Oswald Spengler
Jahre der Entscheidung
Oswald Spengler

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

15

Und nun ist es endlich möglich, die »Erfolge« der Weltrevolution zu zeichnen, die heute erreicht sind. Denn die Revolution steht am Ziel. Sie droht nicht mehr; sie triumphiert, sie hat gesiegt. Und wenn ihre Anhänger das bestreiten, vor andern oder in voller Bestürzung vor ihrem eigenen Gewissen, so wiederholt sich darin nur das ewige Verhängnis menschlicher Geschichte, die dem Kämpfer am Ziel mit grausamer Klarheit zeigt, daß es ganz anders ist als er hoffte und daß es meist der Mühe nicht wert war.

Dieser Erfolg ist ungeheuerlich. Er ist für alle »weißen« Völker so furchtbar, daß niemand sieht oder zu sehen wagt, was alles dazu gehört, daß weder die Urheber den Mut haben, sich dazu zu bekennen, noch die im Bürgertum erhaltenen Reste der alten Gesellschaft, jene als Urheber zu bezeichnen. Der Weg vom Liberalismus zum Bolschewismus hatte sich zunächst im Kampf gegen die politischen Mächte vollzogen. Sie sind heute zerstört, zerfressen, zerfallen. Es hat sich wieder gezeigt, wie im Rom der Gracchenzeit, daß alles, was die wenigen großen starken Raubtiere, die Staatsmänner und Eroberer, in Jahrhunderten geschaffen haben, von den massenhaften kleinen, dem menschlichen Ungeziefer, in kurzer Zeit zernagt werden kann. Die alten ehrwürdigen Formen des Staates liegen in Trümmern. Sie sind durch den formlosen Parlamentarismus ersetzt worden, ein Schutthaufen ehemaliger Autorität, Regierungskunst und staatsmännischer Weisheit, auf dem die Parteien, Horden von Geschäftspolitikern, sich um die Beute streiten. Die ererbte Hoheit wurde durch Wahlen ersetzt, die immer neue Scharen von Minderwertigen an die Geschäfte bringen.

Und unter diesen Parteien sind es überall die Arbeiterparteien und deren Gewerkschaften, welche politische Zwecke mit wirtschaftlichen Mitteln und wirtschaftliche mit politischen Mitteln verfolgen, die nach Zusammensetzung des Führermaterials und mit ihren Programmen und Methoden der Agitation für alle andern tonangebend geworden sind. Sie werben alle um die großstädtische Masse und peitschen sie mit denselben sinnlosen Hoffnungen und erbitternden Anklagen auf. Kaum eine wagt es mehr auszusprechen, daß sie andere Teile der Nation vertreten will als »den Arbeiter«. Sie behandeln ihn fast ohne Ausnahme als privilegierten Stand, aus Feigheit oder in der Hoffnung auf Wahlerfolge. Es ist in allen Ländern gelungen, ihn zu demoralisieren, ihn zum anspruchvollsten, unzufriedensten und deshalb unglücklichsten Wesen zu machen, ihn mit dem Pöbel der Gasse zu einer gesinnungsmäßigen Einheit, zur »Klasse« zu verschmelzen, aus ihm den seelischen Typus des Proleten heranzuzüchten, der durch sein bloßes Dasein den revolutionären Erfolg verbürgt, der Fleiß und Leistung als Verrat an der »Sache« verachtet und dessen höchster Ehrgeiz es ist, Massenführer und Träger der Revolution zu werden.

Es macht keinen Unterschied, ob diese Fronten des Klassenkampfes die Gestalt bürokratischer Parteien oder Gewerkschaften erhalten haben wie die marxistischen, katholischen und nationalen in Deutschland, ähnlich in England, ob sie die romanische Form von Anarchisten- und Sozialistenklubs besitzen wie in Barcelona und Chikago, oder ob sie wie einst in Rußland und heute in Amerika als unterirdische Bewegungen vorhanden sind, um sich erst im Augenblick der Tat sichtbar zusammenzuballen: Sie bestehen alle aus herrschenden Gruppen von Berufsdemagogen und einer willenlos geleiteten Gefolgschaft, die dem kaum begriffenen Endziel zu dienen und sich ihm zu opfern hat. Die Regierungen sind längst ihre ausführenden Organe geworden, entweder weil die Massenführer selbst die parlamentarische Macht besitzen oder weil es den Gegnern, die sich in der Hypnose der Arbeiterideologie befinden, an Mut zu eignem Denken und Handeln fehlt.

