festliche Spiele, durch Sage und Sang ausgeübt, entweder beim Denkmal, das nicht notwendig am Grabe zu stehen braucht, sondern auch auf dem Besitztum der Sippe oder im Mittelpunkt der Siedlung errichtet werden kann, oder vor dem Ahnenschrein des Hauses wie in China und Rom. Die römischen Familien des nordischen Patriziats pflegten nur das Andenken der parentes, der Erzeuger. Die Gespenster der Verstorbenen, die Lemuren und Larven, hielten sich fern. Wissowa, Religion der Römer S. 238 ff. Ebensowenig kannten die Hethiter ein »Leben nach dem Tode« und ein prunkvolles Grab als Totenwohnung, A. Götze, Kleinasien (Kulturgesch. d. alt. Or. 1933) S. 160. und nicht anders die vedischen Arier und die Perser außerhalb der Zarathustratheologie.

Daß neben dem Wunschbild des vornehmen Mannes das des gemeinen stand – lieber ein lebender Hund sein als ein toter Löwe –, versteht sich von selbst. Diese Distanz von hohem und niedrigem Denken gehört zum Dasein einer Herrenrasse. Aber nirgends finden wir den Glauben an ein » Leben« nach dem Tode. Walhall ist wie der Olymp ein poetisches Bild, das die Skalden der Wikingerzeit geschaffen haben, an dem man sich freute, ohne es für wirklich zu halten. Wo bei späten Griechen und Römern, bei Chinesen, Indern und Persern Vorstellungen von einem Totenreich auftauchen, sind sie von außen, vom Süden her durch die Autorität einer überlegenen Mythologie oder Theologie hineingetragen worden wie die Bilder von Paradies und Hölle durch Christenpriester zu den Germanen, ohne doch den gleichen Grad von gläubiger Realität zu erlangen.

Im stärksten Gegensatz zu dieser nordischen Gewißheit vom raschen Verdämmern der gestorbenen Wesen hat sich im Südwesten, von Irland bis Ägypten, seit Jahrtausenden eine Welt von Vorstellungen ausgebildet, die allein um den Gedanken vom wirklichen Weiterleben des Toten kreist. Hier und nur hier hat sich der anschauliche Gegensatz vom »Diesseits« und »Jenseits« entwickelt. Das Leben, nicht als fordernde Aufgabe, nicht als Kampf mit dem Schicksal, wertvoll erst durch die Härte seiner Entscheidungen und seine Erfülltheit mit Taten, sondern als bloße Gegebenheit, die man heiter und lässig genießen will, wird hingenommen so wie es ist, vom Herrn wie vom Sklaven; und das volkstümliche wie das metaphysische Nachdenken heftet sich deshalb an seine Grenzen, mit Freude an den Akt der Zeugung, mit Angst an den des Sterbens, das man nicht als Ende nehmen will. Die Sehnsucht nach Ruhm, Ehre und Größe fehlt. Der Krieg ist nichts als Gefahr, die man durch List oder durch fremde Söldner zu überwinden sucht. Die Süße des Lebens, vor allem auch des Geschlechtslebens, füllt die Fantasie mit Bildern, aber weit darüber erhebt sich das beständige Denken an das Leben nach dem Tode, wodurch das diesseitige Leben verewigt wird. Darauf richtet sich nun alle tiefere Furcht und Hoffnung von den Enttäuschungen des Diesseits fort. Das letztere erscheint mehr und mehr als eine sorgsame Vorbereitung. Es dient durch Beschwörung, durch Opfer, Askese und frommen Lebenswandel, vor allem durch Errichtung der künftigen Grabwohnung und testamentarische Sicherstellung der Mittel für die Totenpflege dem einen großen Ziel der Überwindung des Sterbens. Das ist seit der Zeit der Megalithgräber, die von Irland und der Bretagne über Spanien bis zu den Pyramiden eine Einheit der Idee bilden, so geblieben und hat schon zu Beginn des dritten Jahrtausends die große Theologie der ägyptischen Hochkultur geschaffen, bis die katholische Kirche noch einmal das ganze Gebiet in dieser Weltanschauung gewaltig zusammenfaßte und zum zweitenmal in der Gotik die Theologie einer Hochkultur über dasselbe Thema schuf. Deshalb sind diese beiden gedanklichen Systeme innerlich so tief verwandt, und deshalb lehnt sich in der Reformation das Weltgefühl des Nordens dagegen auf.

Hier liegt der Ursprung des monumentalen Steinbaus, als Grabbau entstanden, der in seiner mühevollen Arbeit und seinem gewaltigen Aufwand ein Opfer war und ein Anrecht auf das schönere Jenseits sicherstellte. Hier entstanden die Göttertypen der Muttergöttin – von Isis und Tanit und der iberischen Gottheit von Elche bis zu den katholischen Madonnen an uralten heidnischen Kultstätten – und des richtenden, lohnenden und strafenden Herrschers der Toten, als welcher »Krist« noch den Nordgermanen erschien. Und hier bildete sich endlich die Anschauung vom Totenland selbst aus, in das der Verstorbene leibhaft Auferstehung des Fleisches, ἐκ σαρκῶν, sagt die christliche Glaubensformel. für immer einzieht.

Hier aber hat sich, seit wann wissen wir nicht, eine allzumenschliche Spaltung vollzogen: man glaubt, ohne sich immer klar darüber zu sein, an zwei Totenländer – das eine wünscht man sich, das andere seinen Feinden. Ursprünglich liegt jede moralisierende Deutung dieses Gegensatzes außerhalb des Denkens dieser nicht sehr denkfreudigen Völker. Beide Welten sind einfach da, und man muß versuchen, durch Anhäufung von Verdienst, durch Beschwörung oder Überlistung der Mächte in die schönere zu gelangen und seine Gegner in die andere zu senden. Die wollüstig-schöpferische Fantasie der Rache, die man im Leben nicht wagte, kommt in den Bildern der Hölle zu ihrem Recht. Später erst mischen sich dogmatische Begriffe von Schuld und Sühne, Lohn und Strafe, Erlösung und Verdammnis hinein, schon bei der Priesterschaft von Heliopolis im Beginn des dritten Jahrtausends, aber die Bilder von Paradies und Hölle entstammen einem viel urwüchsigeren Weltgefühl und sind damals im Keime längst vorhanden.

Hier, im Ägypten des Alten Reiches, bildete sich eine Masse unklar durchdachter, widerspruchsvoller Auch die katholische Dogmatik hat den Widerspruch zwischen der allgemeinen Auferstehung des Fleisches am Jüngsten Tage, der geistigen Unsterblichkeit der Seele und dem sofortigen Eingang des einzelnen in Fegefeuer, Hölle oder Paradies nicht zu überwinden vermocht. Vorstellungen vom Totenland im Westen aus, dort wo die Tagessonne versinkt, um den Nachtweg nach Osten anzutreten. Zum folgenden Kees, Totenglauben und Jenseitsvorstellungen der alten Ägypter (1926). Im Gegensatz dazu versucht die Theologie von Heliopolis die Lehre von einem Reich der Seligen im Osten, der Region der Morgensonne (Re Harachte), durchzusetzen, und dazu kommt die dogmatische Umdeutung des westlichen Horizonts in eine Unterwelt, das Jenseitsland der Dat. Kees S. 91 ff. Herrschend und volkstümlich blieb aber immer die Vorstellung von dem Toten als »dem Westlichen«, und die Fahrt auf der Totenbarke ging stets »gen Abend«. Osiris, der alte Sagenkönig von Busiris im östlichen Delta, entwickelte sich zur Gestalt des leidenden Herrschergottes – wie Jesus – und weiter zum Totenrichter. Vor allem aber werden neben Schilderungen der osirianischen Gefilde der Seligen die Ausgeburten einer Höllenangst literarisch zur Schilderung des Weges ins Jenseits verwertet, wie sie in der Textsammlung vorliegen, die als »Zweiwegebuch« bekannt ist. Ebendort S. 427 ff. Da finden sich fantastische Hindernisse. Torwächter und drohende Ungeheuer, der Feuersee u. ä., was nur der Bewährte in schwerer Prüfung überwinden kann, bis er zum »Opfergefilde« zu Osiris gelangt, das dann doch wieder eine Morgenstimmung des östlichen Horizontes hat. Die Bilder einer dreiteiligen Hölle sind bis auf Dante herab maßgebend geblieben, kaum durch literarische Tradition, sondern durch das bleibende Weltgefühl der westlichen Rassen, das immer wieder zum Ausdruck in den gleichen Bildern strebte.

Solche Anschauungen müssen infolge der Überlegenheit der ägyptischen Zivilisation seit der 18. Dynastie weithin bekannt und angestaunt worden sein. Sie sind noch spät von griechischen Orphikern, phönikischen und etruskischen Priestern und von Völkern ringsum, von denen wir gar nichts mehr wissen, übernommen und noch durch die Vermittlung ägyptischer Geheimlehren der römischen Kaiserzeit im spätantiken Synkretismus, der jüdisch-christlichen Apokalyptik und dem frühen Christentum selbst verwertet worden.

Vor allem aber muß die blutsverwandte Oberschicht des minoischen Kreta ähnlich gedacht haben, und sicherlich stammen die Jenseitsvorstellungen von Etrurien bis Kypros zum großen Teil von ihr.

Deshalb glaube ich, daß man die »minoische« Religion heute wesentlich falsch sieht. Man urteilt zu sehr von der frühgriechischen Religion statt der »vorgriechischen« Orphik und von Kleinfunden kultischer Art aus, die doch zum großen Teil, z. B. in den Kulthöhlen der Berge, der sehr viel älteren bäuerlichen Bevölkerung Kretas angehören. Es ist hier aber von der Weltanschauung der seefahrenden Herrenschicht die Rede, die jünger ist und nicht in den Gebirgsdörfern saß.

Die innere Verwandtschaft der minoischen Weltanschauung weist nicht nach Hellas und dem Norden, Was kleinasiatisch wirkt, die Doppelaxt z. B., ist vor der minoischen Glanzzeit, was nordisch anmutet, nach ihr, seit 1400 eingedrungen. Man beachtet die Möglichkeit seelicher Schichten zu wenig. sondern nach Süden, nach Afrika, vielleicht nach den Küsten des westlichen Mittelmeers. Nicht als ob sie von Ägypten durchaus abhängig gewesen wäre; dazu war ihre Eigenart zu stark. Aber die geistige Richtung war dieselbe, und das mag zu Reisen minoischer Priester nach Ägypten und ägyptischer nach Kreta, Wenn die Statue eines ägyptischen Beamten aus ägyptischem Stein in Knossos gefunden worden ist, so setzt das voraus, daß der Mann in amtlicher Eigenschaft und lange hier geweilt hat. zur Bekanntschaft mit hieroglyphischen Texten und gelegentlich zur Nachahmung hochentwickelter Riten geführt haben. Knossos kann sehr wohl ein theologischer Mittelpunkt wie Heliopolis gewesen sein. Noch die Griechen bezogen Weissage- und Mysterienpriester mit Vorliebe aus Kreta. Und selbst wenn man dort die grundlegenden Ideen mehr erlebte als systematisch durchdachte, muß das Ergebnis ähnlich gewesen sein.

Nach meiner Überzeugung stand neben und über dem Denken, das sich an das Geheimnis von Zeugung und Geburt knüpfte, der sehr starke Glaube an ein Totenreich. Die Totenrichter Minos und Rhadamanthys sind dem Osiris wesensverwandt. Die Totengöttin Phere-phassa Pere-phoneia usw. (Wilamowitz, Glaube der Hellenen, I S. 108 f.). Die Form Persephone ist wohl erst durch den Anklang an den mykenischen Heros Perseus entstanden, der übrigens auch Πεῤῥευς geschrieben wurde. hat irgendwie den gleichen Wortstamm im Namen wie die Geburtsgöttin A-phro(por)-dite, kretisch-pamphylisch Aphreia. Und wer saß denn auf dem »Thron des Minos« in dem kleinen Raum, den Evans ganz unpassend Thronsaal getauft hat? Unter dem Eindruck der griechischen Vorstellung vom König Minos. Aber wen hätte der griechische Mythus nicht auch einmal als König geschildert? Die Sitzfläche des Throns macht den Eindruck, als ob dort ein Kultbild, vielleicht auch eine Priestermumie gesessen habe. War das »Minos«? Was wissen wir denn von den dunklen Bräuchen dieses Ortes? Man hat im Schutt rings um den Thron zahlreiche Splitter von Gold, Kristall und Lapislazuli gefunden, wie sie bei der Zertrümmerung eines kostbaren Gegenstandes liegen bleiben. Wenn es aber ein Bildnis der Totengottheit oder etwa eine Mumie mit Tiermaske war, mit den beiden fantastischen Greifen auf den Wandfresken zur Seite, dann glich das sehr dem Geisterthron des Zweiwegebuchs Kees S. 446. mit der Rücklehne in Gestalt einer sich bäumenden »Schlange«, auf dem ein tierköpfiger Gott saß, »der Sitz des Verklärten, der niemals sterben wird. Es gibt keinen Gott, der seinen Anfang kennt«.

Waren die rätselhaften »horns of consecration«, die überall als Symbole angebracht sind, vereinfachte Darstellungen der Totenbarke, die auf dem Sargboden aus Kairo Ebenda S. 426. ganz ähnlich gezeichnet ist? Auf dem Sarkophag aus Hagia Triada hält der Priester ein Totenschiff ägyptischen Stils in der Hand. Waren die »Paläste« von Knossos und Phaistos Totentempel, Heiligtümer eines gewaltigen Jenseitskultes? Ich will nichts behaupten, denn ich kann es nicht beweisen, aber die Frage scheint mir ernster Beachtung wert.

Diese großen Bauten, in denen eine Priesterschaft waltete, vielleicht wohnte, und sicher nicht ein König in gewöhnlichem Sinne, standen unter dem Gottesfrieden, was der Mangel jeden Schutzes beweist. Es ist falsch gedacht, daß die Stärke der Seemacht die Befestigung erspart habe. Gerade in Zeiten der höchsten Blüte sind ja die Bauten zweimal gründlich zerstört worden. Aber weder das Didymeion, noch der Tempel von Paphos, noch die von Delphi und Olympia waren festungsartig ummauert. Sie waren »heilig«, tabu, die Gottheit selbst schützte sie. Das genügte dem frommen Sinn, wenn es auch in der Welt der Tatsachen nicht genügt hat. Und wenn man in diesen Bauten die Kulträume vermißt hat, kam das vielleicht daher, daß der ganze Bau eine ungeheure Kultanlage mit Prozessionsweg im Innern und Adyton war? Waren die bekannten »Stierspiele« Opferfeste, Menschenopfer, wie die spätere Sage vom Tribut der Jünglinge und Jungfrauen anzudeuten scheint, zu Ehren des Totengottes oder des Toten selbst? Es schwebt ein düsteres Geheimnis um die Gestalten der Minossage, in das wir nicht mehr eindringen können.

Was bedeutet das seltsame Kostüm der Mädchen, Priesterinnen, das sicher nicht »kretische Mode« war? Waren das Hierodulen? Und woher stammen die nichtgriechischen Namen der griechischen Flüsse des Jenseitslandes wie Styx und Acheron, Bei dem man früher ägyptische Herkunft und die Bedeutung »Fluß des Westens« vermutet hat. und Name und Gestalt des hundsköpfigen, dem Anubis ähnlichen Torwächters Kerberos? Wir müssen gestehen, daß wir von minoischen Anschauungen viel weniger wissen, als wir heute zu wissen glauben.

So viel aber ist sicher, daß Tartaros und Elysion dem Kreis der kultischen Namen angehören, die der herrschenden Sprache der minoischen Welt entstammen, und sie beweisen, daß zu dieser Religion die Vorstellung von zwei Totenreichen gehörte, das Gefilde der Seligen, in dem ein ewig sonniger Morgen herrscht, und der dunkle Abgrund der Verdammten im fernen Westen, wo die Sonne versinkt. In solchen Zeiten ist das Metaphysische noch erlebt und geschaut und erst danach, so gut es ging, begrifflich festgelegt. Da mischen sich die Bilder von Tag und Nacht, Morgen und Abend, Geburt und Tod, Wachen und Schlaf, und eins tritt für das andere ein, wie wir heute noch statt Westen Abend sagen.

Der Wortkern von Tartaros und Tartessos kommt in der griechischen Religion nicht weiter vor, wenn man nicht den Apollon Tarsios einer Inschrift attischer Seeleute CIA 236. dahin zählen will, dessen Name vielleicht dem des Apollon Alasiotes von Tamassos auf Kypros gleichartig ist. Aber es ist längst bemerkt worden, daß das Wort Elysion mit dem Namen der berühmten Stätte eines uralten Geburtsmysteriums Eleusis, und mit dem der vorgriechischen Geburtsgöttin Eileithyia Auf Kreta Eleutho. Es gibt noch viele andere Formen des Namens, darunter zahlreiche Beinamen der Demeter. Die Kultstätte der Eileithyia in Eleusis hieß Elysion. verwandt ist. Die Erhaltung gerade dieses Namensstammes mag damit zusammenhängen, daß das Gebiet der frühantiken Kultursprachen, vor allem des Griechischen seit 1100, den Bereich von »Elissa« umfaßte, während Tarschisch außerhalb lag.

Und so ergibt sich als Grundbedeutung dieses Wortstammes etwas, das durch Geburt, Morgenfrühe, Sonnenaufgang, Licht, Osten zu umschreiben ist, was für Tarschisch-Tartaros den Sinn von Tod, Abend, Dunkel, Westen ergibt.

2

Die beiden Wortstämme haben also nicht nur religiöse, sondern auch geographische Bedeutung. Tart-essos Diese Endung bildet eine Frage für sich, die zu neuen wichtigen Ergebnissen führt. Darüber soll später gehandelt werden. und Elissa besagen ursprünglich nichts anderes als West und Ost. Sie bezeichnen also Richtungen, nicht Länder, Richtungen der Seefahrt und des Handels, mit der ganzen praktischen Unbestimmtheit, wie sie dergleichen Seemannsausdrücke haben. Sie meinen genau dasselbe, was die Genuesen und Venezianer Levante und Ponente, was wir Morgen- und Abendland, Orient und Okzident nennen, und was die spanisch-portugiesische Unterscheidung von Ost- und Westindien einmal besagen sollte.

Dergleichen Ausdrücke sind viel häufiger, als wir ahnen, weil wir von den zahllosen Stammessprachen nichts mehr wissen, die es einmal gegeben hat und in deren Menge uns die Archive von Boghazköi und Ras Schamra einen plötzlichen Einblick gewährten. Das Bedürfnis, Namen für fremde entferntere Gegenden zu haben, ist ziemlich spät entstanden und auch da zunächst nur für wandernde Händler und für die Stammesältesten. Für sich selbst brauchte man keinen. Das waren einfach »wir«, wenn man nicht den vorhandenen Namen des Tals oder der Insel als Selbstbezeichnung übernahm. Vor dem 3. Jahrtausend hat es im Bereich des Mittelmeeres wahrscheinlich überhaupt noch keine Gesamtnamen für eine Landschaft auch nur vom Umfang Thessaliens oder Sardiniens gegeben. Man kann im ägyptischen Alten Reiche noch verfolgen, wie vorläufig und unbeholfen solche Bezeichnungen zuerst ausfallen, bevor es langsam zu echten Eigennamen kommt. Ein Fluß war ursprünglich nur »der Fluß«, ein Berg einfach »der Berg«, und erst wenn ein Stamm mit anderer Sprache ins Land kam, behielt er oft die fremde Sachbezeichnung als Eigennamen bei. Noch die griechischen Stämme kamen vielfach mit Worten wie Argos (Ebene), Aigialos (Küste), Epirus (Festland) aus, wenn man eine fremde Gegend nicht nach einem zufälligen, oft falsch gehörten Stammesnamen nannte. Vielfach gebrauchte man nur die Himmelsrichtungen zur Bezeichnung von Ländern, vor allem von solchen, die man zur See erreichte. In den überlieferten Namen müssen massenhaft die Worte für West, Ost, Nord und Süd aus verschollenen Sprachen stecken, so abgeschliffen und so häufig aus einer Sprache in die andere übernommen, daß sie sich nicht mehr erkennen ließen, selbst wenn wir die ursprüngliche Sprache kennten. Aborigines, nach Behauptung der römischen Annalisten der Urstamm der Latiner, ist überhaupt kein lateinisches Wort (von origo, also Ureinwohner), sondern griechisch (von βορέας): also Nordleute, Βοείγονοι, von Kyme aus benannt.

Der Name der böotischen (vorgriechischen) Unterweltsgöttin war Europa. Dazu gehört der Name der Unterwelt Erebos Der in rätselhafter Weise an das semitische Wort ereb, Abend, Dunkel, Untergang anklingt. und der der Araber, der »Dunkeln«, der sagenhaften Begleiter des Kadmos. Europa ist außerdem eine sehr alte Bezeichnung von Böotien im Gegensatz zu Attika, und erst viel später der Balkanhalbinsel im Gegensatz zu »Asien«, d. h. Kleinasien geworden – es hatte also schon damals die Bedeutung Westland, Abendland. Europa und Erebos stehen mithin in genau demselben Verhältnis zueinander wie Tarschisch und Tartaros. Die Aithiopen, die »Hellglänzenden«, waren ursprünglich ein mythisches Volk im Osten, dort wo Helios am Morgen seine Fahrt antrat. Wahrscheinlich hatte der Name Phoiniker, die »Hellroten«, zuerst denselben Sinn, die Östlichen, die Morgenländer. Er wurde dann, und zwar in dieser Bedeutung, von den jonischen Seefahrern zuerst auf die karische, dann die tyrische Küste angewendet, während der Äthiopenname später nach dem äußersten Süden, dem Sonnenland, der der Araber auf die Wüste südlich des Euphrat, deren Stämme schon bei den Assyrern einen ähnlich klingenden Namen hatten, übertragen wurde.

Die Hesperiden waren die Inseln gegen Abend. Hatten vielleicht die Kassiteriden ursprünglich denselben Sinn in einer andern Sprache? Das Händlerwort für Zinn ist natürlich erst aus dem Inselnamen gebildet worden, wie die neue Handelsbezeichnung für Kupfer von Kypros. Kupfer und Bronze heißen griechisch χαλκός. Im 6. Jahrhundert erst kommt für eine besonders geschätzte Sorte die Handelsbezeichnung χαλκὸς Κύπριος, kyprisches Erz (vgl. englischer Stahl) auf; später haben die Römer das mit aes cuprum übersetzt und endlich zu cuprum verkürzt. Aber ist vielleicht sogar der Name der Aioler derselben Herkunft? Das Wort für Morgenröte (hom. Ἠώς, aiolisch [Lesbos] Αὔως) wird bei Homer auch einfach für Osten gebraucht, und man denke an den Zusammenhang von Aurora und Ausonia. Dann wären die Aioler die Leute im Osten, von Thessalien aus gesehen.

Nun werden sehr oft die Himmelsrichtungen durch die Ausdrücke für rechts und links bezeichnet. Blickt man nach Osten, so ist der Süden rechts. Deshalb heißt bei den Indern das Land südlich vom Ganges Dekhan (vgl. dexter), bei den Semiten der Stamm südlich der Josephsstämme Ben-Jamin und das südliche Arabien Jemen. Ein altindogermanisches Wort für links ist griechisch σκαιός, lateinisch scaevus, auf dem später wegen der schlimmen Bedeutung ein tabu lag. Da der griechische Seher bei der Vogelschau nach Norden blickte (Il. 12, 239), ist links der Westen; daher ist das skaiische Tor von Troja das Westtor und das σκαιὸν ῥίον (Od. 3, 295) das westliche Vorgebirge. Bedeutet also der Name der Saken und Skythen im Munde der Perser und Inder, da rechts = Süden war, einfach »Nordleute«? Im Umbrischen heißt links nertr – vgl. griechisch νέρτεροι die Unterirdischen –, was nach J. B. Hofmann (Streitberg-Festschrift S. 385) mit germanisch Nord verwandt ist.

Aber zu einem Begriffspaar wie Tarschisch und Elissa gehört ein Mittelpunkt, von dem aus dieser geographische Horizont der Handelsbeziehungen praktisch festgelegt wurde, und ein Stand großer Kaufleute wie die Hanseaten und Venezianer, die diese Worte gebrauchten, wenn sie auf große Fahrt gingen. Für Ost- und Westindien waren es Lissabon und Sevilla. Hier können es nur die Sitze der Herren auf Kreta gewesen sein. Man braucht nicht notwendig an ein »Seereich«, einen Großstaat zu denken, den es hier wohl nie gegeben hat. Es können auch, was mir viel wahrscheinlicher ist, starke Korporationen gewesen sein, wie es die Hanse war und wie es auch meiner Überzeugung nach ursprünglich die »Jonier« gewesen sind. Dafür spricht die Tatsache, daß es auf Kreta mindestens zwei solcher Sitze gegeben hat, meiner Meinung nach also Bundesheiligtümer, wie es das des Poseidon Helikonios für die jonischen Kaufleute gewesen ist.

Damit gewinnen wir einen Blick auf die Ausdehnung der »minoischen« Seefahrt. Denn nur, wo der Kaufmann aus Kreta der erste war, konnten sich die Ausdrücke seiner Sprache durchsetzen, wie es mit dem Italienisch der Venezianer in der Levante und mit dem Arabischen und später dem Portugiesischen von dort aus bis nach Südchina, den Philippinen und Neuguinea hin geschah. Wo die Namen Tartessos und Alaschia im späteren Sprachgebrauch oder in der Sage haften, da sind einmal die Schiffe von Knossos und Phaistos die geachtetsten gewesen. Nicht als ob dort überall ein politisches Protektorat bestanden hätte. Kein Staat hat jemals all die Häfen besessen, in denen die Schiffe seiner Kaufleute den Handel beherrschten, und das Bild des minoischen Lebens sieht nicht nach »Staat« aus. Die Kontore der Hanse in London (Stahlhof) und Venedig (Fondaco dei Tedeschi) waren viel mächtiger, als es ein Gouverneur hätte sein können.

Diese Seemannsausdrücke stammen also aus einer herrschenden Sprache, die nicht notwendig die der »Bevölkerung« von Kreta gewesen zu sein braucht. Wieviel Leute haben unter Augustus in den Provinzen eigentlich lateinisch gesprochen? Wie viele im Reich des Darius verstanden persisch? War die Sprache, in der die Tontafeln von Knossos beschrieben sind, vielleicht in den Häfen von »Alaschia« in einer Form verbreitet, wie das Pidgin-Englisch an ostasiatischen Küstenplätzen und das Jiddisch auf polnischen Märkten? Vielleicht kommt einmal etwas Derartiges auf einer Keilschrifttafel von Ras Schamra zum Vorschein. Es gab auf der Insel natürlich zahlreiche Sprachen. Noch eine bekannte Stelle der Odyssee zählt etwa für das 6. Jahrhundert deren fünf auf. Man muß nicht immer den Fehler machen, aus einer Gebietseinheit oder einem Landesnamen auf Spracheinheit zu schließen. Auch eine sehr einheitliche Kultur verträgt sich mit dem Dasein vieler Sprachen von sehr verschiedener Art. Es ist Unsinn, von »der« ägäischen Ursprache zu reden. Die gebietende Oberschicht kann und wird etwas für sich gewesen sein und stammte wahrscheinlich aus der Ferne. Aber ihre Sprache hat einmal weithin die See beherrscht. Es war die Glanzzeit der Insel.

Aber wann war das und wie lange dauerte es? Der Name Tart-, also »der ferne Westen«, kommt weder in Ägypten noch im Hethiterreich vor, weil das Gebiet außerhalb des politischen Horizontes der beiden Mächte lag, von denen die zweite noch dazu ein Binnenstaat war, und die Urkunden, wenigstens soweit wir sie kennen, nur von dem Kenntnis nehmen, was sie unmittelbar und praktisch angeht. Geographische Neugier um ihrer selbst willen war noch völlig unbekannt. Aber das Wort Alaschia taucht in Ägypten mit dem Neuen Reiche auf, und den Schreibern des Archivs in Boghazköi, das aus dem 15.-13. Jahrhundert stammt, war es ganz geläufig. Und gleichzeitig erscheint in Ägypten statt der uralten Bezeichnung der Inselwelt des Nordens als Hanebu der Name Kafti für die neue seebeherrschende Macht, und zwar gleich zu Anfang, unter Thutmosis III. Sethe, Urkunden des ägypt. Altertums IV 707., in dem Ausdruck Kaftischiffe, der genau dieselbe Bedeutung hat wie viel später in Tyrus das Wort Tarschischschiffe, Jes. 2, 16. 23, 1 und 14. 1. Kön. 10, 22. 22, 49 (im Roten Meer). nämlich Hochseefahrer. Es war ganz ohne Zweifel die Selbstbezeichnung der Seeherren, wie es scheint immer im Plural, nie als Name eines Staates gebraucht, ein gewaltiger Name, der weithin an allen Küsten eine Macht war und dessen Ruhm noch spät in geographischen und mythischen Bezeichnungen nachhallte, als die Kafti längst verschwunden waren: als Japetos, Japhet, Kaftor und in anderen Formen, von denen später die Rede sein soll.

Es war die Zeit, wo in Ägypten die Hyksos gestürzt wurden, wie Ed. Meyer meint Geschichte des Altertums II 1 S. 54 f. mit Unterstützung der Kafti, natürlich durch Geld, Schiffe, Söldner, und wo der Staat von Hattusas zu einer Großmacht aufstieg. Damals erfolgte auf der Insel eine politische Umwälzung, die Epoche machte und zwei Zeitalter scheidet. »Um 1600«, nach dem Schema von Evans zwischen MM II und III. Der Stil des Lebens und damit der Geschmack des höheren Kunstgewerbes – eine große Kunst hat es hier nie gegeben – ändert sich bis in die Tiefe. Die dekorative Wandmalerei entsteht erst jetzt in den neugebauten »Palästen«, und ihr Realismus macht in den Werkstätten der Kunsttöpfer und Metallarbeiter Schule. Und gleichzeitig beginnt der große Export dieser Kaftiware und die Wanderung kretischer Kunsthandwerker nach Osten und Westen, nach Ägypten und den Küsten des Ägäischen Meeres. Und erst jetzt setzt der eigentliche Welthandel großen Stilsein, wie die massenhaften Funde ringsum beweisen. Zwischen den Kafti und dem ägyptischen Hofe haben vom Anfang dieses Zeitalters an diplomatische Beziehungen bestanden.

Eine Umwälzung hat also stattgefunden. Aber der Ausdruck »Bevölkerungswechsel«, hinter dem die Sammler und Ordner von Bodenfunden gern ihren Mangel an geschichtlicher Anschauung verbergen, ist sinnlos. Selbstverständlich bleiben bei einer politischen Katastrophe die Hirten und Bauern großenteils in ihren Hütten – ob als Freie oder Sklaven, das ist in diesem Klima und diesem Jahrtausend wirklich nur ein formalrechtlicher, aber kein praktischer Unterschied und keiner in der Lebensanschauung. Selbstverständlich erobert niemand ein Land, um Ziegen zu hüten. Und ebensowenig will er seine Töpfe und Äxte selbst machen. Deshalb bringt er die Handwerker nicht um, sondern läßt sie für sich arbeiten. Und ebenso bleiben die Fischer und Matrosen, die Maurer, die Söldner, oft auch die kleinen Priester und Schreiber, wo sie waren. Die Herren haben gewechselt, nicht »das Volk«, und sie brachten ihre Sprache mit, welche die andern nicht verstanden und vielleicht nicht verstehen sollten. Die Herrensprache ist infolgedessen in einer Reihe ähnlicher Fälle nach ein paar Generationen verschwunden; man denke an die Philister, Goten und Normannen. Das gilt auch von den »Etruskern«, wie ich später zeigen werde. Sie waren oder wurden Großkaufleute – nicht Wanderkrämer –, Truppen führer, Schiffs herren, Oberpriester, Baumeister, Werkstätten besitzer. Der vornehme Geschmack änderte sich, die Technik blieb. Auch die Schrift kann in solchen Fällen bleiben, aber sie dient der neuen Herrensprache, wie später die kyprische Silbenschrift dem Griechischen. Wenn also jetzt gleichzeitig die Namen Kafti und Alaschia auftauchen, so bezeichnen sie eine neue Herrenschicht, die den Fernhandel im östlichen Mittelmeer zum erstenmal organisiert und in Händen hat.

Es ist mehrfach getadelt worden, Zuletzt von Ed. Meyer, Geschichte des Altertums II 2 S. 165, 169; auch von Frankfort im Reall. d. Vorgesch. XIV S. 43. daß die mechanische Einteilung der Entwicklung Kretas durch Evans in 3 x 3 Abschnitte – Früh-, Mittel- und Spätminoisch je I – III – vielleicht für die Ordnung der Funde zweckmäßig ist, Obwohl auch das bestritten wird und Evans selbst in der Zuteilung seiner Funde schwankt: Frankfort ebenda S. 45. aber dem Wesen wirklicher Geschichte widerspricht, die in Krisen und Epochen politischer Art fortschreitet und sich nicht in ein solches Zahlenschema pressen läßt. Die sogenannte Kamareszeit, MM II, nach Evans der 12. ägyptischen Dynastie gleichzeitig, nach Frankfort noch etwas früher beginnend, nach Ed. Meyer erst der Hyksoszeit entsprechend, also jedenfalls im ersten Drittel des 2. Jahrtausends und etwa 2-300 Jahre umfassend. zu deren Beginn auf dem Hügel von Knossos an die Stelle einer mauerumgebenen Häusergruppe Evans, Palace of Minos I 126 ff. eine einheitliche Bauanlage tritt, ist ein in sich geschlossenes Zeitalter, das durch große Ereignisse, von denen wir bisher noch nichts wissen, begründet und beendet wird. Diese politischen Krisen können wenige Monate oder viele Jahrzehnte umfaßt haben, je nachdem sie von einem fremden Eroberer oder einem Empörer etwa unter den eigenen Söldnern und Seeleuten, von einer Seeräuberflotte oder einer größeren Völkerbewegung ausgingen. Die »gleichzeitige« Zerstörung der Bauten von Knossos und Phaistos »um 1600« und später um 1400 kann jedesmal um viele Jahre auseinanderliegen.

Jedenfalls aber bezeugt die Kamareszeit durch die gesamte Physiognomie ihrer Werke den Aufschwung einer herrschenden Schicht bis zur vollen Reife ihres Lebensgefühles. Sie ist dann plötzlich oder in kurzer Zeit untergraben, verarmt, gestürzt, aber vielleicht nicht einmal vernichtet oder vertrieben worden. An ihre Stelle tritt nun eine neue Aristokratie von anderer Herkunft und anderer Weltanschauung. Mit ihr beginnt die Seeherrschaft großen Stils, deren Erinnerung sich in Namen und Sagen später Völker weithin erhalten hat. Diese Zeit möchte ich nach dem führenden Namen Kaftizeit nennen. Es ist MM III, SM I und II, also vom 17. Jahrhundert bis etwa 1400 reichend. Auch sie ist durch eine geschichtliche Katastrophe furchtbarster Art beendet worden, und zwar mit der endgültigen Zerstörung der gesamten Zivilisation der Insel, so gut wie aller Orte und Bauten, und wahrscheinlich mit der Ausrottung eines großen Teils der städtischen Bevölkerung. Seitdem liegt für viele Generationen der politische und wirtschaftliche Schwerpunkt des nordöstlichen Mittelmeeres überhaupt nicht mehr auf der Insel, welche jetzt oder wenig später den Namen Kreta erhält, Darüber später. sondern im östlichen Peloponnes, dem damaligen »Achäerland«.

Um für die folgende Betrachtung Verständnis zu finden, muß ich nun zunächst die Probleme der frühgeschichtlichen Schifffahrt und des Seehandels überhaupt betrachten.

3

Das ausgezeichnete Buch von Köster: »Das antike Seewesen« (1923), das erste, in dem ein Seemann statt des Philologen über die Schiffahrt im Mittelmeer redet, besitzt nur einen, aber einen grundlegenden Fehler: es geht von der ägyptischen Seefahrt aus, obwohl gerade diese ihrem Wesen nach nur eine bis Byblos verlängerte Nilfahrt darstellt, mit Schiffen, die dem Typus nach verbesserte Flußfahrzeuge sind. Am Seeverkehr nach Kreta und den Küsten der großen westlichen Schranke Tunis-Sizilien-Unteritalien und darüber hinaus waren Ägypter offenbar nicht beteiligt. Deshalb das Schweigen der Inschriften darüber, was nicht gegen sein Vorhandensein spricht, sondern nur beweist, daß er in anderen Händen lag. Der ägyptische Seeverkehr ist eine Sondererscheinung dieser Kultur. Die Hochseeschiffahrt ist viel älter und sie ist anderswo entstanden. Ihr Ursprung liegt im 5. und 4. Jahrtausend an der Atlantischen Küste von Irland bis Südspanien und Marokko und vielleicht bis zu den Kanarischen Inseln. Über die wir heute noch so gut wie nichts wissen. Es ist das von den Prähistorikern am wenigsten erforschte Gebiet der ganzen Welt. Über ihre Art wissen wir nichts, aber ihr Dasein wird durch die steinzeitlichen Funde bewiesen, die enge Beziehungen zwischen Portugal, Nordwestspanien, der Bretagne, Irland und England verraten. Spengler, Der Mensch und die Technik, S. 46 f. Demgegenüber ist die Seefahrt im westlichen Mittelmeer etwas jünger, und weiter östlich ist sie »sehr jung«, nämlich älter als das dritte Jahrtausend.

Die Idee der Seefahrt liegt, um es anschaulich auszudrücken, im Übergang vom Kahn (Floß, Einbaum, Boot) zum » Schiff«. Mit einem Kahn, der von wenigen Leuten besetzt ist, bewegt man sich auf Flüssen oder in Buchten, bei stillem Wetter, vor allem des Fischfangs wegen. Das Schiff hat eine Mannschaft und soll Sturm und hohen Seegang überstehen. Ein Kahn setzt über, ein Schiff fährt Tage und Nächte lang. Es ist aus jenem entstanden, aber die Idee des Fahrens ist anders. Nicht ein Fortbewegen längs des Ufers, sondern die Befreiung vom Lande und seinem Schutz – wenn man es anfangs auch in Sehweite behält und jederzeit wieder erreichen kann – bildet den seelischen Sinn des neuen Unternehmens, mit dem der Mensch zum ersten Male sich von der Mutter Erde löst und zum Element des Meeres in ein lebendiges Verhältnis tritt.

In diesem Jahrtausend hat die frühgeschichtliche Westkultur drei Dinge als Ausdruck ihres Lebensgefühls geschaffen, die sich seitdem – als praktisch-technische Erfahrung – über den ganzen Erdball verbreitet haben: den Steinbau, schwer, dauernd, mühevoll, als Überwindung der Ferne der Zeit und damit als Symbol der Überwindung des Sterbens durch das Leben im Totenreich; den Bogen als früheste Fernwaffe, die den Gegner durch Überwindung des Raumes angreift und ihn sich damit vom Leibe hält; endlich das Seeschiff, das den Horizont überwindet und die Ferne erreicht, die dem Leben Beute und schönere Bedingungen verspricht. Gerade der Bau eines seetüchtigen Schiffes ist ein technisches Unternehmen von solcher geistigen Energie und Schöpferkraft, daß auf der ganzen Erde damals nichts Gleichartiges entstanden ist. Der Mensch und die Technik S. 46 f.

