Oswald Spengler
Jahre der Entscheidung
Oswald Spengler

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

17

Schon um 1900 war die Gefahr ungeheuer. Der Bau der »weißen« Wirtschaft war bereits untergraben. Er drohte unter dem Druck der politischen Löhne, des Sinkens der persönlichen Arbeitsdauer, der Sättigung aller fremden Absatzmärkte, des Entstehens fremder, von den weißen Arbeiterparteien unabhängiger Industriegebiete bei der ersten weltgeschichtlichen Erschütterung einzustürzen. Nur der unwahrscheinliche Friede seit 1870, den die Angst der Staatsmänner vor nicht absehbaren Entscheidungen über die »weiße« Welt gebreitet hatte, hielt die allgemeine Täuschung über die unheimlich schnell näherrückende Katastrophe aufrecht. Die düsteren Vorzeichen wurden nicht bemerkt und nicht beachtet. Ein verhängnisvoller, flacher, fast verbrecherischer Optimismus – der Glaube an den unentwegten Fortschritt, der sich in Ziffern aussprach – beherrschte Arbeiterführer und Wirtschaftsführer, um von Politikern ganz zu schweigen, unterstützt von der krankhaften Aufblähung des fiktiven Finanzkapitals, das alle Welt für wirklichen Besitz, wirkliche, unzerstörbare Geldwerte hielt. Aber schon um 1910 erhoben sich einzelne Stimmen, die daran erinnerten, daß die Welt im Begriff sei, mit Erzeugnissen der Industrie einschließlich der industrialisierten Großlandwirtschaft übersättigt zu werden. Es wurde hier und da die Verständigung zwischen den Mächten über eine freiwillige Kontingentierung der Produktion vorgeschlagen. Aber das verhallte in den Wind. Niemand glaubte an ernsthafte Gefahren. Niemand wollte daran glauben. Es war außerdem falsch begründet, von einseitigen Wirtschaftsbetrachtern nämlich, die nur die Wirtschaft wie eine unabhängige Größe sahen und nicht die viel mächtigere Politik der schleichenden Weltrevolution, die sie in falsche Formen und Richtungen gedrängt hatte. Die Ursachen liegen tiefer, als daß sie durch Nachdenken über Fragen der Konjunktur auch nur berührt worden wären. Und es war bereits zu spät. Noch eine kurze Frist der Selbsttäuschung war gegeben: die Vorbereitung des Weltkrieges, die zahllose Hände in Anspruch nahm oder wenigstens der Produktion entzog, Soldaten der stehenden Heere und Arbeiter für die Herstellung des Kriegsbedarfs.

Dann kam der große Krieg, und mit ihm, nicht von ihm bewirkt, sondern nur nicht länger aufgehalten, der wirtschaftliche Zusammenbruch der weißen Welt. Er wäre auch so gekommen, nur langsamer, in weniger erschreckenden Formen. Dieser Krieg aber wurde von England, der Heimat des praktischen Arbeitersozialismus, von Anfang an geführt, um Deutschland, die jüngste Großmacht, die sich am schnellsten und in überlegenen Formen entwickelnde Wirtschaftseinheit, wirtschaftlich zu vernichten und für immer von der Konkurrenz des Weltmarktes auszuschließen. Je mehr im Chaos der Ereignisse das staatsmännische Denken verschwand und nur militärische und grob wirtschaftliche Tendenzen das Feld beherrschten, desto deutlicher trat überall die düstere Hoffnung zutage, durch den Ruin Deutschlands, dann Rußlands, dann der einzelnen Ententemächte zuletzt die eigene Industrie- und Finanzstellung, und damit den eigenen Arbeiter zu retten. Aber das war gar nicht mehr der eigentliche Beginn der folgenden Katastrophe. Sie entwickelte sich vielmehr aus der Tatsache, daß seit 1916 in allen weißen Ländern, ob sie sich am Kriege beteiligten oder nicht, die Diktatur der Arbeiterschaft gegenüber der Staatsleitung sich durchsetzte, offen oder heimlich, in sehr verschiedenen Formen und Graden, aber mit derselben revolutionären Tendenz. Sie stürzte oder beherrschte alle Regierungen. Sie wühlte in allen Heeren und Flotten. Sie wurde – mit Recht – mehr gefürchtet als der Krieg selbst. Und sie trieb nach seinem Abschluß die Löhne für die niedere Massenarbeit zu einer grotesken Höhe hinauf und setzte gleichzeitig den Achtstundentag durch. Als die Arbeiter aus dem Krieg nach Hause kamen, entstand überall in der Welt trotz der gewaltigen Menschenverluste die bekannte Wohnungsnot, weil das siegreiche Proletariat jetzt nach Art der Bourgeoisie wohnen wollte und das durchgesetzt hat. Sie war das klägliche Symbol des Sturzes aller alten Mächte des Standes und Ranges. Von dieser Seite her wurde die allgemeine Inflation der Staatsfinanzen und Wirtschaftskredite zuerst als das begriffen, was sie war: eine der wirksamsten Formen des Bolschewismus, durch welche die führenden Schichten der Gesellschaft enteignet, ruiniert, proletarisiert und infolge davon aus der leitenden Politik ausgeschaltet wurden. Seitdem beherrscht das niedrige, kurze Denken des gemeinen Mannes, der plötzlich mächtig geworden ist, die Welt. Das – war der Sieg! Die Vernichtung ist vollzogen, die Zukunft ist beinahe hoffnungslos, aber die Rache an der Gesellschaft ist befriedigt. Indessen nun zeigen sich die Dinge, wie sie sind. Die mitleidlose Logik der Geschichte nimmt ihre Rache an den Rächern – dem gemeinen Denken, den Neidischen, den Träumern, den Schwärmern, die für die großen und kalten Tatsachen der Wirklichkeit blind gewesen sind.

