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Die zweite Stufe: Sprechen und Unternehmen

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Wie lange das Zeitalter der bewaffneten Hand dauerte, das heißt, seit wann es den Menschen gibt, wissen wir nicht. Die Zahl von Jahren ist auch belanglos, obwohl sie heute noch viel zu hoch angenommen wird. Es handelt sich nicht um Millionen, nicht einmal um mehrere Jahrhunderttausende; immerhin muß eine beträchtliche Zahl von Jahrtausenden verflossen sein.

Nun aber tritt eine zweite Wandlung ein, die Epoche macht, ebenso jäh und gewaltig, das Menschenschicksal von Grund aus umformend wie die erste, wieder eine echte Mutation in dem eben erörterten Sinne. Die prähistorische Forschung hat das längst bemerkt. In der Tat zeigen die Dinge, die in unsern Museen liegen, plötzlich ein anderes Gesicht. Tongefäße treten auf, Spuren von »Ackerbau« und »Viehzucht«, wie man es sorglos genug und viel zu modern genannt hat, Hüttenbau, Gräber, Andeutungen des Verkehrs. Eine neue Welt des technischen Denkens und Verfahrens meldet sich an. Vom Museumsstandpunkt aus, viel zu flach und auf die bloße Anordnung von Funden versessen, hat man ältere und jüngere Steinzeit, Paläolithikum und Neolithikum, getrennt. Aber diese Einteilung des vorigen Jahrhunderts erweckt längst Unbehagen, und man versucht seit Jahrzehnten, sie durch etwas anderes zu ersetzen. Ausdrücke wie Mesolithikum, Mio-, Mixoneolithikum beweisen indessen, daß man immer noch an einer bloßen Ordnung der Objekte haftet und deshalb nicht weiter kommt. Was sich verwandelt, sind aber nicht die Geräte, sondern der Mensch. Noch einmal: Nur von der Seele aus läßt sich die Geschichte des Menschen erschließen.

Diese Mutation läßt sich ziemlich genau festlegen, etwa ins fünfte Jahrtausend v. Chr. Auf Grund der Forschungen de Geers am schwedischen Bänderton: Reallex. d. Vorgeschichte, Bd. II (Diluvialchronologie). Längstens zwei Jahrtausende später beginnen schon die Hochkulturen in Ägypten und Mesopotamien. Man sieht, das Tempo der Geschichte nimmt tragische Maße an. Vorher spielten Jahrtausende kaum eine Rolle, jetzt wird jedes Jahrhundert wichtig. Der rollende Stein nähert sich in rasenden Sprüngen dem Abgrund.

Aber was ist geschehen? Dringt man tiefer in diese neue Formenwelt menschlicher Taten ein, so sieht man bald sehr verwirrte und komplizierte Zusammenhänge. All diese Techniken setzen sich gegenseitig voraus. Die Haltung von gezähmten Tieren fordert das Anpflanzen von Futtermitteln, die Saat und Ernte von Nahrungspflanzen das Vorhandensein von Zug- und Lasttieren, diese wieder den Bau von Gehegen, jede Art von Bauten die Herstellung und den Transport von Baustoffen, der Verkehr die Straße, das Saumtier und das Schiff.

Was ist das seelisch Umwälzende an alledem? Ich gebe die Antwort: Das planmäßige Tun zu mehreren. Bis dahin lebt jeder Mensch sein eigenes Leben, stellt selbst seine Waffe her, führt allein seine Taktik im täglichen Kampfe durch. Keiner braucht den anderen. Das ändert sich plötzlich. Diese neuen Verfahren dehnen sich über lange Zeiträume, unter Umständen über Jahre aus – man denke an den Weg vom Fällen der Bäume bis zur Abfahrt des mit ihnen gebauten Schiffes – und ebenso über weite Strecken. Sie zerfallen in Reihen von genau geordneten Einzelakten und in Gruppen von nebeneinander durchgeführten Handlungen. Diese Gesamtverfahren aber setzen als unentbehrliches Mittel die Wortsprache voraus.

