Oswald Spengler
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Oswald Spengler

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Diese Revolution von der Dauer mehr als eines Jahrhunderts hat im tiefsten Grunde mit »Wirtschaft« überhaupt nichts zu tun. Sie ist eine lange Zeit der Zersetzung des gesamten Lebens einer Kultur, die Kultur selbst als lebendiger Leib begriffen. Die innere Form des Lebens zerfällt und damit die Kraft, ihr durch schöpferische Werke, deren Gesamtheit die Geschichte der Staaten, Religionen, Künste bildet, nach außen hin Ausdruck zu geben, nachdem sie bis zur äußersten Höhe ihrer Möglichkeiten gereift war. Der einzelne Mensch mit seinem privaten Dasein folgt dem Zuge des Ganzen. Sein Tun, Sichverhalten, Wollen, Denken, Erleben bilden mit Notwendigkeit ein wenn auch noch so geringes Element in dieser Entwicklung. Wenn er das mit bloßen Wirtschaftsfragen verwechselt, so ist das schon ein Zeichen des Verfalls, der auch in ihm vor sich geht, ob er das nun fühlt und erkennt oder nicht. Es versteht sich von selbst, daß Wirtschaftsformen in demselben Grade Kultur sind wie Staaten, Religionen, Gedanken und Künste. Was man aber meint, sind nicht die Formen des Wirtschaftslebens, die unabhängig vom menschlichen Willen heranwachsen und vergehen, sondern der materielle Ertrag der wirtschaftlichen Tätigkeit, den man heute mit dem Sinn von Kultur und Geschichte schlechtweg gleichsetzt und dessen Sinken man ganz materialistisch und mechanistisch als »Ursache« und Inhalt der Weltkatastrophe betrachtet.

Der Schauplatz dieser Revolution des Lebens, ihr »Grund« zugleich und ihr Ausdruck ist die Großstadt, wie sie in der Spätzeit aller Kulturen sich zu bilden beginnt. In dieser steinernen und versteinernden Welt sammelt sich in immer steigendem Maße entwurzeltes Volkstum an, das dem bäuerlichen Lande entzogen wird, »Masse« in erschreckendem Sinne, formloser menschlicher Sand, aus dem man zwar künstliche und deshalb flüchtige Gebilde kneten kann, Parteien, nach Programmen und Idealen entworfene Organisationen, in dem aber die Kräfte natürlichen, durch die Folge der Generationen mit Tradition gesättigten Wachstums abgestorben sind, vor allem die natürliche Fruchtbarkeit allen Lebens, der Instinkt für die Dauer der Familien und Geschlechter. Der Kinderreichtum, das erste Zeichen einer gesunden Rasse, wird lästig und lächerlich. Es ist das ernsteste Zeichen des »Egoismus« großstädtischer Menschen, selbständig gewordener Atome, des Egoismus, der nicht das Gegenteil des heutigen Kollektivismus ist – dazwischen besteht überhaupt kein Unterschied; ein Haufen Atome ist nicht lebendiger als ein einzelnes –, sondern das Gegenteil des Triebes, im Blute von Nachkommen, in der schöpferischen Sorge für sie, in der Dauer seines Namens fortzuleben. Dafür schießt die kahle Intelligenz, diese einzige Blüte, das Unkraut des städtischen Pflasters, in unwahrscheinlichen Mengen auf. Das ist nicht mehr die sparsame, tiefe Weisheit alter Bauerngeschlechter, die so lange wahr bleibt, als die Geschlechter dauern, zu denen sie gehört, sondern der bloße Geist des Tages, der Tageszeitungen, Tagesliteratur und Volksversammlungen, der Geist ohne Blut, der alles kritisch zernagt, was von echter, also gewachsener Kultur noch lebendig aufrecht steht.

