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Der Streitwagen und seine Bedeutung für den Gang der Weltgeschichte

Vortrag, gehalten am 6. Februar 1934 in der Gesellschaft der Freunde asiatischer Kunst und Kultur zu München

Der Sinn der geschichtlichen Forschung richtet sich darauf, das Schicksal der Menschen bildhaft darzustellen, soweit es sich in Taten und Persönlichkeiten vollzog. Früher diente als Quelle einzig die Literatur, und Ranke konnte aussprechen, daß die Geschichte erst dort beginne, wo für uns die geschichtlichen Quellen anfangen. Seitdem haben die Ausgrabungen eine andere Auffassung und andere Methoden herausgebildet. Aber es ist zu bedenken, daß die Feststellung von Schichten und die Ordnung von Funden nach formalen Zusammenhängen die Gefahr in sich birgt, vom Wesen der Geschichte abzulenken. Die Keramik schweigt von den Ereignissen. Wir würden von der germanischen Völkerwanderung mit ihren Gestalten und Schlachten nichts wissen, wenn wir lediglich auf die Bodenfunde angewiesen wären. Unter ihnen wird aber eine Gruppe in ihrer wirklichen geschichtlichen Bedeutung immer übersehen oder unterschätzt: die Waffen. Sie stehen der Geschichte näher als Scherben und Schmucksachen. Man hat sie viel zu oberflächlich behandelt, indem man ihre Ornamentik oder Herstellungstechnik allein beachtete. Es fehlt an einer Psychologie der Waffen. Jede Waffe redet auch von dem Stil des Kämpfens und damit von der Lebensanschauung der Träger. In der Erfindung, Verbreitung oder Ablehnung bestimmter Waffen liegt ein Ethos. Der Bogen z. B. ist die erste Fernwaffe, die von einer Gruppe europäischer Stämme als unritterlich instinktiv abgelehnt wurde. Es gehören dazu u. a. die Römer, die Griechen des Mutterlandes und die meisten Germanenstämme. Bei den Darstellungen der jonischen Odysseussage auf korinthischen und attischen Vasen wird deshalb der Bogen, der zur Kennzeichnung der Szene notwendig ist, zur Seite gestellt und Odysseus ein Schwert, die Waffe des Kampfes Mann gegen Mann, gegeben.

Keine Waffe ist so weltverwandelnd geworden wie der Streitwagen, auch die Feuerwaffen nicht. Er bildet den Schlüssel zur Weltgeschichte des 2. Jahrtausends v. Chr., das in der gesamten Geschichte die Welt am meisten verändert hat. Er ist die erste komplizierte Waffe: Der Wagen, das Lenken eines gezähmten Tieres, die lange Schulung von Berufskriegern, deren Lebensinhalt dieser Kampf von oben herab war, kommen zusammen. Vor allem tritt hier das Tempo als taktisches Mittel zuerst in die Weltgeschichte ein. Die Entstehung der Reiterei – an derselben Stelle – ist nur die Konsequenz aus dem Streitwagenkampf. Es handelt sich um eine einmalige Erfindung, die aus dem innersten Lebensdrang von einer bis dahin völlig neuen Art Menschen entstanden ist.

Es fragt sich, wie, wo und wann. Naive Begriffe wie »Erfindung des Wagens« und »Kenntnis des Pferdes« rühren nicht entfernt an das Problem. Es handelt sich um drei Dinge: Das Schnellfahren, die Heranbildung des Pferdes zu diesem Zweck und der Kampf mit der Handwaffe unter dieser Voraussetzung. Erst alle drei zusammen bilden den taktischen Gedanken.