Das Sprechen in Sätzen und Worten kann nicht früher oder später, es muß damals entstanden sein, rasch wie alles Entscheidende, und zwar in engem Zusammenhang mit der neuen Art menschlicher Verfahren. Das läßt sich beweisen.

Was ist »Sprechen«? Zum folgenden Untergang des Abendlandes Bd. II Kap. II, 1: Völker, Rassen, Sprachen. Ohne Zweifel ein Verfahren zum Zweck von Mitteilungen, eine Tätigkeit, die von zahlreichen Menschen fortgesetzt untereinander ausgeübt wird. »Sprache« ist nur eine Abstraktion davon, die innere – grammatische – Form des Sprechens einschließlich der Wortformen. Diese Form muß verbreitet sein und eine gewisse Dauer haben, wenn Mitteilungen wirklich stattfinden sollen. Ich hatte früher Ebenda. gezeigt, daß dem Sprechen in Sätzen einfachere Formen der Mitteilung vorausgehen – Zeichen fürs Auge, Signale, Gesten, Warnungs- und Drohrufe – die sämtlich zur Unterstützung des Sprechens in Sätzen fortbestehen, auch heute noch, als Sprechmelodie, Betonung, Mienenspiel, Handbewegungen, in der heutigen Schrift als Interpunktion.

Trotzdem ist das » fließende« Sprechen dem Gehalt nach etwas ganz Neues. Seit Hamann und Herder hat man sich denn auch immer wieder die Frage nach seiner Entstehung vorgelegt. Wenn alle Antworten bis zum heutigen Tage uns unbefriedigt lassen, so liegt das daran, daß die Frage falsch gemeint war. Denn der Ursprung des Sprechens in Worten kann nicht in der Tätigkeit des Sprechens selbst gesucht werden. So dachten die Romantiker, wirklichkeitsfremd wie immer, welche die Sprache aus der »Urpoesie der Menschheit« ableiteten – nein, mehr noch: die Sprache war die Urdichtung des Menschen; sie war Mythus, Lyrik, Gebet zugleich, und Prosa war nur die spätere Herabwürdigung zum gemeinen Gebrauch des Tages. Aber dann müßte die innere Form der Sprache, die Grammatik, der logische Aufbau der Sätze ganz anders aussehen. Gerade urwüchsige Sprachen wie die der Bantu- und der Turkstämme zeigen die Tendenz besonders deutlich, ganz klare, scharfe, unmißverständliche Unterscheidungen zu treffen. Bis zu dem Grade, daß in manchen Sprachen der »Satz« ein einziges Wortungeheuer ist, in dem durch klassifizierende Vor- und Nachsilben in gesetzmäßiger Ordnung alles ausgedrückt wird, was gesagt werden soll.

Aber das führt zum Grundfehler der Feinde aller Romantik, der Rationalisten. Sie laufen stets der Meinung nach, daß der Satz ein Urteil oder einen Gedanken ausdrücke. Sie sitzen an ihrem Schreibtisch voller Bücher und grübeln über ihr eigenes Denken und Schreiben nach. Da scheint ihnen der »Gedanke« der Zweck des Sprechens zu sein. Weil sie allein zu sitzen pflegen, vergessen sie über dem Sprechen das Hören, über der Frage die Antwort, über dem Ich das Du. Sie sagen »Sprache« und meinen die Rede, den Vortrag, die Abhandlung. Ihre Ansicht vom Entstehen der Sprache ist monologisch und deshalb falsch.