Denn Kultur ist ein Gewächs. Je vollkommener eine Nation die Kultur repräsentiert, zu deren vornehmsten Schöpfungen immer die Kulturvölker selbst gehören, je entschiedener sie im Stile echter Kultur geprägt und gestaltet ist, desto reicher ist ihr Wuchs gegliedert nach Stand und Rang, mit ehrfurchtgebietenden Distanzen vom wurzelhaften Bauerntum bis hinauf in die führenden Schichten der städtischen Gesellschaft. Hier bedeuten Höhe der Form, der Tradition, Zucht und Sitte, angeborene Überlegenheit der leitenden Geschlechter, Kreise, Persönlichkeiten das Leben, das Schicksal des Ganzen. Eine Gesellschaft in diesem Sinne bleibt von verstandesmäßigen Einteilungen und Wunschbildern unberührt oder sie hat aufgehört zu sein. Vor allem besteht sie aus Rangordnungen und nicht aus »Wirtschaftsklassen«. Diese englisch-materialistische Ansicht, die sich seit Adam Smith mit und aus dem zunehmenden Rationalismus entwickelt hat und vor fast hundert Jahren von Marx in ein flaches und zynisches System gebracht worden ist, wird dadurch nicht richtiger, daß sie sich durchgesetzt hat und in diesem Augenblick das gesamte Denken, Sehen und Wollen der weißen Völker beherrscht. Sie ist ein Zeichen des Verfalls der Gesellschaft und weiter nichts. Schon vor dem Ende dieses Jahrhunderts wird man sich mit Erstaunen fragen, wie diese Wertung gesellschaftlicher Formen und Stufen nach »Arbeitgebern« und »Arbeitnehmern«, nach der Menge von Geld also, die der einzelne als Vermögen, Rente oder Lohn hat oder haben will, überhaupt ernst genommen werden konnte, nach der Geldmenge, nicht nach der standesgebundenen Art, wie es erworben und zu echtem Besitz gestaltet wird. Es ist der Standpunkt von Proleten und Parvenüs, die im tiefsten Grunde derselbe Typus sind, dieselbe Pflanze des großstädtischen Pflasters, vom Dieb und Agitator der Gasse bis zum Spekulanten der Börse und der Parteipolitik.

»Gesellschaft« aber bedeutet Kultur haben, Form haben bis in den kleinsten Zug der Haltung und des Denkens hinein, Form, die durch eine lange Zucht von ganzen Geschlechtern herangebildet worden ist, strenge Sitte und Lebensauffassung, welche das gesamte Sein mit tausend nie ausgesprochenen und nur selten ins Bewußtsein tretenden Pflichten und Bindungen durchdringt, damit aber alle Menschen, die dazugehören, zu einer lebendigen Einheit macht, oft weit über die Grenzen einzelner Nationen hinaus wie den Adel der Kreuzzüge und des 18. Jahrhunderts. Das bestimmt den Rang; das heißt »Welt haben«. Das wird schon unter den germanischen Stämmen beinahe mystisch mit Ehre bezeichnet. Diese Ehre war eine Kraft, welche das ganze Leben der Geschlechter durchdrang. Die persönliche Ehre war nur das Gefühl der unbedingten Verantwortung des einzelnen für die Standesehre, die Berufsehre, die nationale Ehre. Der einzelne lebte das Dasein der Gemeinschaft mit, und das Dasein der andern war zugleich das seine. Was er tat, zog die Verantwortung aller nach sich, und damals starb ein Mensch nicht nur seelisch dahin, wenn er ehrlos geworden, wenn sein oder der Seinen Ehrgefühl durch eigene oder fremde Schuld tödlich verletzt worden war. Alles was man Pflicht nennt, die Voraussetzung jedes echten Rechts, die Grundsubstanz jeder vornehmen Sitte, geht auf Ehre zurück. Seine Ehre hat das Bauerntum wie jedes Handwerk, der Kaufmann und der Offizier, der Beamte und die alten Fürstengeschlechter. Wer sie nicht hat, wer »keinen Wert darauflegt«, vor sich selbst wie vor seinesgleichen anständig dazustehen, ist »gemein«. Das ist der Gegensatz zur Vornehmheit im Sinne jeder echten Gesellschaft, nicht die Armut, der Mangel an Geld, wie es der Neid heutiger Menschen meint, nachdem man jeden Instinkt für vornehmes Leben und Empfinden verloren hat und die öffentlichen Manieren aller »Klassen« und »Parteien« gleich pöbelhaft geworden sind.

