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Die Entstehung des Menschen: Hand und Werkzeug

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Seit wann gibt es diesen Typus des erfinderischen Raubtiers? Das ist gleichbedeutend mit der Frage: Seit wann gibt es den Menschen? – Was ist der Mensch? Wodurch ist er zum Menschen geworden?

Die Antwort lautet: Durch die Entstehung der Hand. Das ist eine Waffe ohne gleichen in der Welt des freibeweglichen Lebens. Man vergleiche sie mit der Tatze, dem Schnabel, den Hörnern, Zähnen und Schwanzflossen anderer Wesen. Auf der einen Seite konzentriert sich in ihr der Tastsinn in dem Grade, daß man sie fast als Tast organ neben das Seh- und das Hörorgan stellen kann. Sie unterscheidet nicht nur warm und kalt, fest und flüssig, hart und weich, sondern vor allem Schwere, Gestalt und Ort der Widerstände, kurz die Dinge im Raum. Aber darüber hinaus sammelt sich in ihr die Tätigkeit des Lebens so vollständig, daß sich die gesamte Haltung und der Gang des Leibes – gleichzeitig – daraufhin gestaltet hat. Es gibt nichts in der Welt, was mit diesem tastenden und tätigen Gliede verglichen werden kann. Zum Raubtierauge, das die Welt » theoretisch« beherrscht, tritt die Menschenhand als praktische Beherrscherin.

Sie muß plötzlich entstanden sein im Vergleich mit dem Tempo kosmischer Strömungen, jäh wie ein Blitz, ein Erdbeben, wie alles Entscheidende im Weltgeschehen, epochemachend im höchsten Sinne. Wir müssen uns auch darin von den Anschauungen des vorigen Jahrhunderts lösen, wie sie seit Lyells geologischen Forschungen im Begriffe »Evolution« liegen. Eine langsame, phlegmatische Veränderung entspricht dem englischen Naturell, nicht der Natur. Um sie zu stützen, warf man mit Millionen von Jahren um sich, da sich in meßbaren Zeiträumen nichts dergleichen zeigte. Aber wir könnten keine geologischen Schichten unterscheiden, wenn sie nicht durch Katastrophen unbekannter Art und Herkunft getrennt wären, und keine Arten fossiler Tiere, wenn sie nicht plötzlich auftauchten und sich unverändert bis zu ihrem Aussterben hielten. Von »Ahnen« des Menschen wissen wir nichts, trotz allen Suchens und anatomischen Vergleichens. Seitdem Menschenskelette auftauchen, ist der Mensch so, wie er heute ist. Den »Neandertaler« sieht man in jeder Volksversammlung. Es ist auch ganz unmöglich, daß sich Hand, aufrechter Gang, Haltung des Kopfes und so weiter nach- und auseinander entwickelt hätten. Alles das ist zusammen und plötzlich da. Überhaupt diese »Entwicklung«! Die Darwinianer sagen, daß der Besitz solcher ausgezeichneten Waffen die Art im Kampf ums Dasein begünstigt und erhalten habe. Aber erst die fertig ausgebildete Waffe wäre ein Vorteil; die in Entwicklung begriffene – und diese Entwicklung soll ja Jahrtausende gedauert haben – ist eine unnütze Last, die das Gegenteil bewirken müßte. Und wie stellt man sich den Anfang einer solchen Entwicklung vor? Diese Jagd auf Ursachen und Wirkungen, die schließlich Formen des menschlichen Denkens sind und nicht des Weltwerdens, ist ziemlich töricht, wenn man glaubt, damit in die Geheimnisse der Welt eindringen zu können. Die Weltgeschichte schreitet von Katastrophe zu Katastrophe fort, ob wir sie nun begreifen und begründen können oder nicht. Man nennt das heute, seit H. de Vries, Die Mutationstheorie (1901, 1903). Mutation. Es ist das eine innere Wandlung, die plötzlich alle Exemplare einer Gattung ergreift, ohne »Ursache« selbstverständlich, wie alles in der Wirklichkeit. Es ist der geheimnisvolle Rhythmus des Wirklichen.

Aber nicht nur müssen Hand, Gang und Haltung des Menschen gleichzeitig entstanden sein, sondern auch – und das hat bis jetzt niemand bemerkt – Hand und Werkzeug. Die unbewaffnete Hand für sich allein ist nichts wert. Sie fordert die Waffe, um selbst Waffe zu sein. Wie sich das Werkzeug aus der Gestalt der Hand gebildet hat, so umgekehrt die Hand an der Gestalt des Werkzeugs. Es ist sinnlos, das zeitlich trennen zu wollen. Es ist unmöglich, daß die ausgebildete Hand auch nur kurze Zeit hindurch ohne Werkzeug tätig war. Die frühesten Reste des Menschen und seiner Geräte sind gleich alt.

