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Zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Presse

(1926)

In der geographischen Verbreitung der größeren deutschen Zeitungen spiegelt sich heute noch eine längst abgeschlossene politische Vergangenheit. Von den Westmächten gilt das nur insofern, als in Frankreich zur Zeit Napoleons die Zentralisation schon so endgültig vollendet war, daß eine ernsthaft in Betracht kommende Presse sich nur in Paris entwickeln konnte, und als auch in England außerhalb Londons nur ein paar Zeitungen von Rang erschienen. Dadurch war hier ein früher Einfluß der Presse auf den Gang der Politik gesichert, mit welcher sie den Ort teilte und zu der sie in persönlicher Fühlung stand. In Deutschland waren Zahl und Verteilung der Zeitungen durch Fürstentümer, Reichsstädte und Bistümer von 1800 bestimmt, gerade damals, als sie aus der Rolle gelehrter und zurückschauender Beobachter vorsichtig herauszutreten begannen. Das 19. Jahrhundert bedeutet überall in Europa eine Umwandlung in politische Mächte und Wirtschaftsunternehmungen großen Stils, die als Verbreiter und zuletzt Erzeuger der öffentlichen Meinung aus dem staatlich-wirtschaftlichen Dasein nicht mehr fortzudenken waren. Trotzdem änderte sich in Deutschland wenig, auch als 1870 mit der Reichsgründung die modernen Aufgaben der Weltpolitik und Weltwirtschaft herantraten, die naturgemäß alle Entscheidungen an einem Punkt konzentrierten. Es entstanden dort wohl neue Zeitungen, aber die alten blieben allenthalben ebenfalls bestehen, um so mehr, als die politische Geschäftsführung des Reiches die Presse nicht zur Mitarbeit und Mitverantwortung heranzog und erzog, wie das in anderen Ländern geschah. Es blieb ihr im wesentlichen die Rolle des öffentlichen Kritikers überlassen, die auch aus der Entfernung geübt werden konnte.

Die Folge war eine vom übrigen Europa abweichende langsame und ungebrochene Entwicklung, als deren spezifisch deutsches Ergebnis heute die größere »Provinzpresse« dasteht, mit ihrem stark ausgeprägten örtlichen Heimatgefühl und ihrem Bedürfnis nach innerer Unabhängigkeit. Sie ist infolge ihrer räumlichen Entfernung vom politischen Geschehen an die Tätigkeit des kritischen – zustimmenden oder ablehnenden – Zuschauers gewöhnt, da bei der heutigen Form der Tagespolitik die Dinge praktisch fertig sind, wenn sie der Provinz zur Kenntnis kommen; andererseits hat sich ein Ernst in geistigen, Kunst- und Bildungsfragen erhalten, der gegen Ende des Jahrhunderts einzig dastand und zu dem hochstehenden Bildungsbedürfnis des deutschen Bürgertums vielleicht mehr als die Schule beigetragen hat. Dies war eine Art von Überlegenheit, die man nicht missen möchte, aber sie wurde aufgewogen durch den Nachteil einer Urteilsbildung über die Lebensinteressen des Landes, die sich auf Informationen aus zweiter Hand, Parteikorrespondenzen, Vertreter ohne Einfluß und Beziehungen, Nachrichtenbüros beschränkt sah und die großen Zusammenhänge der Weltpolitik unterschätzen lernte, weil sie für den Verbreitungskreis zu weit ablagen und auch zu schwer übersehbar waren. Darauf beruht auch das Versagen der Presse im Kriegsbeginn, wo sie den besten Willen mitbrachte aber nicht die taktischen Methoden der planmäßigen Gesamtwirkung weit über die Grenzen hinaus, welche den anderen Mächten und ihrer Presse längst geläufig waren.