Dreißig Millionen weiße Arbeiter sind heute ohne Arbeit, trotz der großen Kriegsverluste, und abgesehen von weiteren Millionen, die nur teilweise beschäftigt sind. Das ist nicht die Folge des Krieges, denn die Hälfte von ihnen lebt in Ländern, die kaum oder gar nicht am Kriege beteiligt waren, nicht die Folge von Kriegsschulden oder verunglückten Währungsmanövern, wie die andern Länder zeigen. Die Arbeitslosigkeit steht überall genau im Verhältnis zur Höhe der politischen Tariflöhne. Sie trifft die einzelnen Länder genau im Verhältnis zur Zahl der weißen Industriearbeiter. In den Vereinigten Staaten sind es zuerst die Angloamerikaner, dann die eingewanderten Ost- und Südeuropäer, bei weitem zuletzt die Neger, deren Arbeit man nicht mehr braucht. Ebenso steht es in Lateinamerika und Südafrika. In Frankreich ist die Zahl vor allem deshalb kleiner, weil die sozialistischen Abgeordneten den Unterschied von Theorie und Praxis kennen und sich so schnell wie möglich der regierenden Hochfinanz verkaufen, statt für ihre Wähler Löhne zu erpressen. Aber in Rußland, Japan, China, Indien gibt es keinen Mangel an Arbeit, weil es keine Luxuslöhne gibt. Die Industrie flüchtet sich zu den Farbigen, und in den weißen Ländern machen sich nur noch die Handarbeit sparenden Erfindungen und Methoden bezahlt, weil sie den Druck der Löhne mindern. Seit Jahrzehnten war die Steigerung der Produktion bei der gleichen Arbeiterzahl durch technische Verfeinerung das letzte Mittel gewesen, diesen Druck zu ertragen. Jetzt ertrug man ihn nicht mehr, weil der Absatz fehlte. Einst waren die Löhne von Birmingham, Essen und Pittsburg das Weltmaß; heute sind es die farbigen von Java, Rhodesia und Peru. Und dazu kommt die Einebnung der vornehmen Gesellschaft der weißen Völker mit ihrem ererbten Reichtum, ihrem langsam herangebildeten Geschmack, ihrem als Vorbild wirkenden Bedürfnis nach echtem Luxus. Der Bolschewismus der vom Neid diktierten Erbschafts- und Einkommensteuern – in England begann er schon vor dem Kriege, – und die Inflationen, die ganze Vermögen in nichts verwandelten, haben gründliche Arbeit geleistet. Aber dieser echte Luxus hatte die Qualitätsarbeit geschaffen und erhalten und ganze Qualitätsindustrien wachsen lassen und genährt. Er hatte die mittleren Schichten verführt und erzogen, selbst feinere Ansprüche zu stellen. Je größer dieser Luxus, desto blühender die Wirtschaft. Das hatte einst Napoleon begriffen, der sich nicht mit nationalökonomischen Theorien abgab und deshalb das Wirtschaftsleben besser verstand: Von seinem Hofe aus belebte sich die von den Jakobinern zerstörte Wirtschaft wieder, weil sich wieder eine höhere Gesellschaft bildete, nach englischem Vorbild freilich, weil die des ancien régime ausgemordet, ruiniert, in ihren Resten stumpf und verkümmert war. Wenn der in führenden Schichten sich sammelnde Reichtum durch Pöbeleingriffe vernichtet, wenn er verdächtig, geächtet und den Besitzern gefährlich wird, hört der nordische Wille zum Erwerb von Besitz, zur Macht durch Besitz auf, welchen zu schaffen. Der wirtschaftliche – seelische – Ehrgeiz stirbt ab. Der Wettkampf lohnt sich nicht mehr. Man sitzt im Winkel, verzichtet und spart – und am »Sparen«, das immer ein Sparen der Arbeit anderer ist, geht jede hochentwickelte Wirtschaft notwendig zugrunde. Das alles wirkt zusammen. Die niedere weiße Lohnarbeit ist wertlos, die Arbeitermasse auf der nordischen Kohle ist überflüssig geworden. Es war die erste große Niederlage der weißen Völker gegenüber der farbigen Völkermasse der ganzen Welt, zu der die Russen, die Südspanier und Süditaliener, die Völker des Islams ebenso gehören wie die Neger des englischen und die Indianer des spanischen Amerikas. Es war das erste drohende Zeichen dafür, daß die weiße Weltherrschaft vor der Möglichkeit steht, infolge des Klassenkampfes in ihrem Rücken der farbigen Macht zu erliegen.