Sie regieren auch die Wirtschaft, und zwar mit politischen Mitteln zu politischem Zweck. Und dieser Zweck ist nie aus den Augen verloren worden: es war der Klassenkampf gegen die organischen Mächte und Formen des Wirtschaftslebens, die man »Kapitalismus« nannte. Das letzte Ziel war deren Vernichtung, seit 1848, und es ist endlich erreicht worden. Die seit fast einem Jahrhundert ekstatisch vorausgesagte Katastrophe der Wirtschaft ist da. Die Weltwirtschaftskrise dieser und noch sehr vieler kommender Jahre ist nicht, wie die ganze Welt meint, die vorübergehende Folge von Krieg, Revolution, Inflation und Schuldenzahlung. Sie ist gewollt worden. Sie ist in allen wesentlichen Zügen das Ergebnis einer zielbewußten Arbeit der Führer des Proletariats. Ihre Wurzeln liegen viel tiefer als man denkt, und ihre Wirkungen sind nur in langen und harten Kämpfen gegen alles, was heute volkstümlich ist, und zum großen Teil überhaupt nicht wieder zu überwinden. Aber die Voraussetzung dafür ist der Mut zu sehen, was vor sich geht, und ich fürchte, daß davon nicht viel vorhanden ist. Zu keiner Zeit ist die Feigheit vor der allgemeinen Meinung der Parlamente, Parteien, Redner und Schreiber der ganzen Welt größer gewesen. Sie liegen alle auf den Knien vor dem »Volk«, der Masse, dem Proletariat oder wie sie sonst das nennen, was den Führern der Weltrevolution blind und ahnungslos als Waffe gedient hat. Der Vorwurf »arbeiterfeindlich« zu sein, läßt heute jeden Politiker erbleichen.

Aber wer ist es denn, der eigentlich den Weltkrieg gewonnen hat? Sicherlich kein Staat, weder Frankreich noch England noch Amerika. Auch nicht die weiße Arbeiterschaft. Sie hat ihn zum großen Teil bezahlt, erst mit ihrem Blut auf den Schlachtfeldern, dann mit ihrer Lebenshaltung in der Wirtschaftskrise. Sie war das vornehmste Opfer ihrer Führer. Sie wurde für deren Ziele ruiniert. Der Arbeiterführer hat den Krieg gewonnen. Was man in allen Ländern Arbeiterpartei und Gewerkschaft nennt, in Wirklichkeit die Gewerkschaft der Parteibeamten, die Bürokratie der Revolution, hat die Herrschaft erobert und regiert heute die abendländische Zivilisation. Sie hat das »Proletariat« von Streik zu Streik, von Straßenkampf zu Straßenkampf getrieben, und ist selbst von einem verheerenden Parlamentsbeschluß zum anderen fortgeschritten, durch eigene Macht oder infolge der Angst des besiegten Bürgertums. Alle Regierungen der Welt wurden seit 1916 in rasch steigendem Maße von ihnen abhängig und mußten ihre Befehle vollziehen, wenn sie nicht gestürzt werden wollten. Sie mußten die brutalen Eingriffe in die Struktur und den Sinn des Wirtschaftslebens zulassen oder selbst durchführen, die sämtlich zugunsten der Arbeit niedersten Ranges, der bloß ausführenden Handarbeit erfolgten in Gestalt von maßlosen Lohnerhöhungen und Kürzungen der Arbeitszeit, von verwüstenden Steuergesetzen gegen den Ertrag der Führerleistung, gegen alten Familienbesitz, gegen das Gewerbe und gegen das Bauerntum. Die Ausraubung der Gesellschaft wurde durchgeführt. Es war die Löhnung der Söldner im Klassenkampf. Der natürliche Schwerpunkt des Wirtschaftskörpers, das Wirtschaftsdenken der Kenner, wurde durch einen künstlichen, unsachlichen, parteipolitischen ersetzt. Das Gleichgewicht ging verloren und der Bau stürzte ein. Aber das war seit Jahrzehnten das offen ausgesprochene Ziel des abendländischen Bolschewismus; die Wirtschaftskatastrophe war also ein taktischer Erfolg, so wenig die Arbeiterschaft das ahnte oder gewollt hat. Dieser seit 1848 im voraus geschilderte, von Bebel mit Begeisterung gepriesene Umsturz des »Kapitalismus«, das »Jüngste Gericht« über die Bourgeoisie, sollte allerdings die ersehnte Diktatur des Proletariats, das heißt seiner Schöpfer und Führer von selbst zur Folge haben.