Die richtig gestellte Frage lautet nicht: Wie, sondern wann entsteht das Sprechen in Worten? Und dann wird sehr bald alles klar. Der meist mißverstandene oder übersehene Zweck des Sprechens in Sätzen ergibt sich aus der Zeit, seit welcher so, nämlich fließend gesprochen wird. Und der Zweck liegt in der Form der Satzbildung klar zutage. Das Sprechen erfolgt nicht monologisch, sondern dialogisch, die Satzreihen folgen nicht als Rede, sondern zwischen mehreren Menschen als Unterredung. Der Zweck ist nicht ein Verstehen aus dem Nachdenken heraus, sondern eine wechselseitige Verständigung durch Frage und Antwort. Welches sind denn die ursprünglichen Formen des Sprechens? Nicht das Urteil, die Aussage, sondern der Befehl, der Ausdruck des Gehorsams, die Feststellung, die Frage, die Bejahung, die Verneinung. Es sind Sätze, die sich stets an einen anderen wenden, ursprünglich sicher ganz kurz: Tu das! Fertig? Ja! Anfangen! Die Worte als Begriffsbezeichnung Der Begriff ist die Einordnung von Dingen, Lagen, Tätigkeiten in Klassen von praktischer Allgemeinheit. Der Pferdebesitzer sagt nicht »Pferd«, sondern Schimmelstute oder Rappfohlen, der Jäger nicht »Wildschwein«, sondern Keiler, Bache, Frischling. folgen erst aus dem Zweck der Sätze, so daß von Anfang an der Wortschatz eines Jägerstammes ganz anders ist als der eines Dorfes von Viehzüchtern oder einer seefahrenden Küstenbevölkerung. Ursprünglich war die Sprache eine schwierige Tätigkeit, Und sicher lernten erst Erwachsene fließend sprechen, wie noch viel später schreiben. und man sprach gewiß nur das Notwendigste. Noch heute ist der Bauer schweigsam im Verhältnis zum Städter, der infolge seiner Sprachgewöhnung den Mund nicht halten kann und aus Langerweile schwatzt und Konversation macht, sobald er nichts zu tun hat, und ob er etwas zu sagen hat oder nicht.

Der ursprüngliche Zweck des Sprechens ist die Durchführung einer Tat nach Absicht, Zeit, Ort, Mitteln. Die klare, eindeutige Fassung derselben ist das Erste, und aus der Schwierigkeit, sich verständlich zu machen, den eigenen Willen anderen aufzuerlegen, ergibt sich die Technik der Grammatik, die Technik der Bildung von Sätzen und Satzarten, des richtigen Befehlens, Fragens, Antwortens, der Ausbildung von Wortklassen auf Grund der praktischen, nicht der theoretischen Absichten und Ziele. Das theoretische Nachdenken hat am Entstehen des Sprechens in Sätzen so gut wie gar keinen Anteil. Alles Sprechen ist praktischer Natur und geht vom »Denken der Hand« aus.

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Das Tun zu mehreren nennen wir Unternehmen. Sprechen und Unternehmen setzen sich in genau derselben Weise gegenseitig voraus wie früher Hand und Werkzeug. Sprechen zu mehreren hat seine innere, grammatische Form an der Durchführung von Unternehmungen entwickelt, und die Gewohnheit des Unternehmens ist von der Methode des sprachgebundenen Denkens geschult worden. Denn Sprechen heißt, sich anderen denkend mitteilen. Wenn Sprechen ein Tun ist, so ist es ein geistiges Tun mit sinnlichen Mitteln. Es hat die unmittelbare Verbindung mit körperlichem Tun sehr bald nicht mehr nötig. Denn das ist das Neue, welches jetzt, seit dem 5. Jahrtausend v.Chr., Epoche macht: Das Denken, der Geist, der Verstand oder wie man das nennen will, was sich durch die Sprache von der Verbundenheit mit der tätigen Hand emanzipiert hat, tritt der Seele und dem Leben nun als eine Macht für sich entgegen. Die rein geistige Überlegung, die » Berechnung«, welche hier plötzlich, entscheidend, alles verändernd auftaucht, ist diese, daß gemeinsames Tun als Einheit eine Wirkung hat, als ob ein Riese etwas täte. Oder wie es Mephistopheles im Faust ironisch ausdrückt:

Wenn ich sechs Hengste zahlen kann,
Sind ihre Kräfte nicht die meine?
Ich renne zu und bin ein rechter Mann,
Als hätt' ich vierundzwanzig Beine.