Und trotzdem wagt es niemand, die wirklichen Gründe und Abgründe dieser Katastrophe zu sehen. Die weiße Welt wird vorwiegend von Dummköpfen regiert – wenn sie regiert wird, woran man zweifeln darf. Um das Krankenbett der weißen Wirtschaft stehen lächerliche Autoritäten, die nicht über das nächste Jahr hinaussehen und die sich aus längst veralteten, »kapitalistischen« und »sozialistischen«, eng wirtschaftlichen Ansichten heraus um kleine Mittel streiten. Und endlich: Feigheit macht blind. Niemand redet von den Folgen dieser mehr als hundertjährigen Weltrevolution, die aus den Tiefen der weißen Großstädte heraus das Wirtschaftsleben und nicht nur dieses zerstört hat; niemand sieht sie; niemand wagt es, sie zu sehen.

»Der Arbeiter« ist nach wie vor der Götze aller Welt, und der »Arbeiterführer« ist jeder Kritik hinsichtlich der Tendenz seines Vorhandenseins enthoben. Man mag noch so lärmend gegen den Marxismus wettern, aus jedem Wort spricht der Marxismus selbst. Seine lautesten Feinde sind von ihm besessen und merken es nicht. Und fast jeder von uns ist in irgendeinem Winkel seines Herzens »Sozialist« oder »Kommunist«. Daher die allgemeine Abneigung, die Tatsache des herrschenden Klassenkampfes zuzugeben und die Folgerungen daraus zu ziehen. Statt die Ursachen der Katastrophe rücksichtslos zu bekämpfen, soweit das überhaupt noch möglich ist, sucht man die Folgen, die Symptome zu beseitigen, und nicht einmal zu beseitigen, sondern zu übertünchen, zu verstecken, zu leugnen. Da ist, statt die Betrachtung bei der revolutionären Lohnhöhe zu beginnen, die Vierzigstundenwoche die neue revolutionäre Forderung, ein weiterer Schritt auf marxistischem Wege, eine weitere Kürzung der Leistungen der weißen Arbeiterschaft bei gleichbleibendem Einkommen, also eine weitere Verteuerung der weißen Arbeit, denn daß die politischen Löhne nicht fallen dürfen, wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Niemand wagt es, den Arbeitermassen zu sagen, daß ihr Sieg ihre schwerste Niederlage war, daß Arbeiterführer und Arbeiterparteien sie dahin gebracht haben, um ihren eigenen Hunger nach Volkstümlichkeit, nach Macht und nach einträglichen Posten zu stillen, und daß sie noch lange nicht daran denken, ihre Opfer aus der Hand zu lassen und selbst zu verschwinden. Aber inzwischen arbeiten die »Farbigen« billig und lange, bis an die Grenze ihrer Arbeitskraft, in Rußland unter der Knute, anderswo aber schon mit dem stillen Bewußtsein der Macht, die sie damit über die verhaßten Weißen, die Herren von heute – oder von gestern? – in der Hand haben.