Alle drei sind letzten Endes, so paradox es klingt, aus dem Willen zum Behagen und der Angst vor dessen Störung geboren. Die Ferne wird erlebt, aber nur als Vorteil oder Hindernis, praktisch, nicht ethisch. Es fehlt die nordische Sehnsucht nach den Fernen von Zeit und Raum, die die Welt als zweites Ich, als zugehörige Weltseele erleben läßt, »pantheistisch«, als Unendlichkeit, in der man aufgehen will. Der Mensch des alten Westens entwickelt einen Bienenfleiß, verbunden mit Genügsamkeit, um nachher ruhen und die Ruhe des Lebens genießen zu können. Nicht die Idee der Tat, die siegreiche Überwindung von Gefahren, nicht der Stolz auf die vollbrachte Leistung, nicht der nachdauernde Ruhm ist es, was ihn treibt. Ihm fehlt das »exegi monumentum aere perennius«. Der Pharao der 4. Dynastie ist nicht stolz auf den Riesenbau seiner Pyramide, sondern froh, daß er sein Leben im Jenseits so gut gesichert hat.

Trotz der Hochseefahrt, die angesichts der Gebrechlichkeit der frühen Mittel eine gewaltige Leistung war und Todesmut voraussetzt, fehlt der Ehrgeiz des Entdeckers, das Triumphgefühl, der erste gewesen zu sein, der Wille, das Geheimnis der Ferne zu entschleiern. Alles ist praktisch und nüchtern; es haftet am Boden. Es will sich nicht mit Riesenflügeln über die Bestimmung der Erdgeborenen hinaus zu den höchsten Gipfeln des Denkens erheben. Die Hybris, das Siegergefühl der ganzen Welt gegenüber, der Kampf mit dem Schicksal aus Trotz, aus ungeheurem Selbstbewußtsein, ist unbekannt. Es gibt nichts dergleichen in der ägyptischen Religion und Sage, und die katholische hat es als Sünde verdammt.

Sie erfanden den Bogen, aber sie wurden keine Krieger mit dem Bewußtsein, daß persönliche Tapferkeit die erste aller Tugenden sei. Er ist eine hinterlistige Waffe, die aus dem Versteck wirkt. Sie erspart es, dem Gegner ins Auge zu sehen. Später in Asien wurde das anders, aber das älteste Bild des Kampfes, das wir überhaupt besitzen, ist eine spanische Höhlenzeichnung, auf welcher Bogenschützen, jeder hinter einem Baum, einander belauern. Erst die antiken Völker haben Ares und Mars, und die nordischen den heiligen Georg und Michael vorübergehend hierher gebracht. Und deshalb fehlt dem Baugedanken die Tendenz der Vertikale: Kuppelgräber, die in die Erde sinken, Säulenhallen, die auf ihr lasten, kein aufragendes Dach, kein leicht in den Himmel steigender Turm. Auch die Pyramiden sind nur als Masse, nicht als Erhebung so gewaltig. Ihre Höhe ist gleichsam zufällig, nicht betont.

Trotzdem ist aus der Tatsache des Seefahrens wie überall eine neue Art des Menschenlebens entstanden, ein stolzeres, herrenhafteres Seelentum, neue »Rassen« von innen heraus, die zuletzt als Seefahrervölker sich vom erdgebundenen, der Erde durch schwere Arbeit dienenden Bauerntum durch Verachtung lösen, wie sich auf der andern Seite die viehhaltenden Nomadenstämme, freie Beduinen der Steppe und Wüste, seelisch darüber erhoben haben. Die Nomaden der Ebene und des Meeres sind seelenverwandt.

Der Sinn dieser Seefahrt war damals der gleiche, der er immer geblieben ist: das selbstherrliche Umherschweifen, das Wandern auf den »feuchten Pfaden des ruhelosen Meeres« nach einem schöneren und reicheren Leben ohne sklavische Arbeit, die Wahl der Heimat, die für den Bauern die wahllos ererbte Scholle bleibt und die hier durch die freie Bewegung und den freien, größeren Horizont des Lebens erst gesucht und gefunden wird, bis zuletzt das Schiff, das Meer selbst zur Heimat wird. Hier meldet sich aus Urzuständen der menschlichen Seele die Tatsache, daß der Mensch von Natur ein schweifendes Raubtier war, ehe er sich in seiner eigenen Kultur verfing, wo jede neue Ausdrucksform des Lebens eine neue Fessel wurde. Die Weltgeschichte ist von beweglichen Stämmen, nicht vom seßhaften Bauerntum, sondern gegen dieses gemacht worden. Die freie Ebene und das freie Meer haben die Schöpfer der Völker und Staaten und die großen Täter hervorgebracht. Das Bauerntum erleidet Geschichte, die darüber hinweggeht, der Reiter und der Seefahrer machen sie und verzehren sich an ihr. Die Tragödie der menschlichen Geschichte wird von den Geschöpfen des freien Raumes gespielt, die sich der Sklaverei der fruchtbaren Erde entzogen haben. Die politische Landkarte zeigt das Ergebnis. Der seelenhafte Drang nach Unabhängigkeit durch Überwindung ist in das reinmenschliche Bewußtsein getreten und hat zum Gedanken des politischen Handelns geführt.

Der unmittelbare Zweck des Seefahrens war das Beutemachen, durch Raub oder listigen Tausch, was oft genug kein Unterschied ist. Die ältesten Seehändler waren »Hausierer« längs der Küsten, wie der Überlandhandel von dem Händler ausging, der mit seinem Saumtier oder Karren von Stamm zu Stamm, von Markt zu Markt zog und jede Gelegenheit wahrnahm, auch einmal die zu Raub oder Überfall. Seehandel und Seeraub sind überhaupt nicht streng zu scheiden, wie es noch im 19. Jahrhundert die englischen Kaperfahrzeuge und Sklavenschiffe beweisen, und die Kolonialpolitik mit dem unter ihrem Schutz ausgeübten Handel überhaupt. Welche Seite jedesmal überwiegt, hängt ausschließlich von den Möglichkeiten ab, welche die politische Organisation der Bevölkerung dem fremden Seemann freiläßt. Den Schwächeren überwältigt man; mit dem Starken muß man verhandeln. Man denke an die Antwort, die der gefangene Seeräuber Alexander dem Großen gab: Weil ich nur ein Schiff habe, bin ich ein Räuber; hätte ich eine Flotte, so würde ich ein Eroberer sein. Wir nennen die Etrusker Seeräuber und die Phöniker Seehändler, aber mit welchem Recht machen wir den Unterschied? Waren die Spanier in Mexiko und Peru, die Engländer in Indien Räuber, Eroberer oder Kaufleute? Bekanntlich hat nicht der englische Staat, sondern die Ostindische Kompanie Indien erobert. Und man weiß, daß hinter dem Entschluß zur Eröffnung des ersten Punischen Krieges die Händlerkreise von Rom gestanden haben. Der friedliche Handel ist ein Krieg mit den Mitteln geistiger Überlegenheit, und deshalb von bloßen Muskelmenschen immer gehaßt und verachtet worden, aber im Grunde nur deshalb, weil der Dummkopf seine Fäuste allein als Waffe hat und ihre Kraft allein wertet.

Was wollten aber diese Seefahrer damals erwerben, wenn sie an fremden Küsten streiften oder auf einem vereinbarten Markt mit den Leuten des Stammes zusammentrafen? Von einer neuen Heimat abgesehen zunächst Nahrung für sich, um dies Leben fortzusetzen. Der Viehraub hat stets eine wichtige Rolle gespielt. Dann aber Werkstoffe, die es nicht überall gab und die man mit Vorteil in der Ferne absetzen konnte. Lange vor der Verwendung von Metallen sind der Liparit von den Inseln nördlich Siziliens, der Obsidian von Melos, der Feuerstein von den Küsten des hohen Nordens weithin verschifft worden.

Aber ebenso wichtig war schon in dieser Zeit, was bisher nie richtig gewürdigt worden ist, der Sklavenhandel und Menschenraub. Man unterschätzt bei weitem den damaligen Verbrauch an Menschen in Steinbrüchen und Bergwerken, bei großen Bauten und vor allem durch die Schiffahrt selbst. Die frühe Seefahrt hat viel Blut gekostet. Diese kleinen Fahrzeuge waren vollgestopft mit Menschen, wie es die Ruderarbeit verlangte. Noch die attischen Trieren hatten bei 30 m Länge allein je 170 Ruderer an Bord, von der übrigen Mannschaft abgesehen. Wenn man nicht rechtzeitig landen konnte, gingen Trinkwasser und Proviant aus und die Ruderknechte, ohnehin schlecht verpflegt und überanstrengt, gingen in Masse zugrunde. Sie ertranken bei hohem Seegang, starben bei starker Hitze und Kälte und brachen vor Erschöpfung zusammen. Man kann sich die Gefahren und Verluste frühgeschichtlicher Flotten auf hoher See nicht groß genug denken. Was an Ruderknechten bei den großen Seeschlachten und in Stürmen etwa während des ersten und zweiten Punischen Krieges umkam, ging weit über die Masse der Gefallenen von Cannä hinaus, aber es wurde nicht gezählt, weil das nicht Stammesangehörige und Staatsbürger, sondern Parias waren, erbeutete Sklaven, Kriegsgefangene, gepreßte Matrosen aus der Hefe der Hafenorte. Die Stämme, zu denen die Schiffe der Seehändler kamen, waren entweder selbst Ziel dieses Raubens oder sie verkauften ihre eigenen Kriegsgefangenen, zogen selbst auf Menschenjagd gegen die Nachbarstämme oder lieferten die Minderwertigen und Machtlosen ihres eigenen Stammes aus.

4

Es gab damals schon wirkliche Seefahrer- und Händlergemeinschaften, Schwärme ohne festere Form, die sich durch eine unbewußte Gleichartigkeit des Lebens von der übrigen Bevölkerung langsam absonderten. Ganz ebenso sind aus Fischer-, Töpfer- und Bergbaudörfern, dem Handwerk der Wanderschmiede und der Händlerschaft an den Halteplätzen der großen Landwege sehr oft echte »Stämme« erwachsen, und auf Grund ihrer beruflichen Sondermundarten zuletzt auch neue Sprachen. Entscheidend dafür ist das Gefühl der Zusammengehörigkeit anders Lebenden gegenüber, worin stets die Möglichkeit zur Bildung einer wirklichen Volks seele liegt. Untergang des Abendlandes (Ausgaben seit 1924) II S. 189 ff. Solche »Seestämme« werden um so ausgeprägter sein, wenn sie auf Inseln oder schwer zugänglichen Vorgebirgen hausen oder wenn sie nicht neben, sondern über einer gleichgearteten Bevölkerung von gleicher oder anderer Sprache mächtiger, kühner, reicher, zuletzt befehlend leben.

Wenn man sich aber ein Bild von solchen geschichtlichen, vor allem frühgeschichtlichen Vorgängen machen will, muß man zuerst eine anschauliche Vorstellung von der Zahl der beteiligten Menschen haben. Wir stehen alle, sobald die Worte Volk, Stadt und Staat fallen, unwillkürlich unter dem Eindruck der ungeheuerlichen Bevölkerungsziffern der heutigen abendländischen Zivilisation. Wir denken in Millionen. Aber diese Zahlen sind, in wesenhafter Verbindung mit dem Umfang der Maschinenindustrie, nur der Gegenwart eigen und ein Ausdruck ihres faustischen Willens zur Macht. Alle farbigen Länder, welche freiwillig oder nicht ihr unterlegen sind, zeigen dieselbe Erscheinung. Japan hatte im 18. Jahrhundert eine an- und abschwellende, aber im ganzen gleichbleibende Bevölkerung. Sie kann nicht einmal ein Zehntel der heutigen betragen haben. England mit Wales hatte 1800 8½ Millionen, 1900 40 Millionen Einwohner. Erst mit der Meiji-Epoche von 1868 beginnt der steile Anstieg. Seit Beloch Die Bevölkerung der griechisch-römischen Welt (1886). und Delbrück Geschichte der Kriegskunst (1900). die fantastischen Angaben der Antike auf ein wirkliches, dem antiken Leben entsprechendes Maß zurückgeführt haben, sind wir auf den Wert solcher Ziffern für das Bild geschichtlicher Ereignisse aufmerksam geworden. Trotzdem mißbrauchen wir immer noch das Wort Volk, sobald ein Stamm von ein paar tausend Köpfen gemeint ist, wie die Pisider oder Paeligner oder nur eine neue Mundart wie das Luvische; und ebenso das Wort Stadt für eine Handvoll Hütten und Schuppen an einem Talweg oder Landeplatz, statt Marktflecken, Wohnplatz, Fluchtburg zu sagen, sobald der Name einer unbedeutenden Siedlung genannt wird – wie bei den Vororten der altägyptischen Gaue, den 90 πόλεις auf Kreta, von denen Homer spricht, oder den zahllosen Ortsnamen der Boghazköitexte –, und dann steigt unvermeidlich vor unseren Augen das Bild einer gedrängten Häusermasse mit Tausenden von Bewohnern auf. Aber wirkliche Städte gibt es nur im Bereich der Hochkulturen und auch da nicht von Anfang an. Untergang des Abendlandes II S. 106 ff. Ur, Larsa, Uruk, Assur waren um 3000 noch keine »Städte«, sondern Tempelanlagen als Mittelpunkte von Stämmen, von losen Hüttensiedlungen umgeben.

Es genügt nicht, die Größenordnung solcher Zahlen mit einiger Wahrscheinlichkeit festzustellen. Wir müssen sie uns anschaulich machen, um geschichtliche Vorgänge zu begreifen. Der Zug des Xerxes sieht ganz anders aus, wenn man statt der Ziffer Herodots (2 100 000 Mann) die von Delbrück (20 000) nimmt. Um so notwendiger ist das für die Frühgeschichte des Menschen vor und neben den Hochkulturen. Da werden klare Tatsachen notwendig mißverstanden, wenn sie nicht im Bilde ihrer Zeit gesehen, sondern mit Begriffen vom Größengehalt der Gegenwart wie Volk, Heer, Staat beschrieben werden. Die dorische Wanderung wird erst dann ein Stück Wirklichkeit vor unseren Augen, wenn man sich überlegt, daß diese nordischen Stämme und Trupps höchstens ein paar tausend Krieger, meist nur ein paar hundert und oft ohne Weiber und Kinder umfaßt haben können. Die Ostgoten unter Theoderich und die Vandalen Geiserichs waren, wie Delbrück bewiesen hat, etwa 10 000 Mann stark. Aber das wirft ein Licht auf die Einwohnerzahlen des damaligen Italien, Spanien und Nordafrika. Die vorbrechenden Kriegerscharen 2000 Jahre früher müssen sehr viel kleiner gewesen sein. Im ganzen heutigen Griechenland können damals noch nicht 200 000 Menschen gelebt haben.

Zu Beginn der »Steinzeit« war die Gattung Mensch eine sehr seltene Erscheinung. Sie lebte in winzigen Schwärmen hier und da, die sich unter zahllosen Tierherden verloren und die es auf weiten Gebieten der Erdrinde überhaupt nicht gab. Eine zusammenhängende »Menschheit« – so daß jeder Trupp das Vorhandensein anderer ahnte oder kämpfend gezwungen war, von ihnen Kenntnis zu nehmen – hat es vor dem 5. Jahrtausend noch kaum gegeben. Erst hier, wo technische Unternehmen zu mehreren wie Grabbau, Schiffbau, Bergbau und damit die Verständigung in Worten, das rein menschliche fließende Sprechen beginnen, Der Mensch und die Technik S. 37 ff. nimmt die Zahl menschlicher Wesen zu. Diese Vermehrung, die von Jahrtausend zu Jahrtausend langsam fortschreitet, ist ein Ausdruck von Kultur. Es mögen um 4000 1-2 Millionen, um 2000 außerhalb Ägyptens und Babyloniens kaum 10, zur Zeit der germanischen Völkerwanderung trotz des chinesischen, indischen und römischen Imperiums mit ihren Großstädten vielleicht noch nicht 100 Millionen gewesen sein. Noch im 16. Jahrhundert hatte ganz Westeuropa bei weitem nicht 30 Millionen Bewohner. Wenn wir heute zögern, eine Einheit von 100 000 Menschen ein Volk statt einen Stamm zu nennen, so war das unter Galliern und Germanen zur Zeit Cäsars schon eine gewaltige, sehr selten erreichte Zahl und um 2000 v. Chr. etwa in Spanien ganz unmöglich.

Der Ausdruck »dicht bevölkert« kann, wenn er nicht zur sinnlosen Phrase werden soll, nur im Verhältnis zu Zeitalter und Landschaft verwendet werden. Südeuropa war im 2. Jahrtausend noch ein Gebiet voll ungeheurer Wälder. Nur an Flüssen und Buchten gab es größere Lichtungen, Wiesenstrecken, wo sich Hüttendörfer aufreihten. Die Poebene war, wie die Siedlungskarte Bei v. Duhn, Italische Gräberkunde I. zeigt, ein unbewohnbarer Urwaldsumpf. Auf Kreta, Sizilien, Sardinien sind im Innern weite Gebiete menschenleer gewesen. »Übervölkert« konnte ein Tal oder eine Insel sein, wenn dort nicht der hundertste Teil der heutigen Menschenzahl lebte. Es kam darauf an, ob das Gefühl der Enge erwachte, und das wird bekanntlich durch das nachbarliche Gefühl der Abneigung verstärkt. Jeder Bauernhof lehrt das, auf dem Vater und Sohn oder zwei Brüder nebeneinander hausen. In diesem Sinne wird Jütland »übervölkert« gewesen sein, als die Kimbern abzogen.

Eine Siedlung im Innern Spaniens und Italiens war im 2. Jahrtausend schon recht groß, wenn sie 50 Hütten, also 2-300 Menschen zählte, und ein Stamm, wenn er ein Dutzend solcher Dörfer umfaßte. Wurde er größer, so mußte er zerfallen, weil das Gefühl des Zusammengehörens in damaligen Seelenzuständen bei größerer Entfernung erlosch. Wenn man sich nicht täglich sah, war man sich eben »fremd«. Nur in Augenblicken höchster Gefahr konnte es zu flüchtigen Volksgebilden größeren Umfangs kommen. Wenn heutige Gelehrte »die« Iberer oder »die« Ligurer ein Volk nennen, so ist das Unsinn. Es waren geographische, nicht seelische Einheiten von Einzelstämmen. Wir bilden uns ein, die sprachliche Einheit »der« Illyrier bewiesen zu haben, vor allem, weil wir von den Sprachen dieses Gebietes nichts wissen, und nennen sie deshalb ein Volk; aber ein Volk besteht nicht auf Grund moderner wissenschaftlicher Feststellungen, sondern lediglich im erlebten Zusammenhang der damaligen Menschen selbst. Es ist nicht wahr, daß »die Griechen« im 2. Jahrtausend eingewandert sind. Ein »griechisches Volk« hat es überhaupt nicht gegeben, sondern nur ein schattenhaftes Gemeinschaftsbewußtsein unter den Gebildeten und Vornehmen der griechisch sprechenden Miniaturvölker, und das erst seit dem 8. Jahrhundert. Die echten Volksnamen der Athener, Korinther, Spartaner bezeichnen die Grenze des völkischen Gemeinschaftsgefühls, die eng war und eng geblieben ist. Hellene – gegenüber Barbaren – ist ein Kulturbegriff, kein Volksname.

Und wie mit den Völkern, so steht es mit den »Städten«. Ägypten und Babylonien hatten um 3000 jedes sicherlich noch keine Million Einwohner. Erst seit der 4. Dynastie dort und der akkadischen hier gibt es einige Siedlungen, auf die man den Begriff Stadt zögernd anwenden darf. Die meisten waren Kultbauten mit Herrenhäusern und Hörigenhütten rings herum und noch lange nicht so volkreich wie Mainz, Mailand, London, Orleans im 13. Jahrhundert, die sämtlich viel weniger als 10 000 Einwohner hatten. Außerhalb des Wirkungsfeldes dieser beiden Hochkulturen hat es im ganzen Raum des Mittelmeeres um 2000 keine »Stadt« gegeben. Es gab Landeplätze, wo im Sommer mit dem Beginn der Seefahrt vielbesuchte Märkte entstanden, aber die Hütten, Buden und Schuppen standen während des übrigen Jahres größtenteils leer. So sahen vielfach noch die griechischen »Kolonien« des 8. Jahrhunderts aus, ebenso viele Plätze der Wikinger und Hanseaten, und nur etwas Derartiges kann es an der Küste bei Knossos und Phaistos gegeben haben. Ebenso gab es große Märkte, Treffpunkte der Wanderhändler, überall dort, wo die binnenländischen Verkehrswege sich kreuzten. Es gab Fluchtburgen und Herrschersitze, aber nichts, was ein städtisches Leben in sich schloß. Zu den Schachtgräbern von Mykene muß ein Ringwall auf der Höhe gehört haben, wo der Stamm, dessen Namen wir nicht kennen, seine Weiber, Kinder und Habe unterbrachte. Zu den späteren Kuppelgräbern gehörten die bekannten Herrenburgen und dorfartige Siedlungen in der Ebene. Troja II und Troja VI waren Seeräubernester, welche die Dardanellen beherrschten, wie die Jomsburg der Wikingerzeit die Odermündung. Schon der geringe Mauerumfang hätte die Bezeichnung Stadt fernhalten sollen. Die Menschenzahl im Imperium Romanum betrug nach E. Stein Geschichte des spätrömischen Reiches I (1928) S. 3. zur Zeit des Augustus gegen 70, unter Konstantin höchstens noch 50 Millionen, von denen der weitaus größte Teil in Ägypten und den asiatischen Provinzen lebte. Die erste Zahl wurde von Beloch auf 54 Millionen veranschlagt. Auch das scheint mir noch zu hoch, aber es war immerhin der Gipfel der antiken Zivilisation, wo die städtische Bevölkerung ein Maximum erreicht hatte. 1000 oder 2000 Jahre früher kann die Bevölkerung dieser Gebiete nur einen sehr kleinen Bruchteil davon betragen haben. Ich glaube nicht, daß Spanien, Gallien, Italien und Nordafrika zusammen um 2000 auch nur eine Million Bewohner zählten. Das Hethiterreich kann zur Zeit seiner Blüte im 14. Jahrhundert nicht viel mehr als 500 000 Menschen umfaßt haben, was auch durch die Stärke der »Heere« bewiesen wird. Die Hauptstadt, besser Hauptfestung, hatte, wie die Ruinen lehren, bei weitem nicht 10 000 Einwohner. Und damit komme ich auf Kreta zurück. Wenn die Kaftiinsel um 1500 auch nur 100 000 Menschen zählte, Heute etwa 250 000, zur Zeit der Venetianer kaum ein Fünftel davon. so war sie im Vergleich zu den übrigen Inseln und Küsten des Mittelmeeres, auch im Verhältnis zu Kypros, Sizilien, Sardinien dicht bevölkert. Die Waldgebirge waren so gut wie menschenleer, und längs der Küste muß es eine ganze Anzahl kleiner Stämme verschiedener Sprache gegeben haben, die vielleicht nicht alle den Kafti gehorchten. Bei den großen Bauten von Knossos und Phaistos hat keine Stadt gelegen, sondern eine Anzahl vornehmer Landsitze und zerstreute Dörfer von Bauern und Handwerkern. An der Küste müssen sich die flüchtigen Unterkünfte für ein paar tausend Ruderknechte und Arbeiter befunden haben. Aber all das zusammen war damals eine Macht.

In welchen Formen vollzog sich denn zur Zeit von »Tartessos und Alaschia« der Seeverkehr? Was konnten um 1500 die Worte Seemacht, Seeherrschaft, Erfolg und Reichtum der Seeherren bedeuten? Um was für Waren und welche Mengen davon handelte es sich? Sicher ist, daß Erze, Rohmetalle und Metallgegenstände eine wichtige Rolle spielten. Aber wenn man ein Bild der Zeit gewinnen will, muß man genauer zusehen. Hier, wo von Zahlen die Rede ist, genügt es nicht festzustellen, welche Länder nach unsern Begriffen »reich« an Kupfer und Zinn sind, und daß Bronze damals im »allgemeinen Gebrauch« war. Auch da verdirbt die Vorstellung von den heute notwendigen Metallmassen das Bild frühgeschichtlicher Tatsachen. In der »Bronzezeit« war die Verwendung von Bronze durchaus nicht selbstverständlich.

Die abendländische Zivilisation unserer Tage mit ihrem gigantischen Verbrauch von Eisen und Kupfer steht natürlich außerhalb jeden Vergleichs. Was sich zur Zeit Karls V. in ganz Westeuropa in Gebrauch befand, würde heute nicht einmal den Bedarf von Köln oder Ostpreußen decken. Jede großstädtische Zivilisation besitzt einen Bestand von verarbeitetem Metall, der einige Jahrhunderte früher überflüssiger Plunder gewesen wäre. Zur Zeit des Augustus waren Metallgefäße in den Händen von Bevölkerungsschichten, die zur Zeit der Perserkriege noch nichts von solchen Möglichkeiten ahnten. Aber die einzelnen Zivilisationen sind sich darin nicht gleich. Im Neuen Reich Ägyptens und im Babylonien der Kassitenzeit – deren Gebiet je 2-3 Millionen Einwohner gezählt haben mag – hatten nur die Reichen und die Handwerker einige Waffen und Werkzeuge aus Bronze. Die Masse der Bevölkerung besaß Geräte aus Holz und Stein. Die »Steinzeit« hat nie aufgehört. Noch die Truppen Ramses II. waren zum großen Teil mit Steinkeulen und Knütteln ausgerüstet. Eine Tonne Kupfer, heute so gut wie nichts, konnte damals den Jahresbedarf der ganzen Welt decken. Wenn ein Häuptling in Spanien einen Dolch oder ein Schwert aus Kupfer besaß, so sprach man sicherlich zehn Dörfer weit davon.

Es ist ein grundlegender Irrtum, wenn man glaubt, das Kupfer sei den alterprobten Stein-, Knochen- und Holzarten so überlegen gewesen, daß ein allgemeiner Metallhunger der Erfindung des Schmelzens und Schmiedens folgte. Im Gegenteil: es war weniger brauchbar. Neuere Versuche haben z. B. gelehrt, daß Pfeilspitzen aus Obsidian und Feuerstein solchen aus Bronze überlegen sind. Die Möglichkeiten praktischer Verwendung haben sich erst langsam gefunden und gesteigert, vor allem seit der Entdeckung härterer Mischungen. Auf Kypros wurde im 3. und 2. Jahrtausend nur Kupfer, nie Bronze verwendet (Reall. d. Vorgesch. XIV S. 49). Die älteren Stoffe wurden nicht aus dem Leben verdrängt und ersetzt, sondern der neue mußte für sich daneben neue Arten des Gebrauchs ausbilden. So entstanden das Schwert und der Kessel. Die kleine Technik des Haushalts hat sich überhaupt nicht verändert. Kupfer war ein Luxusstoff wie Gold und Silber, dessen Besitz Macht und Reichtum bezeugte. Darauf und nicht auf praktischen Vorzügen beruhte jahrhundertelang der Wunsch, Waffen und Gefäße aus diesem glänzenden Metall zu besitzen. Die nordischen Streitäxte von Stein waren viel wirksamer als der spanische Dolchstab, und der Bronzekessel war ursprünglich ein Kultgerät, dessen Seltenheit das Ansehen der Gottheit und ihrer Priester hob. Die Seltenheit des Kupfers hat seine Verbreitung bewirkt. Es ist sehr wohl möglich, daß die Gewinnung von verhältnismäßig reinem Kupfer an zutage liegenden Stätten zuerst in Spanien erfolgte und daß man den seltsamen Stoff lange Zeit nur zum Schmuck verwendete. Auch Dolch und Trinkschale waren zunächst Schmuck und Zeichen des vornehmen Lebens. Auf jeden Fall war Kupfer zuerst im Bereich des Mittelmeeres bekannt.

Der Reichtum an Kupfererzen im Sinne der heutigen Geologie ist dabei vollkommen gleichgültig. Es kam nicht darauf an, wieviel Erze im Boden lagen, sondern ob sie in noch so geringer Menge in leicht schmelzbaren Verbindungen zutage traten. Alle Bergwerke waren Tagebauten oder Schächte von ein paar Metern Tiefe, Noch vor 50 Jahren waren Kohlenflöze und Erzadern in einer Tiefe von 500 m nicht abbaufähig, während sie heute nicht die geringsten Schwierigkeiten machen. und selbstverständlich besaß man kein Mittel, um Mutungen anzustellen. Man war auf den Zufall angewiesen. Aber er reichte bei dem geringen Bedarf auch aus. Wie selten das Metall gewesen ist, zeigen die zahlreichen Depotfunde in allen Ländern, die großenteils unbrauchbar gewordene Stücke enthielten, welche von wandernden Händlern zusammengebracht wurden, um sie in irgendeinem entlegenen Schmiededorf einschmelzen zu lassen. Reall. d. Vorgesch. II S. 362. Es ist deshalb sinnlos, die Herkunft des Zinns bis nach Cornwall und Malakka verfolgen und die »Kassiteriden« nach unserem Wissen von reichen Zinnvorkommen identifizieren zu wollen. Das wenige Zinn, das damals gebraucht worden ist, kann aus vulkanischen Lagern stammen oder wie das meiste Gold aus dem Flußgeröll aufgelesen sein. Möglich auch, daß es irgendwo mit Kupfer gemengt an der Oberfläche lag und restlos abgebaut worden ist, so daß sich sein Vorkommen heute nicht mehr feststellen läßt. Jedenfalls waren 100 kg Zinn schon eine Menge, die den Jahresbedarf ganzer Länder deckte und die eine weite und gefährliche Seefahrt lohnte.

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Ein seetüchtiges Schiff mußte im dritten Jahrtausend wenigstens 20-30 Mann an Bord haben, um bei Wind und Wetter bewegt Ein primitives Segel, vielleicht schon im 4. Jahrtausend hier und da bekannt, kam nur bei gutem Wind und als Beihilfe in Betracht, konnte die Ruder aber nicht ersetzen. Infolgedessen waren diese frühen Seeschiffe stets mit Leuten überfüllt und konnten neben dem Proviant nur wenig und also kostbare Ladung führen. und bei einer notgedrungenen Landung verteidigt werden zu können. Außerdem mußte die Mannschaft durch ihre Zahl gelegentlich dem Wunsche nach Trinkwasser und Lebensmitteln Nachdruck verleihen. Die große Fahrt, etwa von der Bretagne nach Cornwall, von Afrika nach den Kanarischen Inseln oder von Knossos nach Byblos oder Malta war unter allen Umständen ein starkes Wagnis und setzte einen verwegenen Unternehmungsgeist ausgesprochener Herrennaturen voraus.

Vom Bau solcher Schiffe ganz abgesehen, der viel technische Intelligenz, viel Ansehen beim Stamme und erhebliches »Vermögen« erforderte, mußte der Unternehmer zugleich Kaufmann, Krieger und Schiffsführer sein, ob er nun als Pirat oder Händler auszog. Das Schiff gehörte jemand – ob einem einzelnen, etwa dem Häuptling, oder einer Gemeinschaft von Kaufleuten wie noch oft bei der Hansa –, der das volle Risiko trug. Es mußte ausgerüstet werden und eine im Verhältnis zu seinem Eigengewicht kleine, aber um so wertvollere Ladung mitnehmen, und die Verluste waren sehr bedeutend. Die Fahrzeuge wurden leck, vom Sturm zerschmettert, wehrlos an fremde Küsten geworfen, wo sie scheiterten oder erbeutet wurden. Wenn nur ein Teil von ihnen zurückkam, so war das schon ein Erfolg. Das einzelne Leben galt wenig und die Toten waren bald vergessen.

Selbstverständlich blieb man so lange als möglich in Sicht der Küste. Da es weder Karten noch Kompaß gab, so mußte notwendig jemand an Bord sein, der das Aussehen und die Entfernung der bekannten Landeplätze voneinander kannte, wo man Wasser und Proviant einnehmen und mit einiger Sicherheit Reparaturen ausführen konnte. In unbekannten Gewässern tastete man sich vorsichtig am Land entlang vorwärts. Eine Fahrt von Kreta über Apulien und Sizilien dauerte auf diese Weise wochen- und monatelang, und wenn man dann noch an der fremden Küste kreuzte, um Handel zu treiben, kam das Schiff oft erst im Sommer des folgenden Jahres zurück. Im Winter fuhr man selbst in griechischer Zeit selten und ungern. Es ist ein Unfug, wenn heute noch manche Gelehrte annehmen, die Phöniker seien »von Tyrus nach Gades« gefahren und hätten Jahrhunderte später, durch Zufall an die Südküste geworfen, Karthago gegründet, oder ein jonischer Seefahrer sei nach Westen verschlagen worden und habe so »Tartessos« in Spanien entdeckt. Man macht sich eine ganz falsche Vorstellung von der Zeit, die sich so stark besetzte Schiffe auf hoher See halten konnte.

Bei solchen Schwierigkeiten ist es selbstverständlich, daß die Schiffe in der Regel nicht einzeln, sondern in Flotten auf die Fahrt gingen. Sie haben das jahrtausendelang getan. Ein einzelnes Schiff durfte sich in manchen Gegenden gar nicht auf dem Meere zeigen. Nicht nur, daß die Gefahren von Wind und Wellen zu groß waren, um nicht gegenseitige Unterstützung zu fordern – die Wahrscheinlichkeit, fremden Schiffen zu begegnen, die einem einzelnen gegenüber sofort zum Angriff schritten, zwang dazu. Man fuhr nur in der günstigen Jahreszeit und dann gemeinsam: So waren die Unternehmungen der Königin Hatschepsut nach Punt, des Königs Salomo nach Ophir, der Wikinger nach Nordamerika und noch vor wenigen Jahrhunderten der spanischen Silberflotte, die jährlich einmal von Amerika nach Sevilla ging. Es waren Expeditionen, die genau den Karawanen durch die Wüste und den Wagenzügen auf den Landstraßen gotischer Jahrhunderte entsprachen. Auch da war ein verirrter Kamelreiter oder ein einzelner Frachtwagen oft so gut wie verloren. Überhaupt ist der Verkehr auf den »ewigen« Übersee- und Überlandwegen, der sich seit dem 5. Jahrtausend entwickelt und für alle Zukunft die großen Völkerstraßen durch Wüsten, Wälder und Meere gebahnt hat, von starker innerer Verwandtschaft: Derselbe Stolz freier und tapferer Seelen mit einem Seitenblick auf den seßhaft gewordenen Menschen herab; dasselbe kluge bewaffnete Vorwärtstasten ins Ungewisse; dieselben Lotsen, Späher und Pfadfinder, dieselbe notwendige Kenntnis der Landeplätze an der Küste, der Haltestellen in der Wüste mit ihren Brunnen und der Pässe im Waldgebirge; dieselbe Art mit den Bewohnern der Gegenden in Vertrag zu treten, Märkte zu eröffnen oder Gewalt anzuwenden, und endlich derselbe sich allmählich entwickelnde Gedanke, diese Pfade für Wanderungen ganzer Stämme einzuhalten. Das griechische πόντος, dem lateinischen pons verwandt, bedeutet also den Seeweg. Für das Meer als Tatsache, als Naturschauspiel hatte man die vorgriechischen Ausdrücke πέλαγος und θάλαττα übernommen. Für die Zehntausend Xenophons war das Schwarze Meer, das sie plötzlich im Sonnenschein liegen sahen, θάλαττα für den jonischen Schiffer, der aus dem Bosporus herauskam, war es πόντος, die Straße zu den fernen Häfen eigener Sprache und Gesittung.

Die Ausrüstung solcher Schiffskarawanen – vielleicht von 20 bis 40 Fahrzeugen – setzt eine feste Organisation von Genossenschaften schon mindestens für das dritte Jahrtausend voraus, welche den Typus des Bundes von Kalauria und des jonischen Städtebundes in der antiken Welt des 9. Jahrhunderts Busolt, Griechische Staatskunde II 1280 ff. Man darf nicht übersehen, daß damals die Bünde von Küstenstädten in Wirklichkeit solche des herrschenden Patriziats waren, der Kaufmannschaft also. Der jonische Adel stammte nicht aus der Eroberung von Land, sondern aus einträglichen Seefahrten. Odysseus war sein Held. und der hansischen und holländischen Kompagnien um ganze Zeitalter vorwegnehmen, weil es in der Natur dieser Dinge liegt. Sie standen nicht unter dem Schutze eines »Staates«, dessen entwickelte Form es um 300 noch nicht gab und geben konnte, sondern stellten selbst eine Art von Staat dar oder riefen ihn durch die Form ihres Zusammenschlusses erst langsam ins Leben. Deshalb glaube ich auch, daß der »Staat des Minos« um 1500 eine solche Genossenschaft mit einem Bundesheiligtum gewesen ist.

Durch die Überlegenheit des gemeinsamen Auftretens hielt man nach der Landung an fremden Küsten den Marktfrieden aufrecht und bestimmte oder erzwang Recht und Sitte, nach denen Kauf und Tausch vor sich gingen. »Häfen« gab es nicht. Man zog die Schiffe in Buchten und Flußmündungen oder auf kleinen Inseln an Land, befestigte im Lauf der Jahre solche Punkte nach Vertrag mit den Anwohnern und so entstand vielfach das, was die Griechen später ein Emporion nannten und was bei diesen häufig die Vorstufe einer Siedlungskolonie Apoikia (Busolt, Gr. St. II 1267 ff.). Man gab Besitzlosen aus der Unterklasse, nicht nur der Heimatstadt, Haus und Land und hatte so im Falle der Gefahr sichere Verteidiger der kaufmännischen Interessen, weil die gemeinsame Existenz auf dem Spiele stand. war: Hütten und Schuppen, von einem Wall umgeben, die anfangs nur während der Sommermonate bewohnt waren, um die sich aber manchmal eingeborene Handwerker und Händler anbauten. Ganz ebenso sind die Märkte im Binnenland entstanden, wie das »karun« assyrischer Kaufleute, das um 2000 neben Kanis (Kültepe), dem Sitz eines mächtigen Häuptlings, gegründet wurde und von dem die kappadozischen Tontafeln stammen.

In diesen Emporien herrschte natürlich die Sprache der Seefahrer und verbreitete sich von dort oft genug längs der Binnenstraßen nach entfernten Märkten. So kann, wenn schriftliche Überreste erhalten sind, die falsche Meinung entstehen, als ob das die Sprache des Volkes gewesen sei, dessen Name der des Landes war. Das gilt in weitem Umfang vom Etruskischen, aber auch vom Jonischen, das sicher nur ein kleiner Teil der Bewohner der jonischen Küste verstand. Aus solchen Verkehrssprachen stammen die Sachnamen, die mit der gehandelten Sache selbst weithin wanderten, Bezeichnungen der Metallsorten z. B., Die alte römische Bezeichnung des Kupfers, aes rude, noch im Deutschen als Rohkupfer und Rauherz erhalten, ist mit dem sumerischen urud verwandt. Das wird aus einer verschollenen Küstensprache des Mittelmeeres stammen. bestimmter Arten von Waffen, Werkzeugen und Gefäßen. Eine große Menge der »urindogermanischen« Namen für Vieh- und Pflanzenarten mögen ihre Verbreitung über viele Einzelsprachen nicht dem »Urbesitz« des »Urvolkes«, sondern dem Handel aus der Ferne verdanken. Eine ganze Anzahl von Ausdrücken für Schiffsarten und -teile, für die seemännische Technik, die Beschaffenheit von Küsten, Buchten und Inseln, für Rechtsbegriffe, Handelsgebräuche und Wertmaße werden aus der Kaftisprache, die einmal weithin den Seeverkehr beherrscht hat, in die griechischen, italischen und semitischen Mundarten gedrungen sein, ohne daß wir sie erkennen können, und vielleicht in den Volkssprachen Sardiniens, Maltas und anderswo noch heute leben. Tartessos und Alaschia werden nicht die einzigen gewesen sein. Das Wort für ein Metallgewicht von etwa 29 kg – so schwer sind die Kupferbarren mit dem Kaftistempel und das bekannte Porphyrgewicht mit dem Polypen –, τάλαντον, wird mit dem Namen des kretischen Erzriesen Talos und dem des Tantalos zusammenhängen. Was die griechische Sage von dem ersten erzählt, ist sicher törichtes Mißverstehen einer fremdsprachlichen Geschichte.