Das Raubtier Mensch will seine Überlegenheit bewußt steigern, weit über die Grenzen seiner Körperkraft hinaus. Es opfert seinem Willen zu größerer Macht einen wichtigen Zug gerade seines Lebens. Das Denken, das Berechnen der größeren Wirkung ist das erste. Ihr zuliebe versteht man sich darauf, ein wenig von seiner persönlichen Freiheit aufzugeben. Innerlich bleibt man ja unabhängig. Aber kein Schritt in der Geschichte läßt sich zurücktun. Die Zeit und also das Leben sind nicht umkehrbar. Einmal an die Tätigkeit zu mehreren gewöhnt und an ihre Erfolge, verwickelt sich der Mensch immer tiefer in diese verhängnisvollen Bindungen. Das unternehmende Denken greift immer stärker in das Seelenleben ein. Der Mensch ist Sklave seines Gedankens geworden.

Der Schritt vom Gebrauch persönlicher Werkzeuge zum Unternehmen von mehreren bezeichnet eine ungeheuer wachsende Künstlichkeit der Verfahren. Das Arbeiten mit künstlichen Stoffen, das Töpfern, Weben und Flechten, will noch nicht viel besagen, obwohl es viel durchgeistigter, viel schöpferischer ist als alles frühere. Aber über zahlreiche Verfahren, von denen wir nichts mehr wissen können, ragen einige von gewaltiger Gedankenkraft hinaus, die Spuren hinterlassen haben. Vor allem sind es die, welche aus dem » Gedanken des Bauens« erwachsen sind. Wir kennen Bergwerke auf Feuerstein, lange vor aller Kenntnis der Metalle, in Belgien, England, Österreich, Sizilien, Portugal, die sicher bis in diese Zeit zurückreichen, mit Schächten und Stollen, Wetterführung und Abstützungen, in denen mit Werkzeugen aus Hirschgeweih gearbeitet wurde. Reall. d. Vorgeschichte, Bd. I (Bergbau). Es gibt in »frühneolithischer« Zeit starke Beziehungen zwischen Portugal und Nordwestspanien und der Bretagne unter Umgehung von Südfrankreich, zwischen der Bretagne und Irland, die eine geregelte Schiffahrt und also den Bau von leistungsfähigen Fahrzeugen unbekannter Art voraussetzen. Es gibt in Spanien Megalithbauten aus behauenen Steinen von gewaltiger Größe, mit Deckplatten im Gewicht von mehr als 100 000 kg, die oft von weither herangeschafft und mit einer uns unbekannten Technik an ihren Platz gesetzt werden mußten. Macht man sich klar, was zu solchen Unternehmungen nötig ist an Nachdenken, Beratung, Aufsicht, Befehlen, an monate- und jahrelanger Vorbereitung zur Gewinnung und zum Heranbringen des Materials, zur zeitlichen und räumlichen Verteilung der Aufgaben, dem Entwerfen des Planes, zur Übernahme und Leitung der Ausführung? Welch langes Vorausdenken fordert das Unternehmen der Schiffahrt auf hoher See im Vergleich zur Herrichtung eines Feuersteinmessers! Schon der »zusammengesetzte Bogen«, der auf spanischen Felsbildern dieser Zeit vorkommt, verlangt zu seiner Herstellung aus wechselnden Lagen von Sehnenmasse, Horn und bestimmten Hölzern ein kompliziertes Verfahren, das sich über 5–7 Jahre ausdehnt. Und die »Erfindung des Wagens«, wie wir sehr naiv sagen, was setzt sie für ein Nachdenken, Anordnen und Tun voraus, das sich von Zweck, Weg und Art des »Fahrens«, der Wahl und Herstellung der Straße, an die meist niemand denkt, der Beschaffung oder Züchtung von Zugtieren bis zu Erwägungen über Größe und Art der Belastung, deren Sicherung, über Lenkung und Unterkunft erstreckt!