In die alte vornehme Gesellschaft Westeuropas, die am Ende des 18. Jahrhunderts an Höhe des Lebens und Feinheit der Formen etwas erreicht hatte, das nicht mehr übertroffen werden konnte und in manchen Zügen schon zerbrechlich und krank zu werden begann, wuchs noch in den vierziger Jahren das erfolgreiche englisch-puritanische Bürgertum hinein, das den Ehrgeiz hatte, dem Hochadel in seiner Lebensführung gleich zu werden und wenn möglich mit ihm zu verschmelzen. Darin, in der Einverleibung immer neuer Ströme menschlichen Lebens, zeigt sich die Kraft alter gewachsener Formen. Aus den Plantagenbesitzern im spanischen Süd- und im englischen Nordamerika war längst eine echte Aristokratie nach dem Vorbild spanischer Granden und englischer Lords geworden. Die letztere wurde im Bürgerkrieg von 1861-65 vernichtet und durch die Parvenüs von New York und Chikago mit dem Protzentum ihrer Milliarden ersetzt. Noch nach 1870 wuchs das neue deutsche Bürgertum in die strenge Lebensauffassung des preußischen Offizier- und Beamtenstandes hinein. Aber das ist die Voraussetzung gesellschaftlichen Daseins: was durch Fähigkeiten und durch innere Kraft in höhere Schichten aufsteigt, muß durch die Strenge der Form und die Unbedingtheit der Sitte erzogen und geadelt werden, um in den Söhnen und Enkeln diese Form nunmehr selbst zu repräsentieren und weiterzugeben. Eine lebendige Gesellschaft erneuert sich unaufhörlich durch wertvolles Blut, das von unten, von außen einströmt. Es beweist die innere Kraft der lebendigen Form, wieviel sie aufnehmen, verfeinern und angleichen kann, ohne unsicher zu werden. Sobald aber diese Form des Lebens nicht mehr selbstverständlich ist, sobald sie der Kritik in bezug auf ihre Notwendigkeit auch nur Gehör verstattet, ist es mit ihr zu Ende. Man verliert den Blick für die Notwendigkeit der Gliederung, die jeder Art Mensch und menschlicher Tätigkeit ihren Rang im Leben des Ganzen anweist, den Sinn für die notwendige Ungleichheit der Teile also, die mit organischer Gestaltung identisch ist. Man verliert das gute Gewissen des eigenen Ranges und verlernt es, Unterordnung als selbstverständlich entgegenzunehmen, aber in demselben Grade verlernen es, erst in Folge davon, die unteren Schichten, diese Unterordnung zu leisten und als notwendig und berechtigt anzuerkennen. Je bedeutender eine Kultur ist, je mehr sie der Gestaltung eines edlen tierischen oder pflanzlichen Leibes gleicht, desto größer sind die Unterschiede der aufbauenden Elemente, die Unterschiede, nicht die Gegensätze, denn diese werden erst verstandesmäßig hineingetragen. Kein tüchtiger Knecht denkt daran, den Bauern als seinesgleichen zu betrachten, und jeder Vorarbeiter, der etwas leistet, verbittet sich den Ton der Gleichheit von Seiten ungelernter Arbeiter. Das ist das natürliche Empfinden menschlicher Verhältnisse. »Gleiche Rechte« sind wider die Natur, sind die Zeichen der Entartung altgewordener Gesellschaften, sind der Beginn ihres unaufhaltsamen Zerfalls. Es ist intellektuelle Dummheit, den durch Jahrhunderte herangewachsenen und durch Tradition gefestigten Bau der Gesellschaft durch etwas anderes ersetzen zu wollen. Man ersetzt das Leben nicht durch etwas anderes. Auf das Leben folgt nur der Tod.