Es ist bei dieser Art des früh geschichtlichen Küstenverkehrs ganz natürlich, daß die Seefahrer die ihnen bekannten Fahrtwege, Landestellen und Tauschplätze geheimhielten und Lügen darüber verbreiteten. Wer nicht selbst dagewesen war, glaubte alles, was der Hafenklatsch über Reichtum und Gefahren fabelhafter Gegenden erzählte. Die Kaufleute der Kaftiwelt selbst erfuhren auf den fremden Märkten nichts über die Herkunft der Waren, die sie von andern Kaufleuten, aus Sardinien etwa, eintauschten, und so entstand später das Geschwätz von den Kassiteriden, den Zinninseln oder dem silbernen Berg im Lande Tarschisch. Als von der Kaftiherrlichkeit nichts übriggeblieben war als die riesige Ruine von Knossos und verworrene Sagen, bekam der Name Tartessos an den jonischen und phönikischen Küsten den Sinn eines Dorado im fernen Westen, das man überall suchte und fand.

Auf der Tatsache, daß diese von der Küste abhängige Seefahrt ihre Wege und Landeplätze verschwieg, daß sie mit den einzelnen Stämmen Verträge schloß, die fremde Kaufleute ausschalteten, beruht das, was man modern und falsch Seeherrschaft nennt. Es gab damals keine Kriegsschiffe. Die Mannschaft jedes Fahrzeugs schlug sich, wenn es nötig war. Die Seegewalt der Kafti bestand darin, daß ihre Schiffe in gewissen Gegenden ein nicht prinzipielles, aber tatsächliches Monopol besaßen, weil sie dort zahlreicher waren und sich auf die Küstenstämme verlassen konnten. Sie hüteten sich, in Gegenden zu erscheinen, wo fremde Flotten in größerer Stärke auftraten oder »Rechte« besaßen. Es war vorteilhafter, wenn man sich friedlich mit ihnen an einem Umschlagplatz traf, um zu tauschen, als wenn man versuchte, in die Welt der andern einzudringen, wo man sicher war, als Feind behandelt zu werden. Da man auf Landungen angewiesen war, so kam kein Schiff zurück. Das war keine bewußte Absperrung der Meere für fremde Fahrzeuge. Dazu reichte die Zahl und Leistungsfähigkeit der Schiffe und die hinter ihnen stehende Organisation bei weitem nicht aus. Es ergab sich von selbst aus dem Wesen der damaligen Schifffahrt und kam den Beteiligten kaum klar zum Bewußtsein. Von politischen Mächten kann keine Rede sein.

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Der bloße Besitz von Schiffen war schon »Seemacht«; und da an allen Küsten Westeuropas und Nordwestafrikas Seefahrt getrieben wurde, so gab es dort überall Seemächte, auch wenn kein Klang aus diesen Zeiten und Räumen zu uns dringt. Es ist ganz unmöglich, daß ein kleiner Stamm an dem Stück Ufer, wo er ein paar Fahrzeuge besaß und vielleicht einen guten Landeplatz beherrschte, keine »Macht« gewesen wäre – in dem Stil, der damals eben schon Macht bedeutete –, daß er also nicht in engen Grenzen ein Monopol ausübte, ein fremdes Schiff abfing oder zwang, den Frieden zu erkaufen, und nur nachgab, wenn einmal eine überlegene Flotte erschien. Die Stämme auf Malta und Pantelleria haben sicher weithin das Meer beherrscht, da man ihnen bei schlechtem Wetter auf der Fahrt zwischen Tunis und Sizilien nicht ausweichen konnte; und die Kupferinsel Sardinien muß im 3. Jahrtausend geradezu das Kreta des Westens gewesen sein, ein Zentrum des Seehandels oder Seeraubs, dessen Macht sich aus den gewaltigen Festungssystemen im Innern ablesen läßt. Es ist eine kindliche Vorstellung, daß es hier keine eigenen Schiffe gegeben habe, weil wir keine schriftliche – ägyptische oder griechische – Tradition darüber besitzen. In der Bretagne hat noch Cäsar die Veneter in einer großen Seeschlacht besiegt.

In diese Welt frühgeschichtlicher Kulturen greift nun als geschichtliches Motiv von immer steigender Bedeutung die Tatsache ein, daß sich – meiner Überzeugung nach etwa seit dem 4. Jahrtausend – die Sahara als Wüste ausbildet. Noch im 5. Jahrtausend muß es hier wasserreiche Stromgebiete, Sümpfe und Urwälder gegeben haben. Dann aber beginnt auch hier diejenige Epoche in der Entwicklung des Planeten, die hoch im Norden schon etwas früher als Ende der Eiszeit in Erscheinung tritt. Die – geologische – Erdgeschichte, die einen längeren Atem hat, greift zerstörend in die untergeordnete – biologische – Geschichte der Pflanzendecke und der von ihr abhängigen Tierscharen ein, und diese wieder in das sehr viel kürzere Schicksal des Kulturmenschen, unsere »Weltgeschichte«. Untergang des Abendlandes II S. 33. Die wasserbindende Pflanzendecke schwindet, dann auch der organische Humus des Bodens, und es bleibt das rein mineralische, lebens feindliche Element, Fels und Sand. Aus meteorologischen Gründen muß das im Osten, in Libyen begonnen haben. Im 2. Jahrtausend wird die Verwandlung der Steppe in Flugsand schon dem Atlantischen Ozean nahegekommen sein. In der römischen Kaiserzeit überschritt die Wüste das Mittelmeer und nahm langsam die inneren Gebiete Südeuropas in Besitz, das spanische Hochland, Sizilien, den Apennin und Griechenland. In den gotischen Jahrhunderten verfällt ihr die Provence und heute nagt sie durch Verkarstung bereits an den Alpen.

Von dem menschenleer werdenden Trockengebiet im Süden geht ein beständiger Bevölkerungsdruck nach allen Seiten aus. In vordynastischer Zeit dringt Stamm auf Stamm ins Niltal, um Wasser und Weideplätze zu erhalten, und die Geschichte der ägyptischen Hochkultur – zu deren Voraussetzungen das gehört – ist voll von Berichten über zurückgeschlagene libysche Einfälle, bei denen die Beutezahlen an Vieh zeigen, was für eine Not die Wanderer vorwärtstrieb. Weiter südlich setzt sich die Bewegung dieser »Hamiten« nach dem Niger und oberen Nil, und in nachchristlicher Zeit bis nach Ost- und Südafrika fort. Am nordwestlichen Küstenrand aber lernten sie die Schiffahrt kennen und fuhren nun als Seenomaden von Küste zu Küste, nach Spanien hinüber, nach den Kanarischen Inseln, nach Sardinien, Sizilien, Italien und ins östliche Mittelmeer, längs des atlantischen Ufers vielleicht bis zur Nordsee hinauf, überall andere Stämme aufscheuchend oder zu gemeinsamen Abenteuern drängend. Namen kennen wir nicht, schon deshalb nicht, weil diese Stämme noch gar nicht den Gedanken an Eigennamen erfaßt hatten. Aber ihre »hamitischen« Sprachen, die in einem sehr frühen Zustand mitgenommen wurden, mögen noch lange hier und dort in Resten weitergelebt haben. Man will ihre Spuren bis nach Irland hin in späteren Sprachen finden Pokorny hat das für die keltischen Sprachen wahrscheinlich gemacht..

Diese innerafrikanischen Stämme lebten sehr primitiv, Gsell, Hist. anc. de l'Afrique du Nord I 177ff., II 170ff. Der Lärm, der heute um die nordafrikanischen Felszeichnungen gemacht wird, welche die Tagesmode Kunstwerke nennt, ist wenig angebracht. Ihr Alter ist zweifelhaft, ihr Mangel an allen Qualitäten ist es nicht (Obermaier, Forsch, u. Fortschritte 1932, 1 ff.).aber sie besaßen seelische Möglichkeiten, die sich auf neuem Boden und in verwandter Umgebung rasch entfalteten. Nicht nur der prachtvolle Wuchs der ägyptischen Hochkultur ruht darauf; an allen Küsten und auf allen Inseln entstehen Kultureinheiten einer niedrigeren Stufe, Vorkulturen, die ohne das afrikanische Element nicht denkbar wären.

Die Almeriakultur des 4. – 3. Jahrtausends in Südostspanien ist, wie die Museumsleute sich ausdrücken, von Afrika herübergekommen, oder im Bilde wirklicher Geschichte gesehen: es sind Jahrhunderte hindurch immer wieder kleine Trupps und Stämme gelandet, die langsam ins Innere drangen und in die allgemeine Lebensform des meerbejahenden Westens hineinwuchsen. Los Millares ist um 3000 eine starke Festung mykenischer Art mit vorgelagerten Schanzen, einer Wasserleitung und mit Kuppelgräbern, Reall. d. Vorgesch. VIII 191 ff. wie sie von New Grange in Irland bis zu den Pyramiden Verwandte haben. Überhaupt ist die menschliche Gestaltungskraft des ganzen Gebietes von seltener innerer Einheit, Darauf hat zuerst C. Schuchardt aufmerksam gemacht, vgl. sein Alteuropa 2 (1926). so daß es unmöglich scheint, die geschichtlichen Zusammenhänge heute noch festzustellen. Das Bauen mit großen, oft riesenhaften Steinen ist allgemein – im Gegensatz zum Lehmziegelbau der babylonischen Welt – und ein Ausdruck jenes Weltgefühls, welches das diesseitige Leben opfernd in den Dienst des jenseitigen stellt. In Ägypten legt sich seit der 3. Dynastie – dem eigentlichen Aufschwung der hohen Kultur – der Steingedanke groß und schwer über die Lehmbauten im Stile der halbasiatischen Vorkultur. Der Totentempel als Kuppelgrab geht von Portugal und Südspanien über Sardinien (Anghelu Ruju) nach dem Ägäischen Meer und im Norden bis nach England und Island. Die Form der Navetas auf den Balearen wiederholt sich in den Mastabas des Alten Reiches. Der Sese grande auf Pantelleria an der tunesischen Küste hat seinen Nächstverwandten in einem Grabhügel der Normandie, Reall. d. Vorgesch. X 32. und die Menhirs der Bretagne und Korsikas entsprechen den ägyptischen Obelisken. Vom Grab des toten Häuptlings geht die Form auf das feste Haus des lebenden über: die Nuraghen Sardiniens, die Talayots der Balearen und der große Rundbau von Tiryns. Sogar der technische Baugedanke der Überkragung ist überall gleichmäßig zur Entwicklung gelangt, sicher nicht immer durch Nachahmung, sondern oft aus gleichem Ausdruckswillen hier und dort in ähnlicher Form von selbst entstanden: Außer der Kuppel in falschem Gewölbe, die überall das letzte Ziel des Baustrebens ist, und den spitzbogigen Gängen in der Wandung der Nuraghen und den Mauern von Tirnys gehört die nach oben sich verbreiternde Säule dazu – von Los Millares über die Balearen, Malta, Sardinien, Sizilien, Etrurien bis zum Löwentor von Mykene und in die kretischen Bauten hinein – und endlich die oben schmaler werdende Tür mit oder ohne Entlastungsdreieck, die das Atreusgrab mit ägyptischen Pylonen und dem prachtvollen Portal des Nuraghen S. Vittoria di Sessi verbindet. Und ich rede nicht einmal vom Totenschiff, das allenthalben als Symbol angebracht wird, und von den Muttergöttinnen – einzeln oder wie in Sizilien und Gallien in der heiligen Dreizahl –, welche die Einheit der Weltanschauung in dem ganzen großen Gebiet bestätigen.

Aber alles das ist keine Geschichte, sondern beweist nur, daß es hier einmal Geschichte gegeben hat, voll von Blut und Zerstörung, unwahrscheinlichen Taten, wildem Triumph, Angst und tiefem Seelenleid, wie die Geschichte des Menschen das eben ist und immer sein wird. Was können wir von einer Zeit wissen, die selbst erst das menschliche Gedächtnis für Vergangenes langsam herausgebildet hat! Verschollen war schon nach wenigen Jahren die Gestalt großer Häuptlinge, deren schrecklicher Ruf die Stämme weithin erzittern ließ, vergessen oder zu Sage und Märchen verklärt das Bild von Abenteuern, die die Bevölkerung ganzer Landstriche verschwinden ließen. Die Trümmer sind stumm, aber um sie wittert eine Ahnung vom großen Schicksal ausgelöschter Rassen. Wo heute ein harmloser Gelehrter Ruinen ausgräbt und die Topfscherben nach Schichten ordnet, die plötzlich aufhören – wie in Kreta, Troja und Malta –, da gab es einmal wüste Brandnächte, bei deren Glanz die schwelgenden Sieger Gefangene marterten und sich um die Beute stritten. Wie würden die Piraten auf der Burg von Troja gelacht haben, hätten sie gewußt, daß man ihre zusammengeraubten und beim letzten Überfall vergrabenen Schätze eines Tages als Zeugnisse einer trojanischen Kultur und die armseligen Schmucksachen und Töpfe ihrer Gefangenen von allen Küsten und Inseln des Ägäischen Meeres als Zeichen von deren Ausdehnung betrachten würde! Wieviel neue Stämme, die »Rasse hatten«, sind entstanden, indem die Eroberer in fröhlichem Gemetzel die Männer des Landes ausrotteten und die Weiber als Sklavinnen fortschleppten! Und wo in einem Hafen ein »Depotfund« gemacht wird, da kann ein Führer mit allen Kriegern seines Stammes, aller Beute und allen gewaltigen Plänen in einer Sturmnacht versunken sein, oder zwei seefahrende Stämme haben sich gegenseitig in einer Schlacht von wenigen Stunden vernichtet. Es liegt ein düsteres Geheimnis über der Entstehung der sardinischen Nuraghenkultur, dem steilen Beginn der kretischen Kamareszeit und dem plötzlichen Übergang von den Schlachtgräbern zu den Kuppelgräbern in Mykene.

Obwohl vollkommene Vergessenheit sich zwischen unser Auge und die Menschen und Taten jener Jahrtausende lagert, so hat es doch entsetzliche Ereignisse von ungeheuren Folgen gegeben, wie wir sie hinter den Namen der Hyksos und der Seevölker ahnen, in den Gotenzügen Alarichs und Theoderichs, den Normannen- und Wikingerfahrten in unsichern Umrissen auftauchen sehen und bei den Namen Dschingiskhan und Pizarro im grellen Licht unseres Wissens erblicken. Wo unter den Funden die Gräber fehlen, da gab es vielleicht niemand mehr, der sie anlegte. Wo der Wald wieder Besitz von den Ruinen einer Siedlung ergriff, da war oft genug bis auf den letzten Mann der Stamm verschwunden, der den Boden einst für Getreide und Vieh freigelegt hatte. So ist der Mensch und so ist seine Geschichte, und seine Kultur ändert daran nur insofern etwas, als die Instinkte sich in die Formen politischen Denkens verkleiden und so in Taten von gleicher Schwere entladen. Das Athen des Phidias und das Frankreich Racines legen Zeugnis davon ab. Die Ruinen von Ninive, Karthago und Altmexiko haben keinen andern Ursprung als die von Knossos und Tiryns. Nur war das Schicksal in jenen Jahrtausenden härter, weil es dem kürzeren Denken der Menschen jäher und sinnloser erschien als dem Stadtmenschen der Hochkulturen, in denen die Gewalt in traditionsgesättigte Formen gebunden und deshalb in ihren Wirkungen vorauszusehen ist – nicht weniger furchtbar, aber weniger anarchisch –, und die Seelen waren deshalb stärker, tragfähiger, naturhafter und in ihrem Ausdruck unmittelbarer, was damals nötig war, um das Leben auszuhalten, und was heute, wo es selten geworden ist, als »Genie« von den Massen angestaunt oder verspottet wird.

Die eigenartigsten Formen nahm diese Kultur des Westens, von Ägypten abgesehen, auf den Inseln des Mittelmeeres an. Es ist eine bekannte Tatsache, daß Stämme, die, auf einer Insel isoliert, vom seelischen Ganzen der übrigen Kultur abgelöst sind, in eine exzentrische, zuweilen bizarre Gestaltung des Lebens hineinwachsen. Japan und England sind Beispiele des 2. Jahrtausends n. Chr. Im Süden des Stillen Ozeans zeigt jede Inselgruppe ein besonderes Gesicht, am sonderbarsten die einsamste unter ihnen, die Osterinsel. Im germanischen Norden ist es Island, fast 3000 Jahre früher die Orkneys mit ihren seltsamen Kuppelgräbern und Irland, weiter im Süden des Atlantik die Kanarischen Inseln, wo die rätselhaften Guanchen erst vor wenigen Jahrhunderten ausgestorben sind. Im Mittelmeer ist von den Balearen bis Kypros jede Insel auf ihre originelle Formensprache geradezu versessen und das um so mehr, je mehr Menschen und Motive die uralte Schiffahrt von einer auf die andere gebracht hat. Und zwar ging diese Bewegung, ein Stück verschollener Seegeschichte, ohne Ausnahme von West nach Ost. Reall. d. Vorgesch. X 328. Wenn Schulten (Klio 23: Die Etrusker in Spanien) aus dem Gleichklang von Ortsnamen in Ostspanien und Mittelitalien auf etruskische Kolonisation schließt – beide Namengruppen kennen wir nur in römischer Schreibung, worauf vielleicht die ganze Ähnlichkeit beruht –, so ist das, gesetzt, daß kein bloßer Zufall vorliegt, umzukehren und würde für eine weit frühere Zeit gelten als die, in welcher der Seevölkername Turscha der Name der Küste nördlich des Tiber zu werden beginnt. Gegen Ende des 3. Jahrtausends stand auf dem Hügel von Knossos noch nichts als die zwei gewaltigen Nuraghen, die Evans unter dem ältesten Palast entdeckt hat, in Tiryns der riesenhafte Rundbau, in der Ebene hinter Phaistos die von Xanthudides entdeckte Gruppe von Kuppelgräbern, alle drei ungefähr gleichzeitig und alle von Einzelstämmen aus dem fernen Westen – » Tarschisch« – hier errichtet. Von »minoischer« Kultur ist nicht einmal eine Vorahnung zu bemerken. Aber damals erreichte die Bevölkerung von Sardinien gerade die Höhe ihrer Macht und schöpferischen Energie, auf Malta war das schon vorüber und in Portugal war der Gipfel der monumentalen Baukunst ein volles Jahrtausend früher erreicht worden.

Am mächtigsten war im 3. und im Anfang des 2. Jahrtausends Sardinien, das wie gesagt im westlichen Mittelmeer eine seebeherrschende Stellung besessen haben muß, obwohl wir nicht einmal seinen damaligen Namen kennen, wenn es schon einen Einheitsnamen hatte. Auch hier kann der Seevölkername der Schardana erst seit dem 12. Jahrhundert und zunächst vielleicht nur für die Südküste Geltung bekommen haben. Dafür spricht die starke Verwandtschaft der Ornamentik, der Waffen, aller Bauformen und der daraus zu erschließenden Weltanschauung und Organisation der Stämme mit denen Korsikas, der Balearen, E. Seeger, Vorgeschichtliche Steinbauten der Balearen. Reall. d. Vorgesch. I 322. Siziliens und der etruskischen Küste, und zwar ist das Alter und die Überlegenheit immer auf Seiten dieser Insel, die schon ihrer Lage wegen ein natürlicher Mittelpunkt der Seefahrt gewesen ist. Noch zur Römerzeit heißen Stämme auf ihr Balari, Corsi und Siculenses, von denen die beiden ersten Namen sicher erst von hier nach Mallorca und Korsika gelangt sind und wahrscheinlich von sehr frühen Eroberungszügen reden, der dritte wieder ein Seevölkername ist. Der sardinische Handel hat seine Spuren in Ostspanien, Kreta, vor allem in Apulien hinterlassen. Die sardinischen Dialekte, die unrichtig als italienische bezeichnet werden, wie das Katalonische als spanischer, das Provençalische als französischer Dialekt gilt, und zwar aus politischen Gründen, sollten einmal wie das Maltesische auf ihre nichtindogermanischen Elemente hin untersucht werden. Außer phönikischen und arabischen Spuren müssen darin noch erhebliche Reste von Sprachen aus der Nuraghenzeit stecken. Ebenso sind Grabbau und Totenkult des späteren Etrurien zum großen Teil von hier herüber gekommen, die »etruskische Weltanschauung« also, und die Handelsherren der etruskischen Städte, die sich seit dem 8. Jahrhundert die großen Grabanlagen bauen ließen, mögen zum guten Teil noch vom Blute der alten Bewohner Sardiniens, die hier ihre Emporien hatten, letzten Endes also aus Nordafrika oder Ostspanien stammen. Die in den altsardinischen Bauten massenhaft gefundenen Totenschiffe aus Bronze Reall. d. Vorgesch. XI 248. sind die Vorbilder der späteren Tonmodelle dort.

Wenn die Nuraghengürtel auf den Hochflächen im Innern, die jeden geeigneten Punkt des Bergrandes in ein wohldurchdachtes Befestigungssystem einbeziehen und mit damaligen Mitteln kaum erobert werden konnten, Sie verraten einen ganz außergewöhnlichen Sinn für kriegstechnische Fragen; ein Seitenstück gibt es im ganzen Umkreis des Mittelmeers nicht bis herab auf die hellenistische Belagerungskunst. von der Feindschaft der Stämme untereinander und wahrscheinlich von erbitterten Kämpfen um die Kupfervorkommen reden, so spricht das nicht gegen deren Geltung zur See. Im Gegenteil: der Gedanke an gleiche Überlegenheit im Schiffsbau liegt nahe. Ganz ebenso haben sich die Clans in Schottland untereinander bekämpft, und die Mehrzahl der »Paläste«, also der Stammesmittelpunkte auf Kreta, läßt einen Einblick in ähnliche Verhältnisse zu. Die kretischen Kupferbarren von Serra Ilixi beweisen nicht Schiffahrt der Kafti an dieser Küste, sondern sind natürlich Beutestücke. Die beiderseitigen Flotten werden sich an einem Punkt Ostsiziliens, den Funden nach etwa beim späteren Syrakus, zu friedlichem Tausch getroffen haben.

Aber die Küstenstämme auf Sizilien haben selbst Seefahrt getrieben. Die »Beziehungen« zwischen Ostspanien und Westsizilien lassen sich vielleicht durch sardinischen Handel und gelegentliche Einfälle von Piraten erklären, aber die Lebensverwandtschaft der Bevölkerung von Tunis über die Ostküste Siziliens bis nach Apulien hin zwingt zu der Annahme, daß einst seefahrende Stämme von Afrika her hier Eroberungen gemacht und dauernde Sitze gefunden haben. Orsi, Bull. Paletn. Ital. 28 S. 43. Es ist das große Verdienst von Paul Borchardt, darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß in der kleinen Syrte das gewaltigste ehemalige Stromsystem der Sahara das Meer erreichte und daß die Senke der Schotts mit ihren Salzsümpfen nichts ist als das einstige Mündungsgebiet, das also – wie ich glaube, etwa seit Beginn des 2. Jahrtausends – langsam durch Sanddünen verschüttet wurde. Petermanns geographische Mitteilungen 1927 S. 19 ff. und viele spätere Aufsätze in dieser Zeitschrift. Leider hat Borchardt seine wertvollen Beobachtungen als Geograph und Geologe durch die Hereinziehung des Atlantisschwindels verdorben, eine Mode, die auf völliger Unkenntnis der dichterischen Schreibweise Platos beruht, der es liebt, abstrakte Theorien in der Verkleidung von Märchen anschaulich vorzutragen. Wenn sich hier im 3. und vielleicht noch bis zur Mitte des 2. Jahrtausends ein Rest von Flußschiffahrt erhalten hatte, neben den Überlandwegen, die heute noch als Karawanenstraßen fortbestehen, dann muß in Südtunis ebenso wie im Bereich des späteren Karthago ein großer Mittelpunkt des Verkehrs, natürlich keine »Stadt«, sondern ein Markt gelegen haben. Darüber können nur Ausgrabungen, nicht Kombinationen aus antiken oder gar arabischen Texten, Sagen und Namen Gewißheit geben.

Wie dem auch sei, es ist sicher, daß die Küstenstämme in Tunis wie in Barka in dieser Zeit eine sehr aktive Rolle in der Geschichte des Mittelmeers gespielt haben, die bis ins Adriatische und Ägäische Meer zu spüren war. Die zunehmende Versandung des nordafrikanischen Küstenrandes ist allein schon ein ausreichender Grund dafür, und die Libyer – die Tehenu der ägyptischen Texte – waren eine Gruppe von Herrenvölkern, nicht mehr Bauern, wenn sie das je gewesen waren, sondern heimatlos werdende Viehzüchter, welche die Bauernstämme unterwarfen. Ihre Fähigkeit zu herrschen haben sie in Ägypten bewiesen; es ist nicht anzunehmen, daß sie an den südeuropäischen Küsten anders aufgetreten sind. In jedem Falle bietet die Küste von Ostsizilien bis Apulien nach den zahllosen Ausgrabungen Orsis schon während des 3. Jahrtausends das Bild einer völkischen Einheit, die sich nicht aus dem Innern und überhaupt nicht von Norden her ableiten läßt. Orsi unterscheidet etwa seit 2500 mehrere »sikulische« Perioden, aber das Wort ist ein Seevölkername, kann also nicht vor dem 12. Jahrhundert dagewesen sein. Was griechische Schriftsteller über die Herkunft der »Sikuler« geglaubt oder erfunden haben, beruht natürlich auf dem Hörensagen des 7. bis 6. Jahrhunderts in sizilischen Griechenstädten, wo es von der wirklichen Vorgeschichte im 2. Jahrtausend ebensowenig eine Ahnung gab wie in der gesamten antiken Welt. Kupfer gibt es auf der Insel nicht. Die Kupfersachen stammen sämtlich von Ostspanien und Sardinien oder von Kypros und Kreta. Erst als in der Kaftizeit der »Tarschischhandel« begann, kamen mit dem Rohmetall und der Kenntnis des Gußverfahrens sicher auch Kupferschmiede ins Land, die ihren Vorrat ererbter Formen mitgebracht haben. Aber wichtiger als dies und die riesenhaften Steinblöcke des Dolmen Chiana dei Paladini in Apulien oder die Tatsache, daß sich zu den geschnitzten Knochenplättchen von Castelluccio Gegenstücke in Troja II gefunden haben, Messergriffe aus der zweiten Hälfte des 3. Jahrtausends, was einmal zeigt, wie weit ein einfacher Gebrauchsgegenstand von Hand zu Hand gehen kann, denn natürlich hat ein Matrose nach dem andern das Messer getauscht, gestohlen oder einem getöteten Feind abgenommen. ist die Bestattungsweise in den Grüften vieler Häuptlingsfamilien. In Ostsizilien wie in Apulien: v. Duhn, Italische Gräberkunde I S. 71 ff. und 44. Da sitzen die toten Ahnen auf Steinbänken längs der Wand, reich gekleidet und geschmückt, mit Eß- und Trinkgeschirr vor sich, also beim Mahle oder wie zur Beratung versammelt. Es folgt daraus mit Selbstverständlichkeit, daß hier konservierte Leichen, Mumien also, beigesetzt wurden. Die Sitte hat sich bis ins erste Jahrtausend erhalten und galt vielleicht auch bei einigen »etruskischen« Familien. Wenigstens schließe ich das daraus, daß hier zuweilen auf Steinbänken menschengestaltige Urnen oder Steinkisten mit liegenden Porträtfiguren darauf mit der Asche des Toten standen. Da scheint mir die in Mittelitalien vornehm gewordene Sitte der Verbrennung mit einem viel älteren Brauch ausgeglichen zu sein.

Und das lenkt den Blick auf die Cueva de los Murciélagos in Südspanien, die 1857 von Bauern entdeckt und ausgeplündert wurde. Wie de Gongora Antiguedades prehistóricas de Andalucia (1868) S. 24 ff. noch feststellen konnte, saß hier eine Leiche, die ein goldenes Diadem trug, mit zwei Begleitern, und in einiger Entfernung ein Gefolge von 12 weiteren Toten im Halbkreis. Es waren erhebliche Reste der Kleidung, Mützen und Sandalen aus Espartogewebe erhalten, wodurch bewiesen wird, daß es sich auch hier um Mumien handelte. Die Zeit – Anfang des 3. Jahrtausends – ist etwa dieselbe, in der man in Ägypten zu Beginn der dritten Dynastie anfing, den Leib des Pharao in dieser Weise für die Ewigkeit zu erhalten, ein Vorrecht des mit der Gottheit gleichgesetzten Staatshauptes, das dann von den vornehmen Hofbeamten, dem Feudaladel der Gaue und endlich vom wohlhabenden Bürgertum der Städte nachgeahmt wurde, Wo man die Methode, um die sehr großen Kosten zu sparen, oft bis zum Beizen in Natronlauge vereinfachte. übrigens eine Form der zunehmenden Demokratisierung der Gesellschaft. Der Gedanke, auf diese Weise das Weiterleben des Toten zu sichern, Die Dauer der Seele ist also an die materielle Fortexistenz des Leibes gebunden. steht zu dem von einem Totenreich in demselben Widerspruch wie im Christentum die sehr nahe verwandte »Ruhe im Grabe« und »Auferstehung des Fleisches« Deshalb empfinden strenggläubige Christen die Leichenverbrennung als gottlos. Sie schließt irgendwie die Hoffnung auf körperliche Auferstehung aus. zur Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele, während der Leib zu Asche wird. Es ist weder hier noch dort empfunden worden. Nimmt man hinzu, daß auch die Guanchen auf den Kanarischen Inseln als Mumien beigesetzt wurden, so ist es wohl nicht zu kühn, wenigstens an die Möglichkeit zu glauben, daß auf dem »Thron des Minos« die Mumie des letztverstorbenen Oberpriesters saß.

Während des ganzen 3. Jahrtausends liegt das Schwergewicht der Ereignisse im Westen. Auf Kreta und Kypros sind sichere Spuren blutiger Kämpfe zu bemerken, die ganze Stämme fortgefegt haben müssen – denn davon und von nichts anderem redet die »Bewegung« in der Keramik –, aber nichts, was sich mit der großen Entwicklung und also Machtentfaltung auf Sardinien und Malta vergleichen ließe. Zum Teil sind schon damals afrikanische Trupps gelandet. Bei der damaligen Bevölkerungsziffer genügte ein Dutzend Schiffe mit 200 Mann, um die halbe Insel zu durchziehen und zu verwüsten. Geschichtlich aber führen beide Inseln, von unbedeutender Seefahrt abgesehen, die z. B. durch einzelne ägyptische Gegenstände aus prädynastischer Zeit tief unter den ältesten Bauten von Knossos bewiesen wird, Bullet, corresp. Hellen. 1924 S. 488. ein in sich abgeschlossenes Dasein.

Erst gegen Ende des 3. Jahrtausends beginnt ein Leben mit weiterem Horizont und größerer Formgewalt. Es versteht sich von selbst, daß damals neue Eroberer gelandet sind, die mit ihrer höheren Kultur und größeren seelischen Energie an einzelnen Punkten auf das einheimische Volkstum gewirkt und es umgestaltet haben. Lange dauerte es nicht, denn die Nuraghen von Knossos, die Kuppelgräber der Messarà und der Rundbau von Tiryns blieben fremde Motive ohne Dauer und Folge. Kamen sie von Sardinien, wo z. B. der Nuraghe von Losa Monum. dei Linc. 11 Taf. 7-8. ein ganzes System von dreifachen Zentral- und vielen Außentürmen, von gewaltigen Mauern mit Schießscharten umgeben darstellt, gegen das auch die viel späteren Festungsbauten von Tiryns und Mykene verschwinden? Oder von Malta, wo die Ruinen von Bahria beweisen, daß die Stämme der ersten Megalithkultur von andern mit derselben Formensprache vernichtet oder vertrieben worden sind? Oder kamen sie von Apulien, von Tunis, von Barka her? Darüber werden wir wahrscheinlich nie etwas erfahren.

Für die Möglichkeit eines Eindringens von Libyern kann vielleicht die Tatsache sprechen, daß sich westlich von Ägypten damals anscheinend etwas Ähnliches ereignet hat. Um 2500 taucht in den ägyptischen Texten neben dem alten Namen der Tehenu die Bezeichnung Tuimah offenbar für eine neue Stammesgruppe auf, G. Möller, Zeitschr. D. Morgenländ. Ges. 1924 S. 36 ff. und in Gräbern von Beni Hasan um 2000 werden Leute dieses Schlages abgebildet: sehr groß, hellfarbig, mit hellem Haar und blauen Augen. Sie tragen eine von allem Afrikanischen ganz abweichende Kleidung, führen andere Waffen und sind anscheinend tätowiert. Darüber wird noch zu reden sein. Wenn es sich hier aber um Eindringlinge aus nördlicheren Gegenden handelt, dann ist es immerhin denkbar, daß die ältere Bevölkerung teilweise über See geflüchtet ist.

Dann aber brach, wieder mit einer fremden Eroberung, die diesmal Dauer hatte und die ganze Insel umfaßte, die Kamareszeit an, die Kreta plötzlich weit über das Niveau des ganzen östlichen Mittelmeeres heraushob.

7

Was können wir eigentlich von der Geschichte, also den politischen Schicksalen der Insel im 2. Jahrtausend wissen? Geschichte ist, was sich einmal ereignet hat, die einzelne Tat an bestimmtem Ort und zu bestimmter Stunde, die einzelne Persönlichkeit, die Bevölkerung, insofern sie als Stamm oder Staat oder sonstwie handelnd »in Form« war und in dieser Gestalt Geschichte machte oder erlitt, siegte, unterlag, entstand und verging. Höhere Geschichte ist der lebendig fortschreitende Ausdruck menschlichen Willens, von einzelnen oder einem »Wir«, mit-, neben- und gegeneinander, wie es in Art und tiefem Sinn der Waffen, auch der geistigen, dem Stil der Bewegung zu Lande und Wasser – rudernd, gehend, fahrend, reitend –, der Taktik des Krieges und ihrer Fortsetzung in politischen Verhandlungen und Verträgen zwischen den Kriegen, den Formen der Macht: Herrschaft, Recht, Ämter, Titel und Zeremoniell und darüber hinaus in den sehr verschiedenartigen Zielen des Machtwillens zutage tritt. Aber wir kennen keinen Namen und kein Ereignis aus dieser Zeit und müssen versuchen, das alles aus Bodenfunden zu erschließen. In gewissem Umfang ist das auch möglich, und das soll hier geschehen, aber es gibt Hindernisse, die aus der üblich gewordenen Behandlung der Funde stammen.

Hier muß einmal gegen die maßlose Überschätzung der Keramik gesprochen werden. Die Tontöpfe sind infolge der Massenhaftigkeit ihrer Reste ein allzu bequemes Mittel geworden, um den Hang der Forscher nach Ordnung und System zu befriedigen. Im Anfang des Zeitalters der Ausgrabungen waren sie ein wichtiges Hilfsmittel, um die aus andern Tatsachen gewußte oder geahnte Geschichte zu verdeutlichen. Heute sind sie eine Gefahr, weil sie als Grundlage dienen, um verschollene Geschichte zu rekonstruieren. Die Abzählung und Benennung der Fundschichten, das Vergleichen selbst vereinzelter Topfscherben tyrannisiert diese Art von »Geschichtsschreibung«, welche selbst nur etwas Ähnliches ist und sein will.

Wie alle bloßen Zweck- und Zierformen führen die Gefäße der einstigen Dörfer, so betrachtet, zu den schwersten Irrtümern, weil sie lediglich Ausdruck des privaten, alltäglichen Daseins von Leib und Seele Die Gefäßformen z. B. auch der zur Gewohnheit gewordenen Bewegung von Armen und Händen, der Körperhaltung, selbst der Körpergröße. Die Verzierung ist oft nur Zeichen eines vom Zweck erlösten Spieltriebs, selbst der Langeweile. Außerdem sind Gefäßform und Verzierung – gewissermaßen »Rasse« und »Geist« – zweierlei und haben jede für sich ihre besonderen Schicksale. Oft geht ein neuer »Stil« über die gleichbleibenden Topfformen hinweg und noch häufiger ändern sich diese, während die ornamentale Sprache bleibt. sind und nicht der öffentlichen Mächte des geschichtlichen Wirkens.

Der Ausdruck Kamareszeit Nach der Höhle benannt, in der zuerst solche Töpfe gefunden wurden. hat nicht einmal die umfassende Bedeutung des Wortes Rokoko, das den gesamten Lebensstil eines Zeitalters bezeichnet von Tracht, Wohnweise, gesellschaftlicher Sitte bis zu den höchsten Formen des Denkens, der Weltanschauung, der Kunst und großen Politik. Es ist vielmehr so, als wollte man das 18. Jahrhundert als Porzellanzeit und das große attische Jahrhundert vom Sturz der Peisistratiden bis zum Peloponnesischen Krieg als Zeit der rotfigurigen Vasen abtun. Was würde herauskommen, wenn wir von den geschichtlichen Tatsachen nichts wüßten und sie nach »prähistorischer« Methode allein aus diesen Arten von Keramik, ihrem Aufstieg und Verfall erschließen wollen? Dann hätten die Chinesen seit 1700 von der Elbe aus Westeuropa erobert und die Fayencevölker von Delft und Faenza unterworfen oder vertrieben, bis von England her das Wedgwoodvolk, die Nachkommen der Etrusker, ihnen die Herrschaft entriß. Der Beginn der Kamareszeit wird viel eher durch den Bau der großen »Paläste« bezeichnet, nicht einmal durch deren Stil, sondern durch die Tatsache und den Sinn dieser gewaltigen Anlagen.

Oder bildet man sich ein, die Normannen hätten nach der Eroberung Englands und Siziliens, oder die Makedonen Alexanders in Baktrien und am Indus eifrig Töpfe fabriziert? Oder die Soldaten Napoleons, als sie in halb Europa die Herren waren? Waffenschmiede hatten sie mitgenommen, aber nicht Töpfermeister. Wenn in Gallien »römische« Töpferware erscheint, so geschah das viele Jahrzehnte nach der Eroberung durch Cäsar, als römische Handwerker einzuwandern begannen. Aus dem mitgebrachten Formenschatz läßt sich nicht im geringsten die politische Geschichte des vorhergehenden Zeitalters der Kämpfe um die Weltherrschaft ablesen. Wie spiegelt sich denn der Untergang Karthagos oder die Zeit der Kreuzzüge in der Keramik? Gar nicht! Es ist Unfug, wenn man die »Einwanderung« der Etrusker in Mittelitalien aus dem Auftreten der Buccheroware ermitteln will oder die gesamte Fundmasse Italiens nach den literarisch zufällig erhaltenen umbro-sabellischen, latinischen und etruskischen Sprachen aufzuteilen sucht. Und es ist ergötzlich zu sehen, wie in Palästina nach der »Philisterkeramik« gesucht und bald diese, bald jene Art von Töpfen mit diesem Namen belegt wird. Wirkliche Geschichte spielt sich unter politischen Einheiten ab, unter Stämmen, Staaten, Kriegerschwärmen, und nicht zwischen Sprachgruppen oder kunstgewerblichen Bezirken. Flexions- und Gefäßformen sind gleich irreführend, wenn man sie nicht als Elemente eines viel größeren Ganzen beurteilt. Beide verbreiten sich oder verschwinden auf Grund politischer Schicksale. Die hethitische Herrenschicht und die Sprache des Archivs von Boghazköi sind zweierlei, und ebenso die Burgen von Tiryns und Mykene und die peloponnesische Keramik ihrer Zeit. Man kann heute noch in nicht sehr alten Geschichtswerken nachlesen, wie sich eine platte fachwissenschaftliche Fantasie die Geschichte Kleinasiens auf Grund von Namen, Endungen und Töpfen vorstellte, bis die Urkunden von Boghazköi diese philologischen und archäologischen Nebel zerstreuten und ein vollkommen unerwartetes Bild wirklicher Geschichte hervorzauberten.