Aber ist das nicht wirklich der Fall? Von Moskau ganz abgesehen, war die Gewerkschaftsrepublik in Deutschland etwas anderes? Ist nicht in den nationalen Arbeiterparteien Deutschlands, Englands und sogar Italiens der wirtschaftliche, bürokratisch verwaltete Sozialismus das herrschende Ideal? Liegen nicht auf den Trümmern der Weltwirtschaft die schöpferischen Wirtschaftsbegabungen, die Träger des privaten Wirtschaftsstrebens, als Opfer dieser Diktatur? Der Wirtschaftsführer, der Kenner des Wirtschaftslebens, ist vom Parteiführer verdrängt worden, der nichts von Wirtschaft und um so mehr von demagogischer Propaganda versteht. Er herrscht als Bürokrat in der wirtschaftlichen Gesetzgebung, die den freien Entschluß des Wirtschaftsdenkers ersetzt hat, als Leiter von unzähligen Ausschüssen, Schiedsgerichten, Konferenzen, Ministerialbüros und wie die Formen seiner Diktatur sonst heißen mögen, sogar im faschistischen Korporationsministerium. Er will den wirtschaftlichen Staatssozialismus, die Ausschaltung der Privatinitiative, die Planwirtschaft, was alles im Grunde das gleiche ist, nämlich Kommunismus. Mag mit dem Unternehmer auch der Arbeiter das Opfer sein, jedenfalls hat der »Arbeiterführer« von Beruf endlich die ersehnte Gewalt in Händen und kann die Rache der Unterwelt an den Menschen vollziehen, die durch das Schicksal ihrer Geburt, das ihnen Talente und Überlegenheit verlieh, berufen waren, die Dinge von oben zu sehen und zu leiten.

Ich weiß es wohl: die meisten werden es mit Entsetzen ablehnen, diesen nie wieder gutzumachenden Zusammenbruch von allem, was Jahrhunderte aufgebaut haben, als gewollt, als das Ergebnis einer zielbewußten Arbeit zu erkennen. Aber es ist so und es läßt sich beweisen. Diese Arbeit beginnt, sobald die Berufsrevolutionäre der Generation von Marx begriffen hatten, daß in Nordwesteuropa die an die Kohle gebundene Industrie zum wichtigsten Teil des Wirtschaftslebens wurde. Das nackte Dasein der ins Massenhafte wachsenden Nationen hing von ihrer Blüte ab. In England war das schon der Fall; für Deutschland hoffte man darauf, und diese Doktrinäre, welche die Welt durch das Schema von Bourgeoisie und Proletariat sahen, setzten als selbstverständlich voraus, daß es überall so werden müsse. Aber wie stand es denn mit Spanien und Italien, wo es keine Kohle gab, selbst mit Frankreich, um von Rußland ganz zu schweigen? Es ist zum Erstaunen, wie eng der Horizont dieser Theologen des Klassenkampfes war und blieb, und wie wenig das bis heute bemerkt worden ist. Haben sie jemals Afrika, Asien, Lateinamerika in den Bereich ihrer Wirtschaftskritik und ihrer Prophezeiungen gezogen? Haben sie einen Gedanken an die farbigen Arbeiter der tropischen Kolonien verschwendet? Waren sie sich bewußt, warum das unterblieb und unterbleiben mußte? Sie redeten von der Zukunft der »Menschheit«, und statt den ganzen Planeten mit ihrem Blick zu umfassen, starrten sie auf ein paar Länder Europas, deren Staat und Gesellschaft sie zerstören wollten.