Da ist das Schlagwort der »Abschaffung« der Arbeitslosigkeit, der »Arbeitsbeschaffung« – von überflüssiger und zweckloser Arbeit nämlich, da es notwendige, ertragreiche und zweckvolle unter diesen Bedingungen nicht mehr gibt –, und niemand sagt sich, daß die Kosten dieser Produktion ohne Absatz, dieser Potemkinschen Dörfer in einer Wirtschaftswüste, wieder durch den Steuerbolschewismus einschließlich der Herstellung fiktiver Zahlungsmittel von den Resten des gesunden Bauerntums und der städtischen Gesellschaft eingetrieben werden müssen. Da ist das Dumping durch planmäßigen Währungsverfall, wodurch das einzelne Land den Absatz seiner Produkte auf Kosten desjenigen der anderen zu retten sucht – im Grunde eine falsche, billigere Verrechnung der wirklichen Löhne und Herstellungskosten, durch die der Abnehmer betrogen wird und wofür wieder der Rest des Besitzes der übrigen Nation durch Wertverminderung die Kosten trägt. Aber der Sturz des Pfundes, ein gewaltiges Opfer für den englischen Stolz, hat die Zahl der Arbeitslosen auch nicht um einen Mann vermindert. Es gibt nur eine Art von Dumping, die im Wirtschaftsleben natürlich begründet und deshalb erfolgreich ist, die durch billigere Löhne und die größere Arbeitsleistung, und darauf stützt sich die zerstörende Tendenz des russischen Exports und die tatsächliche Überlegenheit der »farbigen« Produktionsgebiete wie Japan, mögen sie Industrie oder Landwirtschaft treiben und die weiße Produktion durch eigenen Export oder durch Verhinderung des Imports infolge billigerer Selbstversorgung vernichten.

Und endlich erscheint das letzte, verzweifelte Mittel der todkranken Nationalwirtschaften: die Autarkie oder mit welchen großen Worten man sonst dies Verhalten sterbender Tiere bezeichnet, die gegenseitige wirtschaftliche Abschließung auf politischem Wege durch Kampfzölle, Einfuhrverbote, Boykott, Devisensperren und was man sonst noch erfunden hat oder erfinden wird, um den Zustand belagerter Festungen herzustellen, der schon fast einem wirklichen Kriege entspricht und eines Tages die militärisch stärkeren Mächte daran erinnern könnte, mit einem Hinweis auf Tanks und Bombengeschwader die Öffnung der Tore und die wirtschaftliche Kapitulation zu verlangen. Denn, es muß immer wieder gesagt werden: Die Wirtschaft ist kein Reich für sich; sie ist mit der großen Politik unauflöslich verbunden; sie ist ohne starke Außenpolitik nicht denkbar und damit letzten Endes abhängig von der militärischen Macht des Landes, in dem sie lebt oder stirbt.

Aber welchen Sinn hat die Verteidigung einer Festung, wenn der Feind sich darin befindet, der Verrat in Gestalt des Klassenkampfes, der es zweifelhaft erscheinen läßt, wen und was man eigentlich verteidigt? Hier liegen die wirklichen schweren Probleme der Zeit. Die großen Fragen sind dazu da, daß bedeutende Köpfe an ihnen zerbrechen. Wenn man sieht, wie sie überall in der Welt auf kleine Scheinprobleme herabgezogen, herabgelogen werden, damit kleine Menschen sich mit kleinen Gedanken und kleinen Mitteln wichtig tun können – wenn die »Schuld« an der Wirtschaftskatastrophe beim Krieg und den Kriegsschulden, bei Inflation und Währungsschwierigkeiten gesucht wird und »Wiederkehr der Prosperität« und »Ende der Arbeitslosigkeit« Worte für den Abschluß einer ungeheuren welthistorischen Epoche sind, Worte, deren man sich nicht schämt, dann möchte man an der Zukunft verzweifeln. Wir leben in einem der gewaltigsten Zeitalter aller Geschichte und niemand sieht, niemand begreift das. Wir erleben einen Vulkanausbruch ohnegleichen. Es ist Nacht geworden, die Erde zittert und Lavaströme wälzen sich über ganze Völker hin und man ruft nach der Feuerwehr! Aber daran erkennt man den Pöbel, der Herr geworden ist, im Unterschied von den seltenen Menschen, die »Rasse haben«. Die großen Einzelnen sind es, die Geschichte machen. Was »in Masse« auftritt, kann nur ihr Objekt sein.


 << zurück weiter >>