Und so ist es im tiefsten Grunde auch gemeint. Man will nicht verändern und verbessern, sondern zerstören. Aus jeder Gesellschaft sinken beständig entartete Elemente nach unten, verbrauchte Familien, heruntergekommene Glieder hochgezüchteter Geschlechter, Mißratene und Minderwertige an Seele und Leib – man sehe sich nur einmal die Gestalten in diesen Versammlungen, Kneipen, Umzügen und Krawallen an; irgendwie sind sie alle Mißgeburten, Leute, die statt tüchtiger Rasse im Leib nur noch Rechthabereien und Rache für ihr verfehltes Leben im Kopfe haben, und an denen der Mund der wichtigste Körperteil ist. Es ist die Hefe der großen Städte, der eigentliche Pöbel, die Unterwelt in jedem Sinne, die sich überall im bewußten Gegensatz zur großen und vornehmen Welt bildet und im Haß gegen sie vereinigt: politische und literarische Boheme, verkommener Adel wie Catilina und Philipp Egalité, der Herzog von Orleans, gescheiterte Akademiker, Abenteurer und Spekulanten, Verbrecher und Dirnen, Tagediebe, Schwachsinnige, untermischt mit ein paar traurigen Schwärmern für irgendwelche abstrakten Ideale. Ein verschwommenes Rachegefühl für irgendein Pech, das ihnen das Leben verdarb, die Abwesenheit aller Instinkte für Ehre und Pflicht und ein hemmungsloser Durst nach Geld ohne Arbeit und Rechten ohne Pflichten führen sie zusammen. Aus diesem Dunstkreis gehen die Tageshelden aller Pöbelbewegungen und radikalen Parteien hervor. Hier erhält das Wort Freiheit den blutigen Sinn sinkender Zeiten. Die Freiheit von allen Bindungen der Kultur ist gemeint, von jeder Art von Sitte und Form, von allen Menschen, deren Lebenshaltung sie in dumpfer Wut als überlegen empfinden. Stolz und still getragene Armut, schweigende Pflichterfüllung, Entsagung im Dienst einer Aufgabe oder Überzeugung, Größe im Tragen eines Schicksals, Treue, Ehre, Verantwortung, Leistung, alles das ist ein steter Vorwurf für die »Erniedrigten und Beleidigten«.

Denn, es sei noch einmal gesagt, der Gegensatz von vornehm ist nicht arm, sondern gemein. Das niedrige Denken und Empfinden dieser Unterwelt bedient sich der entwurzelten, in all ihren Instinkten unsicher gewordenen Masse der großen Städte, um seine eigenen Ziele und Genüsse der Rache und Zerstörung zu erreichen. Deshalb wird dieser ratlosen Menge ein »Klassenbewußtsein« und »Klassenhaß« durch ununterbrochenes Reden und Schreiben eingeimpft, deshalb werden ihr die führenden Schichten, die »Reichen«, die »Mächtigen«, in gerader Umkehrung ihrer wirklichen Bedeutung als Verbrecher und Ausbeuter gezeichnet, und endlich bietet man sich ihr als Retter und Führer an. Alle »Volksrechte«, die oben aus krankem Gewissen und haltlosem Denken rationalistisch beschwatzt wurden, werden nun als selbstverständlich von unten, von den »Enterbten« gefordert, niemals für das Volk, denn sie sind immer denen gegeben worden, die gar nicht daran gedacht hatten sie zu verlangen und die damit nichts anzufangen wußten. Sie sollten das auch gar nicht, denn diese Rechte waren nicht für das »Volk« bestimmt, sondern für die Hefe der sich selbst ernennenden »Volksvertreter«, aus der sich nun ein radikaler Parteiklüngel bildet, der den Kampf gegen die gestaltenden Mächte der Kultur als Gewerbe betreibt und die Masse durch das Wahlrecht, die Pressefreiheit und den Terror entmündigt.