Eine ganz andere Welt von Schöpfungen geht aus dem » Gedanken des Zeugens« hervor, nämlich der Züchtung von Pflanzen und Tieren, durch welche der Mensch selbst die Schöpferin Natur vertritt, nachahmt, verändert, verbessert und vergewaltigt. Seit er – damals – Pflanzen anbaute, statt sie zu sammeln, hat er sie sicherlich mit Bewußtsein für seine Zwecke umgestaltet. Jedenfalls gehören die Funde zu Arten, die wildwachsend nicht nachgewiesen sind. Und die ältesten Funde von Tierknochen, welche Viehhaltung in irgend einer Form beweisen, zeigen bereits die Folgen der »Domestikation«, die bestimmt zum Teil gewollt und durch Züchtung erreicht worden sind. Hilzheimer, Natürliche Rassengeschichte der Haussäugetiere (1926). Der Begriff der Beute des Raubtieres erweitert sich: Nicht nur das erlegte Tier ist Beute und Eigentum, sondern schon die freiweidende Wildherde Wie heute der Wildbestand unserer Wälder., ob man sie nun einhegt oder nicht. Noch im 19. Jahrh. folgten Indianerstämme den großen Büffelherden, wie jetzt noch die Gauchos in Argentinien den Rinderherden, die Privateigentum sind. Das Nomadentum ist zum Teil so, aus der Seßhaftigkeit heraus, entstanden. Sie gehört jemandem, einem Stamm oder Jägertrupp, und dieser verteidigt sein Recht auf Ausbeutung. Die Überführung in Gefangenschaft zum Zweck der Züchtung, die den Anbau von Futtermitteln voraussetzt, ist nur eine von mehreren Arten des Besitzens.

Ich hatte gezeigt, daß die Entstehung der bewaffneten Hand die logische Trennung von zwei Verfahren zur Folge hatte: die Herstellung und den Gebrauch der Waffe. Ebenso folgt nun aus dem sprachgeleiteten Unternehmen die Trennung der Tätigkeiten des Denkens und der Hand. Bei jedem Unternehmen läßt sich Ausdenken und Ausführen unterscheiden, und von jetzt an ist die Leistung des praktischen Denkens die erste und wichtigste. Es gibt Führerarbeit und ausführende Arbeit: das ist für alle kommenden Zeiten die technische Grundform des gesamten menschlichen Lebens geworden. Untergang des Abendlandes Bd. II Kap. V § 2, 4. Ob es sich um eine Jagd auf großes Wild oder einen Tempelbau, um ein kriegerisches oder landwirtschaftliches Unternehmen, die Gründung einer Firma oder eines Staates, um einen Karawanenzug, einen Aufstand, selbst um ein Verbrechen handelt – immer muß zuerst ein unternehmender, erfinderischer Kopf da sein, der die Idee hat, die Ausführung leitet, der befiehlt, die Aufgaben verteilt, kurz, der zum Führer geboren ist über andere, die es nicht sind.

Es gibt aber nicht nur zwei Arten von Technik im Zeitalter des sprachgeleiteten Unternehmens, die von Jahrhundert zu Jahrhundert schärfer auseinandertreten, sondern auch zwei Arten von Menschen, die sich durch ihre Begabung für eine von ihnen unterscheiden. Es gibt bei jedem Verfahren eine Technik des Führens und eine andere der Ausführung, aber ebenso selbstverständlich gibt es von Natur Befehlende und Gehorchende, Subjekte und Objekte der politischen oder wirtschaftlichen Verfahren. Das ist die Grundform des vielgestaltig gewordenen menschlichen Lebens seit dieser Wandlung, die nur mit dem Leben selbst zu beseitigen ist.