Was sich aber geteilt hat, nicht zeitlich, sondern logisch, ist das technische Verfahren, und zwar in Herstellung der Waffe und ihren Gebrauch. Wie es eine Technik des Geigenbaus und eine Technik des Geigenspiels gibt, so eine Kunst des Schiffbaus und eine Kunst des Segelns, eine Verfertigung des Bogens und eine Fertigkeit im Schießen. Kein anderes Raubtier wählt die Waffe. Der Mensch aber wählt sie nicht nur, sondern er stellt sie her, nach eigener persönlicher Erwägung. Damit hat er eine furchtbare Überlegenheit im Kampf gewonnen gegen seinesgleichen, gegen andere Tiere, gegen die gesamte Natur.

Das ist die Befreiung vom Zwang der Gattung, etwas Einzigartiges in der Geschichte des gesamten Lebens auf diesem Planeten. Damit ist der Mensch entstanden. Er hat sein tätiges Leben in hohem Grade von den Bedingungen seines Leibes unabhängig gemacht. Der Gattungsinstinkt besteht weiter in voller Gewalt, aber von ihm hat sich ein Denken und denkendes Handeln des Einzelnen abgelöst, das vom Banne der Gattung frei ist. Diese Freiheit ist Wahlfreiheit. Jeder stellt seine eigene Waffe her, nach eigenem Geschick und eigener Überlegung. Die vielen Funde von verfehlten und verworfenen Stücken zeugen noch heute von der Mühe dieses anfänglichen »denkenden Tuns«.

Wenn trotzdem die Stücke so ähnlich sind, daß man nach ihnen – mit sehr zweifelhaftem Recht – »Kulturen« wie Acheuléen und Solutréen unterscheidet, und durch alle fünf Erdteile – sicher mit Unrecht – danach Zeitvergleiche vornimmt, so liegt das daran, daß diese Befreiung vom Zwang der Gattung zunächst nur als große Möglichkeit wirkt und anfangs weit davon entfernt ist, verwirklichter Individualismus zu sein. Niemand will den Originellen spielen. Ebensowenig denkt jemand daran, den andern nachzuahmen. Jeder denkt und arbeitet für sich, aber das Leben der Gattung ist so mächtig, daß das Ergebnis trotzdem überall ähnlich ist – wie im Grunde heute noch.

Zum » Denken des Auges«, dem verstehenden scharfen Blick der großen Raubtiere – ist damit das » Denken der Hand« getreten. Aus jenem entwickelt sich seitdem das theoretische, betrachtende, beschauliche Denken, das »Nachsinnen«, die »Weisheit«, aus diesem das praktische, tätige, die Schlauheit, die eigentliche »Intelligenz«. Das Auge forscht nach Ursache und Wirkung, die Hand arbeitet nach den Prinzipien von Mittel und Zweck. Ob etwas zweckmäßig oder unzweckmäßig ist – das Werturteil der Tätigen – hat mit wahr und falsch, den Werten des Betrachtenden, mit Wahrheit nichts zu tun. Der Zweck ist eine Tatsache, der Zusammenhang von Ursache und Wirkung eine Wahrheit. Untergang des Abendlandes Bd. I Kap. II § 16. Bd. II Kap. III § 6. So sind die sehr verschiedenen Denkweisen des Wahrheitsmenschen – des Priesters, Gelehrten, Philosophen –, und des Tatsachenmenschen – des Politikers, Feldherrn, Kaufmanns – entstanden. Seitdem und heute noch ist die befehlende, hinweisende, zur Faust geballte Hand der Ausdruck eines Willens. Deshalb die Aufschlüsse aus Handschrift und Gestalt der Hand. Deshalb die sprachlichen Wendungen von der schweren Hand des Eroberers, der glücklichen Hand eines Geschäftsmannes, daher die seelischen Merkmale der Verbrecher- und der Künstlerhand.

Mit der Hand, der Waffe und dem persönlichen Denken ist der Mensch schöpferisch geworden. Alles was Tiere tun, bleibt im Rahmen des Tuns der Gattung und bereichert deren Leben nicht. Der Mensch aber, das schöpferische Tier, hat einen Reichtum von erfinderischem Denken und Tun über die Welt verbreitet, der es berechtigt erscheinen läßt, wenn er seine kurze Geschichte die »Weltgeschichte« nennt und seine Umgebung als die »Menschheit« mit der gesamten übrigen Natur als Hintergrund, Objekt und Mittel betrachtet.

Das Tun der denkenden Hand aber nennen wir die Tat. Tätigkeit gibt es mit dem Dasein der Tiere, Taten erst mit dem Dasein des Menschen. Nichts ist so bezeichnend für den Unterschied als das Anzünden des Feuers. Man sieht – Ursache und Wirkung – wie Feuer entsteht. Auch viele Tiere sehen es. Aber der Mensch allein denkt – Zweck und Mittel – ein Verfahren aus, um es herzustellen. Keine zweite Tat macht so den Eindruck des Schöpferischen. Es ist die Tat des Prometheus. Eine der unheimlichsten, gewaltigsten, rätselhaftesten Erscheinungen der Natur – der Blitz, der Waldbrand, ein Vulkan – wird vom Menschen selbst ins Leben gerufen, gegen alle Natur. Wie mag das auf die Seele gewirkt haben, der erste Blick in die selbst entzündete Flamme!