Wenn jedes »Volk« durch eine besondere Art von Töpfen bezeichnet wäre, dann wüßten wir unendlich viel mehr über die Geschichte des 2. Jahrtausends und würden nicht trotz der Haufen von Scherben in allen Museen im Dunklen tappen. Aber die politische Grenze eines Stammes oder Staates wird nie durch die Verbreitung des Formenschatzes einer Gruppe von Handwerkern bezeichnet, weder von Schmieden noch von Teppichwebern und noch viel weniger von Töpfern. Es gibt zahllose Möglichkeiten großer Geschichte ohne die geringste Änderung in der Keramik. Das Auf und Ab des assyrischen Staates, das Weltreich der Perserkönige, die gewaltigen Umwälzungen durch die Kassiten- und Hyksosstämme haben nichts mit irgendwelchen »zugehörigen« Gefäßarten zu tun.

Sind die Kamaresbauten in Knossos und Phaistos gleichzeitig oder im Abstand von Generationen entstanden, aus dem Willen eines Stammes oder dem Gegensatz von zweien heraus? Und die Kämpfe »um 1600«, in denen beide zerstört wurden, vielleicht wieder nicht in demselben Jahr oder Jahrzehnt? Haben sich da die unterworfenen Stämme der Eingeborenen gegen die Herren aufgelehnt oder diese gegen eine allzumächtige Priesterschaft? Wir wissen, daß die Priester von Delphi beim Zug des Xerxes gegen die griechischen Staaten Partei ergriffen und ebenso die Priesterschaft von Pessinus, obwohl sie z. T. aus galatischen Geschlechtern stammte, gegen den galatischen Staat und für die Römer. Stähelin, Geschichte der kleinasiatischen Galater (1907) S. 54. Es ist der ewige Gegensatz zwischen weltlicher und geistlicher Macht, wie er in Ägypten bei der Auflehnung gegen Echnaton und in Babylon beim Sturze Naboneds in Erscheinung trat und selbstverständlich in beiden Hochkulturen von Anfang an bestand und bei vielen Ereignissen eine Rolle spielte, von der wir nichts mehr wissen.

Da die »Paläste« damals wieder aufgebaut wurden, und zwar offenbar mit der gleichen Bestimmung und annähernd im alten Stil, so muß oder kann eine Macht wenigstens auf der Höhe geblieben sein. Waren es die Kafti, die dann schon früher Seeherren in Knossos gewesen wären und jetzt etwa die konkurrierende Gruppe von Phaistos sich unterwarfen oder einverleibten? Dann wäre das der Entscheidungskampf um die Seegeltung und die Macht auf der Insel gewesen. Oder handelt es sich um Matrosen- und Söldneraufstände unter einem begabten Führer, vielleicht mit offener oder geheimer Unterstützung fremder Häuptlinge etwa im Peloponnes, in Westkleinasien, auf Kypros, oder eines Hyksoskönigs im Nildelta? Um den Versuch neuer Stämme aus »Tarschisch«, dort Fuß zu fassen? Um eine Spaltung unter den Kafti selbst? Sollen Entscheidungen dieser Art, wie sie immer und überall in der Geschichte vorkommen, sich aus Topfformen ablesen lassen?

Wer stellte denn die Tonware her? Man hat gesagt: Jedes Volk macht sich seine Töpfe selbst, aber das ist nicht wahr. Bei sehr zurückgebliebenen Stämmen, wie sie vom 3. Jahrtausend her in abgelegenen und unfruchtbaren Teilen der Insel noch saßen, mögen Bauern und Hirten und ihre Weiber am offenen Feuer Töpfe gebrannt haben, aber sie waren danach. In jedem irgendwie höher entwickelten Dorf aber saß ein Töpfer, der den Brennofen und – vielfach schon im 3. Jahrtausend – die Drehscheibe zu bedienen verstand und der sehr häufig aus der Fremde gekommen sein wird, um sein Handwerk auszuüben, etwa ein Kriegsgefangener, dessen Geschicklichkeit man sich zunutze machte. Man kann aus Massen von ganz rohem Geschirr auf das Schicksal einer sehr primitiven Bevölkerung schließen. Wo es aufhört, da sind oft die Bewohner ganzer Dörfer verschleppt, geflohen oder erschlagen worden. Aber daß sich der »Stil« solcher Gefäße geändert haben sollte, weil die politische Herrschaft an ihrem entlegenen Standort die Inhaber gewechselt hat, ist eine törichte Annahme.

Wenn irgendwie anspruchsvollere, durchdachtere Gefäßformen und Verzierungen auftauchen, dann handelt es sich mit Sicherheit um die Produktion von Werkstätten. Töpfern ist schon in den frühesten Zeiten ein Handwerk gewesen, vielleicht das erste ausgesprochene Handwerk überhaupt. Es setzte angebornes Geschick, Übung und den Besitz von Geräten voraus, die nicht jeder haben konnte, und wer hier eine Art von Überlegenheit erlangte, der hatte bald für andere genug zu tun und brauchte nicht mehr das Vieh zu hüten. Feinheiten und Kunst griffe in der Mischung des Tons, beim Brennen, beim Herstellen und Auftragen der Farbe vererbten sich als wohlgehütete Geheimnisse in den Töpferfamilien fort, wie etwa die Farbenbereitung und ornamentalen Muster bei persischen Teppichwebern, eine Tradition, welche die abendländische Chemie nur zerstören, aber nicht verstehen und fortentwickeln konnte. Und ganz ebenso bestand eine Werkstättentradition der Gefäßformen und -verzierung. Bewährten sie sich, kamen sie in Mode, so wurden sie weithin verbreitet und nachgeahmt. Die »unechte« Kamaresware erst des 16. Jahrhunderts, die sich weithin im Peloponnes findet – echte, also alte, ist überhaupt nicht dorthin gekommen –, kann sehr wohl aus einer einzigen Werkstatt eines ausgewanderten oder geflohenen Kaftimeisters stammen (Reall. d. Vorgesch. XIV S. 52). Was als Keramik eines »Volkes« erscheint, ist oft weiter nichts als das Erzeugnis einer einzigen bedeutenden Werkstatt oder eines Töpfer dorfes, wo sich die Leistungen bis zur Meisterschaft, bis zu einer wirklichen Kunst gesteigert haben. So war es in Athen, in China seit der Sungzeit, in den Porzellanmanufakturen des 18. Jahrhunderts, und so ist es auch auf Kreta gewesen. Gerade die Prunkgefäße der Kaftizeit sind sehr persönliche Schöpfungen, oft bizarre Einfälle einer echten Künstlerlaune, wie sie zum Geschmack einer seefahrenden Kaufmannschaft gehören, der sich auf weiten Reisen herangebildet hat. Das gibt viel später auch dem jonischen, phönikischen und etruskischen Kunsthandwerk seit dem 8. Jahrhundert den exotischen Reiz: Motive aus allen fernen und fremden Ländern, die zu einer Einheit des Luxus, nicht der weltanschaulichen Tiefe verschmolzen sind.

Und vor allem noch eins: Brauchbaren Ton gab es nicht überall. Es ist sinnlos, wenn man annimmt, die rohe Tonerde sei weithin verschickt worden. Die fertige Ware wurde verhandelt, die aus Töpferdörfern bei guten Tonlagern stammte. Töpfern ist wie Schmieden sehr oft an die Stelle gebunden, wo der Rohstoff vorkommt. Da siedeln sich fremde Handwerker an; da führen Ehrgeiz und Eifersucht, Man lese doch nach, wie sich die Porzellanfabriken des 18. Jahrhunderts gegenseitig ihre Meister abspenstig zu machen suchten. die wechselseitige Steigerung der Technik und der künstlerischen Durchbildung zu Leistungen, die einzelnen Handwerkern in Bauerndörfern ganz unerreichbar sind. Von der späteren Mingdynastie bis auf Kang Hsi und Yung Tscheng wurde die weit überwiegende Masse des gesamten chinesischen Porzellans in Tsching-te-tschen hergestellt, wo zeitweise 3000 Öfen in Tätigkeit waren. Die große Bewegung in der damaligen Formensprache beruht also nicht auf einem »Bruch« oder »Wechsel« in der Bevölkerung Chinas – um die leeren Schlagworte der Prähistoriker zu gebrauchen –, sondern auf Gründung, Blüte und Verfall einzelner Werkstätten. So muß es auch in der Kamares- und Kaftizeit gewesen sein. Die gesamte Ware dieser Jahrhunderte kann aus einer oder wenigen Siedlungen stammen, deren Ort sich durch Feststellung der Tonlager vielleicht noch ermitteln ließe.

Wie würde die antike Geschichte aussehen, wenn man von Vasengattungen auf Völker schließen und deren Verbreitung als Zeichen von politischer Macht werten wollte! Es ist auch ein großer Unterschied, ob die Gefäße etwa zum Versand von Öl oder Wein oder zum Gebrauch der Matrosen selbst dienten und dann am Ankunftsort von der niederen Bevölkerung – wie immer und überall – zu anderen Zwecken in Masse verbraucht wurden, oder ob sie um ihrer selbst willen Gegenstände des Fernhandels waren. Von der Ausbreitung von »Völkern« kann weder im einen noch im andern Falle die Rede sein, sonst müßten heute Weinflaschen und Konservenbüchsen ein seltsames Bild der nationalen Grenzen ergeben. Aber auf die Seegeltung einzelner Mächte oder die Beherrschung der Überlandwege werfen die Gefäße, wenn sie in genügender Menge erhalten sind und wenn man sie nach Art und Zweck vorsichtig betrachtet, unter Umständen ein helles Licht.

Und darüber hinaus sind Form und Schmuck der Gefäße in diesen Jahrtausenden, sobald sie sich über den bloßen Zweck und über spielerische Verzierung erheben, im eurasischen Norden sehr oft ein ungewollter starker Ausdruck des Weltgefühls. Es ist ein Fehler, Einzelheiten der Topfform, etwa Hals oder Henkel, »wandern« zu lassen und ebenso Einzelzüge des Motivschatzes, der Farbengebung, des ornamentalen Ordnungsprinzips, von denen jedes für sich hier und dort unabhängig entstanden sein kann. Man darf sich nur in die Gesamtphysiognomie der höheren Formgebung einleben, und wenn das Material nicht reichlich genug ist, dann muß man verzichten. Vergleicht man aber die Gesamtheit der keramischen Funde von der mittleren Donau bis nach Korea hin, dann ergibt sich ohne allen Zweifel eine tiefinnerliche Verwandtschaft über alle Rassen, Sprachen und Volksgebilde hinweg. Wir müssen uns endlich daran gewöhnen, hier in den frühgeschichtlichen Jahrtausenden eine gewaltige Einheit der Weltanschauung zu sehen, wie eine andere im Westen im Gebiet der steinernen Grabwohnungen und des Glaubens an ein Leben im Jenseits von Irland bis Ägypten hin bestanden hat, und zwar im Gegensatz zu dieser.

Von Tripolje und Petreny in Südrußland und Cucuteni an der unteren Donau bis nach den Fundstätten Anderssons in Nordchina und der Mandschurei ist gegen Mitte oder Ende des 3. Jahrtausends aus noch älteren Ausdruckselementen eine großartige Gefäßmalerei entstanden, nicht etwa eine Kunst für sich, sondern der infolge des harten Materials allein erhaltene Rest eines allgemeinen ornamentalen Ausdrucks, der sich notwendig auf alle Werke des Lebens erstreckt haben muß, auf Holzhäuser, Zelte, Wagen, Waffen, Webereien und vor allem, vielleicht zuerst, auf Schmuck und Tracht des eigenen Körpers. Wahrscheinlich bieten die Töpfe nur einen Abglanz jenes Willens zur Versinnlichung des Weltgefühls, dessen Schwerpunkt in der bedeutungsvollen Verzierung des Leibes und des Hauses lag. Es kommt auch nicht auf die bloße Tatsache der mehrfarbigen Malerei an, die nur ein technisches Verfahren ist, das sich an verschiedenen Stellen der Erde unabhängig entwickelt hat – wie in Peru – und das in Nordeurasien vielfach zugunsten der Ritzzeichnung zurücktritt oder ganz fehlt. Das Einzigartige ist der bedeutungsschwere Ausdruck metaphysischen Ahnens in der unwillkürlichen Führung, Ordnung und Verteilung der spiralig und wellenförmig bewegten Liniengebilde. Nicht das sinnfällige Ergebnis, also das einzelne Motiv ist es, nicht einmal der »Stil« am einzelnen Orte und während einer Reihe von Generationen, sondern der Geist dieser Gestaltgebung, der die unzähligen Sonderarten des Ausdrucks durch Jahrtausende hin als eine tiefe Einheit zusammenfaßt. Hier im hohen halbwinterlichen Norden, wo der einzelne Mensch sich im harten Kampf gegen die Natur verinnerlicht, verselbständigt, und nicht wie in den tropischen Landschaften des Südens in ihrer Fülle sich seelisch löst, hier, wo er von Kindheit an immer mehr in sich vereinsamt und seelischen Eigenwuchs erhält, ist ihm das abstrakte, bewegliche, jeder persönlichen Stimmung nachgebende Ornament mehr als bloß ausfüllende Verzierung. Es stellt das Wesen der Welt dar. Es spricht ihm den erfühlten Sinn des schützenden Daches, des tragenden Balkens aus, am eigenen Körper den Sinn der Teile und Glieder, am Gefäß den Sinn der Höhlung und Standfläche, am Werkzeug dessen innere »Macht«; es erhebt den unlebendigen Gegenstand zu einem beseelten Wesen, das in späteren Zeiten oft genug einen Namen erhält wie das Schwert und das Schiff.

Der alte Westen kennt kein Ornament dieser Art und Tiefe. Er füllt nur kahle Flächen mit Stricheleien aus. Für ihn ist der höhere Ausdruck stets imitativ Über Imitation und Ornament Unterg. d. Abendl. I Kap. III § 8. und plastisch, wie es dem Geist der lichterfüllten Landschaft entspricht, die keine Nebel und Probleme kennt, keine düsteren Tage und endlosen Nächte. Hier herrscht die klare Form der steinernen Totenwohnung, der deutliche Weg zu ihr durch gedeckte Gänge oder Sphinxalleen, der Menhir und der »aufgebaute« Leib der ägyptischen Statue, die in ewiger Ruhe steht, sitzt oder liegt, und endlich das figürliche begleitende Wandbild, das nicht den Sinn des Lebens geheimnisvoll andeutet, sondern das Leben selbst in seiner satten Fülle malt.

Das ist der Unterschied zwischen den beiden Möglichkeiten künstlerischer Gestaltung, der ornamentalen und imitativen, von der einzelnen Seele aus zur Welt oder von der allgemeinen Welt aus zur Seele; und dahinter steht der abgrundtiefe Unterschied zweier jahrtausendealten Weltanschauungen: der nordischen, die in der Natur unpersönliche, gestaltlose, ungreifbare, unerbittliche Mächte wirken fühlt, und der des Westens, die menschen- und tiergestaltige Götterwesen sieht und als Handelnde zu gewinnen oder abzuwehren sucht. Es ist der letzte Gegensatz zwischen Pantheismus und Polytheismus, von namenlosem Schicksal und benanntem Einzelgott. Der spanische Glaube an die Madonna und der germanische an Thor sind dem Wesen nach verschiedene Arten des »Glaubens«. Thor und Frau Holle waren Sinnbilder für Naturgewalten, Gewitter und sommerliches Waldweben, keine Personen, keine Gestalten. Man lasse sich durch Sage und Märchen nicht irremachen. Das ist etwas anderes als Theologie: Das nordische Märchen verdeutlicht ein Gefühl, das westliche Dogma begrenzt göttliche Figuren. Der » tien« (Himmel) des Konfuzius und die »Gottheit« der Vorsokratiker und deutschen Mystiker waren keine Götter gestalten. Und deshalb verirrt sich das weltanschauliche Ornament Nordeurasiens nie bis zur plastischen Imitation.

Im letzten vorchristlichen Jahrtausend ging das bewegte Spiralornament in dem ganzen weiten Gebiet in das Tierornament über, das im Osten die Formgebung der chinesischen Hochkultur vollkommen beherrscht hat: es sind jetzt genug sichere Stücke aus der Dschou- und Hanzeit bekannt, und es ist mir nicht im geringsten zweifelhaft, daß die bedeutende Landschaftsmalerei dieser Zeit, die wir nur durch Beschreibungen kennen, sich aus der Ornamentik der Haus- und Zeltwände entwickelt hat. Noch in der nachchristlichen Malerei beweist es die Behandlung der Wolken, Wellen und Laubmassen. Weiter westlich gehören die Ordosbronzen, die Luristan- und Kaukasusbronzen, die sibirische, skythische und sarmatische Kunst dazu, im äußersten Westen viele Elemente der Hallstattzeit und der etruskischen Rostovtzeff, Le centre de l'Asie (1929) S. 39. Kunst, und endlich der keltisch-awarisch-germanische Koch, Oseberg und Luristan (1931) II S. 17. Tierstil vor und nach der Völkerwanderung. Hier ist nirgends die plastische Nachahmung bestimmter Tierkörper angestrebt worden. Immer war die »Bewegtheit« selbst das Thema, das »Weben« in der nordischen Umwelt, das sich in den ornamentalen Ranken zu Köpfen, Beinen, Schwänzen, Flügeln, Krallen verdeutlicht. Wir nennen das fantastisch, aber es ist für die damaligen Künstler selbst nichts anderes als das Ergebnis eines metaphysischen Tiefblicks in die lebendige Natur und ihre Mächte. Zum letztenmal erlebt diese beseelte Ornamentik eine Blütezeit in der gotischen Kathedralplastik, wo sie Wände, Pfeiler und Portale umschlingt und durchdringt und selbst menschliche Gestalten mit ihren Gewändern sich einverleibt. Sie fügen sich durchaus der Architektur ein, die im Grunde nichts anderes als Ornament ist und sein will.

Es versteht sich von selbst, daß in diesem gewaltigen Umkreis von Formen im Ablauf von Jahrtausenden sich sehr verschiedene Fassungen dieser Weltanschauung spiegeln, verschiedene Rassen, Traditionen, Persönlichkeiten, und daß in den einzelnen Werkstätten der Töpfer, Schmiede und Weber sehr ausgeprägte Geschmacksrichtungen herangebildet worden sind. Die innere Einheit besteht trotzdem. Ob gerade die Tongefäße daran teilhaben oder nicht, und in welcher Art und Intensität, das hängt vom Zufall ab, davon, welchen Rang die Gefäße in der Kultur des Hauses einnehmen, inwieweit sie Luxusgegenstände sind, und vor allem davon, ob Werkstätten entstanden, welche den Ehrgeiz künstlerischer Leistung entwickeln konnten.

Aus diesem frühgeschichtlichen Bereich sind infolge kriegerischer Bewegungen, die immer wieder von Mittelasien nach allen Seiten ausgingen, fortgesetzt einzelne Stämme und ganze Schwärme von solchen, versprengte Trümmer, einzelne Sippen und Kriegertrupps nach Süden gezogen, erobernd oder fliehend. Der Typus des Landnomaden entstand, der dem Seenomaden der atlantischen Küste entspricht. Was im Osten und in der Mitte geschah, soll hier nicht erwogen werden; aber im fernen Westen wurde um 2000 die Welt der Tripoljestämme durch den Ansturm der »Okergräbervölker« vernichtet. Reall. d. Vorgesch. XIII S. 49 f. Es war wie später beim Einbruch der Skythen und der mit ihnen vorstoßenden Völkerschaften, der meiner Überzeugung nach die keltische Völkerwanderung zur Folge hatte, und noch später beim Erscheinen der Hunnen, von denen die germanische ausging: auch um 2000 müssen ganze Wolken von kleinen Stämmen aufgescheucht und in Bewegung gesetzt worden sein, um nicht wie viele andere zersprengt und vernichtet zu werden. Es muß dabei, wie ich oben gezeigt habe, mit der sehr geringen Menschenzahl der Zeit gerechnet werden. Solche Trupps von 10 bis 1000 Köpfen – mehr werden es sehr selten gewesen sein – sind vielfach in den menschenleeren Wäldern, Sümpfen und Gebirgen zugrunde gegangen. Sie hatten mehr gegen die Natur als gegen seßhafte Menschen zu kämpfen, die damals leicht entschlossen waren zu fliehen oder mitzugehen. Wir finden solche Eroberer oder Flüchtlinge in Thessalien, wo es der Gegensatz zwischen Sesklo- und Diministil beweist, und andere bis in den Peloponnes hinein. Aber Spuren südrussischer Ornamentik finden sich selbst in Unteritalien, auf Malta und auf Kreta zur Kamareszeit, Sogar in Ägypten seit der 12. Dynastie. Dazugehören die Knopfsiegel mit Spiralornamenten, die in China und der Ukraine viel früher vorkommen. und in solchen Fällen muß damit gerechnet werden, daß einzelne Handwerker als Auswanderer, Flüchtlinge oder Gefangene dorthin gelangt sind.

Ohne Zweifel ist das in Kreta der Fall gewesen, wo in der Formensprache der Kamareszeit, die sonst durchaus das Gepräge des westlichen Weltgefühls trägt und enge Zusammenhänge mit Sardinien, Ostsizilien, Malta, viel weniger mit Ägypten zeigt, deutlich nordische Elemente hervortreten. Es handelt sich selbstverständlich nicht um das Eindringen von ganzen Stämmen, sondern um einzelne Töpfer oder von ihnen begründete und beeinflußte Werkstätten, deren Formenschatz manchmal nur unmerklich an südrussische Motive anklingt. Die Seefahrt hatte sich um 2000, wie ich noch zeigen werde, schon längst ins Schwarze Meer vorgewagt, und sicherlich sind von dort und von den adriatischen Küsten auch Menschen geraubt worden, nicht nur gepreßte Rudersklaven und schöne Weiber, sondern auch gelegentlich tüchtige Handwerker, die man zu Hause für sich arbeiten ließ. Das alles erscheint nur in ungewissen Umrissen, aber mehr läßt sich an wirklich geschichtlichen Tatsachen aus der Keramik nun einmal nicht erschließen.

8

Viel wichtiger ist etwas Negatives, das in seiner vollen Bedeutung nie beachtet worden ist. In der Gesamtmasse der kretischen Funde fehlt jede Andeutung von historischem, politischem und selbst biographischem Bewußtsein, wie es gerade den Menschen der ägyptischen Kultur von den frühesten Zeiten des Alten Reiches an vollkommen beherrscht hat.

Es fehlt das durch Inschrift als solches bezeichnete Im ursprünglichen Gefühl frühgeschichtlicher Menschen und heute noch bei Kindern und einfachen Naturen wird die »Darstellung« eines Menschen erst durch die Beifügung des Namens vollzogen. Damit ist seine Person im Bilde »festgehalten«. Die Sicherheit des Wiedererkennens spielt vielfach überhaupt keine Rolle. Ähnlichkeit im Sinne künstlerischer Charakteristik ist immer ein vielumstrittenes Problem gewesen. Der darstellende Gegenstand brauchte nicht einmal Menschengestalt zu haben. Ein Steinblock, ein Holzpfahl, eine Puppe oder ein paar Striche an der Wand genügten, um durch den Namen das Wesen, ägyptisch den » ra«, des Namensträgers zu bannen, denn das Bildnis ist anfangs eine bannende Handlung, kein künstlerisches Werk gewesen. Die Kunst bemächtigt sich hier erst viel später einer neuen Möglichkeit des Ausdrucks, was durchaus nicht überall der Fall war. Bildnis von Personen, die im öffentlichen Leben Bedeutung hatten, und von Einzelpersonen überhaupt, sei es als Statue, Relief, auf Siegeln, Vasen, Geräten oder auf Wandgemälden in Häusern und Gräbern. Es sind genügend Wand- und Vasenbilder erhalten, um zu sehen, daß sie sämtlich ohne Inschrift waren. Aber gerade die Beischrift, gleichviel welchen Inhalts, verwandelt auch szenische Darstellungen aus Genrebildern in Bilder bestimmter einmaliger, also historischer oder biographischer Ereignisse. »Eine Reiterschlacht« wird erst dadurch zur »Schlacht bei X«, »Eine Hochzeit« zur »Vermählung von Y«. Die Einzelheiten können dabei frei erfunden sein und sind es meist auch.

Es fehlt überhaupt die Verwendung der minoischen Schriftarten zu monumentalen Zwecken, selbst eine monumentale Form dieser Schriften. Sie sind von Anfang an rein privat und kursiv, obwohl das ägyptische Vorbild sehr deutlich ist. Keine Wand, kein Portal, kein Grab zeigt etwa dergleichen, wieder im stärksten Gegensatz zu Ägypten und trotz der engen, auch politischen Beziehungen zu diesem Staat seit dem 16. Jahrhundert. Eines Tages wird man wahrscheinlich auch wissen, daß die Tontafeln, auf welche die Historiker so große Hoffnungen setzen, nichts oder wenig anderes enthalten als Rechnungen, Geschäftsverträge und allenfalls Rituale.

Es fehlt auf den zahlreichen Freskogemälden der Kaftizeit und den von ihr abhängigen Prunkvasen jede Andeutung eines politischen Ereignisses: einer Schlacht, Begrüßung, Unterwerfung, Belohnung, Bestrafung, Darbringung von Tributen und, was am meisten in Erstaunen setzt, jede Szene aus dem Leben der Seefahrer, während am Nil so gut wie alle Gräber, Heiligtümer und Paläste damit geschmückt sind. Was dargestellt wird, ist entweder kultischer Art wie die Stierkämpfe mit der zuschauenden »Gemeinde«, Opferhandlungen und Prozessionen, oder es sind Idyllen: Blumengefilde, ruhende, spielende, säugende, die Beute beschleichende Landtiere, erstaunlich gut gesehene Seetiere zwischen Tang und Klippen, krokuspflückende Knaben, kurz: das selige Leben in Elysion. Und darin beruht allein die Ähnlichkeit mit vielen ägyptischen Grabfresken, die dasselbe wollen, nämlich das Leben des Toten im Jenseits schildern.

Also nichts von »Königspalast« und »Staat«! Die Symbolik der Königstracht, die sich von Ägypten aus an den assyrischen, hethitischen und später den chaldischen und persischen Hof verbreitet hat, die geflügelte Sonnenscheibe vor allem, fehlt hier. Wäre Knossos Residenz gewesen wie Theben, Babylon, Ninive, so würden die Räume des »Palastes« ganz anders aussehen und die Kunst hätte ganz andere Aufgaben gehabt.

Der Ausdruck »Palast des Minos«, den Evans in allzu enger Anlehnung an hellenische Vorstellungen berühmt gemacht hat, verschleiert vollkommen den Blick für gewisse geschichtliche Tatsachen. Man sieht nur Knossos, und zwar als den politischen Mittelpunkt der Insel, nur einen Königssitz, nur ein »Reich«, und man verwechselt das, was wirklich gefunden wurde, mit der Einrichtung eines vornehmen englischen Landsitzes im 20. Jahrhundert. »Badezimmer der Königin!« Offenbar hatten Ihre Königlichen Hoheiten getrennte Schlaf- und Empfangsräume wie in einem Roman von Galsworthy. Darüber wurde einiges Wichtige übersehen. Knossos lag wie Phaistos einsam in der Ebene. Von einer »Stadt« ist keine Rede. Wenn es vornehme Wohnsitze wichtiger Persönlichkeiten gab, so waren es die Gebäude in Tylissos, Mallia, Hagia Triada, der »kleine Palast« und die »königliche Villa«, deren Anlage und Raumverteilung ganz anders sind. In Knossos und Phaistos fehlen die Säle, die zur Ausübung damaliger Herrscherpflichten notwendig gewesen wären. Die Räume sind klein und eng wie Mönchszellen. Und alle größeren Küstenplätze haben auf der Ostspitze der Insel gelegen.

Die »Prunkgemächer« sind ganz offenbar Kulträume. Was die späteren jonischen Dichter unter ἁσάμινϑος verstanden, die »Badewanne« nämlich – über das Wort wird noch zu reden sein – besagt noch nichts darüber, was hier gebadet wurde, wie und warum. Auch in der römischen Kaiserzeit sind Badewannen und Sarkophage oft nicht zu unterscheiden und sind oft genug das eine für das andere verwendet worden. Und ebensowenig wissen wir, ich hatte es schon gesagt, wer oder was auf dem »Thron des Minos« saß. In ägyptischen Inschriften ist immer nur von den »Großen der Kafti« die Rede, also offenbar einem Kollegium von Priestern oder Kaufleuten, dessen Sitz wohl Knossos (und Phaistos) gewesen ist, wie das abseits liegende Heiligtum des Poseidon Helikonios der des Bundes des jonischen kaufmännischen Patriziats. Deshalb kann trotzdem der Schwerpunkt der Seemacht wie in Jonien anderswo gelegen haben, nämlich im äußersten Osten der Insel. Hätte es einen »König von Kreta« gegeben – oder zwei –, dann würden die in staatsrechtlichen Dingen doch sehr erfahrenen ägyptischen Schreiber sich anders ausgedrückt haben.

Das alles ist sehr wenig, aber ich glaube nicht, daß die Tontafeln, wenn ihre Entzifferung gelingen sollte, das politisch-geschichtliche Bild wesentlich verdeutlichen würden. Eins indessen scheint mir doch sicher zu sein: wie in der Kamareszeit die Keramik, von den erwähnten nordischen Spuren abgesehen, viel weniger durch Ägypten bestimmt ist als vom fernen Westen, von »Tarschisch«, also etwa von Sardinien, Ostsizilien, Apulien, Malta, Tunis her, so ist auch in der Kaftizeit trotz des mächtigen Eindrucks der ägyptischen Weltzivilisation, dem sich niemand entziehen konnte, und trotz der grundsätzlichen Verwandtschaft der religiösen Anschauungen, der Lebensstil im Grunde unägyptisch gewesen. Und das weist darauf hin, daß sowohl die Herren der Kamareszeit als die Kafti eher aus dem Bereich des fernen westlichen Mittelmeeres als etwa aus Libyen stammten.

Das sind mehr Fragen als Antworten zur Geschichte der Insel, aber ich glaube, daß die notwendigen Fragen hier wenigstens deutlicher geworden sind und daß viele andere, weil sie falsch gesehen oder gestellt wurden, in Zukunft verschwinden werden.

Im 3. Jahrtausend, als die Bevölkerung der Insel bei weitem noch nicht 50 000 Menschen umfaßt haben kann, vielleicht nicht mehr als 10 000, gab es unter den winzigen Stämmen, die hier und dort saßen, sicherlich auch solche, die wie auf Kypros mit andern in Westkleinasien irgendwie verwandt waren. Darauf weisen die später ins Innere verdrängten Gebirgskulte hin, und noch deutlicher die Tatsache, daß damals an der Ostspitze kleine Hafenorte wie Mochlos und Pseira lagen, in denen die Funde Beziehungen zu Ägypten verraten, also einen Seeverkehr, der selbstverständlich über Byblos und an der Küste Südkleinasiens entlang ging. Sie sind gegen Ende des Jahrtausends verlassen oder zerstört worden. Das kann auf politische Umwälzungen in Westkleinasien deuten – auch die Piratenburg von Troja II ist in dieser Zeit zugrunde gegangen – und dann also auf ein Weiterwirken der eben erwähnten Katastrophe der Tripoljekultur bis in diese Gegend. Es kann aber auch die Folge der Landung westlicher Stämme bei Phaistos und Knossos gewesen sein, die dort die Kuppelbauten als Sippengrüfte der herrschenden Schicht und hier die Nuraghen unter dem »Palast« Diese Bauten sind so verschieden voneinander, daß sie vielleicht auf die Herkunft der Stämme aus ganz getrennten Gegenden des westlichen Mittelmeeres hinweisen, der eine etwa aus Ostspanien oder Tunis, der andere vielleicht von Sardinien oder Apulien her. hinterlassen haben, wie drüben in Tiryns den großen Rundbau. Es scheint, daß damals die Verbindung mit Kleinasien auf lange Zeit unterbrochen worden ist. Brachten diese Eroberer Sprachen mit, die sich länger erhalten haben? Gehört das »Protohattische« der Boghazköiurkunden, das mit keiner bekannten nordeurasischen Sprachgruppe zusammenhängt, vielleicht zu einer sonst ganz verschollenen Familie westlicher oder nordafrikanischer Herkunft? Es wäre in diesem Falle durch spätere politische Schicksale dorthin verschlagen worden, wo es Teile der Bevölkerung zur Zeit des jüngeren Hethiterreiches noch redeten. Hatten die kleinasiatischen Kulte der Muttergöttin denselben Ursprung im Westen und in diesem Jahrtausend? In die Welt nordeurasischer Religiosität passen sie jedenfalls nicht.

Sicherlich sind eben damals die großen Seewege aus dem westlichen Mittelmeer in die nördliche Adria und nach der südrussischen Küste entdeckt und gelegentlich befahren worden. Es waren ohne Zweifel kleine Schwärme verwegenster Abenteurer, echte Piraten, die das wagten. Sie haben hier und dort befestigte Stützpunkte angelegt wie das wichtige Troja II, das die Meerenge sperrte, vielleicht auch einige Emporien in der Nähe der großen Flußmündungen vom Don bis zur Donau, aber zur dauernden Ansiedlung von Stämmen noch so kleinen Umfangs ist es wohl selten gekommen. Zu erkennen ist ihre Anwesenheit und ihre Herkunft aus den Funden an der ostadriatischen Küste (Vinça) und in den Grabhügeln Ostbulgariens: Muschelringe, rohe Keramik von westlichen Typen, vor allem den zahlreichen primitiven weiblichen Stein- und Tonstatuetten kultischer Bedeutung, die von Spanien, Sardinien, Sizilien und Malta her überall die damaligen Seewege deutlich bezeichnen und mit den Kulten der Muttergöttin des alten Westens zusammenhängen. Es ist deshalb selbstverständlich, daß sie sich auch in den ältesten Schichten auf Kreta und den Kykladen in Menge finden.

Diese in der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends vorherrschende Bewegungstendenz wird in der zweiten Hälfte durchkreuzt von der andern, binnenländischen der nordeurasischen Nomaden, die unter anderm die Straßen von der Donaumündung und von Istrien zum Peloponnes für immer gebahnt haben. Ihre Züge oder doch das Schicksal einzelner Flüchtlinge wird durch die mehr oder minder deutliche Wirkung der Spiralornamentik bis nach Malta und Kreta hin bezeugt.

Aber »um 2000« wurde die sehr entwickelte Kultur von Malta völlig vernichtet – sind die Stämme ausgerottet worden oder geflohen? – und etwa gleichzeitig beginnt auf Kreta die Besetzung der beiden wichtigsten Punkte der Inselmitte durch stärkere westliche Stämme, die fortan ein dauerndes Element der Bevölkerung gebildet haben müssen. Stehen die beiden Ereignisse in irgendeinem Zusammenhang? Sind Reste der Maltastämme hierher gelangt? Handelt es sich um große Ereignisse, die noch viel weiter um sich gegriffen haben? Darüber werden wir nie etwas Sicheres erfahren. Aber ist die Gründung der Kamaresbauten an beiden Orten einheitlich oder im Gegensatz zueinander und in einem gewissen zeitlichen Abstand erfolgt? Ist der Stil des Kunsthandwerks hier und dort vollkommen identisch oder zeigen sich Stammesunterschiede? Man vergesse nicht, daß ein solcher Unterschied schon aus den voraufgehenden Kuppelgräbern und Nuraghen sprach. Verrät die Bautechnik gewisse Züge der späteren kleinasiatischen Art, z. B. in Boghazköi? Dann wären die unterworfenen Vorgänger als Handwerker daran nicht unbeteiligt gewesen. Wenigstens zeugt die primitive Keramik von deren weiterer Anwesenheit.

Jedenfalls wurden sie als Bauern und Hirten aus den fruchtbaren Teilen der Insel verdrängt und setzten eine armselige Lebensweise vor allem im Gebirge fort. Da die neuen Seestämme der Kamareszeit, welche die Mitte der Insel eroberten, wahrscheinlich wie später die Philister Das bekannte ägyptische Bild, auf dem sie mit Ochsenkarren, Weibern und Kindern einherziehen, beweist natürlich nichts dagegen, daß diese Weiber geraubt sind., Etrusker, Dorer und überhaupt fast alle Eroberertrupps in gleicher Lage zunächst nur aus Männern bestanden und mit den geraubten Weibern der unterlegenen Bevölkerung Kinder zeugten, so wird sich rassenmäßig und vielleicht auch sprachlich allmählich ihr Untergang vollzogen haben. Jedenfalls sind seit dem 12. Jahrhundert die Philister sehr schnell Kanaanäer und die Turscha Italiker geworden, aber die Organisation der Stämme, das In-Form-sein als bewaffnetes und herrschendes Volk, seine » Idee«, erhielt sich, und darauf kommt es geschichtlich an. Oder hat sich die Sprache der Kamaresleute durchgesetzt, weil sie durch eine eigene Schrift fixiert wurde?

Als dann »um 1600« die Kafti ihre Seemacht begründeten, war das Gebiet von Knossos und Phaistos sehr bald nicht mehr das wichtigste der Insel. Das ist überhaupt noch nicht beachtet worden. Die Kafti haben an der Ostspitze der lnsel Mochlos und Pseira wieder aufgebaut, in Kato Zakro, Petras, Palaikastro und an anderen Orten bedeutende Küstenplätze angelegt, d. h. sie haben den Schwerpunkt ihrer Beziehungen in der Richtung auf Alaschia zu verlagert. Ob es westlich von Phaistos ähnliche Siedlungen gegeben hat, ist bis jetzt noch nicht ermittelt. Hinter dem Namen der Kydonen kann sich noch manches Geheimnis verbergen. Aber welche Bedeutung hatten dann die alten Sitze von Knossos und Phaistos für sie? War dort die Priesterschaft der vorhergehenden Zeit mächtig geblieben, aus religiösen Gründen gefürchtet und verschont, eine Macht für sich, der man etwa den Schutz der gemeinsamen Archive anvertraute? Sind beim Wiederaufbau der großen Heiligtümer die erst jetzt entstehenden Herrenhäuser von Hagia Triada bei Phaistos und Tylissos bei Knossos zur Überwachung angelegt worden? In solchen Fragen liegt die eigentliche Geschichte der großen Umwälzung verborgen, die sich damals ereignet hat, aber sie lassen sich nicht beantworten.