Zugegeben, daß sie widernatürlich und künstlich ist – aber das ist ja »Kultur«. Sie mag verhängnisvoll sein und ist es zu Zeiten wirklich gewesen, weil man sich einbildete, sie künstlich beseitigen zu können, aber sie ist nichtsdestoweniger eine unerschütterliche Tatsache. Regieren, Entscheiden, Leiten, Befehlen ist eine Kunst, eine schwierige Technik, die wie jede andre eine angeborene Begabung voraussetzt. Nur Kinder glauben, daß der König mit der Krone zu Bette geht, und Untermenschen der Großstädte, Marxisten, Literaten, glauben von Wirtschaftsführern etwas Ähnliches. Unternehmen ist eine Arbeit, welche die Handarbeit erst möglich macht. Und ebenso ist das Erfinden, Ausdenken, Berechnen, Durchführen neuer Verfahren eine schöpferische Tätigkeit begabter Köpfe, welche die ausführende Tätigkeit der Unschöpferischen zur notwendigen Folge hat. Hierher gehört der etwas altmodische Unterschied von Genie und Talent. Genie ist – wörtlich Es kommt vom lateinischen genius, der männlichen Zeugungskraft. – die Schöpferkraft, der heilige Funke im einzelnen Leben, der in Strömen von Generationen rätselhaft auftaucht und erlischt und plötzlich ein Zeitalter weithin erleuchtet. Talent ist eine Begabung für vorhandene Einzelaufgaben, die sich durch Tradition, Lernen, Übung, Dressur zu starker Wirkung entwickeln läßt. Talent setzt Genie voraus, um angewendet werden zu können, nicht umgekehrt.

Es gibt zuletzt einen natürlichen Rangunterschied zwischen Menschen, die zum Herrschen und die zum Dienen geboren sind, zwischen Führern und Geführten des Lebens. Er ist schlechthin vorhanden und wird in gesunden Zeiten und Bevölkerungen von jedermann unwillkürlich anerkannt, als Tatsache, obgleich sich in Jahrhunderten des Verfalls die meisten zwingen, das zu leugnen oder nicht zu sehen. Aber gerade das Gerede von der »natürlichen Gleichheit aller« beweist, daß es hier etwas fortzubeweisen gibt.

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Das sprachgeleitete Unternehmen ist nun mit einer gewaltigen Einbuße an Freiheit, der alten Freiheit des Raubtieres, verbunden – für die Führer wie die Geführten. Sie werden beide geistig, seelisch, mit Leib und Leben Glieder einer größeren Einheit. Das nennen wir Organisation. Es ist die Zusammenfassung des tätigen Lebens in feste Formen, das In-Form-sein für Unternehmungen irgendwelcher Art. Mit dem Tun zu mehreren erfolgt der entscheidende Schritt vom organischen zum organisierten Dasein, vom Leben in natürlichen zu dem in künstlichen Gruppen, vom Rudel zu Volk, Stamm, Stand und Staat.

Aus Raubtierkämpfen zwischen einzelnen ist der Krieg geworden, ein Unternehmen von Stamm gegen Stamm, mit Führern und Gefolgschaften, mit organisierten Märschen, Überfällen und Gefechten. Aus der Vernichtung des Besiegten wird das Gesetz, das dem Unterliegenden auferlegt wird. Das menschliche Recht ist immer ein Recht des Stärkeren, das der Schwächere zu befolgen hat, Untergang d. Abendlandes Bd. II Kap. I § 15; Kap. IV § 6. und dieses Recht zwischen Stämmen als dauernd gedacht ist der » Friede«. Einen solchen Frieden gibt es auch innerhalb des Stammes, um seine Kräfte für Aufgaben nach außen hin verfügbar zu halten: der Staat ist die innere Ordnung eines Volkes für den äußeren Zweck. Der Staat ist als Form, als Möglichkeit, was die Geschichte eines Volkes als Wirklichkeit ist. Ebenda. Geschichte aber ist Kriegsgeschichte, damals wie heute. Politik ist nur der vorübergehende Ersatz des Krieges durch den Kampf mit geistigeren Waffen. Und die Mannschaft eines Volkes ist ursprünglich gleichbedeutend mit seinem Heer. Der Charakter des freien Raubtieres ist in wesentlichen Zügen vom einzelnen auf das organisierte Volk übergegangen, das Tier mit einer Seele und vielen Händen. Und mit einem Kopf, nicht mit vielen. Regierungs-, Kriegs- und diplomatische Technik haben dieselbe Wurzel und zu allen Zeiten eine tief innerliche Verwandtschaft.