Streng genommen, handelt es sich nicht um Wagen, sondern um Karren. Der vierrädrige Wagen ist ein Lastwagen, langsam und tragfähig. Er hat sich entweder aus dem Ackerbau oder dem Kult entwickelt. Dieser zweirädrige Karren aber ist leicht und schnell. Das Zugtier geht im Trab oder Galopp vor ihm, nicht im Schritt. Hier wird das Problem der Fahrbahn stets vergessen. Der Lastwagen, der mit allen vier Rädern den Boden berühren soll, fordert einen geebneten Fahrdamm oder gepflasterten Hof. Es handelt sich um kurze Strecken, eine Via Sacra oder den Weg vom Feld zum Dorf. Der Kampfwagen aber setzt ein freies, trockenes, ebenes Gelände voraus, wo seine Möglichkeiten sich jederzeit entfalten können. Dies Kampfgelände schließt also als Ort der Entstehung und Verwendung Gebirge, Wälder und Sümpfe und damit fast ganz Europa und Vorderasien aus.

Dazu kommt die Wahl der Bespannung. Der Lastwagen wird von Rind oder Esel gezogen, trägen, ruhigen, starken, gutmütigen Tieren, die im langsamen Schritt, gleichsam kultisch zu gehen pflegen. Das Pferd dagegen ist an und für sich viel zu schnell und temperamentvoll. Es war ein kühner Gedanke, in ihm taktische Möglichkeiten zu entdecken. Das Reden von der »Bekanntschaft mit dem Pferde« ist Unsinn. Wildpferde gab es in Asien und Europa überall. Sie wurden gejagt und gegessen; nichts anderes beweisen die alten westeuropäischen Funde. Hier aber wird das Pferd gefangen und gezähmt, und mehr noch: auf diesen Zweck als Läufer hin dressiert und gezüchtet. Es ist die älteste planvoll veredelte Tierrasse, die wir kennen. Die Züchtung des Reitpferdes etwa ein Jahrtausend später ist nur die letzte Konsequenz. Dazu tritt die Absicht, die Überlegenheit dieser Waffe völlig geltend zu machen. Das Tempo als Waffe tritt damit in die Kriegsgeschichte ein, und ebenso der Gedanke, daß der waffengeübte Berufskrieger ein Stand, und zwar der vornehmste im Volke ist. Zu dieser Waffe gehört eine neue Art Mensch. Die Freude an Wagnis und Abenteuer, an persönlicher Tapferkeit und ritterlichem Ethos macht sich geltend. Es entstehen Herrenrassen, die den Krieg als Lebensinhalt betrachten und mit Stolz und Verachtung auf Bauernvölker und Viehzüchterstämme herabsehen. Hier, im 2. Jahrtausend, spricht sich ein Menschentum aus, das noch nicht da war. Eine neue Art Seele wird geboren. Von da an gibt es ein bewußtes Heldentum.

Vor 50 Jahren kannte man den Streitwagen nur aus Homer. Wir wissen heute, daß der Stamm, der die Schachtgräber von Mykene hinterlassen hat, hier zuerst mit dieser Waffe kämpfte. Es war im 16. Jahrhundert v. Chr. Aber in derselben Zeit beginnt die Bewegung der Hyksos in Vorderasien. Es war ein Name voller Schrecken, den die Ägypter geprägt und nie vergessen haben: Herrscher der Fremdländer. Ihre Sprache und Rasse sind unbekannt. Sie kamen von Norden her, nicht aus Syrien, sondern von Armenien und aus noch ferneren Gegenden, dahinter kein einheitliches Volk, sondern erobernde Schwärme, miteinander verbündet oder einander bekämpfend, die Herrschen und Beutemachen als Lebenszweck empfanden und die Unterworfenen für sich arbeiten ließen. Weiter östlich stürzten sich ebenso, um 1700, die Kassiten auf Babylonien und noch weiter östlich die Arier auf die indische Kultur, die wir seit einigen Jahren aus den Funden von Mohenjo Daro und Harappa kennen. In den alten echten Teilen des indischen Epos tritt uns das Ethos dieser Eroberer genau so entgegen wie in der Ilias. Aber, was meines Wissens noch gar nicht beachtet worden ist: Es war in China ebenso. Wir wissen heute, daß das Bild der altchinesischen Geschichte bis in die Schangdynastie hinein eine Erfindung konfuzianischer Gelehrter ist. Die Knochenfunde in Honan mit ihrer ganz unentwickelten Schrift haben uns gelehrt, daß damals von politischen Aufzeichnungen noch keine Rede sein konnte. Wirkliche Geschichte gibt es hier nicht früher als in Indien und Griechenland, also seit der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausend v. Chr. Aber von Anfang an hat sich hier die feste Tradition erhalten, daß wie dort eine Eroberung der Herrenvölker mit Streitwagen erfolgt ist. Die Dschou gehörten dazu. Seitdem ist der Streitwagen wie im Westen eine entscheidende und eine aristokratische Waffe, die noch zu Beginn der Hanzeit das Schlachtenschicksal entschied. In diesem größeren Zusammenhang läßt sich die Geschichte Chinas seit 1200 besser verstehen: Sie beruht auf den gleichen seelischen Voraussetzungen wie in Indien und der Antike.