Hier aber haben sie gesehen, daß das erreichbar war, wenn sie die Lebensfähigkeit der Industrie vernichteten; und so begann der planmäßige Angriff auf sie dadurch, daß man ihre organisierte Arbeit unmöglich zu machen suchte. Das geschah, indem man zunächst im Gegensatz zur Führerarbeit der Unternehmer, Erfinder und Ingenieure die tägliche Dauer der ausführenden Lohnarbeit in den Fabriken und anfangs nur in ihnen gewaltsam verkürzte.

Sie betrug im 18. Jahrhundert, in Übereinstimmung mit der allgemeinen Arbeitsgewohnheit von nordischen Bauern und Handwerkern, mehr als zwölf Stunden, ohne gesetzlich festgelegt zu sein. Im Anfang des 19. Jahrhunderts wird sie in England auf zwölf Stunden beschränkt, um 1850 durch die gerade auch von Arbeitern erbittert bekämpfte Zehnstundenbill weiter herabgesetzt. Nachdem die Bill endgültig gesichert war, wurde sie in revolutionären Kreisen als Sieg der Arbeiterschaft und – mit Recht – als »Knebelung der Industrie« gefeiert. Man glaubte ihr damit einen tödlichen Schlag versetzt zu haben. Von da an übernahmen es die Gewerkschaften aller Länder mit steigendem Nachdruck, sie weiter zu kürzen und auf alle Lohnempfänger auszudehnen. Gegen Ende des Jahrhunderts betrug sie 9, am Ende des Weltkrieges 8 Stunden. Heute, wo wir uns der Mitte des 20. Jahrhunderts nähern, wird die 40-Stunden-Woche zum Minimum der revolutionären Forderung. Da gleichzeitig das Verbot der Sonntagsarbeit immer strenger durchgeführt wurde, so liefert der einzelne von seiner »Ware Arbeit« nur noch die Hälfte des ursprünglichen, möglichen und natürlichen Quantums. Und so ist »der Arbeiter«, der nach der Lehre der marxistischen Religion allein arbeitet, zum großen Teil gegen seinen Willen derjenige geworden, der es am wenigsten tut. Welcher Beruf verträgt sich sonst mit einer so geringen Leistung?