9

Was hat das Wort Minos in der Sprache bedeutet, aus der es stammt? War es der Eigenname eines Gottes Oder seiner Inkarnation, etwa des heiligen Stieres? oder einer geschichtlichen Persönlichkeit, etwa des Stifters und Gesetzgebers des berühmten Heiligtums am Anfang der Kamareszeit, der vielleicht einmal in Ägypten gewesen war, oder des kriegerischen Gründers der Kaftimacht, der dann den Bau wieder hergestellt hätte und dort als Toter fortlebte und Opfer empfing? Oder war es ein erblicher Name, den der jeweilige Träger des höchsten Amtes führte? Die beiden Oberpriester des Heiligtums von Pessinus hießen stets Attis und Battakos, mindestens der erste zugleich Name eines Gottes, die beiden Priester des Tempels von Olbe in Kilikien, wo der Kaftiname sich später noch in der Form Japhet erhielt, stets Aias und Teukros. Wie steht es mit »Minus und Rhadamanthys«? Oder ein Titel, der sich aus einer sachlichen Bezeichnung wie pontifex oder einem berühmten Namen wie Caesar Oder Labarna, der Name eines alten Hethiterkönigs, der später im amtlichen Sprachgebrauch eine Bezeichnung des Herrschers überhaupt geworden ist. entwickelt hat? Oder bedeutete es endlich nichts weiter als Gott oder Herr, das heißt: Eigentümer des heiligen Bezirks? In Ägypten hatten viele Götter keinen eigenen Namen, sondern hießen einfach »der von Tonent« oder »die von Necheb«. Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. I, 2, § 182. Im Westsemitischen, also im weiteren Küstenbereich von »Alaschia«, bedeuten ebenso Baal Ebenda II, 2, S. 140. und Melek: Herr, Besitzer, so daß stets der Name des Objekts hinzugefügt werden muß. Melkart heißt »Herr der Stadt«. Nämlich Tyrus. Vgl. Athene Polias. Und in genau demselben Sinne verwenden die Hellenen im Gebiet vorhellenischer Kulte das Wort Heros, das meiner Meinung nach aus einer altindogermanischen, aber vorgriechischen Sprache stammt. Im Thrakischen ist Heros nach griechischer Angabe der Name eines Gottes gewesen. Perseus ist der Heros, also der »Herr« von Mykene. Zu diesem »westlichen« Begriff gehört fast notwendig das Heroengrab. Die »kuhäugige« Hera ist nichts weiter als die uralte Herrin der Landschaft Argos, also kein Name. Wilamowitz, Glaube der Hellenen I S. 237. Ihr Kult war seit homerischer Zeit ständig im Schwinden. Baale von Karthago heißen amtlich die Mitglieder der regierenden Bürgerschaft, deren Eigentum die Stadt ist, und nicht viel anders wird in der Ilias der Ausdruck Heros für diejenigen Kämpfer verwendet, die daheim Besitzer, Herren des Gebietes sind. Die Bedeutung Held oder Halbgott liegt noch ganz fern. Der Name Minoa, den später manche Orte, Inseln, Vorgebirge von Sizilien bis Palästina führten, wäre also ursprünglich Eigentumsbezeichnung gewesen? Wie vielleicht der Name Ἀθῆναι zuerst den Burghügel als Eigentum der Göttin mit dem vorgriechischen Namen bezeichnet hat?

Ein Nachleben der »minoischen« Religion darf man nicht in griechischen Sagen aus der epischen Frühzeit suchen. Da beherrscht die nordeurasische Erobererschicht auch die Weltanschauung. Alle Gestalten und Geschichten sind aus nordischem Schauen und Fühlen geschaffen oder im Weitererzählen umgebildet worden; nur die Namen stammen zum großen Teil aus der alten Zeit und haften vielfach – nicht immer! – noch am alten Ort. Außerdem liegen Jahrhunderte zwischen dem Untergang der Kaftimacht und dem Erwachen der antiken Seele. Die Namen gingen aus einer in die andre Sprache über, bis sie die griechische Form erhielten, zum Teil übersetzt wurden (Pasiphaë, Phaiaken), und die an sie geknüpften Sagen haben ebenso oft Sinn und Fassung gewechselt. Es ist bezeichnend, daß die Griechen der geometrischen Zeit von einem Palast in Phaistos überhaupt nichts wissen, und auch der Name Minos hatte damals wenig Bedeutung. Er hat sich, vielleicht aus einer Mehrzahl zum mindesten gleichwichtiger Namen, nur deshalb erhalten, weil er an der großen Ruine haftete, die in einer Sprache des 14. oder 13. Jahrhunderts das »Labyrinth« hieß. An diese Trümmer mit den verwitternden Fresken und düstern Gängen, in denen man vielleicht hier und da noch Kostbarkeiten ausgrub, hefteten sich neue Sagen vom Minotaurus, von Pasiphaë und Ariadne, aus einer Fantasie heraus geschaffen, die sicher nicht mehr die der Kafti war. Ebenso sind die bretonischen Riesensagen um die Menhirs (»Steinmann«) und Dolmen (»Steintisch«) entstanden, von deren Bedeutung als Grabbauten 2000 Jahre vorher diese erst nach der Römerzeit eingewanderten Kelten nichts ahnten. Lebendig blieben dagegen in den unterlegenen Bevölkerungen nicht in Kreta allein die Anschauungen vom Totenreich, den seligen Inseln, den Totenrichtern, wie sie der gesamte Westen in vielerlei Fassungen kannte, vor allem auch Unteritalien, Sizilien, Sardinien mit der etruskischen Küste gegenüber und die Gebiete der Kuppelgräber in Griechenland. Davon wollten die Dichter und Krieger der frühantiken Herrenschicht nichts wissen. Es dringt erst mit der »dionysischen« Religion seit dem 7. Jahrhundert wieder herauf, die sich im Volkstum der wachsenden Städte geltend macht und zahlreiche Namen der Urzeit wieder zum Vorschein bringt. Es ist falsch, diese Welt von Sagen und Denkweisen auf Grund von Kombinationen antiker Schriftsteller aus Thrakien oder Phrygien herzuleiten. Sie war längst im Lande, vor den Herrenstämmen; aber erst jetzt wird sie wieder eine Macht, und zwar in steigendem Maße bis in die römische Kaiserzeit, während die Herrenschicht sich an der selbstgeschaffenen Kultur verzehrt. Mit ihr beginnen die Jenseitshoffnungen und -ängste, die Stierkulte mit der Krönung im Mithrasglauben, Der Kult selbst stammt mit dem Namen des Gottes aus dem Osten, aber die Rolle des Stiers in ihm ist westlich. der Orgiasmus, das Bluttrinken und die dem patriarchalischen Norden ganz fremde Rolle des Weibes in der Ausübung öffentlicher Kulte. Auch im alten China und Indien wäre eine Priesterin etwas Lächerliches gewesen. Kassandra wird erst in der Dichtung seit dem 7. Jahrhundert zur Priesterin.

Aber wie alt ist der Name Minos und in welche Sprache gehört er? Beide Fragen meinen im Grunde dasselbe. Es muß immer wieder davor gewarnt werden, von »der« pelasgischen, karischen, ägäischen Ursprache zu reden. Das sind gelehrte Schubfächer, in denen alle erreichbaren Namen, Wurzeln und Endungen aus Jahrhunderten zusammengeworfen werden, um sich die Sache leicht zu machen. Es sind selbstverständlich auf Kreta wie damals überall viele Sprachen geredet worden, nicht nur neben-, sondern auch nacheinander. Ich werde noch zeigen, daß auch die Endungen -nthos (Tiryns, Korinth, Labyrinth) und -essos (Tartessos, Odessos, Halikarnassos) aus verschiedenen Sprachen stammen, die erst nach 1400 größere und örtlich verschiedene Verbreitung fanden, und zwar aus politischen Gründen. Es ist doch klar, daß der Nuraghenstamm von Knossos und der Kuppelgräberstamm von Phaistos, die gegen Ende des 3. Jahrtausends diese beiden Landschaften für Jahrhunderte zu Schwerpunkten der politischen Gestaltung der Insel gemacht haben, nicht von derselben Herkunft waren und also nicht die gleiche Sprache redeten. Aber haben diese Sprachen sich während der Kamares- und sogar der Kaftizeit gehalten? Als Bauernsprachen vielleicht, als Herrensprachen gewiß nicht. In eine Sprache von Phaistos scheinen die Namen Rhadamanthys (auch Bradamanthys) und Britomartis gehört zu haben, auch Velchanos, der nur hier vorkommt. Stehen Phaistos und, Hephaistos, beides vorgriechische Namen, Velchanos und der italische Volcanus, der dann später mit Hephaistos gleichgesetzt wurde, in engerem Zusammenhang? Aber aus welcher Sprache stammen die sicher ebenfalls kretischen Namen des Kronos Kronos sitzt bei Homer und Hesiod im Tartaros, bei Pindar und Aischylos auf den seligen Inseln. War das nur der Name des Minos in einer andern Sprache? und der Korybanten? Wir wissen nicht einmal, wie das Heiligtum von Knossos oder dessen Landschaft zur Kaftizeit hieß, denn die griechischen Schriftsteller kannten noch andere Namen, Trita und Kairatos. Wenn das richtig ist – welcher von ihnen war der letzte, der vor der endgültigen Zerstörung galt? In Trita steckt der Name eines großen Gottes, in griechischer Form Triton. Damit hängen Tritogeneia (Beiname der Athene), Auch Trito und Tritonia. Amphitrite, die Tritopatores (vielleicht eine Priesterschaft) und der Totenrichter Triptolemos zusammen, dessen nichtgriechischer Name doch sicher mit Trit- anfing. Triton heißen viele Flüsse, auch ein Fluß und See an der libyschen Küste. In der griechischen Sage war es eine Meergottheit. Darf man daraus schließen, daß zur Kaftizeit der Gott der Schiffahrt oder des Meeres so hieß, vielleicht der, welcher die Seelen auf der Totenbarke nach dem Jenseits geleitete?

Gewiß ist nur, daß die Worte Tartaros und Elysion in ihrer ursprünglichen Form aus der Kaftisprache stammen, weil sie auch herrschende Fahrtbezeichnungen der Seeleute wurden, was nur zur Zeit der Seemacht dieses Herrenstammes möglich war. Aber der Name Minos muß sehr alt sein, wenn er, wie ich glaube, mit dem kleinasiatischen Men verwandt ist. In der uns erhaltenen Literatur und den Inschriften taucht diese Gottheit, oder was es sonst ist oder inzwischen geworden ist, erst seit dem 5. Jahrhundert auf und wird dann immer häufiger genannt, aber das beweist nur, daß die vorantike Unterschicht mit ihren Kulten und Mythen langsam in die höhere Religiosität der Antike hineinwächst. Selbstverständlich haben spätgriechische Schriftsteller darin einen Mondgott erkennen wollen, weil im Griechischen neben dem feierlichen Ausdruck Selene noch ein Wort μήν für Mond und Monat vorkommt, das vielleicht Lehnwort aus einer anderen nordischen Sprache ist; und eine Mode der letzten Jahrzehnte, die überall Sonnen- und Mondverehrung, Sternwarten, Sonnenräder und dergleichen sucht und findet, hat das wieder aufgenommen. Die auf kleinasiatischen Darstellungen – nicht des Men! – vorkommende Mondsichel beweist das Gegenteil. Sie ist infolge der weiblichen Monatsregel das uralte Symbol der Muttergottheit. In Spanien läßt sie sich von den ältesten Zeiten an über iberische, phönikische und römische Grabsteine bis zu den Madonnen Murillos verfolgen. Die Namen wechseln: Tanit, Isis, Venus, Maria, aber die Idee bleibt dieselbe. Aber wenn Men καταχθόνιος der Unterirdische und τύραννος heißt, wenn es Gelübde τᾷ Ἑκάτᾳ καὶ Μανί gibt und der Königseid der pontischen Fürsten nach Strabo (XII, 557) τύχην βασιλέως καὶ Μῆνα Φαρνάκου lautete, wenn in zahllosen uralten Ortskulten das Wort mit seltsamen Eigennamen aus verschollenen Sprachen verbunden ist, die z. T. sichtlich Genitive oder besitzanzeigende Adjektive sind, Μὴν Τιάμου, Καυαληνός, Ἀζιοττηνός, Καμαρείτης usw. dann ergibt sich ohne allen Zweifel, daß es sich um die fortwirkende Totenseele des Begründers des Stammes, Kultes, Ortes oder der Dynastie handelt, mithin um eine Totengottheit westlichen Stils, die ein Grabheiligtum und einen Kult besaß. Dahin also, und nicht in die phrygische oder lydische Sprache gehört Manes, der als Ahn der lydischen Könige und als Stammvater der Phryger galt. Er ist viel älter als diese beiden Stämme. Vielleicht gehört sogar der Name des Chalderkönigs Menuas in diesen Kreis, und damit würde die Vermutung Lehmann-Haupts, daß das herrschende Element im Staate Urartu irgendwie aus Südwestkleinasien dorthin gekommen sei, an Wahrscheinlichkeit gewinnen, Armenien einst und jetzt II S. 678; Klio 27 S. 350. zumal dieser beste Kenner der chaldischen Kultur neben deren sehr starken Verbundenheit mit der nordeurasischen Formensprache, vor allem der oben erwähnten Tierornamentik seit dem Anfang des ersten Jahrtausends, immer wieder auf den engen Zusammenhang mit Kreta und weiter mit Mittelitalien in Bau- und Schmiedetechnik und künstlerischem Ausdruck hinweist. Natürlich war der Weg umgekehrt. Der alte Westen hat die geschichtliche Wirkung seiner Stämme, mag sie gewesen sein wie sie will, überall tief in das vorderasiatische Festland hinein erstreckt. Dafür zeugen die armenischen wie die von E. Brandenburg Die Denkmäler der Felsarchitektur (1930). untersuchten kanaanäischen Felskammerbauten, die ihre weit älteren Vorbilder rings an allen Küsten des westlichen Mittelmeers haben. Und von hier stammt ja der Glaube an das Fortleben im Jenseits, an Totenreiche Es ist deshalb sehr wohl möglich, daß die Phaiaken – wenn das Wort griechisch ist und Graumänner bedeutet (Wilamowitz, Glaube der Hellenen I S. 314) – auf Vorstellungen der Kaftizeit zurückgeht, wonach sie die Toten nach der Insel der Seligen fuhren, und daß daher das Bild des glücklichen Phaiakenlandes stammt. Aber das ist so vollkommen von der Fantasie äolisch-jonischer Dichter umgestaltet worden – eine ältere Fassung kennen wir nicht –, daß jeder Versuch, daraus das Urbild oder gar die geographische Lage zu ermitteln, sinnlos ist. und Totenrichter, das Häuptlingsgrab als Heiligtum und Mittelpunkt des Stammes und also auch ein erheblicher Teil der Heroenkulte im Gebiet der vorgriechischen Kuppelgräber. Irgendwie hängt das mit der »dionysischen« Religiosität zusammen: In dieser westlichen Weltanschauung berührt sich das Denken über Zeugung und Sterben wie noch nach Jahrtausenden der Glaube an die unbefleckte Empfängnis und den sterbenden Heiland. Bachofen hat zuerst auf die Symbolik des Geschlechtslebens, die wir obszön nennen, in den Gräbern und Kulten des ganzen Gebietes aufmerksam gemacht und daraus zum Teil sehr bedeutende, zum Teil fantastische Schlüsse gezogen. Orgiasmus und Totenkult sind hier nirgends zu trennen, so wenig als Karneval und Karfreitag im heutigen Südwesten Europas. Auch Dionysos ist der getötete und wiederkehrende Erlöser. Wie die Totenbarke im Osiriskult, so spielt das Schiff bei den Dionysien eine Rolle. Nach weit verbreiteter Ansicht kommt Karneval vom carrus navalis her. Auch die wahrscheinliche Verwandtschaft der Namen Aphrodite und Pherephassa hatte ich schon hingewiesen. Und deshalb ist es wichtig, daß die Muttergöttin des Westens bis tief nach Kleinasien und Syrien eindringt. Im 3. Jahrtausend zeigten die oben erwähnten weiblichen Tonidole den Weg bis ins Schwarze Meer. Im zweiten waren es die großen Kulte und Heiligtümer: in Ephesos das der »Artemis«, Auch dieser Name ist selbstverständlich jünger als der Kult. in Samos wie in Argos das der Hera, der »Herrin«, in Pessinus das der Großen Mutter, auf Kypros das der Aphrodite in Paphos, an der gegenüberliegenden Küste die Kulte der Astarte, die nichts mit babylonischer Anschauung zu tun hat. Das alles ist nicht ohne die Vermittlung von Kreta möglich gewesen: Der Weg von Tartessos nach Alaschia führt mit Notwendigkeit über die Stelle, von wo aus diese Begriffe gedacht sind.

Vom Westen her kam auch der heilige Stier als Inkarnation der Gottheit, weil sie in seiner Gestalt »das Leben« als Stärke, Wut und Fruchtbarkeit am gewaltigsten zur Schau stellte. Außer Ägypten hat uns vor allem das alte Sardinien sehr viele Zeugnisse für seine Verehrung gegeben, Altheim, Studi e materiali di storia delle religioni (1934), XII S. 145ff. aber sie fehlen auch nicht in Spanien, auf Malta und im frühesten Unteritalien.

Im urgeschichtlichen Südasien hatte das Rind eine ganz andere Bedeutung. Da wurde es gehegt als das vornehmste Opfer an die Götter; es war heilig nicht als Objekt, sondern als Mittel der kultischen Handlung. Von hier ging spätestens im 4. Jahrtausend seine Züchtung und Verwertung zuerst durch die Priesterschaft, dann durch das Bauerntum aus. Es war das älteste wirkliche »Haustier«. Die »Idee« des Haustiers, der Ersatz der Jagd durch die Zucht, stammt von hier, lange vor dem Anbruch der babylonischen Hochkultur, und ist von hier aus noch im 4. Jahrtausend nach Ostasien, Europa und Nordafrika vorgedrungen. Nicht nur sein Fleisch war wichtig; auch seine ruhige feierliche Kraft im Schreiten wurde zum Fortbewegen des Wagens erst bei kultischen Umzügen, dann allgemein zum Transport von Lasten und zum Ziehen des Pfluges nutzbar gemacht. Der Räderwagen selbst ist hier entstanden. Nach dem Vorbild der Priester und Mächtigen haben die Kleinbauern den Gedanken der Züchtung auf geringere Tiere, Schafe, Ziegen und Esel angewendet. Der sehr viel späteren Zucht des Pferdes liegt eine ganz neue, kriegerische Idee zugrunde, von der in anderem Zusammenhange gesprochen werden soll. Ich habe das Ostasiat. Ztschr. 1934, 1./2. Heft S. 56 ff. angedeutet. Der Stier war hier niemals Gott, sondern nur sein Symbol, sein heiliges Tier: so konnte er zum Sternbild werden. Im eurasischen Norden, wo man in der Umwelt unpersönliche Mächte, keine Gottpersonen sah, war der Stier – gelegentlich, neben und nach andern Tieren – nur Sinnbild und unterscheidendes Abzeichen menschlicher Organisationen, von Sippen, Stämmen, der Macht des Häuptlings oder der Kriegerschaft.

In Kreta erscheint demnach die Stierverehrung schon früh im 3. Jahrtausend. Aber die »Stierkämpfe«, Menschenopfer für und durch den göttlichen Stier – die zahlreichen Bilder enthalten nicht die geringste Andeutung, daß auch einmal der Stier von dem (unbewaffneten!) Opfer hätte getötet werden dürfen – gehören ausschließlich zur Religion der Kafti. Sie erscheinen mit den jüngeren Palästen, also »um 1600«, und ihr großer Stil verfällt mit dem Niedergang der Seeherrschaft von Tartessos und Alaschia. Man kann an der Reihe von Darstellungen noch verfolgen, wie die Kämpfer mehr und mehr dressiert worden sind, so daß der Gott sich mit der Andeutung des Opfers begnügen mußte. Der Tod wurde allmählich durch ein sportmäßiges Spiel ersetzt, an dem bei den großen Festen die zusammenströmende Menge ihr Vergnügen fand. So sinken alle ursprünglich von heiligen Schauern umwehten Handlungen in allen Religionen langsam zu bloßen Schauspielen, zu Kirmeß und Karneval herab. Die Gladiatorenkämpfe im römischen Zirkus sind aus Zweikämpfen hervorgegangen, in welchen die Gefährten des Toten an dessen Leiche sich ihm zu Ehren opferten. Die spanischen Stierkämpfe, über deren sicherlich sehr frühen Ursprung bisher wenig ermittelt worden ist, waren noch zur Barockzeit ein äußerst gefährliches Privilegium des Adels. Der einzelne Mann trat mit dem Degen in der Hand dem Tier entgegen, um seine Geschicklichkeit zu zeigen. Erst im 19. Jahrhundert ist das zu einem Pöbelschauspiel entartet, bei dem berufsmäßige Truppen ein nur noch scheinbar gefährliches Gewerbe ausüben. Jeder Stier wird in etwa 20 Minuten »erledigt«. Ebenso sind die Stierspiele, als die Burgherren von Tiryns und Mykene, wie die Reste von Gemälden etwa des 14. Jahrhunderts zeigen, an ihnen Geschmack fanden, sicherlich bloße Unterhaltungen ohne religiösen Sinn gewesen, bei denen sich entweder gewerbsmäßige Akrobaten zeigten oder Sklaven und Kriegsgefangene getötet wurden.

Religiöse Lehren, welche in der Frühzeit des theoretischen Nachdenkens so schwierig zu erfassen und sprachlich auszudrücken sind wie die vom Leben nach dem Tode und der Notwendigkeit einer dauernden Totenpflege, können unmöglich entstanden sein ohne eine berufsmäßige Priesterschaft, die sich zugleich mit den großen Grabheiligtümern entwickelte. Mag der steinerne Grabbau selbst das Werk und der Mittelpunkt des Stammes sein; die Praxis des Kultes wurde vom Häuptling und seinen Leuten weder verstanden noch ausgeübt. Das richtige Wissen der Gebräuche war ein Geheimnis, ein wertvolles Privilegium einzelner Familien oder einer Gruppe, die sich die Nachfolger selbst wählte und erzog. Kämpfen, jagen, fischen, rudern konnte und mußte jeder Mann im Stamme können, aber die priesterliche Tätigkeit war ein technischer Beruf wie Töpfern und Schmieden, der erste geistige Beruf neben den frühesten Handwerken. Mit dem Priester beginnt die Gelehrsamkeit. Seine »Wissenschaft« der Regeln, Methoden und Kunstgriffe mochte noch so primitiv, und die Zahl der Priester im Verhältnis zu der ohnehin sehr kleinen Kopfzahl des Stammes noch so gering sein; in der Zugehörigkeit lag eine Macht, die man zu benutzen verstand. Praktischer Kult und theoretisches Wissen gehören zusammen, Unt. d. Abendl. II Kap. 3 § 15. und mit der wachsenden Kultur entsteht eine priesterliche Hierarchie zugleich mit einer dogmatischen Tempellehre – und damit, wenigstens im Westen, ein natürlicher Gegensatz des Oberpriesters zum Häuptling, des Heiligtums gegenüber dem Stamme. Unt. d. Abendl. II Kap. 4 § 2. Die Götter sind hier nicht die der Stämme, sondern der Heiligtümer, und nur weil diese innerhalb der Stammesgebiete liegen, hat der einzelne Stamm den Vorteil des Schutzes und der großen Feste oder den Nachteil der Feindschaft. Das Ringen zwischen Gottesstaat und Weltstaat, zwischen geistlicher und staatlicher Politik ist im alten Westen sicherlich schon im 4. Jahrtausend keimhaft angelegt, und es wächst in den westlichen Hochkulturen von der ägyptischen bis zur abendländischen an metaphysischer Leidenschaft bis zu Erschütterungen, welche die gesamte seelische Existenz bedrohen. Den Gipfel hat es im Kirchenstaat erreicht, der sich um den Grabtempel des Petrus bildete, in der päpstlichen Hierarchie, die mit den Orsini und Colonna, mit Florenz, Mailand, Neapel und darüber hinaus mit allen Kronen der christlichen Welt im Kampfe lag.

Es gehört dazu, daß jedes Heiligtum seine eigne Lehre und seinen eignen Kult besitzt, durch die man »allein selig werden kann«. Schon in Ägypten ist das voll entwickelt, und die Geschichte dieser Hochkultur ist von unaufhörlichem Ringen der großen Tempel untereinander und gegen die Dynastien durchsetzt, die zum Spielball priesterlicher Interessen werden, sobald ihre eigene Kraft versagt. Osirisgräber gab es in Busiris, Memphis und Abydos. Osirisreliquien wurden an vielen Orten verehrt, der Kopf z. B. in Abydos. Einige Glieder waren mehrfach vorhanden, ganz wie in der katholischen Kirche. Die Priesterschaften von Heliopolis, Theben und Memphis, Staaten im Staate, haben große Politik getrieben und Geschichte gemacht, was noch lange nicht genügend untersucht und in den historischen Darstellungen berücksichtigt worden ist. Zuletzt hat um 1085 das Geschlecht der Oberpriester des Amon von Theben durch Hrihor sich des ägyptischen Thrones bemächtigt.

Frühgeschichtliche Tatsachen, welche diesen der inneren Form und Tendenz nach, wenn auch nicht an Größe und Wirkung in die Ferne von Zeit und Raum entsprechen, muß es in der Bretagne, in Spanien, auf Malta und Sardinien gegeben haben, sobald die Steinbauten der Gräberkulte eine monumentale Gestalt erhielten. Sie sind für immer in Vergessenheit versunken, aber es ist unmöglich, daß sie neben den Bauten gefehlt haben sollten. Immerhin gibt es späte Spuren am Rande des großen Gebietes. Dazu gehören die hierarchischen Priestertümer in dem Konglomerat von Resten viel älterer Einzelreligionen, das die Römer als etruskische Religion bezeichneten und von dem sie sehr starke Elemente in Gestalt der Augurn, Haruspices und sogar des Pontifikalkollegiums Es war der Organisation, Lehre und Tätigkeit nach durchaus »westlich«. »Nordisch« berührt nur die Tatsache, daß es stets die Politik der regierenden Geschlechter gestützt hat, also gewissermaßen Hauspriestertum des Staates war. in ihrer eigenen Stadt besaßen. Ebenso sind die Druiden, deren Hierarchie den Kelten als nordischen Stämmen innerlich ganz fremd war, aus der Religion der eingeborenen Stämme des alten Westens übernommen worden. Der Beweis liegt darin, daß die kleinasiatischen Kelten nicht die geringste Andeutung davon besaßen – ebensowenig die Kelten in der Poebene – und daß sie dafür das uralte Heiligtum von Pessinus übernahmen, ehrfürchtig verehrten und dessen Priesterämter mit Vornehmen der eignen Geschlechter besetzten. Man hat früher sogar geglaubt, daß die Bezeichnung der verschnittenen Priester als galli von dem eignen Galliernamen herrühre, indessen ist sie viel älter. Es ist wie mit dem Papsttum, dessen leidenschaftlichste Verteidiger Kelten und Germanen gewesen sind. Das war »Dienst« und Treue, oft selbst gegen die eigne Überzeugung.

Der eurasische Norden hatte eine andere Art, seine Frömmigkeit in Form zu bringen. Ein Priestertum als Sonderorganisation, als »Kirche« neben und gegen Stamm und Staat gab es nicht, auch keine herrschsüchtige Lehre und keinen symbolischen Tempelbau. Das Volk im heißen lässigen Süden hatte das Denken und Handeln in kultischen Dingen gern andern überlassen und war ihnen gefolgt. Hier aber war jeder sein eigner Priester und hatte seine eigenen Gedanken über die Mächte draußen und sein Verhältnis zu ihnen, und er lehnte jede Gewalt ab, die seinen privaten Glauben zu erfahren oder als »Bekenntnis« zu gestalten wünschte. Daß dieser trotzdem viele gemeinsame Züge hatte, lag am gleichen Instinkt und nicht an einer geistigen Schulung. Der religiöse Individualismus, die innere Freiheit, die Scham, seine geheimsten Gefühle und Überzeugungen vor Fremden zu entblößen, der »Protestantismus« gegen jeden Versuch, eine Herrschaft über die Seelen zu begründen – denn das bleibt sein letzter Sinn – ist von Nordeuropa bis China stets die Glaubensform aller tiefen Naturen gewesen. Daß sie sich immer wieder gegen den geistigen Machtwillen von Gemeinschaften irgendwelcher Art behaupten mußte und daß ein siegreicher Protest regelmäßig die Grundlage einer neuen Orthodoxie und Kirche wurde, gehört zum Charakter gerade der abendländischen Geistesgeschichte. Das gilt vom Luthertum und Kalvinismus, von Voltairianern, Jakobinern und Sozialisten bis zu den Freidenkern des vorigen Jahrhunderts und allen philosophischen und wissenschaftlichen Schulen.

Überall im Norden pflegte der pater familias für das Haus, der Häuptling für den Stamm die Beziehungen zu den Mächten der Umwelt, Wissowa, Religion und Kultus der Römer, S. 412 f. Wilamowitz, Glaube der Hellenen I S. 36 ff. Schindler, Das Priestertum im alten China, S. 4, 35. und ihr Ansehen, unter Umständen ihre Stellung hingen von dem »Glück«, Grönbech, Die Germanen, in Chantepie de la Saussaye, Lehrbuch der Religionsgeschichte (1925) II S. 555 ff. der heiligen Kraft, ab, die sich bei Ausübung der Bräuche und bei jeder Tat überhaupt durch den Erfolg bewährte. In China ist daraus die Lehre von der glückbringenden »Tugend« des Kaisers geworden. Wenn die kosmischen Mächte das Land durch Dürre, Überschwemmung, Krankheit, Niederlagen heimsuchten, so lag der Grund in der mangelnden »Tugend« des Herrschers. Eng damit verwandt ist die Verehrung der virtus, fortuna, spes Augusta im kaiserlichen Rom. Es gab überall Staats-, Geschlechter- und Hauskulte, aber keinen unabhängigen Tempelkult. Der Gode im alten Island, der Schamane in Nordasien, der »Priesterbeter« ( chuh) in China, der Purohita (Hauspriester) der altindischen Könige der Vedazeit waren wie die Vorbilder der dichterischen Gestalten von Kalchas und Teiresias Privatpersonen, die aus ihrer Sehergabe, Zauberkraft und Beschwörungskunst ein Gewerbe machten und die man berief, wenn man sie brauchte. Maspero, La Chine Antique (1927), S. 197 ff. Die religiöse Funktion des Stammeshäuptlings hat sich in Rom – wie in den hellenischen Stadtstaaten – im rex sacrorum erhalten. Wo in den nordeurasisch gestalteten Hochkulturen der Priesterstand eine Macht war wie im vedischen Indien und im gotischen Abendland, da liegt es daran, daß die erobernden Herrenstämme diese Macht vorfanden und als gegebene Größe um ihrer Zaubergewalt willen verehrten und sich zunutze machten, ganz nach der altrömischen Formel di quibus est potestas nostrorum hostiumque. Unt. d. Abendl. I S. 518. Ebenso ragen in die antike Welt der Stadtstaaten die Priesterstaaten von Delphi und Eleusis als Fremdkörper aus der Vorzeit herein, der zweite von Athen sicher nicht ohne Widerstand einverleibt, der erste sich gegen die hellenische Staatsidee behauptend, nachdem er sich in langen Kämpfen aus dem phokischen Stammesverband gelöst hatte. Aber nicht anders stand es im weiteren östlichen Umkreis der Kaftiwelt: Das Didymaion bei Milet, der Tempel von Ephesos, die kyprischen Heiligtümer, deren priesterliche Hierarchie den anders denkenden Griechen immer aufgefallen ist, die »Gottesstädte« im Hethiterreich Götze, Kleinasien (1933) S. 96. sind Staaten im Staat gewesen. Wie die Branchiden am Didymaion gegen das jonische, so haben die Priester von Pessinus sich gegen das galatische Volkstum gewendet, dem sie durch ihre Geburt angehörten, um für die Interessen des Tempelstaates zu wirken. »Das Amt war stärker als das Blut.« Stähelin, Geschichte der kleinasiatischen Galater (1907) S. 77.

Von solchen Tatsachen der kulturverwandten Umwelt aus haben wir die Lage der Kaftizeit zu beurteilen, von der wir unmittelbar nichts wissen. Die Tatsache einerseits einer oligarchischen Seeherrschaft, andrerseits von Heiligtümern westlichen Stils, die von alten, vielleicht längst verschollenen Stämmen begründet waren und die seitdem eine eigne Politik getrieben haben müssen, auch wenn ihre Priester aus den ersten Familien der Kafti stammten, steht wahrscheinlich in irgendeinem Zusammenhang mit dem Anbruch und dem Ende der Kaftiherrschaft, die beide von einer vollkommenen Zerstörung der großen Tempel begleitet waren.

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Hier, wo vom Priestertum die Rede war, muß auch dasjenige Kulturelement erwähnt werden, das überall von Priestern entwickelt und gepflegt worden ist und immer eng mit deren Schicksal verwachsen blieb: die an das gesprochene Wort gebundene Schrift. Selbstverständlich denke ich nicht an einen Entzifferungsversuch der minoischen Schriftarten, aber es gibt grundlegende Fragen, die bisher nie gestellt oder kaum beachtet worden sind.

Das Schreiben und Lesen ist seinem Ursprung nach priesterliches Geheimwissen. Zum Folg. Unterg. d. Abendl. II Kap. 2, § 13. Die Schreiberschulen gehörten seit Entstehung der sumerischen und der Hieroglyphenschrift stets und überall zu den Heiligtümern, den Tempeln, Moscheen, Klöstern und Kirchen. Noch das englisch-französische Wort für Schreiber, clerk, stammt von clericus, dem Priester der Karolinger- und Normannenzeit. Mit dem Beruf des Priesters überhaupt beginnt die Gelehrsamkeit in ihrer primitivsten Form. Sein »Wissen« von kultischer Praxis und mythischer Theorie ist die früheste Art von Wissenschaft, aus der sich Theorie und Praxis aller folgenden, Naturwissenschaft, Medizin, Philosophie, entwickelt haben. Noch die heutige theoretische Physik stammt in ihren Grundbegriffen, ohne sich dessen bewußt zu sein, von der christlichen Theologie der gotischen Jahrhunderte ab. Unterg. d. Abendl. I Kap. 6 Mit der Kenntnis des wortgebundenen Schreibens und Lesens aber beginnt die » Bildung«, ob man es nun selbst kann oder schreiben und sich vorlesen läßt. Sie bedeutet das Verfügen des Bewußtseins über den schriftlich festgehaltenen, geistig geformten Schatz an erreichter, ererbter Kultur. Das Geschriebene ist das Gedächtnis aller Hochkulturen, das der einzelne im Lauf seines Lebens und im Verhältnis zum Rang seiner Persönlichkeit erwirbt. Das ist der Sinn aller historischen, weltanschaulichen und sonstigen »Literatur«. Wer seelisch nur im Tage lebt und nur in dessen Meinungen denkt, der hat keine Kultur.

Die Art und Weise, andern etwas durch ausgewählte, logisch bedeutungsvolle Zeichen mitzuteilen, ist durch das empfangende Organ, Auge oder Ohr, bestimmt. Irgendeinen Vorrang zwischen ihnen gibt es ursprünglich nicht. Beide Methoden der Verständigung kamen auf, sobald man sich etwas persönlich Unterschiedenes mitzuteilen hatte, sobald man also nicht mehr ganz im tierhaft-instinktiven Gesamtbewußtsein lebte. Beides ist mithin gleich alt und reicht bis ins 5. Jahrtausend zurück. Aber es besteht ein wichtiger Unterschied: Einen Ruf, Schrei oder Pfiff muß jeder hören, soweit der Schall reicht, und er dauert nur einen Augenblick. Ein bildhaftes Zeichen fürs Auge sieht man nur, wenn man es sucht oder zufällig darauf aufmerksam wird, aber es besteht weiter und läßt sich mit beweglichen Gegenständen, einem Rindenstück etwa, aufbewahren und forttragen. Es wendet sich vor allem an solche, die im Augenblick der Zeichengebung abwesend sind. Es befreit die Mitteilung von den Schranken des Jetzt und Hier. Wir nennen das eine in seiner vollkommensten Ausbildung Wortsprache, das andere Buchstabenschrift. Aber beide Arten kennen wir auch in ihrer ursprünglichsten Form noch heute. Jeder Leuchtturm sendet bei klarem Wetter Licht-, bei Nebel Schallsignale aus. Verkehrszeichen können durch Wegweiser, eine ausgestreckte Hand etwa, oder durch Töne gegeben werden. Bei jeder Arbeit zu mehreren, beim Bauen, Seefahren, auf der Jagd oder im Kriege verständigt man sich durch Ruf oder Wink. Das eine ist ganz unabhängig vom andern. Das Bildzeichen 7 kann jeder durch ein Lautzeichen seiner Sprache wiedergeben, aber alle verstehen es auch ohne das und sofort in gleichem Sinne. Die »Zinken« der Bettler und Landstreicher an den Haustüren sind unabhängig von jeder Wortsprache.

Echte Bildschrift, eine Sprache nur fürs Auge, gibt also die Bedeutung des Mitzuteilenden durch Zeichen, die der Kundige nicht erst in Worte überträgt, um sie zu verstehen, sondern mit dem Gewollten und Gedachten unmittelbar verbindet. Sie wird nicht eigentlich »gelesen«, sondern aus sich selbst heraus begriffen. Sie ist ohne Beziehung zu allen Wortklängen, die zur Deutung nichts beitragen können. Sie ist auch nicht eigentlich geschaffen worden, sondern »von selbst« und langsam entstanden und aus einzelnen Zeichen mit steigender Absichtlichkeit zu einem Zeichen vorrat angereichert worden, mit dem man zuletzt alles Notwendige ausdrücken konnte. Es gibt unter den Zeichen solche, die jedem ohne weiteres einleuchten, und andere, deren Bedeutung man lernen muß.

Damit erst ergab sich neben der Notwendigkeit, in Worten fließend sprechen zu lernen, was ursprünglich sicher nur erwachsene Männer im tätigen Leben allmählich und mühsam genug fertigbrachten, Der Mensch und die Technik S. 39 ff. und was erst im Lauf der folgenden Jahrtausende sich mit der erblich werdenden Ausbildung der Sprechmuskeln langsam bis in die ersten Jahre der Kindheit verschob, wo man Sätze plappert, bevor man ihren Sinn begreift, Gab es um 3000 in Ägypten und Babylonien überhaupt schon eine »Kindersprache«, d. h. ein Reden vor der geistigen Reife des Verstehens? Wie alt war man damals, wenn man anfing mit dem Sprachorgan wirkliche Sätze zu bilden, statt bloße Wortklänge nachzuahmen? die zweite Notwendigkeit, schreiben zu lernen, eine seltene, angestaunte und schwierige Wissenschaft, die nur für wenige einen praktischen Sinn hatte, diesen aber einen gewaltigen Einfluß verlieh. Inzwischen aber hatten die Sprachen in festen Lautzeichen – Worten – durch Ausbildung der Grammatik, also der Technik der Satzbildung, Unterg. d. Abendl. II Kap. 2 § 11. eine derartige Vollendung unter den in Stämmen dicht zusammenlebenden Menschen erreicht, daß nun etwas Entscheidendes geschehen konnte: die Unterordnung der Augensprache als Mittel unter die des Ohres, die Verwendung der Bildzeichen nicht mehr für Gewolltes, sondern für Lautzeichen, welche ihrerseits das Gewollte ausdrücken, und damit die Bindung der Bildschrift an eine einzelne Sprache. Denn darin liegt der folgenschwere Unterschied, der zu Anfang der beiden ältesten Hochkulturen beim zeichnerischen Festhalten des Gesprochenen zutage tritt. Reine Bildersprache Eine solche ist unser Ziffernsystem und damit die gesamte Zeichensprache unserer Mathematik. Eine Differentialgleichung liest jeder Mathematiker in seiner Umgangssprache mühelos ab. ist unabhängig von allen Wortsprachen. Ihr Inhalt kann in jede von diesen gleichmäßig »übersetzt« werden. Wortschrift aber drückt eine bestimmte Sprache aus, deren Lautgebilde sie symbolisch festlegt. Die Zeichenreihe gibt nicht den Sinn, sondern die Lautfolge des Satzes wieder wie die Notenreihe eine Melodie, so daß der Kenner aus dem Schriftbild laut lesend das Gesprochne dem Klange nach wieder herstellen kann, vorausgesetzt, daß er die dargestellte Sprache beherrscht. Wir verstehen die Hieroglyphenschrift, können sie aber nicht lesen, da wir von der Aussprache der Zeichen, namentlich dem Vokalgehalt der Silben, so gut wie nichts wissen. Ebenso steht es mit den chinesischen Wortzeichen auf Bronzen der Dschouzeit und sogar mit altphönikischen Inschriften, obwohl sie alphabetisch geschrieben sind. Erst damit ist aus dem Zeichnen und Verstehen das eigentliche Schreiben und Lesen geworden.