Dann kam das Jahr 1919 und stellte die deutschen Zeitungen plötzlich vor einen ungeheuren Aufgabenkreis in dem Augenblick, wo ihnen das wirtschaftliche Fundament wegzusinken drohte. Die längst in Permanenz erklärte Weltkrise politischer und wirtschaftlicher Natur dehnte die notwendige Berichterstattung weit über die finanzielle Tragbarkeit hinaus, ganz abgesehen davon, daß das massenhafte Nachrichtenmaterial in der Provinz kaum noch selbständig zu beurteilen war, und machte es, in Verbindung mit den neuen Formen der parlamentarischen Regierung, beinahe unmöglich, in der Ferne unterrichtet zu bleiben und nicht von den hauptstädtischen Zeitungen selbst am eigenen Ort überholt zu werden. Das ist die augenblickliche Lage der deutschen Provinzpresse, in der ein bedeutendes Stück guter Tradition enthalten ist; trotz der scheinbaren und vorübergehenden Besserung der Wirtschaftslage, die einen notdürftigen Wiederaufbau gestattet hat, ist sie nicht haltbar. Ein großer Teil der ehemaligen Bildungsverpflichtungen ist ihr zum Opfer gefallen – z. T. durch Sportnachrichten, z. T. überhaupt nicht ersetzt –, aber auch der Nachrichtendienst kann nicht anders als unzulänglich sein und die einzelne Zeitung in eine unvermerkte, aber um so stärkere sachliche Abhängigkeit bringen. Es ist keine Frage, daß der gegenwärtige Aufbau dieser Presse, vor allem ihre Zersplitterung, der Zeit nicht mehr entspricht und in Zukunft noch weniger entsprechen wird. Das Gesamtbild wird, so oder so, 1950 ein wesentlich anderes sein. Es fragt sich, ob sich diese Entwicklung lenken läßt oder als unvermeidlich lediglich hingenommen werden muß.

Innerhalb der Wirtschaft, der Weltwirtschaft wie derjenigen der einzelnen Länder, vollzieht sich eine unaufhaltbare Zentralisation – das augenblickliche Wort dafür ist Rationalisierung der Betriebe –, um durch Verständigung über die Verteilung der Aufgaben und die Methoden zusammengefaßter Arbeit wenigstens das Dasein der Betriebe zu erhalten. Die Einbuße an Selbständigkeit ist dabei eine scheinbare. Sie war ohnehin durch Gesetzgebung, Tarifverträge und Kartellwesen praktisch in gewissen Grenzen gehalten. Es ist undenkbar, daß die Zeitungsunternehmungen sich dieser Entwicklung entziehen könnten. Der Weg ist durch die Vereinheitlichung, z. B. des Nachrichtenwesens und der Papierbeschaffung, längst vorgeschrieben, und die Frage ist nur, ob die Besitzer eine inhaltliche Zusammenfassung selbst in die Hand nehmen werden oder ob sich das unter dem Druck der Tatsachen von selbst vollzieht. Um ein Beispiel zu nennen, handelt es sich darum, durch Zusammenlegen des politischen Dienstes am Ort der politischen Entscheidungen, nicht nur in Berlin, sondern auch im Ausland, eine einflußreiche Fühlung herzustellen, welche den Nachteil der Entfernung aufwiegt, oder um die gemeinsame Behandlung kultureller Aufgaben, denen jede Zeitung für sich nicht mehr gewachsen ist. Schon heute haben billige Korrespondenzen die einstige Mitarbeit von Gelehrten und Kennern in erschreckendem Maße verdrängt.

Es handelt sich hier um mehr als um das Dasein einiger Privatunternehmungen. Es handelt sich um die Gefahr, daß Deutschland außerhalb Berlins in demselben Sinne Provinz wird, wie es in Frankreich der Fall ist, d. h. stumpf, flach und langweilig. Das hängt bei der heutigen Macht der Presse über das öffentliche Leben, das geistige wie das politische, ganz wesentlich von der Existenz unverkümmerter Provinzzeitungen ab. Und ob diese verkümmern oder nicht, ist eine Frage des Ranges. Können sie die hauptstädtischen Zeitungen in der Provinz nicht entbehrlich machen, so sind sie selbst entbehrlich geworden. Es ist eins der großen Probleme der geistigen Verfassung des deutschen Volkes, das hier vor einer nicht mehr aufzuschiebenden Lösung steht.


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