Es war das Kampfmittel des Streiks in einer verschleierten, langsam wirkenden Form. Es bekam einen Sinn aber erst durch die Tatsache, daß der Preis für diese »Ware«, der Wochenlohn, nicht nur nicht verkürzt, sondern dauernd hinaufgetrieben wurde. Nun ist der »Wert«, der wirkliche Ertrag der ausführenden Arbeit keine selbständige Größe. Er ergibt sich aus dem organischen Ganzen der Industriearbeit, in welcher der auszuführende Gedanke, die Führerarbeit der Leitung und Regelung des Verfahrens, der Heranführung von Stoffen, des Absatzes der Erzeugnisse, des Durchdenkens von Kosten und Ertrag, von Anlagen und Einrichtungen, von neuen Möglichkeiten viel entscheidender sind. Der Gesamtertrag hängt vom Rang und der Leistung der Köpfe ab, nicht von den Händen. Ist kein Ertrag da, ist das Produkt unverkäuflich, so ist die ausführende Arbeit wertlos gewesen und kann eigentlich überhaupt nicht bezahlt werden. So ist es beim Bauern und Handwerker. Aber durch die Tätigkeit der Gewerkschaften ist der Stundenlohn des Handarbeiters aus der Einheit des Organismus herausgenommen worden. Er wird vom Parteiführer bestimmt, nicht vom Wirtschaftsführer errechnet, und er wird, wenn er von diesem nicht bewilligt wird und werden kann, durch Streik, Sabotage und den Druck auf die parlamentarischen Regierungen erzwungen. Er ist seit hundert Jahren, am Ertrag der bäuerlichen und handwerklichen Arbeit gemessen, um das Vielfache gesteigert worden. Jeder wirtschaftlich Tätige ist mit seinem Gewinn von der Lage der Wirtschaft abhängig, nur der Lohnarbeiter nicht. Er hat Anspruch auf die anorganisch festgesetzte und parteipolitisch erkämpfte Lohnhöhe, auch wenn sie nur durch den Verfall der Anlagen, durch Ertraglosigkeit des Ganzen, durch Verschleuderung der Erzeugnisse gehalten wird – bis die Werke erliegen. Und dann geht ein schadenfrohes Triumphgeheul durch die Reihen der »Arbeiterführer«. Sie haben wieder einen Sieg auf dem Wege zum »Endziel« davongetragen.

Heute, wo die Entstehung der Klassenkampftheorie fast ein Jahrhundert zurückliegt und niemand mehr wirklich an sie glaubt, ist es zweifelhaft, ob diese Führer sich noch des Zweckes bewußt sind, um dessen willen diese Zerstörungsarbeit einst gefordert und begonnen worden ist. Aber es gibt eine nun schon alt gewordene Tradition und Methode unter ihnen, wonach sie unaufhörlich für Kürzung der Arbeit und Steigerung des Lohnes wirken müssen. Es ist der Nachweis ihrer Befähigung vor der Partei. Und wenn heute der ursprüngliche dogmatische Sinn vergessen ist und das gute Gewissen des Gläubigen fehlt, so ist doch die Wirkung da, die sie nun auf andere »Ursachen« zurückführen – ein neues Mittel der Agitation, die Feststellung einer neuen Schuld gegenüber der Arbeiterschaft, die sie dem Kapitalismus zuschieben.

Einst hatte die Lehre vom »Mehrwert« Gewalt über das unentwickelte Denken der Masse gehabt: der ganze Ertrag der industriellen Produktion war gleich dem Wert der ausführenden Handarbeit und mußte auf sie verteilt werden. Was der Wirtschaftsführer davon abzog, für Erhaltung der Werke, Bezahlung der Rohstoffe, Gehälter, Zinsen, der »Mehrwert« also, war Diebstahl. Die Führer, Erfinder, Ingenieure arbeiteten überhaupt nicht, und jedenfalls besaß eine geistige Arbeit, die nur eine Art von Nichtstun war, keinen höheren Wert. Es war dieselbe »demokratische« Tendenz, welche die Qualität jeder Art mißachtete und zu vernichten suchte und nur das Quantum gelten ließ, auch bei der Handarbeit selbst: der »aristokratische« Unterschied von gelernten und ungelernten Arbeitern sollte aufgehoben sein. Sie sollten denselben Lohn erhalten. Akkordarbeit und höhere Leistungen wurden als Verrat an der »Sache« gebrandmarkt. Auch das hat sich, gerade in Deutschland seit 1918, durchgesetzt. Es schaltete die Konkurrenz unter Arbeitern aus, erstickte den Ehrgeiz des besseren Könnens und verminderte dadurch wieder die Gesamtleistung. Daß das alles Nihilismus war, Wille zur Zerstörung, zeigt die heutige Praxis von Moskau, wo in jeder Beziehung der Zustand von 1840 wieder hergestellt wurde, sobald man »am Ziel« war: lange Arbeitszeit, niedrige Löhne, die größte Spannung der Welt – größer selbst als in Amerika – zwischen der Bezahlung gelernter und ungelernter Arbeit und der Import fremder Ingenieure statt der eigenen, die man abgeschlachtet hatte, weil sie nach der Lehre des kommunistischen Manifestes den Arbeiter nur ausbeuteten, ohne etwas zu leisten, und deren Wert man erst nachher begriff.