Dieser Schritt vom Bild- zum Wortzeichen vollzog sich nicht mehr unwillkürlich, sondern wurde planmäßig getan, wenn auch nicht auf einmal, von schreibgewohnten Männern, die sich dabei eines Zweckes bewußt waren. Es handelt sich um eine abstrakte Schöpfung interessierter Kreise, und zwar innerhalb der Priesterschaft der beginnenden Hochkulturen. Denn das richtige Wählen und Setzen der Zeichen, der Beginn der »Orthographie«, so daß der Leser genau das nachsprach, was der Schreiber gewollt hatte, war eine unendlich schwierige Kunst für die ungelenken Hände und das begrifflich noch wenig geübte Denken dieser Zeit. Man mußte, bis es zwei Jahrtausende später endlich zum Schreiben in Buchstaben kam, sehr lange Schüler sein, bevor man den großen Zeichenvorrat beherrschte und richtig anzuwenden verstand. Es ist deshalb falsch zu sagen, daß »die Ägypter« die Hieroglyphenschrift erfunden und geschrieben hätten. Kein »Volk« hat jemals eine Schrift erfunden. Setzt man die Einwohnerzahl des Landes um 2500 mit 1-2 Millionen an, so konnten vielleicht 2000 wirklich schreiben und höchstens ein paarmal so viel Geschriebenes entziffern. Für die übrigen war das eine geheimnisvolle Kunst, die an Zauber grenzte. Daß man einmal Gesprochenes versenden oder in einer Truhe aufbewahren konnte, um es in die Ferne oder nach Jahren beim Anblick dieser Kritzeleien Satz für Satz zu wiederholen, war vollends rätselhaft und eine Leistung von Menschen, die offenbar übernatürliche Kräfte besaßen. Für Leute, die nicht lesen und schreiben können, lag – und liegt noch heute – in einem Schriftstück eine unerklärliche Macht, so daß man es zu Beschwörungen verwandte, etwa ein ärztliches Rezept, statt es in die Apotheke zu tragen, auf die schmerzende Stelle legte oder einen Brief ungeöffnet vernichtete, weil man vor dem unbekannten Inhalt wie vor einem feindlichen Wesen Furcht empfand. Man glaube doch nicht, daß die Leute im Alten Reich, welche die Sargkammern mit Totentexten beschreiben ließen, sie hätten lesen können. Eben weil man sie nicht verstand, schrieb man ihnen magische Wirkungen zu.

Gerade darauf beruhte die Macht der Schreibkundigen, die bald niemand entbehren konnte. Denn von der Kunst der geistlichen oder halbgeistlichen Schreiber machte nun auch der Staat Gebrauch, der sich als politische Form der Organisation über die der ursprünglichen Stämme hinaus in den Hochkulturen nur unter dieser Bedingung bilden konnte. Denn der Staat ist größer als der Stamm, dessen Männer sich jederzeit an einem Punkte versammeln können; er hat Grenzen, die nicht in wenigen Stunden erreichbar, und Nachbarn, mit denen irgendwie dauernde Abmachungen notwendig sind. Der Schriftverkehr über die mündliche Verständigung am Orte und für den Augenblick hinaus gehört also zu einem Begriff. Wo in nordeurasischen Hochkulturen der Staat infolge der individualistischen Lebensgestaltung sehr langsam zur Entwicklung kam wie in Indien und der Antike, da fand auch die Schrift nur zögernd Eingang. Trotzdem muß die nach spätbabylonischen Vorbildern geschaffene Brahmischrift viel älter sein als die Zeit Buddhas, wie heute angenommen wird, oder es muß vor ihr eine andere, vielleicht eine Wort- oder Silbenschrift gegeben haben, die infolge des vergänglichen Materials wie alle Bauten spurlos verschwunden ist. Ein Stamm ist nicht ohne eine zum mindesten vorherrschende Sprache denkbar, ein Staat nicht ohne eine Verkehrsschrift. Denn der Staat ist eine Verwaltungseinheit von machtkonzentrierender Tendenz zum Zweck machtpolitischer Wirkung nach außen. Unterg. d. Abendl. II, Kap. 4 § 6 f. »Der Staat ist als Möglichkeit, was die Geschichte als Wirklichkeit ist.« Das Verwalten ist stets die Grundlage des Regierens. Der Verwaltungsbeamte aber ist im Gegensatz zum Lehnsträger als Typus aus dem geistlichen Schreiber, dem clericus, hervorgegangen, nicht aus dem Krieger. Das gilt gerade vom Anfang des staatlichen Lebens im Beginn aller Hochkulturen, und weil diese Berufsklasse ihre Unentbehrlichkeit begriff und einen dementsprechenden Rang forderte, so entstanden überall und immer wieder die gleichen innerpolitischen Probleme und Konflikte. Die Bürokratie ist so alt wie das staatliche Leben überhaupt.

Aber auch die Kaufleute und Seefahrer konnten damals sicher zum größten Teil nicht selbst schreiben, so wenig als die Gauhäuptlinge und Truppenführer, die sich Schreiber hielten, wie sie Schmiede für ihre Waffen hatten. Sie mußten die Schreiber – clerks – aus dem gleichen Kreise von Schriftkundigen nehmen und waren damit für ihre Mitteilungen auf die Sprache angewiesen, für welche die Wortschrift berechnet war, selbst wenn das nicht ihre eigne Umgangssprache gewesen sein sollte. Denn das ist der Unterschied gegenüber allen Bildschriften: zu einer Sprachschrift gehört eine und nur eine Schriftsprache. Diese Tatsache, so wichtig sie ist, wurde in ihrer Tragweite bisher nie beachtet. Es konnte im politischen Geltungsbereich der Hieroglyphen wie der altsumerischen Schrift nur eine Schriftsprache geben, aber beliebig viele Umgangssprachen. Es ist deshalb falsch, die Sprache der Hieroglyphentexte einfach als ägyptisch zu bezeichnen. Es hat im Niltal wie am Euphrat sicher eine nicht geringe Zahl von Stammessprachen gegeben, die schriftlos blieben und uns deshalb unbekannt sind, weil ihre Wiedergabe mit jenen Wortschriften eben nicht möglich war. Erst die spätere Keilschrift, eine Silbenschrift, konnte zur notdürftigen Nachbildung andrer Sprachen umgestaltet werden, und darauf beruht ihre Überlegenheit im zwischenstaatlichen Fernverkehr gegenüber den Hieroglyphen. Diese gaben offenbar die Umgangssprache einer bestimmten Priesterschaft wieder, vielleicht die Sprache der Gegend von Heliopolis oder Abydos. Aber weil die Pharaonen der entscheidenden Jahrzehnte zu Beginn der dritten Dynastie infolge ihrer Herkunft mit diesem einen Heiligtum in Verbindung standen und ihre Schreiber samt deren Schrift von dort erhielten, so wurde die zugehörige Sprache die Sprache des Staates, des Verkehrs, des Rechts, der Religion und endlich aller Gebildeten, auch wenn der weitaus größte Teil der Bevölkerung anders gesprochen haben sollte. Ebenso ist das Sumerische wohl nur die Sprache einer einzigen Priesterschaft, also eines einzelnen Stammes gewesen, die man ursprünglich im ganzen übrigen Lande nicht verstand; aber es wurde der sumerischen Schrift wegen herrschend und blieb noch Jahrhunderte lang Schriftsprache wie das Latein seit Karl dem Großen, als es schon kein Mensch mehr redete. Auch die Schriftsprache der Kanzlei des Hethiterstaates im 14. Jahrhundert braucht nicht die Sprache der damaligen Herrenschicht gewesen zu sein, deren Volksnamen wir gar nicht kennen. Von den zahllosen Eigennamen der Texte läßt sich jedenfalls kein einziger aus diesem »Hethitisch« erklären. Ebenso stand es in China, dessen Wortschrift etwa im 14. Jahrhundert v. Chr. und offenbar an einem Ort ausgebildet wurde Jedenfalls stammen sämtliche Funde von einer einzigen berühmten Orakelstätte. und nur eine der sicherlich zahlreichen Stammessprachen des Hoanghogebiets zum Ausdruck brachte; vielleicht wurde durch den Zwang der Schrift allmählich die Einsilbigkeit aller Wörter des Schriftchinesischen herbeigeführt.

Die Idee der Wortschrift, der große Gedanke also, den symbolischen Sinn der Bilder durch deren begriffliche Bedeutung zu ersetzen, ist unabhängig und gleichzeitig zu Beginn der beiden ältesten Hochkulturen entstanden. Von diesen Punkten aus hat sich die gesamte Schriftgeschichte durch alle folgenden Kulturen der Erde entwickelt, und zwar vom Euphrat aus bis nach Ost- und Südostasien und hinüber nach den späten Kulturen Amerikas, vom Nil aus über alle Küsten des Mittelmeeres und weiter nach Norden hin. Diese Geschichte wird sich niemals vollständig überblicken lassen, so wenig als die Geschichte der Sprachen. Es ist der Grundfehler in der Forschung beider Fachwissenschaften, daß sie das Erhaltene mit dem einmal vorhanden Gewesenen gleichsetzt und nicht mit der Menge des später Verschwundenen rechnet. Es hat nicht sieben oder neun indogermanische Spracharten gegeben, sondern früher einmal hunderte, aus denen wenige Einzelsprachen im Lauf der politischen Völkerschicksale erhalten geblieben und zu neuen Sprachfamilien herangewachsen sind. In allen Hochgebirgstälern Nordeurasiens vom Chingan bis zu den Pyrenäen stecken Reste verschollener Sprachgruppen, die man vergeblich in die uns bekannten, die kaukasische, uralaltaische, indogermanische einzugliedern versucht. Noch schlimmer steht es mit den Schriftarten, von denen die weitaus meisten infolge der Vergänglichkeit des Materials spurlos verschwunden sind. Es werden unaufhörlich neue entdeckt, ganze Nester davon z. B. in Kleinasien, Kreta, Byblos Americ. Journal of Arch. 38 S. 198. und Ras Schamra, J. Friedrich, Ras Schamra (1933). von denen manche wie die auf dem Diskus von Phaistos oder der Osterinsel für uns völlig isoliert dastehen. Was wir Schriftgeschichte nennen, besteht fast nur aus Lücken, mit denen niemand ernsthaft rechnet.

Was sich verbreitete und nachgeahmt wurde, war nicht die Schrift selbst, was bei Wortschriften ganz unmöglich war, sondern die Idee des Schreibens, des Festhaltens gesprochener Worte durch Zeichen, und das geschah nicht von »Volk« zu »Volk«, sondern von einem Heiligtum, Herrschersitz oder Handelsplatz zum andern. Die »Abhängigkeit« einer Schrift von einer andern ist im Grunde eine falsche Vorstellung. Das Bedürfnis, die Gewohnheit des Schreibens verbreitete sich, nicht unter Menschen überhaupt, sondern in berufsmäßig schreibenden, sehr engen Kreisen. Es wurden zahllose, teils primitive und ungeschickte, teils glückliche Versuche gemacht, für die eigne Sprache das zu erreichen, was andere für die ihrige erreicht hatten, und nur einige von ihnen hatten infolge der politischen Ereignisse, mit denen sie zusammenhingen, einen weitreichenden Erfolg.

Dabei spielen scheinbar untergeordnete Umstände eine wichtige Rolle. Während die Hieroglyphen wie die sumerische Schrift durch die Gewohnheit des Schnellschreibens kursiv wurden, machte sich eine Tendenz zur Verdeutlichung des Sprechbildes geltend, welche in verschiedene Richtung wies. In Babylonien wurden die Wortzeichen allmählich durch Silbenzeichen ersetzt, so daß auch andere Sprachen annähernd wiedergegeben werden konnten. Vielleicht hing das damit zusammen, daß die semitische Sprache der Akkader zur Herrschaft über das ganze Gebiet gelangte und die Schreiber in deren Kanzleien sich vor der Notwendigkeit sahen, eine neue Schrift zu erfinden, wenn sie nicht wie die Heiligtümer auch die sumerische Sprache anwenden wollten. In Ägypten kam man sogar zu Zeichen für einzelne Konsonanten, aber der Charakter als Wortschrift blieb erhalten. Und das kam daher, daß die monumentale Verwendung durch Einmeißeln auf allen Steinbauten und Aufmalen auf alle Gegenstände des Totendienstes das Festhalten des Bildmäßigen forderte, während in Babylonien die alltägliche Mitteilung von Fragen, Antworten, Befehlen, Bitten an Götter und Menschen, und zwar auf schlichten Tontafeln, die Führung erhielt. Die Indusschrift muß noch nach dem altsumerischen Vorbild der reinen Wortschrift erfunden worden sein, während die junge Brahmischrift oder deren Vorstufe, die mit ihren etwa 50 Zeichen ganz deutlich den Charakter einer ursprünglichen Silbenschrift hat, die in der Entwicklung zum Alphabet steckengeblieben ist, über verschiedene unbekannte Zwischenformen nach der Idee der Schriften des 2. Jahrtausends entworfen sein wird. Noch mehr verschollene Wortschriften auf dem Wege vom Persischen Golf her zwingt die chinesische und die um fast zwei Jahrtausende jüngere Mayaschrift anzunehmen, die beide meiner Vermutung nach auf Grund von Schriften uralter Tempel in Südostasien geschaffen worden sind. Darüber werde ich später zu sprechen haben.

Damit komme ich wieder zu Kreta. Die großen Bauten der Kamareszeit und die damaligen kleinen Küstenplätze an der Ostspitze, Mochlos und Pseira, besaßen mehrere Arten von Bilderschrift – Evans unterscheidet die Hieroglyphenschriften A und B und die piktographische Schrift –, von denen die dritte vielleicht schon eine echte Wortschrift gewesen ist, also eine bestimmte Sprache bezeichnete. Es gab mithin mehr als eine priesterliche Schreiberzunft. Vielleicht legte man auch hier wie anderswo Wert darauf, daß Fremde das System nicht verstanden. Die Zeichen wurden offenbar nach dem Muster der monumentalen, nicht der kursiven Hieroglyphenschrift geschaffen, Vielleicht auf dem Wege über Byblos oder einen libyschen Küstenplatz, wo möglicherweise eine Abart der Hieroglyphen die Idee des Schreibens vermittelt hatte. Also nicht nach Papyrusbriefen, obwohl man solche selbstverständlich gekannt hat und einige besonders gelehrte Leute sie sogar schreiben konnten, sondern nach Aufschriften auf Skarabäen, Waffen und Geräten, was auf eine recht primitive Verwendung schließen läßt wie bei der Indusschrift: zur formelhaften Kennzeichnung etwa von Kultakten – Opfern, Gebeten, Orakelanfragen – oder von wichtigen Persönlichkeiten oder Gilden –, daher die vielen Siegel, deren Zeichen der Art nach an unsere Hausmarken, Handwerkszeichen und Wappen erinnern oder an die früheren Unterschriftzeichen von Leuten, die nicht schreiben konnten –, oder endlich des Vollzugs einer befohlenen Leistung. Das Verhältnis der Indussiedlungen Mohenjo Daro und Harappa zu Babylonien hat übrigens manche Ähnlichkeit mit dem von Knossos und Phaistos zu Ägypten. Die Hoffnung, aus solchen Bild- oder Schriftzeichen eine Sprache zu ermitteln, beruht natürlich hier wie dort auf einer Verkennung ihres nicht satzartigen Charakters. Dagegen zeigt der Duktus der Schriftreste aus der Kamareszeit, von denen sich nur solche in Ritzung auf hartem Material erhalten konnten, daß man diese Zeichen nicht sorgfältig zu malen, sondern flüchtig hinzuschreiben pflegte, also nach ägyptischer Art mit Tinte auf Holztäfelchen oder Papyrus. Erhalten blieben mithin nur die Ausnahmen. Umfangreichere Texte in Satzfolgen hat es wohl nie gegeben.

Eine ganz neue Schriftsitte beginnt, sobald die Kafti zur Macht gelangten und ihre große Seefahrt nach Tartessos und Alaschia sich entwickelte. Es wurde eine Silbenschrift geschaffen, Nach Evans Linear A. Vgl. Sundwalls zahlreiche Abhandlungen in den Acta Acad. Aboensis und Archäol. Jahrbuch 30 S. 41 ff. die also zur lautlichen Festhaltung mehrerer Sprachen dienen konnte und wahrscheinlich auch mußte. Daß sie den Bildcharakter und viele einzelne Zeichen der Kamaresschriften festhielt, beweist, daß die Schreiberzunft – und die zugehörige Priesterschaft? – mindestens an einem Orte die politische Umwälzung überdauert hat, weil die neuen Herren sich ihrer zu bedienen wußten. Liegt dieser Schrift auch eine neue Sprache zugrunde? Ich halte es zum mindesten für wahrscheinlich. Es wird die Verkehrssprache der Seefahrt von Alaschia bis Tartessos gewesen sein. Jedenfalls gibt es jetzt größere fortlaufende Texte offenbar kaufmännischen und z. T. wohl auch religiösen Inhalts. Wie schon gesagt worden ist, fehlt eine monumentale Form und Verwendung vollständig, im stärksten Gegensatz zu Ägypten, zu dem die Beziehungen jetzt, in der Hyksoszeit, loser und vielleicht wenig freundlich gewesen sind. Die Kaftizeit verlegt das Schwergewicht ihrer geistigen und praktischen Beziehungen entschieden nach Alaschia, dem »fernen Osten«, also nach dem Bereich der babylonischen Zivilisation, und von dort stammt der Gedanke der reinen Silbenschrift, Unter Verwendung von einzelnen Wortzeichen (Ideogrammen). welche der ägyptischen Schreibkunst ganz fremd geblieben ist. Und von dort kam auch die Verwendung der Tontafel für kursive Mitteilungen, die erst jetzt, sicherlich neben Holztäfelchen und Papyrus, eine wichtige Rolle spielt. Diese für die Aufbewahrung von Urkunden sehr praktische Methode hatte sich vom Euphrat längst nach Syrien (Ras Schamra, Byblos) und Kleinasien (Kül Tepe schon um 2000, Boghazköi, möglicherweise bis in die Gegend von Milet) verbreitet, durch Kaufleute längs der großen Handelswege, und sie wurde bald darauf auch in Ägypten für den asiatischen Verkehr verwendet (Teil el Amarna). Sie muß also über Kypros nach den neugegründeten Handelsplätzen auf der Ostspitze Kretas gekommen sein, wie später das Alphabet, dessen früheste griechische Form von Kreta (mit Melos und Thera) stammt. Schwyzer, Griech. Grammatik (1934) I S. 144. Vielleicht wurde nur noch der diplomatische Verkehr nach Ägypten durch Papyrusurkunden vermittelt; dann wären gerade die politischen Texte für uns verloren.

Wie wichtig das Schreiben in dieser neuen Art geworden war, geht daraus hervor, daß mit dem Umbau des Heiligtums von Knossos (um 1500?), der mit der Errichtung der Herrensitze von Tylissos bei Knossos und Hagia Triada bei Phaistos und der Gründung weiterer Handelsplätze in Ostkreta etwa gleichzeitig ist und also wichtige politische Ereignisse verrät, in Knossos selbst – und wie es scheint nur hier – eine neue Abart dieser Schrift aufkam (Linear B).

Es ist selbstverständlich, daß in der Welt des Seehandels der Kafti eine große Anzahl von Sprachen geredet wurde, von denen einige so wichtig waren, daß sie auch die Schreiber verstehen und schreiben mußten. Es erklärt sich deshalb von selbst, daß in diesem weiten Bereich eine größere Anzahl andrer Silbenschriften nach dem Vorbild der Kaftischrift entstand, für andre Sprachen und andre Richtungen des Handels und der Seefahrt. Die meisten werden für immer verloren sein, aber außer der zweiten Knossosschrift kennen wir die kyprische, die damals entstand, Von der des Diskus von Phaistos und der von Tiryns und Theben läßt sich heute noch nicht reden (Sundwall, Zur vorgriech. Festlandschrift, Klio 22 S. 228 ff.). und die sogenannte hethitische Bilderschrift, die von der Westküste Kleinasiens aus, wo in den Bergen bei Ephesos und Milet nicht nur die frühesten »hethitischen« Skulpturen, sondern auch die ältesten Beispiele dieser Schrift am Sipylos bei Smyrna und am Kara Bel bei Ephesos erhalten sind, im Staate von Boghazköi eine besondere Verwendung fand, vielleicht für die Wiedergabe der »protohattischen« Sprache, die mit der Entstehung dieses Reiches doch sicher in einem bedeutsamen, uns noch unbekannten Zusammenhang stand. Sie hat sogar diese Macht überlebt und noch viel später im Südosten Kleinasiens bis nach Syrien hinein Zeugnisse hinterlassen, ein Beweis, daß sie nicht ursprünglich zur Schreibung der hethitischen Kanzleisprache gedient hat. Aber nicht nur in Alaschia kam es zur Schöpfung solcher Schriftarten, sondern auch in Tartessos, obwohl dieser »wilde Westen« sich sehr von der hochzivilisierten Küste rings um Kypros unterschied. Ribezzo hat auf einem längst gefundenen Goldtäfelchen aus Ostsizilien Rivista Indo-Greco-Italica XI (1927), Fasc. 3/4 S. 63 ff. eine Silbenschrift festgestellt, die nach Zahl und Art der Zeichen den kretisch-kyprischen aufs engste verwandt ist. Und ich bin sehr geneigt, der Vermutung Hammarströms Beitr. z. Gesch. d. etrusk., lat., griech. Alph. (1920). beizustimmen, daß die altitalischen Alphabete zum Teil, wie die lateinischen Buchstabennamen und die etruskische Schreibweise, welche die Vokale vielfach nicht bezeichnet, anzudeuten scheinen, aus Silbenschriften, und zwar nicht ganz bis zu Ende entwickelt worden sind.

In Alaschia, vor allem an den Handelsplätzen der syrischen Küste, berühren sich die beiden großen Welten und Stile des Schreibens, von denen eben die Rede war: Der sumerisch-asiatische Osten und der ägyptisch-mittelmeerische Westen. Hier, wo die zwei ältesten Zivilisationen sich in ihren Strahlenkreisen überschnitten und die größten See- und Landwege der damaligen Welt zusammentrafen, gab es zahlreiche wichtige Verkehrssprachen, welche die Schreiber so gut wie ihre Herren kennen mußten. Das Lernen mehrerer umfangreicher Schriftsysteme war also so unentbehrlich als es schwer und langwierig war. Hier tauchte deshalb etwa seit der Mitte des 2. Jahrtausends, als man schon zu kursiven Zeichen für Silben und einige Konsonanten gelangt war, die Idee auf, jedes Wort in die einfachsten Lautelemente zu zerlegen, von denen man damals glauben mußte, daß sie allen menschlichen Sprachen gemeinsam seien. Der Gedanke lag in der Luft, und es sind sicher zahlreiche Versuche gemacht, verbessert und nachgeahmt worden, eine vollständige Reihe solcher Zeichen zu finden. Der Vorteil leuchtete ein: Nicht nur sparte man das Lernen komplizierter Zeichensysteme, sondern man konnte alle Sprachen und fremden Wörter mit den neuen wiedergeben. Das Alphabet war also als Universalschrift gedacht. Daß das ein Irrtum, sogar eine Utopie war, konnte man damals noch nicht wissen.

Eine scharfe Grenze zwischen Silben- und Buchstabenschrift besteht nicht. Die Konsonantenzeichen hatten – wie im Brahmi-, im etruskischen und im persischen ( Keilschrift-) Alphabet – ursprünglich vielfach auch einen gewissen vokalischen Gehalt, ohne daß es den Erfindern recht zum Bewußtsein gekommen sein wird. Man kann die kyprische Schrift z. B. als halbalphabetisch bezeichnen. Von den so entstandenen Systemen ist seit einigen Jahren das Keilschriftalphabet von Ras Schamra bekanntgeworden, das nach neuen Funden bis tief nach Palästina hinein geschrieben wurde. Archiv f. Orientforsch. IX S. 358. Andere sind sicherlich vorhanden gewesen und werden z. T. vielleicht noch einmal entdeckt. Spuren »vorphönikischer« Alphabete in Byblos: Americ. Journ. of Arch. 38 S. 198. Auch die »Sinaischrift« ist vielleicht in dieser Gegend entstanden: Arch. f. Orientforsch. IX S. 358 f. Von ihnen allen wurde das später als phönikisch bezeichnete ein welthistorischer Erfolg, nicht weil es besser war – es ist allzusehr auf die Struktur semitischer und ägyptischer Wörter berechnet und hat also keine Vokalzeichen –, sondern aus politischen Gründen der folgenden Geschichte. Nachdem um 1400 die Seeherrschaft der Kafti zusammengebrochen war und dann ein Jahrhundert später die Stürme der Seevölkerzeit alle Meere verödet hatten, beginnt man von der phönikischen, jonischen und etruskischen Küste aus die alten Wege wieder aufzusuchen. Die alten Wort- und Silbenschriften waren fast alle vergessen; aber die Idee der Alphabetschrift lebte noch in den kleinen Staatsgebilden der Küsten um Alaschia, und sie wurde nun in Ostkreta, Milet, Caere oder wo es sonst noch war, von den Tempelschreibern, die jetzt andere Sprachen redeten und schreiben mußten, zu vokalhaltigen Alphabeten ausgestaltet, in Mittelitalien vielleicht noch unter Verwendung des alten Prinzips der sizilischen, in Westkleinasien der kyprischen Silbenschrift. So stark war die Tradition von »Tartessos und Alaschia«.

Selbst hier macht sich die Tatsache geltend, daß eine Sprachschrift zur Herrschaft der zugehörigen Schriftsprache führt. Obwohl ein Alphabet scheinbar alle Sprachen zu schreiben gestattet, so gibt es doch in jeder einzelne Laute, die dem Menschenschlag einer bestimmten Landschaft eigentümlich und die so charakteristisch sind, daß man sie in der Schrift irgendwie zum Ausdruck bringen muß. Die Verlegenheit, wie man sie bezeichnen sollte, hat überall zur Einführung von Sonderbuchstaben gezwungen, deren erste die Vokalzeichen selbst gewesen sind, weil die Vokale in den antiken Sprachen gegenüber den hamitisch-semitischen zum festen und bezeichnenden Bestand der Wörter gehören. Nachdem aber die Typen der griechischen Alphabete geschaffen waren, sicherten sie die Herrschaft und Dauer der griechischen Mundarten selbst, was an und für sich durchaus nicht selbstverständlich war. Wie viele von ihnen mögen früh verschollen sein, ohne daß eine Inschrift ihr Vorhandensein bezeugt! Die griechisch redende Herrenschicht war in vielen Gegenden sehr dünn, und ihre Sprache würde nach allgemeiner geschichtlicher Erfahrung allmählich durch die der Unterworfenen wieder verdrängt worden sein – wie die der Philister, Normannen, Gallier, Franken, Bulgaren –, wenn sie nicht durch die Alphabetschrift, die in Milet (Tempel des Didymaion) oder Ephesos (Tempel der Artemis) ihre Vollendung erhielt, zur Verkehrssprache geworden wäre. Noch zur Zeit der Perserkriege muß man in abgelegenen Gebieten etwa des Peloponnes oder Böotiens und im niederen Volk mancher Hafenorte z. B. Joniens Griechisch kaum verstanden haben; aber die Gebildeten, die »Gesellschaft«, welche die Kultur repräsentierte, sprachen nur ihre griechische Mundart, weil nur in dieser geschrieben wurde, und so verhalf das Alphabet dem Griechischen ganz wesentlich zum Siege und zu seiner Rolle in der antiken Welt.

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Die Zeit des Beginns der Kaftiherrschaft – ein Ereignis, das weltgeschichtlich Epoche gemacht hat, obwohl seine gewaltige Bedeutung vor lauter Graben, Sammeln und Ordnen bisher gar nicht gesehen worden ist Es steht an Größe der Folgen der Schlacht bei Aktium und der Taufe Chlodwigs zur Seite, durch die zwei noch ungeborene Hochkulturen ein wegbestimmendes Erbe erhielten (Unterg. d. Abendl. Bd. II Kap. III § 2). Ohne die 200 Jahre Kaftiherrschaft würde das Antlitz der Antike ganz anders geraten sein. – läßt sich heute noch nicht genau bestimmen. »Um 1600« ist eine schwankende Annahme. Jedenfalls fällt die große Umwälzung auf Kreta in die ägyptische Revolutionszeit zwischen der 12. und 18. Dynastie (1788-1580) und wahrscheinlich in deren Höhe und Ende, die sogenannte Hyksosherrschaft, mit der sie wohl in irgendeinem politischen Zusammenhang steht. Ich hatte schon früher Unterg. d. Abendl. Bd. II Kap.V § 13. gezeigt, daß es sich hier nicht um eine »Eroberung« Ägyptens durch asiatische Beduinenstämme handelt, wie allgemein angenommen wird, sondern um das Zeitalter der großstädtisch-sozialen Revolution, also um eine innere Krise der ägyptischen Welt, wie sie in jeder Hochkultur den Übergang von der durchgeformten »Gesellschaft« in ihrer letzten Reife und Durchgeistigung zur formlos werdenden Masse der Weltstadt bezeichnet. Die 12. Dynastie (2000-1788) war das ancien régime und der Gipfel dieser Kultur gewesen. Seitdem beginnt der leise seelische Verfall. Die Hyksos (»Häuptlinge der Fremdvölker«) müssen Führer von Söldnertruppen sehr verschiedener Herkunft, Präfekten der Palastwache oder dergleichen gewesen sein, welche den Zusammenbruch der staatlichen Gewalt benützten, um sich des Thrones zu bemächtigen, wie die Befehlshaber der türkischen und armenischen Leibwachen zu Bagdad und Byzanz im 9. Jahrhundert n. Chr. Unterg. d. Abendl. Bd. II S. 530 ff. und wie nicht viel anders der Korse Napoleon in Paris. Daß das nicht nur im ägyptischen Kolonialreich bis nach Nordsyrien hin, sondern auch in den Handelsplätzen auf Kypros und Kreta politische und nicht nur politische Folgen hatte, Verschwörungen, Aufstände, Piratenzüge, wirtschaftliche Verlagerungen, versteht sich von selbst. Von den entscheidenden Persönlichkeiten, die es wie immer in solchen Krisen gegeben haben muß, Ich nenne die Namen Washington, Mirabeau, Robespierre, Pitt, Napoleon, Talleyrand, Metternich, nur um typische Möglichkeiten anzudeuten. wissen wir aber nichts, und deshalb bleibt der Name Hyksoszeit für uns leer.

Der tiefe Sinn dieser Zeit aber ist klar: Es ist der Übergang der ägyptischen und babylonischen Kultur in die Form der Zivilisation. Was ich mit diesen beiden Worten gemeint habe, die geschichtliche Wandlung, welche für die Antike durch das Zeitalter Alexanders des Großen, für uns durch das Napoleons in Erscheinung zu treten begann, ist so gut wie gar nicht begriffen worden. Unterg. d. Abendl. Bd. I, Einleitung, § 12; Kap. IV, § 19; Kap. V, § 13; Bd. II, Kap. II, § 5; Kap. IV, § 13 usw. Eine Hochkultur ist ein Gewächs, dessen lebendige Elemente Stände, Nationen und Individuen sind, wie Stamm, Zweige und Blätter den Baum bilden, ein Gewächs, das den Rhythmus alles Organischen: Geburt, Jugend, Alter und Tod in sich trägt. Zivilisation ist ein Kostüm, eine Summe äußerer Lebensformen von unbestimmter Dauer, die erstarren, zerfallen, abgestreift, gewechselt werden können. Kultur ist ein Leib, der eine triebhafte, nur zum geringsten Teil ihrer selbst bewußte Seele besitzt, Zivilisation ein System verstandesmäßiger, zweckbewußter Züge. Zivilisation kann deshalb gelernt werden wie eine fremde Sprache; Kultur hat man von Geburt an als Möglichkeit in sich oder hat sie nicht. Sie ist ein Erbe. Sie lebt in Traditionen, welche die Zukunft bis zum notwendigen Ende mit der ganzen Vergangenheit verbinden. Zivilisation kann sich verbreiten und wird von Bevölkerungen fremder Frühkulturen – »Barbaren« – mit genügender geistiger Reife in ihrer praktischen Überlegenheit durchaus begriffen und leicht nachgeahmt. Kultur haftet am Blut ihrer Schöpfer oder Geschöpfe, was dasselbe ist, und damit an den Grenzen, in denen diese leben. Sie ist nicht übertragbar. Ein Stil von der Innerlichkeit der ägyptischen Pyramidentempel, des Tempels von Pästum, des Doms von Chartres oder der Dichtung Pindars und Shakespeares und der Musik Mozarts läßt sich außerhalb von Landschaft und Zeitalter seiner Entstehung nachäffen, aber nicht weiterbilden. Der Kunstgeschmack der Gegenwart ist wie der spätrömische überall zu Hause, willkürlich, episodisch, wurzellos, seelenlos. Eine Zivilisation strahlt also weit über die Grenzen der zugehörigen Kultur hinaus, wie die abendländische seit Beginn des 19. Jahrhunderts über die Grenzen des Rokoko, und von dort, wo ihr Schein haftet, kann er weiterstrahlen. Es gibt Sonnen- und Mondlichtzivilisation.

Die antike Zivilisation – der Hellenismus – hatte ihren Ursprung in Athen; aber in syrisch-mesopotamischer Färbung leuchtete sie bis nach Mittelasien, in römischer bis nach Germanien, Britannien und Spanien. Die Zivilisation der Kafti ist Mondlicht, das von der Sonne Ägyptens stammt – wie die hethitische von der Sonne Babyloniens –, und sie strahlt weiter über die Küsten des Ägäischen Meeres, nach Tiryns und Mykene, und noch weiter bis nach Palästina und Etrurien hin. In ihrem letzten verdämmernden Schein beginnt das junge Leben der Antike. Sie hat einzelne Farben und Lichter sogar auf ihren Ursprung reflektiert: der Geschmack der Zeit Echnatons und Tutenchamons ist nicht ohne einzelne exotische Züge der minoischen Lebenshaltung. Aber die Kafti haben unter dem fremden Kleid ihre Seele im Stil des frühgeschichtlichen Westens bewahrt; deshalb wirkt der Luxus ihrer Bauten und Lebensweise wie ein Widerspruch gegen ihre Religion, die kein Luxus war.

Es besteht eine tiefe Ähnlichkeit, deren anschauliches Verstehen diese Dinge deutlicher werden läßt, zwischen Kreta und Japan: beides Inselwelten mit Seestämmen von frühgeschichtlichem Typus, die in den Lichtkreis benachbarter Zivilisationen geraten sind. Die Entstehung des japanischen Reiches geht von den Yamatostämmen im südlichen Nippon aus, die mit malaiischen, polynesischen und solchen an der Westküste Amerikas von Alaska bis Peru eine innere Lebenseinheit bilden, deren Entwicklung erst in nachchristlicher Zeit beginnt. Ich habe das in der Quesadafestschrift (Ibero-amerikanisches Archiv VII 2) angedeutet. Die Chinesen hatten als reine Binnenländer zu Beginn ihrer Zivilisation im 3. Jahrhundert v. Chr. von der Existenz der japanischen Inseln noch keine Ahnung. Erst im 4. Jahrhundert n. Chr., als schon von Yamato her der erste große Eroberungszug gegen südkoreanische Staaten erfolgte, erfuhren sie Genaueres über diese Barbaren (Wa), und zwar über Korea, ohne dem größere Beachtung zu schenken. Noch die Tang-Annalen schweigen über Japan so gut wie ganz, mit demselben Hochmut der Zivilisierten, der auch die wenigen Nachrichten ägyptischer Texte über fremde Völker kennzeichnet. Man bezeichnete hier wie dort gelegentliche Geschenke als Tribut, Gesandtschaften als Huldigungen von Vasallen und bildete sich ein, Länder zu besitzen, von deren Umfang und inneren Verhältnissen man gar nichts wußte. Inzwischen begannen einige japanische Adelsgeschlechter Einzelheiten der chinesischen Zivilisation kennenzulernen, zunächst durch ein paar einwandernde oder flüchtige Priester- und Künstlerfamilien aus Korea, welche die Schrift, den Kalender, den Buddhismus und einiges Technische von Malerei und Plastik mitbrachten Wedemeyer, Japanische Frühgeschichte (Tokio 1930). und damit eine Ahnung weckten von der Macht und praktischen Tragweite, die in der chinesischen Formenwelt lag. Und daraufhin erfolgte im 7. Jahrhundert die Übernahme fast der gesamten zivilisierten Formen Chinas, vor allem der Staatsform der Tangzeit durch die Taikwareform von 645, O. Nachod, Geschichte von Japan (1929) II S. 19 ff. welche die Geschlechterorganisation durch den zentralisierten Beamtenstaat ersetzte, die hohe Verwaltung, das Recht, die Armee, den Verkehr, die Wirtschaft umschuf, die Schrift und den Kalender einführte und in ihrem Gefolge schon um 700 eine historische Literatur beginnen ließ. Gundert, Japanische Literatur (1929) S. 12 ff. Erst von da an kann man von einem Kaisertum, einem Staat und wirklichen Städten reden. Im 19. Jahrhundert haben die Japaner das wiederholt, indem sie die chinesische Zivilisation wie ein Kleid mit der abendländischen vertauschten, in deren Formen sie ebenso sich bewegen lernten und Meister geworden sind; aber die Seele ihres Volkstums blieb davon so gut wie unberührt.

So muß es auch im 17. Jahrhundert auf Kreta gewesen sein. Wenn die Siedlungen auf der Ostspitze jetzt ägyptisch-stadtartig wirken – in der Kamareszeit gab es dergleichen überhaupt nicht – und die Organisation der Seemacht einen staatsartigen Eindruck macht, so ist das Mondlicht vom ägyptischen Sonnenlicht, glänzend, aber äußerlich und vergänglich, eine fremde Tracht, kein gewachsener Körper. Aber die Ähnlichkeit dieser beiden Inselgeschichten geht weiter. Die minoische Wandmalerei, die jetzt nach ägyptischen Vorbildern geschaffen wird, vielleicht von ägyptischen Meistern, welche vor der heimischen Revolution flüchteten, gleicht der Entstehung nach durchaus der japanischen Malerei als Nachahmung einer alten chinesischen Kunstübung. Und im japanischen Tempelbau Kümmel, Die Kunst Chinas und Japans (1929) S. 104 ff. ist sehr genau der eigne malaiisch-polynesische Pfahlbaustil von dem fremden chinesischen zu unterscheiden, der unter dem Einfluß buddhistischer Priesterherrschaften und Adelsfamilien durch Jahrhunderte um den Vorrang kämpft.