So entsteht der Nihilismus, der abgründige Haß des Proleten gegen die überlegene Form jeder Art, gegen die Kultur als deren Inbegriff, gegen die Gesellschaft als deren Träger und geschichtliches Ergebnis. Daß jemand Form hat, sie beherrscht, sich in ihr wohl fühlt, während der gemeine Mensch sie als Fessel empfindet, in der er sich nie frei bewegen wird, daß Takt, Geschmack, Sinn für Tradition Dinge sind, die zum Erbgut hoher Kultur gehören und Erziehung voraussetzen, daß es Kreise gibt, in denen Pflichtgefühl und Entsagung nicht lächerlich sind, sondern auszeichnen, das erfüllt ihn mit einer dumpfen Wut, die in früheren Zeiten sich in die Winkel verkroch und dort nach Art des Thersites geiferte, heute aber breit und gemein als Weltanschauung über allen weißen Völkern liegt. Denn die Zeit selbst ist gemein geworden und die meisten wissen gar nicht, in welchem Grade sie selbst es sind. Die schlechten Manieren aller Parlamente, die allgemeine Neigung, ein nicht sehr sauberes Geschäft mitzumachen, wenn es Geld ohne Arbeit verspricht, Jazz und Niggertänze als seelischer Ausdruck aller Kreise, die Dirnenbemalung der Frauen, die Sucht von Literaten, in Romanen und Theaterstücken die strengen Anschauungen der vornehmen Gesellschaft unter allgemeinem Beifall lächerlich zu machen, und der schlechte Geschmack bis in den hohen Adel und alte Fürstenhäuser hinein, sich jedes gesellschaftlichen Zwanges und jeder alten Sitte zu entledigen, beweisen, daß der Pöbel tonangebend geworden ist. Aber während man hier über die vornehme Form und die alte Sitte lächelt, weil man sie nicht mehr als Imperativ in sich trägt, und ohne zu ahnen, daß es sich hier um Sein oder Nichtsein handelt, entfesseln sie dort den Haß, der Vernichtung will, den Neid auf alles, was nicht jedem zugänglich ist, was emporragt und endlich hinunter soll. Nicht nur Tradition und Sitte, sondern jede Art von verfeinerter Kultur, Schönheit, Grazie, der Geschmack sich zu kleiden, die Sicherheit der Umgangsformen, die gewählte Sprache, die beherrschte Haltung des Körpers, die Erziehung und Selbstzucht verrät, reizen das gemeine Empfinden bis aufs Blut. Ein vornehm gebildetes Gesicht, ein schmaler Fuß, der sich leicht und zierlich vom Pflaster hebt, widersprechen aller Demokratie. Das otium cum dignitate statt des Spektakels von Boxkämpfen und Sechstagerennen, die Kennerschaft für edle Kunst und alte Dichtung, selbst die Freude an einem gepflegten Garten mit schönen Blumen und seltenen Obstarten ruft zum Verbrennen, Zerschlagen, Zertrampeln auf. Die Kultur ist in ihrer Überlegenheit der Feind. Weil man ihre Schöpfungen nicht verstehen, sie sich innerlich nicht aneignen kann, weil sie nicht »für alle« da sind, müssen sie vernichtet werden.

Und das ist die Tendenz des Nihilismus: Man denkt nicht daran, die Masse zur Höhe echter Kultur zu erziehen; das ist anstrengend und unbequem und vielleicht fehlt es auch an gewissen Voraussetzungen. Im Gegenteil: Der Bau der Gesellschaft soll eingeebnet werden bis herab auf das Niveau des Pöbels. Die allgemeine Gleichheit soll herrschen: alles soll gleich gemein sein. Die gleiche Art, sich Geld zu verschaffen und es für die gleiche Art von Vergnügen auszugeben: panem et circenses – mehr braucht man nicht und mehr versteht man nicht. Überlegenheit, Manieren, Geschmack, jede Art von innerem Rang sind Verbrechen. Ethische, religiöse, nationale Ideen, die Ehe um der Kinder willen, die Familie, die Staatshoheit sind altmodisch und reaktionär. Das Straßenbild von Moskau zeigt das Ziel, aber man täusche sich nicht: Es ist nicht der Geist von Moskau, der hier gesiegt hat. Der Bolschewismus ist in Westeuropa zu Hause, und zwar, seit die englisch-materialistische Weltauffassung der Kreise, in denen Voltaire und Rousseau als gelehrige Schüler verkehrten, im Jakobinismus des Kontinents einen wirksamen Ausdruck gefunden hatte. Die Demokratie des 19. Jahrhunderts ist bereits Bolschewismus; sie besaß nur noch nicht den Mut zu ihren letzten Folgerungen. Es ist nur ein Schritt vom Bastillesturm und der die allgemeine Gleichheit fördernden Guillotine zu den Idealen und Straßenkämpfen von 1848, dem Jahr des kommunistischen Manifests, und ein zweiter von dort bis zum Sturz des westlich gestalteten Zarentums. Der Bolschewismus droht uns nicht, sondern er beherrscht uns. Seine Gleichheit ist die Gleichsetzung des Volkes mit dem Pöbel, seine Freiheit ist die Befreiung von der Kultur und ihrer Gesellschaft.


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