Es gibt Völker, deren starke Rasse den Raubtiercharakter bewahrt hat, räuberische, erobernde, Herrenvölker, Liebhaber des Kampfes gegen Menschen, welche den wirtschaftlichen Kampf gegen die Natur den andern überlassen, um sie zu plündern und zu unterwerfen. Mit der Schifffahrt zugleich ist der Seeraub, mit dem Nomadenleben der Überfall auf Handelsstraßen, mit dem Bauerntum dessen Knechtung durch einen kriegerischen Adel gegeben.

Denn mit der Organisation zu Unternehmungen trennt sich auch die politische und die wirtschaftliche Seite des Lebens, die Richtung auf Macht oder auf Beute. Es gibt nicht nur eine Gliederung innerhalb der Völker nach Tätigkeiten, Krieger und Handwerker, Häuptlinge und Bauern, sondern auch die Organisation ganzer Stämme für einen einzigen wirtschaftlichen Beruf. Es muß damals schon Jäger-, Viehzüchter-, Bauernstämme gegeben haben, Bergbau-, Töpfer- und Fischerdörfer, politische Organisationen von Seefahrern und Händlern. Und darüber hinaus gibt es Eroberervölker ohne wirtschaftliche Arbeit. Je härter der Kampf um Macht und Beute, desto enger und strenger die Bindungen des einzelnen durch Recht und Gewalt.

In den Stämmen dieser frühen Art bedeutet das einzelne Leben wenig oder gar nichts. Man mache sich nur klar – die isländischen Sagas geben einen Einblick –, daß bei jeder Fahrt über See nur ein Teil der Schiffe ankommt, daß bei jedem großen Bau ein erheblicher Teil der Arbeitenden zugrunde geht, daß ganze Stämme in Zeiten der Trockenheit verhungern – es kommt nur darauf an, daß so viele übrig bleiben, um die Seele des Ganzen zu repräsentieren. Die Zahl wächst rasch wieder nach. Als Vernichtung empfindet man nicht den Untergang einzelner oder vieler, sondern das Erlöschen der Organisation, des »Wir«.

In dieser wachsenden gegenseitigen Abhängigkeit liegt die stille und tiefe Rache der Natur an dem Wesen, das ihr das Vorrecht auf Schöpfertum entriß. Dieser kleine Schöpfer wider die Natur, dieser Revolutionär in der Welt des Lebens ist der Sklave seiner Schöpfung geworden. Die Kultur, der Inbegriff künstlicher, persönlicher, selbstgeschaffener Lebensformen, entwickelt sich zu einem Käfig mit engen Gittern für diese unbändige Seele. Das Raubtier, das andere Wesen zu Haustieren machte, um sie für sich auszubeuten, hat sich selbst gefangen. Das Haus des Menschen ist das große Symbol dafür.

Und seine wachsende Zahl, in welcher der einzelne sich bedeutungslos verliert. Denn das gehört zu den folgenschwersten Wirkungen menschlichen Unternehmergeistes, daß die Bevölkerung sich vervielfacht. Wo einst ein Rudel von wenigen hundert Köpfen schweifte, sitzt jetzt ein Volk von Zehntausenden. Und drängen sich heute Millionen. Es gibt kaum noch menschenleere Räume. Volk grenzt an Volk, und die bloße Tatsache der Grenze, der Grenze eigener Macht, reizt die alten Instinkte zu Haß, Angriff und Vernichtung. Die Grenze jeder Art, auch die geistige, ist der Todfeind des Willens zur Macht.