Die Meinung, daß dem Arbeiter der »volle Wert« seiner Arbeit zustehe, was mit dem Gesamtbetrag des Unternehmens gleichgesetzt wurde – ein Rest von Theorie also –, blieb bis zum Ende des Jahrhunderts in Geltung. Damit war wenigstens eine natürliche Grenze der Lohnforderungen anerkannt. Daneben und darüber hinaus entwickelte sich aber, etwa seit den siebziger Jahren, die ganz untheoretische Methode der Lohnerpressung durch den politischen Druck der Arbeiterorganisationen. Hier war keine Rede mehr von Grenzen, welche das Wirtschaftsleben dieser Ausraubung zugunsten einer Klasse setzte, sondern nur noch von den Grenzen der politischen, parlamentarischen, revolutionären Macht. In fast allen »weißen« Ländern gab es um die Jahrhundertwende, am deutlichsten in Deutschland seit 1918, neben der verfassungsmäßigen Regierung eine ungesetzliche, aber mächtige Nebenregierung der Gewerkschaften aller Art, zu deren wichtigsten Aufgaben es gehörte, ihre Wähler mit Löhnen zu füttern und das Recht dazu von den »bürgerlichen« Mächten dadurch zu erkaufen, daß sie ihnen die Erlaubnis zum Regieren erteilten. Die »Stimmung der Arbeiterschaft«, die von den Parteiführern gehandhabt wurde, war ausschlaggebend für alles geworden, wozu die parlamentarischen Regierungen sich zu entschließen wagten. So entstand die Tatsache der politischen Löhne, für die es natürliche, wirtschaftliche Grenzen nicht mehr gab. Die Tariflöhne, welche der Staat zu schützen verpflichtet war, wurden von der Partei festgesetzt, nicht von der Wirtschaft berechnet, und die Tarifhoheit der Gewerkschaften wurde zu einem Recht, das keine bürgerliche Partei oder Regierung anzutasten oder in Zweifel zu ziehen wagte. Der politische Lohn ging sehr bald über den »vollen Wert der Arbeit« hinaus. Er hat, mehr als Konkurrenz und Überproduktion, die Industrie der »weißen« Länder aus Notwehr und Selbsterhaltungstrieb in eine Entwicklung gedrängt, deren Ergebnis in der Katastrophe der Weltwirtschaft heute vor unseren Augen liegt. Der Lohnbolschewismus, mit Streik, Sabotage, Wahlen, Regierungskrisen arbeitend, entzog dem Wirtschaftsleben der Nationen – nicht Deutschlands allein – so viel Blut, daß es in fieberhaftem Tempo versuchen mußte, diese Verluste auf jede denkbare Weise zu ersetzen.