Die seltenen großen Grabtempel in der Nähe von Knossos – das »Königsgrab« von Isopata, das »Grab der Doppeläxte« und vor allem das 1981 von Evans entdeckte, alle erst aus der letzten Zeit der Kaftiherrschaft – unterscheiden sich durch ihre ägyptisierende Anlage und Bautechnik durchaus von den eigentlichen Kaftigräbern in den östlichen Hafenplätzen mit ihrem bezeichnenden, betonten Unterschied zwischen den Kammergräbern der Vornehmen und den Massengrüften der Hörigen. Wer mag in jenen bestattet worden sein? »Könige« gewiß nicht, sonst wären es mehr und vor allem begännen sie früher. Rühren wir hier an den Versuch einer fremden Religion, sich an dieser alten Stätte festzusetzen? Hat nicht auch in Delphi die Apolloreligion und in Eleusis der Demeterglaube vorgriechische Kulte verdrängt?

Wenn ein Kenner des Kaftistils Rodenwaldt, Tiryns Bd. II S. 198. meint, daß hier ein Bruch in der Entwicklung stattgefunden habe und daß der neue Kunstgeschmack fertig von irgendwoher importiert sein müsse, so kennzeichnet das – wie in Japan 645 und 1868 – das Tempo, mit dem derartige Zivilisationen zweiten Grades entstehen können. Das geschichtlich Wichtige ist aber nicht die künstlerische Mode, welche von den Archäologen vor allem und leider fast allein beachtet wird, sondern die politisch-kriegerische Schöpfung mit ihren wirtschaftlichen Gründen oder Folgen. Hier war es die Organisation einer Seegewalt von einem Range, wie er bis dahin in der Welt überhaupt noch nicht dagewesen war und wie er seitdem nur ganz selten wieder erreicht worden ist, in dem Jahrtausend antiker Geschichte vielleicht von Karthago, sicher nicht von Athen und ganz und gar nicht von Sidon und Tyrus, deren äußere Machtstellung immer maßlos überschätzt wurde. Man erinnert sich noch des Erstaunens der weißen Völker, als die Japaner mit einem fast über Nacht geschaffenen Heer das damals zahlenmäßig stärkste, das russische, schlugen. In wenigen Jahrzehnten hat sich Japan dazu eine Flotte und eine wirtschaftliche Kampforganisation geschaffen, in Verbindung mit seiner Insellage also eine Macht, die den stärksten Mächten der »weißen Welt« ebenbürtig ist und von der heute noch niemand weiß, ob sie nicht eines Tages stärker sein wird.

Von dieser Seeherrschaft der Kafti wissen wir nichts durch historische Berichte. Sie läßt sich nur aus ihren mittelbaren politischen Wirkungen und durch die Masse von Funden bestimmen, welche den Verkehrshorizont begrenzen. Aber das genügt auch für die Feststellung der Macht, die sich in solchen Tatsachen zum Ausdruck bringt, und es ist wichtiger als alles, was in Knossos selbst ausgegraben wurde. Wenn die antike Literatur verlorengegangen wäre und wir auf das Schicksal Karthagos nur aus den dürftigen vorrömischen Resten im Stadtbezirk schließen wollten, so würden wir hier einen wenig bedeutenden Handelsplatz halb griechischer, halb phönikischer Art annehmen und einiges über dessen Kunst und Religion erschließen. Wir würden keine Ahnung haben von der Macht, die in drei großen Kriegen mit Rom um die Weltherrschaft rang, die das westliche Mittelmeer beherrschte und die Griechen daraus vertrieb, halb Spanien, Sizilien, Sardinien besaß und nur daran zugrunde ging, daß hinter dem größten Feldherrn der Antike, Hannibal, kein ebenbürtiger Staatsmann und überhaupt keine starke Staatsorganisation stand. Ist das auch das Verhängnis der Kafti gewesen, wie es das der deutschen Hanse war?

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Man darf sich, ich hatte es schon gesagt, von der ziffernmäßigen Größe dieser Seemacht keine falsche Vorstellung bilden. Die Insel hatte zur Kaftizeit sicher nicht mehr als 100 000 Bewohner S.189. Zur Zeit ihrer höchsten Blüte im 6. Jahrhundert hatten die großen Seemächte Milet und Korinth, von denen die meisten griechischen Koloniegründungen ausgingen, kaum 10 000 Bürger, d. h. erwachsene freie Männer (Busolt, Griech. Staatskunde I S.167). Ein Jahrtausend zuvor muß man mit wesentlich kleineren Zahlen rechnen. in mehreren Stämmen und Schichten, von denen gewiß nur ein Bruchteil der politischen Organisation der Kafti im engeren Sinne angehörte, teilweise vielleicht als grollende Untertanen, Heloten, bei denen jeder fremde Angreifer sofort Unterstützung fand. Andere Stämme werden so gut wie unabhängig gewesen sein. Wenn der Herrenschicht für ihre großen Fahrten 100 oder 200 seetüchtige Schiffe zur Verfügung standen mit vielleicht 5-8000 Mann Besatzung, zum großen Teil wohl gepreßte Ruderer, die schnell verbraucht und durch Menschenraub ersetzt wurden, Das Pressen von Matrosen war noch vor 100 Jahren in der englischen Flotte üblich, und noch im 18. Jahrhundert war die Verurteilung von Verbrechern zur Galeerenstrafe in Westeuropa allgemeiner Brauch. so war das damals eine ungeheure Macht. Man braucht nur an die ägyptischen Expeditionen der Königin Hatschepsut nach Punt und, Jahrhunderte später, des Wen Amon nach Byblos zu denken, die sicher noch kein Dutzend Schiffe in Anspruch nahmen, um die Überlegenheit der Kafti zu ahnen.

Die große Seefahrt hatte damals wenige, aber um so wichtigere Richtungen. Der nahe Norden, das Ägäische Meer, kam nicht in Betracht und erst recht nicht das Schwarze Meer, obwohl Troja II schon längst in Trümmern lag und Troja VI um 1600 noch nicht gebaut, die Durchfahrt also verhältnismäßig sicher war. Ohne Zweifel saßen aber auf den vielen Inseln kleine gefährliche Piratenstämme, die sich auf ihren Raubfahrten bis an die peloponnesische und kleinasiatische Küste wagten Der »Export« kykladischer »Ware« nach dort, um die scherzhaften Ausdrücke der Archäologen zu gebrauchen, besteht natürlich darin, daß sie bei ihren kurzen Landungen zerbrochene Tontöpfe zurückgelassen haben. – vielleicht sollen die primitiven Schiffszeichnungen auf Tonpfannen von Syros den Typ ihrer flinken Boote darstellen –, und der Verkehr mit der wilden Bevölkerung Thessaliens und Thrakiens hätte ohnehin kein wertvolles Objekt, also keinen Sinn gehabt. Nicht viel anders scheint es im Süden gestanden zu haben, obwohl die Fahrt durch das insellose Libysche Meer von einer Meeresströmung unterstützt wird. Aber bis jetzt wenigstens ist an der Küste von Barka bis zur westlichen Nilmündung kein Landeplatz aus dieser Zeit entdeckt worden, dessen Funde unmittelbaren Verkehr mit Kreta beweisen. Allerdings hat man danach auch nicht gesucht. Man ist hier wie in Tunis und Algier auf bekannte antike Städte versessen, weil sie Kunstwerke und Inschriften liefern. Aber gerade Barka muß im 2. Jahrtausend ein bedeutendes frühgeschichtliches Dasein geführt haben, und zur Oase Siwah gehörte schon damals ganz sicher ein Markt an der Küste.

Es blieben nur zwei Richtungen übrig, nach Ost und West, Alaschia und Tartessos, aber sie stellten zusammen den wichtigsten Verkehrsweg dar, den das zweite Jahrtausend überhaupt gekannt hat. In Alaschia, der »Levante«, trafen die beiden einzigen Zivilisationen der damaligen Welt zusammen, denn auch die ägyptische Seefahrt, die nur eine verlängerte Nilfahrt war, S. 179. fand dort ihr einziges Ziel und ihr Ende. Und in Tarschisch, dem »Abendland«, saßen rings um das westliche Mittelmeer und darüber hinaus mächtige Stämme der frühgeschichtlichen Westkultur, die den beiden andern, der nordeurasischen und der südasiatischen, an innerer Entwicklung weit voraus war. Das Meer aber ist bis zum Anbruch der abendländischen Zivilisation im 19. Jahrhundert mit ihren maschinellen Verkehrsmitteln, Eisenbahn, Auto und Flugzeug, das eigentliche völkerverbindende Element gewesen, während die großen Festländer in ihren Gebirgen, Sümpfen, Wüsten und vor allem Urwäldern trennende Schranken des Verkehrs besaßen, die mit damaligen Mitteln nur an wenigen Stellen überwunden werden konnten Es wird noch lange nicht genug beachtet, daß gerade die unendlichen Wälder des Nordens absolute Völker-, Rasse- und Sprachscheiden gewesen sind, die ganze Länder von jeder Besiedlung ausschlossen.. Da die Seeschifffahrt hier, im alten Westen, entstanden ist S. 179 ff., so war hier auch die Verbindung unter den Küstenstämmen viel früher in festere Formen, gleichviel ob feindlicher oder freundlicher Natur, gebracht worden als im Indischen und Stillen Ozean, wo sich ein bedeutender Seeverkehr erst mit dem Anbruch der antiken Zivilisation im Machtbereich Alexanders des Großen, und der indischen seit den brahmanischen und buddhistischen Eroberungen in Indonesien und Hinterindien, also etwa seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. entwickelt hat. Erst die Araber und Japaner haben eine eigentliche Macht zur See besessen.

Der Weg von Tarschisch nach Alaschia gab demjenigen, der einen Blick für seine Bedeutung hatte und sich an der für die damalige Art von Schiffahrt, die an Küsten und Inseln gebunden war, entscheidenden Stelle, in Kreta, festsetzte, eine Macht ohnegleichen in die Hand, und das haben zuerst die Kafti begriffen, wie Napoleon zuerst die ähnliche Bedeutung Ägyptens, d. h. der Landenge von Suez, für das folgende Jahrhundert der beginnenden abendländischen Weltzivilisation richtig voraussah. Die Kafti haben diese Stellung verkehrs- und machtpolitisch ausgebaut und um 14oo erst nach erbitterten Kämpfen, die mit ihrem Untergang endeten, andern überlassen müssen.

Bei weitem am wichtigsten war der Ostweg, die Straße nach Alaschia, dem »Morgenland«. Hier im hochzivilisierten Grenzgebiet ägyptischen und babylonischen Einflusses – von Kypros bis zum Euphrat und zum Libanon – häuften sich Bildung, Luxus und Reichtum zweier Welten. In den Städten lebte eine internationale, vielsprachige Gesellschaft, an welcher die Kafti ohne Zweifel teilgenommen und von der sie viel gelernt haben. Vor allem die Technik und Taktik des Fernhandels, wie er derartige »Zwischenländer« zu allen Zeiten beherrscht hat Man denke an das heutige Singapur und Hongkong und das Rassegemisch ihrer Geschäftswelt.. Er war in Babylonien viel stärker entwickelt als in Ägypten, weil er seinem Wesen nach aus dem Unternehmungsgeist einzelner stammt. In diesen beiden Welten tritt zum erstenmal in der Geschichte der Gegensatz von Privatwirtschaft dort und Staatswirtschaft hier hervor So erklärt es sich, daß die Kafti ihre Schrift nach ägyptischem Muster, den Tontafelverkehr nach babylonischem entwickelt haben.. Das Rechtsdenken geht in Ägypten vom staatlichen, in Babylon vom Privatleben aus. Auch die Seefahrt nach Byblos und Punt ist ein Staatsunternehmen gewesen. Aber die imperialistische Tendenz, die notwendig zum politischen Stil jeder »Neuzeit« gehört Die innerlich-seelische Entwicklung durch Eroberung neuer Ausdrucksmöglichkeiten des Denkens und Bildens ist in die extensiv-geistige der Eroberung neuer Räume und Massen übergegangen, der Ehrgeiz der Tiefe in den der Weite (Unterg. d. Abendl. Bd. I, Einl. § 13; Bd. II Kap. IV § 14). Es ist unser Schritt vom 18. zum 19. Jahrhundert., wirkte hier von zwei Seiten her, von denen keine ein entschiedenes Übergewicht besaß, und schuf so durch Jahrhunderte hindurch eine schwankende Lage, welche von allen Seiten macht- und besitzhungrige Elemente anzog, damals die Kafti und das, was heutige Historiker an dieser Stelle »Hyksos« nennen, und wenig später die Hethiter, Assyrer und Aramäer.

Auch die Seefahrt der Ägypter endete hier, da es eine direkte Fahrt zwischen Kreta und dem Nil damals nicht gegeben hat. Das beweist das beiderseitige Fehlen von grobem Gebrauchgeschirr unter den Funden, wie es Matrosen an den Landeplätzen liegen lassen. Und sicher ist nie ein ägyptisches Schiff in den Meeren von Tarschisch erschienen, nach denen sie nicht neugierig gewesen sind. Ihr geographischer Horizont nach Westen endete in der Libyschen Wüste. Noch 1000 Jahre später, zur Zeit der karthagischen Großmacht, lag der starke Verkehr zwischen Ägypten und Karthago, Sizilien, Etrurien ausschließlich in griechischen und phönikischen Händen. Die Fahrten nach Punt und Byblos zur Zeit der 18. Dynastie, die als »Neuzeit« den Höhepunkt ägyptischer Schiffahrt darstellt, bestätigen als Ausnahmen die Tatsache, daß die Bewohner des Niltals keine Seefahrer gewesen sind. Ebenso ließen sie eher mit sich handeln, als daß sie selbst Handel trieben.

Trotzdem besaßen ägyptische Schiffe an der Küste vom Nil bis Byblos damals offenbar ein praktisches Monopol, weil die Stämme auf dem Festland ägyptischem Einfluß unterstanden. Es ist kaum denkbar, daß Kaftischiffe hier regelmäßig gefahren sind. Um so entschiedener muß das Monopol der Kafti in »Alaschia« selbst gewesen sein, also um Kypros herum und an den Landeplätzen nördlich von Byblos. Und da die Schiffahrt an die Küste gebunden war, so versteht es sich von selbst, daß auch in Kilikien, Pamphylien, Karien und auf Rhodos ausschließlich ihre Macht in Erscheinung trat. Die Formen der politischen Einflußnahme müssen die gleichen gewesen sein, wie sie zu allen Zeiten in ähnlichen Lagen sich von selbst ergeben: Stützpunkte und gesicherte Hafenplätze waren notwendig, also Verträge mit eingeborenen Stämmen und Kleinkönigen, die man durch Besatzungen gegen ihre Feinde schützte und bei eigenen Eingriffen in die Verhältnisse als Söldner in Anspruch nahm, die Tribut zahlten oder Geschenke empfingen, zwischen denen man als Schiedsrichter auftrat und mit denen die Freundschaft oft durch politische Heiraten befestigt worden sein wird, kurz das, was man von jeher unter Kolonialpolitik verstand. Die hethitischen und ägyptischen Archive des Jahrhunderts zeigen gerade für diese Gebiete alle die Formen des Eingreifens, welche man auch bei den Kafti voraussetzen muß. Diese waren bis gegen 1400 in diesen Gewässern die Großmacht, wofür ein »Reich des Minos« keine notwendige Voraussetzung war. Die Masse kretischer Funde auf Kypros, in Syrien und Palästina, die um 1600 plötzlich beginnen, beweist nur die Intensität des organisierten Handels. Man denke an die Hanse, die englischostindische Kompanie oder an »die« Etrusker, die auch kein Staat gewesen sind.

Aber der bloße Name der Kafti war eine Macht, und da zu einer solchen Stellung eine herrschende Verkehrssprache gehört, so war auch das Kaftiwort Alaschia so allbekannt und geläufig, daß es die Katastrophe von 14oo überdauerte. Es hatte dasselbe Schicksal wie die Bezeichnung Westindien, die ursprünglich für die Richtung der spanischen Seefahrt im Gegensatz zur Richtung der portugiesischen nach Ostindien galt Um 1500 meinte man mit »Indien« natürlich beiderseits dasselbe Gebiet. und die allmählich zum Namen der Inselgruppe im Golf von Mexiko eingeengt worden ist. Auch Alaschia wurde nach 1400 ein Landname, aus dem man im täglichen Gebrauch die Bedeutung »Osten« nicht mehr heraushörte, wie wir bei Westfalen, Ostfriesland An der Westgrenze Deutschlands!, Norwegen, Sussex die Betonung der Himmelsrichtung nicht mehr empfinden. Die diplomatische Korrespondenz der Ägypter und Hethiter kennt seit 1400 ein Königreich Alaschia, das sicher einen Teil von Kypros umfaßte Es wird das Gebiet gewesen sein, in dem die Haupthäfen der Kaftischiffahrt lagen und das also seit Menschenaltern der Mittelpunkt politischer Machtentfaltung gewesen ist. Daß der Staat Alaschia die ganze Insel, die so groß wie Kreta ist, umfaßt haben sollte, ist schon wegen deren geographischer Zerrissenheit durch hohe Gebirge so gut wie ausgeschlossen, da die einzelnen Ebenen isoliert und von verschiedensprachigen Stämmen bewohnt gewesen sind. Die Verkehrsinteressen sind im Osten, Norden und Süden ganz verschieden. Auch Griechen und Phöniker haben nur Teilgebiete nebeneinander und neben unabhängigen Kleinstaaten der Eingeborenen besessen. und möglicherweise einige Punkte des Festlands gegenüber besaß oder beeinflußte. Dort mögen manche Stammeshäuptlinge eine solche Rückendeckung in den chaotischen Zuständen der folgenden Zeit zu schätzen gewußt haben. Vielleicht hat in den Jahrzehnten der Katastrophe eine bedeutende Persönlichkeit der Kafti oder einer ihrer Söldnerführer dies Gebiet lange verteidigt – wie Aetius den Rest des weströmischen Reiches mit hunnischen und gotischen Truppen gegen Goten und Hunnen – und nach dem Zusammenbruch auf Kreta seine Herrschaft zu behaupten gewußt. So sind oft genug Staaten und Dynastien entstanden.

In den syrisch-phönikischen Hafenstädten scheint der Name Alaschia (Elissa), von hier aus wohl als Bezeichnung der ganzen Insel verwendet, im Gebrauch geblieben zu sein, auch als um 1200 das Königreich, dessen Herrscher in den Amarnabriefen vom Pharao »Mein Bruder« angeredet wird, also eine bedeutende Macht besaß, zugrunde gegangen war. Wenn die Assyrer gelegentlich von Jadnana reden, wie die Phöniker von Kittim, so waren damit wohl Teilstaaten gemeint, auf welche sich die Urkunden gerade bezogen. Bei den Griechen ist indessen der neue Name Kypros üblich geworden.

Aber auch der gefürchtete Name der Kafti selbst, dessen bloßer Klang Entscheidungen herbeiführen konnte, hatte ein zähes Leben. In der Glanzzeit ihrer Herrschaft müssen die Kafti oft genug in die Verhältnisse der kleinen Küstenstaaten von Ostkilikien und Nordsyrien eingegriffen haben, durch Bündnisse, Kriege und diplomatischen Druck, und man wundert sich nicht, den berühmten Namen dort später noch zu hören. Das versteht sich eigentlich von selbst, aber es gibt Beweise. Ich lege wenig Wert auf das, was Wainwright zusammengebracht hat, um die unmögliche Ansicht zu beweisen, daß das Kaftiland in Kilikien gelegen habe Liverpool Annals 1913 S. 24; Journ. of. Egypt. Arch. 17 S. 26; Journ. of Hell. Stud. 51 S. 7.. Immerhin ist es kein Zufall, daß nach Stephan von Byzanz Adanos, der Bruder des Japetos, die Griechenstadt Adana in Kilikien gegründet haben soll. Das ist natürlich eine spät zurechtgemachte Gründungssage, die einzige allerdings, in welcher der Name Japetos vorkommt, aber sie setzt voraus, daß man den Kaftinamen in dieser Gegend noch gut gekannt hat. Denn Japetos ist das Wort Kafti in jonischer Umprägung, wie sie von den westkleinasiatischen Rhapsoden der homerischen Frühzeit geschaffen wurde Die älteste der wenigen erhaltenen Stellen ist Ilias 8, 479 ff. Vielleicht war in der wilden Zwischenzeit vom Sturz der Kafti bis zur Sicherung der Herrschaft griechischer Stämme das Wort überhaupt noch kein Eigenname einer Mythengestalt, sondern Beiname einer Gottheit mit fortdauerndem Kult, der sie als »die der Kafti« bezeichnete, wie der »idäische« Zeus, der Kronossohn, der hier geboren wird, der Gott vom Berge Ida gewesen ist, natürlich dem auf Kreta, dessen Name erst von homerischen Dichtern auf das Gebirge bei Troja übertragen wurde. Es ist Zufall, daß die Griechen dann statt Idaios Zeus sagten, was auf diese Gestalt gar nicht paßt. und wie sie Hesiod aus deren Gesängen übernommen hat. Japetos ist hier wie Kronos ein Titane; er gehört also zum vorgriechischen Göttergeschlecht, das von Zeus gestürzt wurde. Der bloße, inhalt- und wurzellos gewordene Name der verschollenen Macht hat sich also aus der Urzeit, die mehr als ein halbes Jahrtausend zurücklag, erhalten und ist vom sagenschöpferischen Denken der Griechen mit neuem Gehalt in ihr eigenes Bild des Weltentstehens verwebt worden.

Viel wichtiger ist ein anderer Nachhall des Kaftinamens an einer Stelle, deren große geschichtliche Bedeutung noch nie bemerkt worden ist: Es ist der Noahsegen oder -fluch im Alten Testament 1. Mos. 9, 25 ff. Über die vorderasiatische Geschichte dieser Zeit werde ich später im Zusammenhang sprechen. Hier genügen kurze Andeutungen.. Die ursprüngliche Fassung läßt sich, wie allgemein anerkannt ist, noch herstellen:

Verflucht sei Kanaan, der Knecht der Knechte sei er seinen Brüdern! Gesegnet sei der Gott Sems, und Kanaan sei sein Knecht! Gott schaffe Japhet Macht, daß er wohne in den Zelten Sems, Und Kanaan sei sein Knecht!

Die priesterlichen Bearbeiter des nachexilischen Toratextes – oder schon ein literarischer Priester der mittleren Königszeit – haben dies Spruchfragment zur Verknüpfung der Sintflutsage mit den Völkerstammbäumen verwendet und seinen Sinn wie seine zeitliche Stellung dadurch völlig verwischt. Mit dem Schwank vom trunkenen Weinbauern und seinen Erben, dessen derbe Pointe theologisch überdeckt worden ist, hat er ebenfalls nichts zu tun. Er bezieht sich vielmehr auf ein bestimmtes geschichtliches Ereignis. Kanaan (Kinach-ni) ist kein semitisches Wort W. Borée, Die alten Ortsnamen Palästinas (1930) S. 112 ff., sondern gehört zu den Landschaftsnamen in Mitannisprache Die Endung -ni findet sich, hier oft und überall, z. B. bei Mitan-ni selbst, Naharain (-rini), in griechischer Schreibung in Kommagene, Osrhoëne usw., bezeichnet also ein Gebiet oder Volkstum in Syrien, den damaligen Mitanniländern zwischen den armenischen Vorbergen und dem Libanon. Die späteren »Phönikier'' nannten sich als Staatsangehörige Sidonier oder Tyrier, als Teil einer größeren Volkseinheit Kanaanäer. Damit ist die Gegend der Entstehung des Spruches bestimmt. Es ist dieselbe, aus der noch andere sehr alte Stücke der Genesis stammen, die älteste Fassung der Sintflutsage, in welcher als Landungsort der Arche »ein Berg in Ararat« genannt wird, also in Urartu, dem späteren Armenien, und die Sagen vom Helden Gen. 14, dessen Einzelangaben sich nicht mehr deuten lassen. In den späteren Sagen ist die Gestalt dann ganz priesterlich und so zum »Patriarchen« geworden. Abraham, dessen Brüder Nahor und Haran sind, das heißt die Staaten Naharain und Hamm. Die Frauen Abrahams und Nahors heißen dementsprechend Sara und Milka; beides bedeutet Fürstin.

»Sem« sind die Leute, welche den Spruch singen. Es sind ohne Zweifel Habiri (»Hebräer«) gewesen, also, wie heute feststeht A. Alt, Ber. d. Sachs. Akad. d. Wiss. 86, 1 S. 19 ff., kein »Volk«, sondern heimatlos in Syrien schweifende Söldner verschiedenster Nationalität Sehr bezeichnend sind z. B. die Listen von Habirinamen bei Saarisalo, New Kirkuk Documents relating to Slaves (1934) S. 84 ff., die sich jedem verdingten, der sie bezahlte. Als solche werden sie in den hethischen, babylonischen und ägyptischen Urkunden oft genannt. Habiri ist geradezu ein Gattungsbegriff geworden wie zu andern Zeiten Tyrsener, Wikinger, Korsaren und Schweizer. Sie werden noch zur Zeit Sauls und Davids von dem israelitischen Bauernaufgebot deutlich unterschieden Wichtig ist I. Sam. 13, 6 ff., wo nach der Niederlage die Israeliten fliehen, die Hebräer aber geschlossen abziehen, und 14, 21 ff., wo ein Hebräertrupp von den Philistern zu den Israeliten übergeht (Jirku, Wanderungen der Hebräer, 1924, S. 9 ff.).; aber die Truppen, welche im Dienst dieses Stammesverbandes gegen die Philister standen, sind allmählich in ihm aufgegangen und haben ihm außer ihren alten Sagen, welche nun in Kultsagen umgedeutet wurden, den »weltlichen« Hebräernamen vererbt, der offenbar weithin einen heldenhaften Ruf hatte und den sie später neben dem »geistigen«, Israel, gern führten.

»Japhet« aber sind – in der Aussprache dieser Habiri – die Kafti, »welche in den Zelten Sems wohnen«, also diese in ihrem Sold hatten, um einen Gegner in Kanaan, also irgendwo im syrisch-kilikischen Küstengebiet zu schlagen. Der Spruch ist der Rest eines Triumphliedes, um Jahrhunderte älter als das berühmte Triumphlied der Debora. Es bezieht sich, wie zahllose andere Helden- und Soldatenlieder, die zwischen den Schlachten von selbst entstanden sind, auf ein bestimmtes, wahrscheinlich wenig bedeutendes, aber doch geschichtliches Ereignis, und wurde von der vielleicht recht kleinen siegreichen Schar seitdem am Lagerfeuer gesungen. Aber es war für diese Leute offenbar ihr größtes Erlebnis gewesen, und so ist dieser drastisch-spöttische Gesang Vielleicht nur wegen seines feurigen Rhythmus, wie so viele Soldatenlieder (man denke an »Marlborough« oder die Marseillaise). noch in Zeiten populär geblieben und weiter gesungen worden, die von dem Anlaß längst nichts mehr wußten. Trotzdem ist seine Zeit annähernd bestimmbar. Der Name Japhet (Kafti) kommt in den Tontafelarchiven von Boghazköi und Teil el Amarna, die beide aus dem 14. Jahrhundert stammen, nicht mehr vor, obwohl Hethiter wie Ägypter zu den Mächten gehörten, die sich damals dauernd um die Mitannigebiete schlugen. Das Königreich Alaschia, die neue politische Größe, wird dagegen an beiden Stellen oft genug genannt. Also muß jenes Ereignis früher stattgefunden haben. Es gehörte wohl sicher zu den letzten Verzweiflungskämpfen einzelner Kaftielemente um 1400, die von den Stützpunkten an der Festlandküste aus ihre Existenz zu halten versuchten.

Als später weit im Süden der Stämmebund Israel Israel war der Kultname des Bundes und seiner Mitglieder, wie Hebräer später deren kriegerische Selbstbezeichnung wurde. Man muß, so selten es geschieht, immer mit der Mehrnamigkeit solcher politischen Einheiten rechnen. Auch Römer und Quiriten, Danaer und Achäer, Troja und Ilios sind Beispiele. Wie es dazu kommt, ist jedesmal ein anderes Problem. entstand, um die eben eroberte Hochebene westlich vom Jordan zu verteidigen, wurde dies alte volkstümliche Hebräerlied auf die neue Kriegslage angewendet: Jetzt waren die Philister »Japhet«, so wenig das auf sie paßte, da sie »Sem« geschlagen hatten, und die Eingeborenen waren »Kanaan« – vielleicht ist erst so der Name Kanaan, als Spottname also, in diese Gegend geraten, wo er seitdem allein haften blieb. Und als noch später eine »hebräische« Literatur entstand, wurde das Schema dieser drei uralten Namen verwendet, um alle irgendwie bekannten Völkernamen hineinzupressen Genesis 10. Aus irgendeinem Grunde wird für Kanaan hier Ham eingesetzt. War das die alte Selbstbezeichnung der Stämme zwischen dem Jordan und der Küste?. Darunter befand sich auch das Wort Kaftor, die ägyptische Aussprache des Kaftinamens, die infolge der langen ägyptischen Herrschaft wie viele andre Namen in Palästina gebräuchlich blieb, während die Philister bereits den neuen Namen Kreta mitbrachten – daher die Kreti und Pleti der Leibwache Davids. Daß Kaftor und Japhet dasselbe Wort war und ursprünglich dieselbe Macht bezeichnete, ahnte niemand mehr.

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Ebenso befand sich der Westweg nach »Tarschisch«, den Meeren und Ländern »gegen Abend«, vollkommen in den Händen der Kafti. Das wird deutlich und selbstverständlich, sobald man die verkehrspolitische Lage dieser Zeit begreift. Das westliche Mittelmeer ist durch die Schranke, welche von Apulien, Kalabrien, Sizilien und Tunis gebildet wird, nach Osten hin bis auf zwei Durchfahrten völlig abgeschlossen. Die breitere befindet sich zwischen Tunis und Westsizilien, dessen Buchten, Vorgebirge und kleine Inseln die Einfahrt in die sardinischen und tyrrhenischen Gewässer unter Aufsicht halten. Daher der Wert, den tausend Jahre später die Karthager auf diese Inselspitze legten. Nur beide Stellungen zusammen bildeten die sichere Basis für eine unbedingte Herrschaft zur See. In verschiedenen Händen hätten sie sich gegenseitig neutralisiert Die jahrhundertelangen Kämpfe der Karthager erst gegen die Griechen, dann gegen die Römer galten immer der Abwehr derjenigen Macht, die vom Osten der Insel aus die Stellung auf der Westseite bedrohte. Mit deren Verlust war Karthago strategisch keine Seemacht mehr.. Die andere sehr schmale Straße ist die von Messina, zu welcher die Karthager von Westen her immer wieder vorzudringen suchten, und deren Beherrschung durch die Mamertiner, die sich in Messana festgesetzt hatten und römischen Schutz suchten, den Anlaß zum Ausbruch des Krieges zwischen Karthago und Rom gab Dazu kommt die Straße von Brindisi, welche das Adriatische Meer abschließt.. Dahinter lagen die weiten Gewässer, von denen die Kafti nur das wissen konnten – ob wahr oder falsch –, was man ihnen erzählte. Die Fahrt vom Osten dorthin längs der afrikanischen, wenig bevölkerten Küste war kaum oder gar nicht bekannt. Auch die Ägypter fuhren nach Syrien, wenn sie Waren aus dem fernen Westen erhalten wollten. Das mag daran gelegen haben, daß sich hier sehr wenige gute Landeplätze fanden, an denen man mit einiger Sicherheit Wasser, Lebensmittel und vor allem Holz für Reparaturen erhalten konnte, vielleicht auch daran, daß mit den Stämmen von Barka, die selbst Seefahrt trieben, eine Verständigung unmöglich war, endlich an Untiefen und Meeresströmungen. Der Verkehr hielt sich also an die nördlichen Küsten, und damit war eine Seemacht auf Kreta in der Lage, ihn vollkommen zu beherrschen. Die Verhältnisse im östlichen und südlichen Peloponnes, auf den westgriechischen Inseln von Zakynthos bis Korkyra, in Apulien und Kalabrien waren also von entscheidender Bedeutung. Hier mußte man sichere Stützpunkte und Verträge mit den Küstenstämmen haben, die alle Seeraub trieben, sonst war die große Tarschischfahrt unmöglich.

Das natürliche Ende der Westfahrten ist damit gegeben. Es waren die Tauschplätze an dieser Schranke selbst, vor allem in Ostsizilien. Dahinter lag der »wilde Westen«, wo überall an Küsten und auf Inseln, vor allem auf Sardinien S. 198., seetüchtige Stämme und Stammesgruppen saßen, die jeden Versuch des Eindringens durch die beiden Straßen sinnlos machten. Hier drohten unbekannte Gefahren, welche der Mangel an eigener Anschauung ins Groteske und Sagenhafte wachsen ließ.

Der geographische Horizont der Menschen im Osten war hier zu Ende und ebenso die Interessen der Handelsfahrer. Die Kafti dachten gar nicht an unsinnige Abenteuer, selbst wenn ihre Vorfahren einst von hier nach Kreta gekommen sein sollten. Dergleichen vergaß sich damals schnell. Was haben selbst die Griechen der homerischen Frühzeit von der wirklichen Ankunft ihrer Großväter am Ägäischen Meer behalten? Ihre gesamte »Urgeschichte« ist freie Schöpfung der Fantasie. Geographische Neugier und Entdeckerfreude gehörten noch lange nicht zu den dämonischen Antrieben menschlicher Geister.

Daß je ein Kaftischiff nach Spanien gekommen oder, richtiger gesagt, von dort zurückgekommen sei, ist ausgeschlossen Auch in die Adria, die zu allen Zeiten durch die Piratenstämme der inselreichen Ostküste unsicher gemacht wurde, sind erst griechische Seemächte mit ihren schweren Schiffstypen zögernd eingedrungen.. Dort findet sich bis auf die deutliche Wirkung phönikischer Seefahrten seit dem 7. Jahrhundert nichts, was auf einen Verkehr mit dem östlichen Mittelmeer schließen läßt Bosch-Gimpera (Klio 22 S. 350 ff.). Auch in Gades und Ibiza ist nichts Älteres gefunden worden (del Castillo, Reall. d. Vorgesch. XII S. 165).. Selbst wenn einmal ein paar Gegenstände aus Kreta gefunden werden sollten – wie die Kupferbarren von Serra Ilixi auf Sardinien –, so würde das nichts für Kaftifahrten hierher beweisen, sondern nur eins der zahllosen Beispiele dafür sein, wie weit einzelne kostbare und merkwürdige Dinge durch Raub oder Tausch von Hand zu Hand verschleppt werden können. Nur auf diesem Wege ist manches Ägyptische aus dem 3. Jahrtausend in die tiefsten Schichten von Knossos und Asine geraten. Wirklicher Seeverkehr bezeugt sich durch Massen von Funden in den Gegenden, wo man zu landen pflegte, und das ist in Ostsizilien der Fall, wo Seeleute aus dem ferneren Osten Scherben von Gebrauchsgeschirr in Menge fortgeworfen haben und wo sich in Thapsos und Plemmyrion Bronzeschwerter minoischer Arbeit wie die in Knossos und den Schlachtgräbern von Mykene, Schaftlochäxte wie die aus Palaikastro in Ostkreta, in Pantalica »Rasiermesser« von der Form derjenigen aus Knossos, Schmucksachen kretischer und kyprischer Art und dergleichen gefunden haben C. und H. Cafici, Reall. d. Vorgesch. XII S. 199 ff.. Alle Stücke aus Kupfer und Bronze kamen aus dem Osten hierher, ebenso das Rohkupfer Zwischen den Stämmegruppen im Osten und Westen Siziliens wird zu Lande kaum ein Verkehr bestanden haben. Vielleicht war die Inselmitte überhaupt so gut wie unbewohnt wegen der Fremdheit und Feindschaft der beiden Bevölkerungen von so verschiedener Herkunft, Sprache und Kultur. Der Westen gehörte damals so entschieden zu Sardinien und Spanien wie der Osten zu Kreta und Kypros.. Erst in der späteren Kaftizeit sind auch kretische Schmiede dort eingewandert und haben ihren Schatz an Technik und Formen mitgebracht S. 207..

Aus verkehrspolitischen und strategischen Gründen erklärt es sich nun auch, daß seit 1600 an der Süd- und Ostküste des Peloponnes »minoische« Funde plötzlich in Menge auftauchen, sehr im Gegensatz zur Kamareszeit, wo von einem Verkehr zwischen Kreta und der Argolis überhaupt nichts zu merken ist Die Kamaresstämme müssen, nachdem sie die Ebenen von Mittelkreta erobert hatten, ein ziemlich abgeschlossenes Dasein geführt haben, denn auch auf Kypros und in Syrien findet sich wenig aus ihrer Zeit. Diese sonderbare Erscheinung tritt uns in der Geschichte öfters entgegen. Auch England, obwohl von seefahrenden Stämmen, den Angeln, Sachsen, Dänen, Normannen erobert, war seit 1066 trotz der Besitzungen seiner Könige und Ritter in Westfrankreich lange Zeit fast ohne eigenen Seehandel. Noch entschiedener war die Abschließung Japans 1614 bis 1852.. Das war sicher nicht allein die Folge des Handels mit den eingebornen Stämmen, der nur einen geringen Ertrag abgeworfen haben kann, denn die Glanzzeit der Kuppelgräber und Burgen lag noch in ferner Zukunft. Es beruhte auf der schicksalschweren Tatsache, daß jemand, der hier gegenüber von Kreta eine unabhängige Macht gründete, damit seine Hand auf die Tarschischfahrt gelegt und die Stellung der Kafti unhaltbar gemacht hatte. Das ist gegen 1400 wirklich eingetreten.

Deshalb müssen die Kafti, denen man eine klare Erkenntnis dieser Lage gewiß nicht absprechen kann, hier von Anfang an politisch eingegriffen haben, indem sie Inseln, Vorgebirge und andere wichtige Punkte besetzten, die Stammeshäuptlinge ihrer Herrschaft unterstellten oder sie sonstwie in ihr Interesse zogen, durch bewaffnete Unterstützung oder reiche Geschenke. Zu diesen mögen zum guten Teil die Kostbarkeiten in den Schachtgräbern von Mykene gehören. Der Rest ist Kriegsbeute. Die »ephyräischen Becher«, die Blegen in Korakou, der alten Küstensiedlung des 16. Jahrhunderts bei Korinth, gefunden hat und die auch auf Melos und in Mykene vorkommen, stammen aus der Werkstatt eines Kaftimeisters, die sich auf dem Festland befand Reall. d. Vorgesch. I S. 37. Bilder bei Blegen, Korakou (1921).. Die Insel Melos, in der Mitte zwischen Kreta und der argolischen Küste, besaß während der ganzen Kaftizeit eine größere Stadt mit einem vorzüglichen Hafen, sicher nicht allein wegen des Obsidians, der hier abgebaut und weithin verschifft wurde, sondern weil sie einen Flottenstützpunkt ersten Ranges darstellte. Nachdem die Stadt, doch sicher durch einen Piratenüberfall oder Seekrieg, zerstört worden war, wurde sie als starke Festung sofort wieder aufgebaut.