Der Streitwagen und die Gruppe der Streitwagenvölker sind also in der großen Ebene entstanden, die von Südrußland bis zur Mongolei reicht und die damals noch nicht den Charakter der Wüste angenommen hatte. Von hier aus sind später die Reiterstämme über ganz Europa und Asien hereingebrochen. Es ist die alte Völkerstraße, auf der Skythen, Kimmerier und Hunnen, Bulgaren, Ungarn, Türken und die Mongolen Dschingiskhans nach Westen, Osten und Süden vorgedrungen sind. Von der Sprache und Rasse der Streitwagenvölker wissen wir nichts. Sie mögen bunt genug gemischt gewesen sein, zumal solche Eroberungszüge andere Völker aufscheuchen und mitreißen. Das Entscheidende liegt aber darin, daß es sich nicht um Völker verschiebung durch Fortnahme von Bauernland und Viehweide handelt, sondern um die Überschichtung höher kultivierter Völker durch ein heldenhaftes Barbarentum. Mit dem Streitwagen beginnt über die alte Welt hin ein wildes Durcheinander von Glanz und Untergang, ein Wirbel von Rassen und Sprachen jeder Art. Ephemere Staaten entstehen, große Führer tauchen auf und verschwinden, Abenteurer und kleine Heerkönige greifen vernichtend in den Gang der Geschichte ein. Das Ergebnis für die Weltgeschichte ist ungeheuer. Sie hat einen neuen Stil und Sinn erhalten. Hyksos und Kassiten haben die alten Südkulturen gestürzt; kaum daß einige Pharaonen und assyrische Herrscher, dem Blute nach vielleicht selbst mit jenen Eroberern verwandt, deren Stil für die Dauer ihres Lebens erfolgreich aufnahmen. Es entstehen drei neue Herrenkulturen von ritterlicher Prägung über einer unterworfenen, höher gesitteten Bevölkerung: die griechisch-römische über der minoisch-mykenischen, die arische über der alten Induskultur, die »chinesische« über einer südlicheren, für die wir keinen Namen haben. Statt des ägyptischen Beamten- und des babylonischen Priesteradels bildet sich hier ein Waffenadel. Der Krieg ist der Lebensinhalt des herrschenden Standes. Diese nördlicheren Kulturen sind männlicher und energischer als die am Euphrat und Nil. Sie haben ein anderes Gefühl für Weite und Schicksal. Aber die Herrenschicht der Frühzeit erschlafft in der südlichen Wärme, am frühesten und gründlichsten in der südlichsten von ihnen, der indischen. Es beginnt ein Ringen der alteinheimischen Unterschicht gegen die kulturtragende Aristokratie, die mit ihrem Fühlen, Denken und Wollen zuletzt aufgezehrt wird: Das ist die Tragik dieser drei geschichtlichen Abläufe.


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