Man muß wissen, was alles zum Begriff des politischen Lohnes gehört, um den Druck dieser Lohndiktatur auf das gesamte Wirtschaftsleben der Völker zu ermessen. Er umfaßt, über die Geldzahlung weit hinausgehend, die Sorge für das gesamte Dasein »des Arbeiters«, die ihm abgenommen und »den anderen« aufgebürdet wurde. »Der Arbeiter« ist zum Pensionär der Gesellschaft, der Nation geworden. Jeder Mensch hat sich, wie jedes Tier, gegen das unberechenbare Schicksal zu wehren oder es zu tragen. Jeder hat seine persönliche Sorge, die volle Verantwortung für sich selbst, die Notwendigkeit, durch eigenen Entschluß in allen Gefahren für sich und seine Ziele einzustehen. Niemand denkt daran, dem Bauern die Folgen von Mißernte, Viehseuchen, Brand und Absatznöten, den Handwerkern, Ärzten, Ingenieuren, Kaufleuten, Gelehrten die Gefahren des wirtschaftlichen Ruins und der Berufsuntauglichkeit infolge von mangelnder Eignung, Krankheit oder Unglücksfällen auf Kosten anderer abzunehmen. Jeder mag selbst und auf eigene Kosten sehen, wie er dem begegnet, oder er mag die Folgen tragen und betteln oder nach seinem Belieben in anderer Weise zugrunde gehen. So ist das Leben. Die Sucht des Versichertseinwollens – gegen Alter, Unfall, Krankheit, Erwerbslosigkeit, also gegen das Schicksal in jeder denkbaren Erscheinungsform, ein Zeichen sinkender Lebenskraft – hat sich von Deutschland ausgehend im Denken aller weißen Völker irgendwie eingenistet. Wer ins Unglück gerät, schreit nach den andern, ohne sich selbst helfen zu wollen. Aber es gibt einen Unterschied, der den Sieg des marxistischen Denkens über die ursprünglich germanischen, die individualistischen Triebe der Verantwortungsfreude, des persönlichen Kampfes gegen das Schicksal, des » amor fati « bezeichnet. Jeder sonst sucht nach eigenem Entschluß und durch eigene Kraft dem Unvorhergesehenen auszuweichen oder entgegenzutreten, nur »dem Arbeiter« wird auch dieser Entschluß erspart. Er allein kann sich darauf verlassen, daß andere für ihn denken und handeln. Die entartende Wirkung dieses Freiseins von der großen Sorge, wie man sie an Kindern sehr reicher Familien beobachtet, hat die gesamte Arbeiterschaft gerade in Deutschland ergriffen: sobald sich irgendeine Not zeigt, ruft man den Staat, die Partei, die Gesellschaft, jedenfalls »die anderen« zu Hilfe. Man hat es verlernt, selbst Entschlüsse zu fassen und unter dem Druck wirklicher Sorgen zu leben.

Aber das bedeutet eine weitere Belastung der höheren Arbeit einer Nation zugunsten der niederen. Denn auch dieser Teil des politischen Lohnes, die Versicherung jeder Art gegen das Schicksal, der Bau von Arbeiterwohnungen – es fällt niemandem ein, dasselbe für Bauernhäuser zu verlangen –, die Anlage von Spielplätzen, Erholungsheimen, Bibliotheken, die Sorge für Vorzugspreise von Lebensmitteln, Bahnfahrten, Vergnügungen wird unmittelbar oder durch Steuern von »den andern« für die Arbeiterschaft bezahlt. Gerade das ist ein sehr wesentlicher Teil des politischen Lohnes, an den man nicht zu denken pflegt. Indessen ist der Nationalreichtum, auf dessen in Zahlen angegebene Höhe man sich verläßt, eine nationalökonomische Fiktion. Er wird – als »Kapital« – aus dem Ertrag der wirtschaftlichen Unternehmungen oder dem Kurs von Aktien, der von der Verzinsung abhängt, errechnet und sinkt mit ihnen, wenn der Wert der arbeitenden Werke durch die Höhe der Lohnbelastung in Frage gestellt wird. Eine Fabrik, die so zum Stilliegen kommt, ist aber nicht mehr wert, als für das Abbruchsmaterial gezahlt wird. Die deutsche Wirtschaft hat unter der Diktatur der Gewerkschaften vom 1. Januar 1925 bis Anfang 1929, also in vier Jahren, eine jährliche Mehrbelastung durch Erhöhung von Löhnen, Steuern und sozialen Abgaben von 18 225 Millionen Mark erfahren. Das ist ein Drittel des gesamten Nationaleinkommens, das einseitig verlagert wurde. Ein Jahr später war diese Summe auf weit über 20 Milliarden angewachsen. Was bedeuteten demgegenüber die 2 Milliarden Reparationen! Sie gefährdeten die Finanzlage des Reiches und die Währung. Ihr Druck auf die Wirtschaft kam gegenüber den Wirkungen des Lohnbolschewismus überhaupt nicht in Betracht. Es war die Expropriation der gesamten Wirtschaft zugunsten einer Klasse.


 << zurück weiter >>