Es ist nicht wahr, daß menschliche Technik Arbeit erspart. Es gehört zum Wesen der sich verändernden, persönlichen Menschentechnik im Gegensatz zur Gattungstechnik der Tiere, daß jede Erfindung die Möglichkeit und Notwendigkeit neuer Erfindungen enthält, daß jeder erfüllte Wunsch tausend andere weckt, jeder Triumph über die Natur zu noch größeren reizt. Die Seele dieses Raubtiers ist unersättlich, sein Wollen nie zu befriedigen – das ist der Fluch, der auf dieser Art von Leben liegt, aber auch die Größe in ihrem Schicksal. Ruhe, Glück, Genuß sind gerade den höchsten Exemplaren unbekannt. Und kein Erfinder hat je die praktische Wirkung seiner Tat richtig vorausgesehen. Je fruchtbarer die Führerarbeit ist, desto größer wird der Bedarf an ausführenden Händen. Deshalb beginnt man die Gefangenen feindlicher Stämme, statt sie zu töten, hinsichtlich ihrer Körperkraft auszubeuten. Das ist der Beginn der Sklaverei, die genau so alt sein muß wie die Sklaverei der Haustiere.

Diese Völker und Stämme vermehren sich gewissermaßen nach unten. Nicht die Zahl der »Köpfe« wächst, sondern die der Hände. Die Gruppe der Führernaturen bleibt klein. Es ist das Rudel der eigentlichen Raubtiere, das Rudel der Begabten, das über die wachsende Herde der andern in irgendeiner Weise verfügt.

Aber selbst diese Herrschaft der wenigen ist von der alten Freiheit weit entfernt. Das liegt in dem Worte Friedrichs des Großen: »Ich bin der erste Diener meines Staates.« Deshalb der tiefe verzweifelte Drang der Ausnahmemenschen, innerlich frei zu bleiben. Hier und erst hier beginnt der Individualismus als der Widerspruch gegen die Psychologie der » Masse«. Es ist das letzte Aufbäumen der Raubtierseele gegen die Gefangenschaft in der Kultur, der letzte Versuch, sich der seelischen und geistigen Einebnung zu entziehen, die durch die Tatsache der großen Zahl bewirkt und dargestellt wird. Deshalb die Lebenstypen des Eroberers, des Abenteurers, des Einsiedlers, selbst ein gewisser Typus von Verbrechern und Bohemiens. Man will der Wirkung der saugenden Zahl entgehen, indem man sich über sie stellt, vor ihr flieht, sie verachtet. Die Idee der Persönlichkeit, dunkel beginnend, ist ein Protest gegen den Menschen der Masse. Die Spannung zwischen beiden wächst bis zum tragischen Ende.

Der Haß, das eigentliche Rassegefühl der Raubtiere, setzt voraus, daß man den Gegner achtet. Es liegt eine gewisse Anerkennung der Gleichheit des seelischen Ranges darin. Wesen, die tiefer stehen, verachtet man. Wesen, die selbst tief stehen, sind neidisch. Alle frühen Märchen, Göttermythen und Heldensagen sind voll von solchen Motiven. Der Adler haßt nur seinesgleichen. Er beneidet niemand, er verachtet viele, alle. Die Verachtung blickt aus der Höhe herab, der Neid schielt von unten herauf – es sind die welthistorischen Gefühle der zu Staaten und Ständen organisierten Menschheit, deren friedliche Exemplare ohnmächtig an den Stäben des Käfigs rütteln, der sie zusammen einschließt. Von dieser Tatsache und ihren Folgen kann nichts befreien. So war es, so wird es sein – oder es wird gar nichts mehr sein. Es hat einen Sinn, diese Tatsache zu achten oder zu verachten. Sie zu ver ändern ist unmöglich. Das Schicksal des Menschen ist im Laufe und muß sich vollenden.


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