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Unter dem gewaltigen Eindruck der freien, bewußten Einzeltat, die sich aus dem gleichförmigen, triebhaften, massenhaften »Tun der Gattung« heraushebt, hat sich nun die eigentliche Menschenseele gestaltet, sehr einsam selbst im Vergleich zu anderen Raubtierseelen, mit dem stolzen und schwermütigen Blick des Wissenden über sein eignes Schicksal hin, dem unbändigen Machtgefühl in der tatgewohnten Faust, jedermanns Feind, tötend, hassend, zu Sieg oder Sterben entschlossen. Diese Seele ist tiefer und leidenvoller als die irgendeines Tieres. Sie steht in unversöhnlichem Gegensatz zur gesamten Welt, von der sie durch ihr eigenes Schöpfertum getrennt ist. Es ist die Seele eines Empörers.

Der früheste Mensch horstet einsam wie ein Raubvogel. Wenn sich auch einige »Familien« zu einem Rudel zusammentun, so geschieht das in losester Form. Noch ist von Stämmen keine Rede, geschweige denn von Völkern. Das Rudel ist eine zufällige Sammlung von ein paar Männern, die sich gerade einmal nicht bekämpfen, mit ihren Weibern und deren Kindern, ohne Gemeingefühl, in vollkommener Freiheit, kein »Wir« wie eine Herde von bloßen Gattungsexemplaren.

Die Seele dieser starken Einsamen ist durch und durch kriegerisch, mißtrauisch, eifersüchtig auf die eigene Macht und Beute. Sie kennt das Pathos nicht nur des »Ich«, sondern auch des »Mein«. Sie kennt den Rausch des Gefühls, wenn das Messer in den feindlichen Leib schneidet, wenn Blutgeruch und Stöhnen zu den triumphierenden Sinnen dringen. Jeder wirkliche »Mann« noch in den Städten später Kulturen fühlt zuweilen die schlafende Glut dieses Urseelentums in sich. Nichts von der jämmerlichen Feststellung, daß irgend etwas »nützlich« ist, daß es »Arbeit erspart«. Noch weniger von den zahnlosen Gefühlen des Mitleids, der Versöhnung, der Sehnsucht nach Ruhe. Dafür aber der volle Stolz darauf, weithin seiner Stärke und seines Glücks wegen gefürchtet, bewundert, gehaßt zu sein, und der Drang nach Rache an allem, seien es lebende Wesen oder Dinge, was diesen Stolz auch nur durch sein Dasein verletzt.

Und diese Seele schreitet fort in wachsender Entfremdung gegenüber der ganzen Natur. Die Waffen aller Raubtiere sind natürlich, nur die bewaffnete Faust des Menschen, mit der künstlich hergestellten, durchdachten, gewählten Waffe, ist es nicht. Hier beginnt »Kunst« als Gegenbegriff zur Natur. Jedes technische Verfahren des Menschen ist eine Kunst und ist immer so genannt worden, die Kunst des Bogenschießens und Reitens wie die Kriegskunst, die Künste des Bauens, des Regierens, des Opferns und Wahrsagens, des Malens und Versemachens, des wissenschaftlichen Experimentierens. Künstlich, widernatürlich ist jedes menschliche Werk vom Anzünden des Feuers bis zu den Leistungen, die wir in hohen Kulturen als eigentlich künstlerische bezeichnen. Der Natur wird das Vorrecht des Schöpfertums entrissen. Der »freie Wille« schon ist ein Akt der Empörung, nichts anderes. Der schöpferische Mensch ist aus dem Verbande der Natur herausgetreten, und mit jeder neuen Schöpfung entfernt er sich weiter und feindseliger von ihr. Das ist seine »Weltgeschichte«, die Geschichte einer unaufhaltsam fortschreitenden, verhängnisvollen Entzweiung zwischen Menschenwelt und Weltall, die Geschichte eines Empörers, der dem Schoße seiner Mutter entwachsen die Hand gegen sie erhebt.

Die Tragödie des Menschen beginnt, denn die Natur ist stärker. Der Mensch bleibt abhängig von ihr, die trotz allem auch ihn selbst, ihr Geschöpf, umfaßt. Alle großen Kulturen sind ebensoviele Niederlagen. Ganze Rassen bleiben, innerlich zerstört, gebrochen, der Unfruchtbarkeit und geistigen Zerrüttung verfallen, als Opfer auf dem Platze. Der Kampf gegen die Natur ist hoffnungslos, und trotzdem wird er bis zum Ende geführt werden.


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