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Im Peloponnes lag also die gefährlichste und verwundbarste Stelle des Weges nach Tarschisch, und gerade hier haben sich etwa seit 1500 neue Stämme aus dem Westen festgesetzt, seetüchtige Piraten, die nicht wieder zu vertreiben waren und endlich den Kafti über den Kopf gewachsen sind. Wie es dazu gekommen ist, wird sich nie feststellen lassen. Waren sie von den Kafti gerufen worden, als Bundesgenossen oder Söldner, die sich dann stark genug fühlten, um sich nicht wieder fortschicken zu lassen? Die Gefahr aller Mächte, die sich auf bezahlte Truppen stützen wie die Ägypter auf die »Hyksos« und Libyer, die Römer der Kaiserzeit auf Germanen. Man denke an die Mamertiner, die ehemaligen Söldner des Agathokles, die um 285 in Messana einen unabhängigen Staat gründeten, und an den Verzweiflungskrieg der Karthager gegen ihre aufständischen Söldner nach dem Ende des ersten Krieges mit Rom. Oder steht ihre Landung in Zusammenhang mit einer weit größeren Bewegung im westlichen Mittelmeer, in Nordafrika oder Spanien, die ganze Schwärme von Seestämmen in die Ferne trieb? Etwas Derartiges muß ohne Zweifel der Hintergrund und Anlaß auch für den großen Libyerzug von Barka aus gewesen sein, der um 1240 mit Unterstützung zahlreicher »Seevölker«, deren Namen erhalten sind, gegen das Nildelta unternommen und erst dort von Merneptah durch einen entscheidenden Sieg aufgehalten wurde. Wenn wir heute vom Seevölkersturm um 1200 reden, so geschieht das doch nur deshalb Abgesehen davon, daß hier zum erstenmal die ägyptischen Siegesnachrichten eine Menge von Völkernamen aufzählen, die sich zum großen Teil geschichtlich bestimmen lassen., weil damals der vielleicht letzte und stärkste und sicher der erfolgreichste Vorstoß aus dem Westen stattfand, der im Zusammentreffen mit einer binnenländischen Völkerwanderung vom Balkan und Kaukasus, also letzten Endes den nordeurasischen Ebenen her die gesamte Staatenwelt der nordöstlichen Mittelmeergebiete vom Peloponnes bis Palästina in einen Trümmerhaufen verwandelte. Aber solche Züge hat es während des ganzen 2. Jahrtausends gegeben, ob wir davon wissen oder nicht. Die Kamaresleute und die Kafti sind auf dem gleichen Wege nach Kreta gekommen.

Sicher ist nur, daß auch diese Stämme aus dem Westen kamen, und zwar aus einem einzigen Gebiet. Das beweisen die Kuppelgräber, die Totenwohnungen ihrer Häuptlinge, deren ganz bestimmte, fertig ausgebildete Form sie mitgebracht haben. Sie ziehen sich in dichter Folge an den griechischen Küsten, und nur hier, von Leukas und Pylos im Westen über Argos und Attika bis nach Böotien und dem Golf von Pagasä Wo das nördlichste bei Jolkos, dem Ausfahrtshafen der Argonautensage, liegt. hin. In der böotischen Ebene von Orchomenos entstand – neben Tiryns und Mykene – ein zweiter Mittelpunkt der neuen Macht.

Der Bau dieser großartigen Grabtempel beginnt bald nach 1500, erreicht nach dem Sturz der Kafti um 1400 die Höhe seiner Vollendung und dauert noch bis gegen 1300 oder hier und da etwas darüber hinaus, ein Beweis dafür, daß immer neue Schwärme aus der Heimat kamen, nachdem man die ungeheuren Möglichkeiten dieser Stellung erkannt und erprobt hatte.

Diese Leute trieben nicht nur Seeraub, was zu Anfang sicher ihr einziger Beruf und hier ihre erste Absicht gewesen ist. Sie wurden sehr bald unternehmende Seefahrer und Kaufleute, weil sie schnell erkannt hatten, worauf Macht und Reichtum der Kafti beruhte. Sie begannen als gelehrige Schüler der minoischen Zivilisation, die sie sich vollkommen aneigneten Das ist der Grund, weshalb man bis vor kurzem von einer »kretisch-mykenischen Kultur« sprach. Die Unterschiede treten in der Verzierung der Wände, Waffen und Töpfe tatsächlich kaum hervor und sind nur im Stil des Lebens bedeutend, in Weltanschauung und Sitte, was sich vor allem in der Anlage und dem Sinn der großen Bauten ausspricht. Das ist vor lauter Keramik und andern Dingen, die man in Museen aufstellen konnte, anfangs nicht genügend durchdacht worden, obwohl sich hier der vollkommene Gegensatz geradezu aufdrängt., wurden langsam in Schiffbau und Handel eine ebenbürtige Macht neben den Kafti, die mit Eifersucht und in bitterer Feindschaft auf das Wachstum dieser Gegner blickten, während ihre eigne Lebenskraft im Verlauf des 15. Jahrhunderts zunehmende Spuren des Verfalls zeigte, und konnten endlich ernsthaft an den Sturz dieser überlebten Größe denken.

Ich nenne diese Stämme in ihrer Gesamtheit Achäer, aus einem Grunde, der im nächsten Aufsatz behandelt werden soll, da sich ihr Schicksal nur im Zusammenhang mit der Gesamtgeschichte des Festlands im 2. Jahrtausend deutlich machen läßt, soweit das überhaupt noch möglich ist. Von einem »Reich« der Achäer kann selbstverständlich keine Rede sein, so wenig als von einem keltischen Großreich um 400 v. Chr. oder einem germanischen um 400 n. Chr. Das widerspricht morphologisch den inneren Möglichkeiten derartiger Lagen und im besonderen dieser Zeit. Die einzelnen Stämme haben sich sicher untereinander oft genug bekämpft und nur ausnahmsweise zu einer großen Unternehmung zusammengetan. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit läßt sich annehmen, daß die Gestalt Agamemnons unter einer Schar verbündeter Häuptlinge, wie sie in der Dichtung äolischer und jonischer Rhapsoden der homerischen Frühzeit nachlebt, auf ein solches Ereignis zurückgeht. Dann aber würde ihre Verknüpfung mit den Sagen von der Zerstörung der Burg Ilios am Hellespont erst in diesen Dichtungen erfolgt sein Es hätte längst bemerkt werden müssen, daß zur Bezwingung dieser kleinen Piratenfeste von 150 m Durchmesser ein derartiges Aufgebot völlig sinnlos gewesen wäre, während es gegen die Kafti am Platze war..

Wie dem auch sei – gegen 1400 drängte der wachsende politisch-wirtschaftliche Gegensatz zu einer Entscheidung. Es muß Jahrzehnte hindurch gekämpft worden sein, auch an der kleinasiatischen Küste und vielleicht auf Kypros, bis die gewaltige Machtorganisation der Kafti vernichtet war. Von der Härte dieses Ringens zeugt die Tatsache, daß auf Kreta alle Städte und großen Einzelbauten zerstört worden sind und erst nach Jahren auf den Trümmern hier und da ein Dorf, ein Gutshof oder eine Burg entstanden ist. Die höheren Schichten der Kaftibevölkerung, sicherlich viele Tausende, müssen so gut wie ganz ausgemordet, vertrieben oder als Sklaven fortgeschleppt worden sein. Es blieben nur Bauern und kleine Leute zurück, welche nun den neuen Herren gehorchten.

Aber diese Achäerhäuptlinge hatten nicht die primitive Absicht, die große Insel in eine Wüste zu verwandeln. Sie wollten nicht die Vernichter, sondern die Erben der Kaftiseefahrt sein, und das ist ihnen gelungen. Gewiß, die Bevölkerung auf Kreta ist gering geworden, und es wird anders gebaut, gelebt und gedacht. Andre Kulte kommen auf, und wahrscheinlich auch eine andere Sprache. Aber der Seehandel nach Tarschisch und Alaschia dauert fort, nur daß sein Mittelpunkt jetzt auf dem Festland liegt. Es waren keine Wilden mehr, welche diese Entscheidung durchgekämpft hatten; das beweisen die triumphierenden Bauten, welche sie sich jetzt, vor allem in der Argolis, errichtet haben. Tiryns und Mykene sind Burgen westlichen Stils, wie sie die Kafti nicht kannten. Nichts an ihren gewaltigen Mauern und Toren, an den in gerader Richtung hintereinander liegenden und auf den Hauptraum zuführenden Hallen ist nordisch – solange man jeden rechteckigen Grundriß als Megaron bezeichnet ohne Rücksicht darauf, ob es sich um einen gedeckten Saal oder offenen Säulenhof handelt, und ihn mit nordeuropäischen Typen von Bauernhäusern zusammenbringt, wird man das nicht verstehen – aber ebensowenig entspricht es dem Lebensstil der Kafti. Dagegen stammen der gesamte künstlerische Wandschmuck, die Fresken, die Bildhauerei am Löwentor, die Malerei der Tongefäße, die meisterhaften Metallarbeiten von diesen. Das Kleid war entlehnt; Leib und Seele dieser Bauten waren eigenen Ursprungs, wie es zum Wesen solcher »Mondlichtzivilisationen« gehört. Es müssen Schmiede und Töpfermeister in großer Zahl fortgeführt worden sein, die drüben ihre Werkstätten wieder eröffneten und ihren Geschmack zur Geltung brachten. Ihre Erzeugnisse finden sich seit 1400 massenhaft in Melos, Südwestkleinasien, Rhodos, Kypros, Syrien, Palästina und nach »Tarschisch« zu in Unteritalien und Ostsizilien.

Es ist beinahe selbstverständlich, daß die Achäer – wie die Kafti auch und nicht anders die Libyer, die Seevölkerverbände und die Hethiter – wilde Stämme in ihren Sold nahmen, wenn sich dazu Gelegenheit bot, so daß wir nie mit Sicherheit etwas über Herkunft und Sprache wissen können, wenn in solchem Zusammenhang ein Volksname genannt wird. Die Züge der Libyer gegen Merneptah, der Hethiter gegen Ramses II., der Philister gegen Ramses III. müssen ein recht buntes Völker- und Sprachengemisch dargestellt haben, das seinen Namen als Heer oder »Volk« von dem führenden Element empfing, das oft genug bei weitem nicht das zahlreichste war Die Schilderung in Flauberts Salambo von dem aufständischen Söldnerheer der Karthager, das im Begriff stand, einen »Staat« zu gründen, ist vollkommen richtig. Ebenso hat es in den Heeren Wallensteins und Tillys ausgesehen. Wir müssen uns daran gewöhnen, auch die Goten, Vandalen und andere Kampfverbände der Völkerwanderung so zu betrachten. Zwischen manchen »ostgotischen« und »hunnischen« Scharen bestand in der Zusammensetzung kaum ein Unterschied, auch nicht gegenüber manchem »römischen Heer«. Die Scharen Odovakars hatten überhaupt keinen Volksnamen, da unter ihnen kein einzelner Stamm den Vorrang besaß.. Der Name Danaer ist in der frühgriechischen Dichtung vom trojanischen Kriege neben dem der Achäer die Gesamtbezeichnung der Angreifenden. Er stammt wie die Sage von Danaë aus der Argolis, aber damit ist nichts über das Volkstum seiner einstigen Träger ausgesagt. Waren sie ein besonders erfolgreicher Stamm der Achäer, ein Trupp von Bundesgenossen ganz andrer Herkunft oder etwa ursprüngliche Feinde, deren Name an ihren Sitzen haften blieb? Man könnte z. B. an den nordischen Stamm denken, von dem die Schachtgräber des 16. Jahrhunderts in Mykene herrühren. Ich nenne den Namen nur, weil er sich noch in einer dritten Sage erhalten hat, deren Bedeutung für die Zeit um 1400 noch nie bemerkt wurde. Es ist die von den Königen Danaos und Aigyptos, die nach einem Kriege zur Bekräftigung des Friedensschlusses ihre Kinder – je fünfzig – miteinander vermählen, worauf in der Hochzeitsnacht die Töchter des einen die Söhne des andern umbringen. Diese Geschichte stammt natürlich aus rein griechischer Fantasie, aber sie hat fremde, viel ältere Sagen zur Voraussetzung, die von einem Krieg zwischen Danaern und »Ägyptern« erzählt haben müssen, und diese Namen sind echt und sehr alt. Man hat sich immer vergebens bemüht, das Wort Ägypten zu erklären, das nur von den Griechen auf das Nilland angewendet wurde – in Vorderasien sagte man dafür Misri (Mizraim) – und weder aus der griechischen noch der ägyptischen Sprache abzuleiten ist. Aber aus der Lage von 1400 erklärt es sich von selbst: In Aigyptos steckt der Name der Kafti in einer Aussprache, die damals im Peloponnes, vielleicht bei den Danaern selbst, üblich gewesen sein muß. Als seine ursprüngliche Bedeutung in dem Völker- und Sprachengewirr der folgenden Jahrhunderte verschollen war, erhielt er sich als bloßer Wortschall mit dem dunklen Gehalt einer politischen Größe. So übertrugen ihn griechische Seefahrer, als sie seit dem 8. Jahrhundert vom Pharaonenstaat nähere Kenntnis erhielten, dort hin, wie sie den Namen Phöniker gleichzeitig auf die Städte der syrischen Küste anwandten. Sie müssen also einen Blick für die Verwandtschaft der Kaftizivilisation, von welcher hier und da erhaltene Kunstsachen, etwa kostbare Waffen und Gefäße aus Edelmetall »in Kaftiarbeit« noch Zeugnis ablegten, mit der ägyptischen gehabt haben. In der Ilias kommt das Wort noch nicht vor. In der Odyssee bezeichnet es einmal den Nil, einmal einen Bewohner von Ithaka, dessen altertümlicher Name doch wohl eher auf Kreta hinweist, und nur an wenigen jungen Stellen mit Bestimmtheit das eigentliche Ägypten, dessen Benennung sich also damals durchaus noch nicht durchgesetzt hatte.

Aber noch in einer andern Form hat sich der Kaftiname infolge der Katastrophe von 1400 erhalten. Als auf Kreta nichts mehr zu retten war, muß ein Teil der herrschenden Geschlechter nicht nach »Alaschia«, sondern nach der gegenüberliegenden Südwestküste Kleinasiens geflüchtet sein. Dort besaßen die Kafti natürlich nicht nur Landeplätze für die weite Fahrt nach Osten, sondern auch Emporien, welche den Tauschverkehr längs der großen Handelsstraßen nach dem Innern Kleinasiens beherrschten. Milet, dessen Name von dem ostkretischen Küstenort Milatos stammt, hat diese Bedeutung für Jahrhunderte behalten. Vielleicht sind ganze »Seehandelskompanien« von den ostkretischen Häfen dorthin übersiedelt in der Hoffnung, ihre Unternehmungen fortsetzen zu können. Der Name Javones, den die Griechen später Joniker, die Phöniker Javan aussprachen, hat die seltsamsten und widersprechendsten Erklärungen gefunden, meist Versuche, ihn, unter Voraussetzung der Auswanderung eines griechischen »Jonier«stammes aus dem »Mutterland«, mit obskuren und zweifelhaften Namen dort in Verbindung zu setzen Die neueste Behandlung dieser Frage findet sich bei Bilabel, Geschichte Vorderasiens und Ägyptens (1927) S. 380 ff.. Ich bin aber immer mehr zu der festen Überzeugung gelangt, daß der Kaftiname auch in ihm steckt. In Kafti ist -ti die ethnische Endung, die auch in Kreti und Pleti vorkommt Darüber später mehr. Hier genügt die Andeutung.. In Westkleinasien aber herrscht bei Stammesnamen die Endung vor, welche sich in Maiones, Hesiones, Lykaones, Kataones, Paphlagones usw. erhalten hat, vielleicht aus einer Sprache, die erst um 1200 zur Geltung kam. Jav-ones ist also der berühmte Name in dortiger Umbildung und steht den Formen Japetos und Japh-et sehr nahe, während Kafti und Kaftor die einstige ägyptische, Aigyptos die peloponnesische Aussprache noch annähernd widerspiegeln. Die Erweichung von Kaf- zu Jav- (Ἰαϝ-), Ja- hat in dem Namen der lydischen Hauptstadt Saparda, Svart- (Σϝαρτ-), Sardes eine Parallele. Er wird ursprünglich nichts gewesen sein als die Selbstbezeichnung des fremden wohlhabenden Elements, das den Handel in der Hand hatte, mithin mehr Berufs- und Standesbezeichnung als eigentlicher Volksname. Die Siedlungen, in denen das der Fall war, waren also »Städte der Javones«, weil sie ihnen gehörten. Als Jahrhunderte später griechisch sprechende Seefahrer sich festsetzten und die politische Macht an sich rissen, war Jonier schon ein festgewordener Name des kaufmännischen Patriziats, wurde damit der Name der Mitglieder des »jonischen« Städtebundes, einer Art Hanse zum Zweck des Seehandels, und erst seit dem 6. Jahrhundert, als man über Völker und Sprachen gewissermaßen wissenschaftlich nachzudenken begann, im Unterschied von Aeolern und Dorern die Bezeichnung aller Griechen, welche den »jonischen« Dialekt sprachen Die Athener hörten es nicht gern, wenn man sie daraufhin den Joniern zurechnete. Sie fühlten offenbar bei diesen das halbfremde Volkstum heraus, das sich aus der natürlichen Verschmelzung der Familien erklärt und in Lebensart, Kunstgeschmack und Denkweise deutlich genug in Erscheinung tritt.. Wenn deshalb das Wort Javones bei Homer nicht vorkommt Die einzige Stelle, Ilias 13, 685, ist bekanntlich später eingeschoben., so könnte der Grund darin liegen, daß die Patrizier griechischer Abkunft den Namen noch als Bezeichnung fremdblütiger Mitbürger empfanden, welche später in der politischen Organisation der Bürgerschaft in besonderen Phylen neben den vier allgemein verbreiteten griechisch-jonischen Stammphylen zusammengefaßt wurden.

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Die Seegewalt der Achäerstämme hat sich lange gehalten. Seit 1350 etwa taucht ihr Name in den hethitischen Urkunden auf. Immer wieder versucht hier und dort ein Häuptling mit seinem Gefolge Boden zu gewinnen Daß sie nicht griechisch sprachen, versteht sich eigentlich von selbst und wird durch ihre Eigennamen bewiesen. Aber seit Forrers Entdeckung des Achäernamens in den Texten von Boghazköi ist das Gerede von »Griechen im 14. Jahrhundert« unter Fantasten und Halbgelehrten Mode geworden, so daß mit Betonung gesagt werden muß, daß die homerischen Dichter im nordwestlichen Kleinasien die Achäer Agamemnons, welche ein halbes Jahrtausend zuvor gelebt hatten, mit Unrecht für ihre Ahnen hielten. Wie das kam, wird im nächsten Aufsatz dargestellt werden.. Auch am Libyerzug gegen Ägypten um 1240 ist ein Achäerschwarm beteiligt gewesen. Ihr Ende als politische Größe fanden sie wie so vieles andere im Völkersturm um 1200, in dem auch das Hethiterreich, das Königreich Alaschia, das längst verfallene ägyptische Kolonialreich in Syrien und Palästina und – nebenbei – die Seeräuberburg Ilios zugrunde gingen. Damals sind alle ihre Herrschersitze und Kuppelgräber zerstört worden.

Diese allgemeine Verwüstung hat sich auch auf die regelrechte Seefahrt erstreckt. Die Meere verödeten. Überall machten kleine Piratenstämme die nähere Umgebung ihrer Sitze unsicher und es gab keine Seemacht mehr, die sie mit ihrem Aufgebot in Schranken hielt. Die alten großen Handelswege gerieten schnell in Vergessenheit, sobald die Enkel keine Großväter mehr hatten, die davon berichten konnten, weil sie selbst noch auf ihnen gerudert waren. Auch im fernen Westen, in Spanien, Sardinien, Malta ist etwa seit der Mitte des Jahrtausends ein langsamer, aber starker Verfall zu beobachten. Die Reste der »El-Argar-Kultur« in Süd- und Ostspanien werden immer seltener und dürftiger. Hatte sich die frühgeschichtliche Westkultur, deren große Baugesinnung jetzt weit zurückliegt, innerlich überlebt? Waren die tüchtigsten Stämme allmählich nach Osten gefahren? Oder sind barbarische Schwärme über die Pyrenäen gekommen, welche mit der vorgefundenen Kultur nichts anzufangen wußten? Jedenfalls taucht hier plötzlich die Sitte der Leichenverbrennung auf (Reall. d. Vorgesch. X S. 370 ff.).

Damit sinkt auch die Kenntnis fremder Länder. Sie beruhte ausschließlich auf den Erzählungen der Seeleute, Was auf dem Lande von Stamm zu Stamm weitererzählt wurde, kann man unmöglich noch als geographische Kenntnis bezeichnen. die selbst dagewesen waren oder von den Tauschplätzen Erzählungen von noch ferneren Ländern mitbrachten. Das alles war natürlich ein Gemisch von Tatsachen, Fantasie, Prahlerei und zweckbewußter Lüge, wie es das zu allen Zeiten gewesen ist, Unter Seefahrern, Jägern, Kriegern, Abenteurern und Forschungsreisenden. Es ist der Anfang der erzählenden Poesie. Von ihm aus haben sich Epos und Roman entwickelt. Was der Kaufmann Pytheas aus Massalia um 300 von seiner Fahrt »nach der Nordsee« berichtete, wird nicht mehr Wirklichkeitsgehalt besessen haben als die alten Argonautengeschichten. Hieß nicht Herodot der Vater der Lüge, obwohl er sicher geglaubt hat, was er wiedererzählte? und es wurde nicht richtiger dadurch, daß man die Geschichten der alten Leute immer wieder erzählte, weil niemand mehr von den Jungen selbst hinausfuhr. In einer literaturlosen Zeit verändert sich das Bild der räumlichen und zeitlichen Ferne in zwei bis drei Generationen bis zur Unkenntlichkeit. Aus wahren werden »schöne« Geschichten. Namen geraten an Orte und Menschen, die mit ihnen nie etwas zu tun hatten. Wirkliche Ereignisse verlieren ihren ursprünglichen Tatsachengehalt und verschwimmen zu Sagen, und aus Märchen wird geglaubte Geschichte. Von den atlantischen Küsten hat man damals sicher schon in Sardinien und Sizilien nichts Zuverlässiges mehr gehört und für die Küstenbevölkerung des östlichen Mittelmeeres war alles jenseits der Durchfahrten von Tunis und Messina eine unbekannte, unheimliche Weite, die mit seligen oder schauerlichen Fabelländern, Naturwundern, Gefahren, Riesen, Feen, seltsamen Tieren, Menschen und Göttern ausgestattet wurde. Dazu boten sich alte heimatlos gewordene Namen von fremdartigem Klang und längst verschollenem Sinn von selbst an: Ogygia, Kirke, Laistrygonen, Kyklopen, Phaiaken, Skylla und Charybdis. Dazu gehörte auch das alte Kaftiwort Elysion, an dem die religiöse Bedeutung eines Reiches seliger Toten haften geblieben war und das nun als Insel der Seligen in der Fabelgeographie des unbekannten Westens einen Platz fand. Des Westens, denn den Osten kannte man. Nur im Ostwinkel des Schwarzen Meeres hatte die Fantasie noch freien Raum. Dorthin versetzte man Medea und Prometheus. Man glaubte an alles das mit der Inbrunst märchensüchtiger Kinder und moderner Gelehrten, die noch »Atlantis« beigesteuert haben und bei Homer Beschreibungen von Madeira und Teneriffa entdecken, obwohl die Gebildeten und Seekundigen in Milet und Athen schon früh über solche Einfalt gelächelt haben.

Fast alle neueren Betrachtungen gehen von der falschen Voraussetzung aus, daß erst die Phöniker und Griechen das westliche Mittelmeer »entdeckt« hätten. Das kommt von der Überschätzung der antiken Literatur und der Angaben des Alten Testaments. In Wirklichkeit ist die antike Seefahrt, was ihren geographischen Horizont betrifft, ein Rückschritt gewesen, der letzte in einer längeren Reihe. Die Kenntnis des alten Westens ist seit dem Anfang des 2. Jahrtausends beständig gesunken. Und vor allem: Der antike Mensch kannte kein Fernweh, wie es der ständige Blick auf das unendliche Meer und über weite Ebenen hin erzeugt. Seine Seefahrt war, an der großen Vergangenheit gemessen, eng und provinzial wie das Ägäische Meer. Das klingt ungeheuerlich angesichts der Tatsache der tyrischen und jonischen Kolonisation seit dem 8. Jahrhundert, aber was war sie gegenüber den Fahrten der Kafti und Sardinier, die längst das Gleiche unter weit ungünstigeren Bedingungen erreicht hatten? Griechen und Phöniker suchten die Wege wieder auf, die andere in ferner Vorzeit schon entdeckt und befahren hatten. Und auch die Kafti standen weit hinter den Schiffern des 3. Jahrtausends an den atlantischen Küsten zurück, von deren Kühnheit nur noch die Verteilung der Funde erzählt. Was Herodot und seiner Zeit als frevelhafte Vermessenheit, als Hybris erscheint, das war den Seeleuten Jahrtausende zuvor etwas Alltägliches und mußte es sein. Bei der Fahrt ihrer kleinen primitiven Schiffe von der Bretagne nach Irland und von der westafrikanischen Küste nach den Kanarischen Inseln war der Tod das Wahrscheinliche. Den Griechen war er nur noch eine entfernte Möglichkeit. Die Karthager haben, obwohl sie gelegentlich an der Westküste Marokkos Expeditionen unternahmen, von der Existenz der Kanarischen Inseln nur noch gehört. Es ist ausgeschlossen, daß sie dort regelmäßig gelandet wären, sonst hätten die spätantiken Geographen viel bestimmter darüber berichtet. Die Wiederausdehnung des Wissens von der atlantischen Küste bis zur Nordsee hinauf erfolgte bezeichnenderweise vom Binnenlande her, durch die Heere des römischen Imperialismus, und niemand dachte daran, von dort aus Irland und Skandinavien mit einem Schiff aufzusuchen.

Bestimmtere geographische Nachrichten über Tarschisch-Tartessos erhalten wir erst seit dem 7. Jahrhundert durch gelegentliche Angaben griechischer »Jonier«, und zwar der Dichter späthomerischer Zeit, und etwas früher aus den Resten der israelitischen Literatur der mittleren Königszeit, die nur das wiederholte, oft verständnislos genug, was man in Tyrus von den Seeleuten erfuhr. Der Westen heißt immer noch Tart-. Das uralte Kaftiwort, dessen ursprüngliche Endung wir nicht kennen, ist ein allgemein bekanntes Fremdwort geworden, bei welchem man die Bedeutung »West« noch herausfühlte, wie heute die meisten Leute »Orient« sagen und richtig anwenden, ohne eine Ahnung vom Lateinischen zu haben. In Tyrus und Sidon sprach man von Tarschisch, in Milet aber von Tart- essos, und in dieser Endung liegt ein wichtiges Problem, das hier in aller Kürze angedeutet werden soll Die genaue Begründung gehört in einen anderen Zusammenhang..

Die ältesten erhaltenen Stellen, an denen Tartessos erwähnt wird, stehen bei Anakreon und dem sizilischen Dichter Stesichoros, beide um 600. Es ist bezeichnend, daß es fast immer Dichter sind, welche den Namen gebrauchen, und fast immer in mythologischem Zusammenhang. Die vorgriechische Endung -essos wird seit Fick und Kretzschmer, die zuerst auf ihre Bedeutung aufmerksam gemacht haben, stets mit einer anderen, -nthos, zusammengeworfen und beide einer ägäischen, pelasgischen oder anders genannten »Ursprache« zugeschrieben, die damit eine ungeheure, schon sprachgeschichtlich ganz unmögliche Verbreitung erhält, zumal allerlei ähnlich klingende Endungen ohne weiteres hinzugenommen werden. In Wirklichkeit handelt es sich um zwei verschiedene Sprachen, was durch die ganz verschiedene Verbreitung und Verwendung dieser Endsilben bewiesen wird, -nthos ist im Peloponnes zu Hause und erscheint außer in Ortsnamen auch in Eigennamen (ϒάϰινϑος) und solchen von Pflanzen (ἐρέβινϑος) und Dingen des täglichen Gebrauchs (ἀσάμινϑος). Labyrinthos ist die Bezeichnung der Ruine von Knossos in der Sprache, die seit der Zerstörung um 1400 dort herrschte, vermutlich also der – oder einer – achäischen. -essos ist jünger und kommt nur in Orts-, Berg- und Flußnamen vor. Von seiner genauen Bedeutung wissen wir nichts. Um so deutlicher ist der Sitz der Sprache, zu der es gehört. Es ist Südwestkleinasien, das bei den Griechen Karien hieß. Zur Hethiterzeit im 14. und 13. Jahrhundert hatte es andere Namen. Da in den Boghazköitexten Ortsnamen dieser Form nicht vorkommen Vor einer Verwechslung von -essos mit ähnlich geschriebenen Endungen wie -ussas (Hattussas = Boghazköi) ist schon wiederholt gewarnt geworden., so darf man annehmen, daß diese Sprache erst um 1200, also durch die Ereignisse der Seevölkerzeit hierher gelangt ist.

Mehr als die Hälfte der bis jetzt bekannten -essosnamen stammt aus dieser Gegend. Von hier aus haben sie sich also verbreitet. Eine große Zahl sitzt in Attika (Flüsse und Berge) und Böotien, was auf irgendwelche geschichtlichen Ereignisse etwa des 12. oder 11. Jahrhunderts hindeutet. Ein paar finden sich in der Troas südlich von Ilios oder richtiger der Ruine dieser um 1200 zerstörten Piratenburg (Marpessos, Lyrnessos). Auf die Möglichkeit »karischer« Eroberungen in dieser Gegend weist die Sympathie hin, mit welcher die Dichter der Ilias Sarpedon und seine Lykier behandeln. Es muß alte Heldenlieder von ihnen gegeben haben.

Und das erinnert an eine dunkle unbestimmte Kunde, die gelegentlich bei griechischen Schriftstellern auftaucht und aus alter lydischer Quelle stammt (Xanthos). Es soll nach dem Fall von Troja eine »karisch-lydische Seeherrschaft« bestanden haben. Es ist für mich vollkommen sicher, daß das richtig ist. In den Stürmen der Seevölkerzeit muß sich hier ein Stamm festgesetzt haben, der den Namen Karer geführt haben wird und der mit Hilfe alter Traditionen und übriggebliebener Seefahrergeschlechter, die von der Kaftizeit her hier Wurzel geschlagen hatten, zu einer flüchtigen Blüte kam, die dann vorzeitig wohl von den Dorern geknickt wurde. Diese Karer, oder wie sie sonst hießen, haben noch einmal die Kühnheit der Sardinier und Kafti entwickelt, denn die -essosnamen sind Wegmarken ihrer großen Fahrten. Waren sie mit jenen irgendwie verwandt? Kamen sie auch aus dem Westen? Daß sie in Böotien und der Troas Eroberungen gemacht haben, beweisen dort die Ortsnamen. Aber sie sind, und das ist unendlich viel wichtiger, in zwei Richtungen weit darüber hinausgefahren, in Gegenden, wohin die Kafti nie gelangt sind. In Ostbulgarien, südlich der Donaumündung, finden sich die Hafenorte Odessos und Salmydessos, die später von den Milesiern wieder in Anspruch genommen wurden. Die Fahrt dorthin war nur möglich, nachdem Troja zerstört und die Meerenge frei geworden war. Schon in grauer Vorzeit, im 3. Jahrtausend, sind, wie die Funde lehren, kühne Abenteurer dorthin gefahren S. 225 f.; jetzt aber werden Landeplätze gegründet, wie sie für einen geregelten Handel nötig waren. Und an der Westspitze Siziliens, der strategisch wichtigen Stellung gegenüber von Karthago, wo später die Phöniker ihre Erben waren, sind die Namen Telmessos, Krimissos, Herbessos erhalten. Hier lag auf dem Eryx ein berühmtes Heiligtum der Muttergöttin des Westens, welche später von den Phönikern als Astarte, dann den Griechen als Aphrodite, den Römern als Venus und heute von den Katholiken als Madonna di San Giuliano verehrt wird. War hier etwa die Heimat der Karer, bevor sie mit andern Seestämmen nach dem Osten fuhren, um dort ihr Glück zu versuchen?

Daraus ergibt sich mit Sicherheit, daß Tartessos bei den Karern » Markt des Westens« oder etwas ähnliches bedeutet hat, daß es also eine Siedlung, etwa an einer Flußmündung oder auf einem Felsen, und jedenfalls kein fremdes Land oder gar ein mächtiges Reich bezeichnete. Aber damit ist nicht gesagt, daß ein bestimmter und immer derselbe Ort gemeint war. Das Wort wird ein volkstümlicher Ausdruck gewesen sein, mit dem die Seeleute den entferntesten westlichen Punkt der jeweiligen Fahrt meinten, also von fast derselben Unbestimmtheit, die das alte Wort bei den Kafti gehabt hatte, wo es den Westen überhaupt bezeichnete. Wenn das richtig ist, so ergibt sich daraus, daß kein Ort sich selbst so genannt hat, und mehr als einer gelegentlich so genannt wurde. Das aber kann nur in Westsizilien und allenfalls in Tunis der Fall gewesen sein. Daß die Karer nach Spanien gefahren sind, ist ausgeschlossen. Das schon erwähnte gänzliche Fehlen östlicher Funde über Sardinien hinaus bis ins 7. Jahrhundert ist allein ein sicherer Beweis, ganz abgesehen von den Schlüssen, die man aus der unsicheren Lage und dem Charakter der Schiffahrt nach 1200 ziehen muß. Und von der wunderbaren »tartessischen Kultur«, die nach griechischen Seefahrer- und Dichterfabeln – denn gesehen hat es niemand – ein mächtiges Reich im Baetistale erfüllt haben soll, hat sich nicht die geringste Spur gefunden. Im Gegenteil: die Kultur hat in Südspanien seit Jahrtausenden niemals tiefer gestanden als gerade jetzt. Aber hier gibt es Namen von Eingeborenenstämmen, Turditaner und Turduler, die es plötzlich erklären, weshalb die Jonier, als sie im 5. Jahrhundert von Massalia her ein paar Stützpunkte an der spanischen Ostküste anlegten, den Namen Tartessos gerade an diesem Punkt verankerten. Es ist das Ergebnis einer naiven Volksetymologie, an welcher die Griechen immer eine herzliche Freude gehabt haben. Auf jeder Seite fast selbst ihrer ernsthaftesten Historiker und Geographen stehen solche Wortspielereien, durch die fremde Namen mit solchen aus der eigenen Mythologie verknüpft werden. Auch daß die Skylla in die Straße von Messina versetzt wurde, wird auf dem ähnlichen Klang des Namens der Sikuler beruhen. Natürlich war und blieb das Literatur. Kein Mensch im Turditanergebiet wird je erfahren haben, welch berühmten Namen man seiner Heimat zuteil werden ließ. Da das Westmittelmeer jetzt kein Raum für Märchenländer mehr war, denn Karthager und Etrusker trieben hier große Politik, so wurden die alten Namen und Fantasiegebilde verpflanzt, über die Straße von Gibraltar hinaus, welche die Karthager für fremde Schiffe – und die kritische Nachprüfung solcher Geschichten! – gesperrt hatten. Aber Tartessos war nun einmal, nachdem die jonischen Seeleute den Namen von ihren karischen Nachbarn übernommen hatten, aus einer schnell vergangenen Wirklichkeit zum unerschöpflichen Thema von Schiffersagen geworden. Der westliche Horizont der Jonier endete noch im 9. Jahrhundert an den peloponnesischen Küsten, und irgendwo dahinter, in weiter Ferne, lag das ersehnte Dorado, das um so reicher mit märchenhaften Königen, Schätzen, Bauten, Luxus und uralter Weisheit ausgestattet wurde, je länger man davon erzählte. Es ist dieselbe hellenische Einbildungskraft, aus welcher auch das Bild von Troja in der Ilias, das der Phaiakenstadt in der Odyssee und noch das platonische von Atlantis stammt. Je weiter die Seefahrer wieder nach dem Westen gelangten, desto weiter wich Tartessos zurück, und als das Festland zu Ende war, verschwand es in der Vergangenheit.

Eine wesentlich andere Bedeutung hatte das phönikische Wort Tarschisch, das nicht aus dem Sprachgebrauch karischer Seeleute, sondern aus dem viel älteren im Alaschia der Kaftizeit stammt. In Tyrus und Sidon kannte man noch den Gegensatz, der in den Kaftibegriffen Tarschisch und Elissa gelegen hatte. Es waren seemännische Bezeichnungen für Fahrtrichtungen gewesen, für West und Ost, und als solche blieben sie hier im Gebrauch. Mit Elissa meinte man jetzt die Nachbarschaft, eben den »Osten« der Kafti, also im wesentlichen die Insel, wenn man von ihr im allgemeinen sprach, als Ziel des nahen Seeverkehrs; die tyrische Seite von ihr im besonderen hieß nach der Stadt Kittim. Im Gegensatz dazu waren Tarschischfahrten alle Unternehmungen nach den ferneren Westländern, also nach Tunis und Sizilien und darüber hinaus, und Tarschischschiffe starke Fahrzeuge für diese weite Fahrt. Es gibt nicht das geringste Zeugnis dafür, daß die Phöniker mit Tarschisch ein bestimmtes Land oder gar eine einzelne Stadt bezeichnet hätten. Das beweist schon das Durcheinander in den israelitischen Nachrichten, wo die Schiffe für die Ophirfahrt, also im Roten Meer, als Tarschischschiffe bezeichnet werden, wo Karthago, von dessen Existenz man nur eine nebelhafte Vorstellung hatte und dessen eigenen Namen man gar nicht kannte, und vielleicht Sizilien bald unter Tarschisch, bald unter Elissa mitbegriffen werden Die Septuaginta übersetzt Tarschisch Jer. 23, 1; Ez. 27, 12; 38, 13 ausdrücklich mit Karthago., wo einmal ein Land mit tributpflichtigen Häuptlingen Ps. 71, 10., dann sogar Tyrus selbst als Tarschisch erscheint Jes. 23, 10; auch 66, 19?. Offenbar wußten diese Binnenländer, deren geographische Begriffe sich am Beduinenleben der Wüste herausgebildet hatten, mit den Fahrtausdrücken einer Seemannssprache nichts anzufangen.

Die letzten Erben der Kaftimacht sind also Phöniker und Jonier gewesen, und zwar hatten die Leute von Sidon und Tyrus einen bedeutenden Vorsprung. Vielleicht begann der Aufstieg von Sidon schon zu der Zeit, wo die Karer noch das Ägäische Meer beherrschten. Die großen phönikischen Unternehmungen im fernen Westen gehen aber von Tyrus aus, das erst um 1000 herum seine Schwesterstadt überflügelte Noch lange haben sich die Einwohner »Sidonier von Tyrus« genannt.. Es mag annähernd richtig sein, daß Utika und möglicherweise auch Gades – als bescheidenes Emporion – um 1000 entstanden. Das setzt aber frühere Gründungen in Westsizilien und Malta voraus, und damit noch ältere Stationen auf Kreta, Kythera und den westgriechischen Inseln. Die Richtung dieser Handelspolitik bedeutet nichts anderes, als daß diese Seefahrer den Westweg der Karer und damit die südliche Durchfahrt nach dem Westen zwischen Tunis und Sizilien in ihre Hand bekamen, worauf die Jonier auf die nördliche Straße von Messina als den einzigen andern Weg Ansprüche erhoben. Daneben haben sie den Nordweg der Karer ins Schwarze Meer mit Beschlag belegt und weiter ausgebaut. In dieser frühen Eifersucht, die sich ganz deutlich in der kolonialen Ausbreitung beider Mächte nach Westen neben- und gegeneinander spiegelt, liegt schon der späte Kampf auf Sizilien zwischen Karthagern und Griechen und das endgültige Ringen um die Weltherrschaft zwischen Karthagern und Römern im Keime verborgen. Die verkehrspolitische Lage Westsiziliens, das die beiden Räume trennt, und wo die Phöniker als Erben der Karer auftraten, gab Karthago den Vorteil der strategischen Stellung, und es bedurfte der römischen Staatsorganisation, um das Gleichgewicht der Machtmittel wieder herzustellen.


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