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Einleitung.

Eine Apologie für Friedrich Spee und seine Verdienste um die geistliche Lyrik des 17. Jahrhunderts ist wohl kaum vonnöten. Seine Stelle als erster, man möchte fast sagen, einziger Vertreter der katholischen Liederpoesie seiner Zeit ist unangezweifelt. Die häufigen Erneuerungen seiner Trutznachtigall wie auch seines Güldenen Tugendbuches durch die Romantiker liefern den schlagenden Beweis, daß seine Dichtungen über dem Durchschnitt seines Jahrhunderts stehen. Nicht nur der Charakter seiner Lyrik sichert ihm eine eigenartige Stellung in der deutschen Literatur, sondern auch vor allem die Tatsache, daß er als einziger Zeitgenosse sich unabhängig von Opitz eine eigene Dichtkunst schuf. Die »Merckpünctlein«, die er seiner Trutznachtigall voranschickt, stimmen zwar in manchen Einzelheiten mit den Maximen des Schlesiers überein, stehen aber in manchen anderen zu denselben in scharfem Gegensatz. Aus dieser Tatsache folgt ohne weiteres der Schluß, daß Spee nicht etwa als blinder Nachahmer einer neuen Kunstrichtung anzusprechen ist, sondern als kraftvoll unabhängig schaffender Dichter.

Da die Literaturgeschichte sich schon mehrfach eingehend mit Friedrich Spee beschäftigt hat Hier sei besonders hingewiesen auf Spees Lebensbeschreibung in Gustav Balkes Ausgabe der Trutznachtigall in Goedeke-Tittmann, Deutsche Dichter des siebzehnten Jahrhunderts (Leipzig 1879), 13. Bd., erübrigt sich eine Beschreibung seines Lebens und seiner Tätigkeit. Ebenso unnötig wäre an dieser Stelle eine kritische Bewertung der Gedichte der Trutznachtigall oder eine Untersuchung der sprachlichen und künstlerischen Eigenheiten derselben. Derartige Werke werden dem Forscher in großer Menge leicht zugänglich sein. Um so notwendiger dagegen ist eine Besprechung der Trutznachtigall-Handschriften, welche dem ersten Druck vorausgehen, ihr Verhältnis zueinander und zu dem Druck von 1649. In Anbetracht der vielen Neudrucke der Trutznachtigall, die in den letzten hundert Jahren erschienen sind, ist es einigermaßen erstaunlich, daß diese Handschriften noch nicht genauer untersucht worden sind. Selbst Gustav Balke, der sich jedenfalls sehr eingehend mit denselben beschäftigt hat, scheint doch nicht ihr wahres Verhältnis zueinander erfaßt zu haben. Vor allen Dingen hat noch kein Herausgeber, von Clemens Brentano bis auf den heutigen Tag, die Wichtigkeit des Druckes von 1649 erkannt. Da derselbe erst vierzehn Jahre nach dem Tode des Verfassers erschien, hat man allgemein angenommen, daß die Lesarten des Druckes für eine kritische Ausgabe nicht in Betracht kommen. Daß diese Annahme durchaus falsch ist und daß im Gegenteil der Druck von 1649 die einzig richtige Grundlage zu einer kritischen Ausgabe der Trutznachtigall bildet, wird aus den folgenden Erläuterungen klar hervorgehen.

Drei handschriftliche Exemplare der Trutznachtigall und ein Fragment sind uns erhalten. Zwei davon sind nachweisbar Autographen des Dichters; das dritte ist eine im Jahre 1640 verfaßte Abschrift, der das aus vier Blättern bestehende Fragment angebunden ist. Da nach den Angaben des Kölner Druckers Wilhelm Friessem schon zu Spees Lebzeiten viele handschriftliche Exemplare der Trutznachtigall im Umlauf waren, ist es einigermaßen erstaunlich, daß sich nur eine so geringe Zahl erhalten hat. Unter den nicht mehr vorhandenen Handschriften befindet sich leider auch diejenige, die Friessem als Grundlage zu seinem Druck diente.

Die ältere der zwei Originalhandschriften des Dichters befindet sich in Straßburg und trägt die Bezeichnung »d. Man. nr. 80«. Das Format ist klein Oktav und der Einband ist neu. Auf der oberen Hälfte des Titelblattes ist eine allegorische Federzeichnung, die gegen einen Barockhintergrund den gekreuzigten Christus, eine Mönchsgestalt und eine singende Nachtigall zeigt. Darunter steht der Titel Siehe am Ende S. XXXI. mit Angabe der Jahreszahl 1634. Diese Jahreszahl bezieht sich natürlich nicht auf die Abfassung der Gedichte, sondern nur auf die Zusammenstellung der Handschrift. Die Verschiedenheit des Papiers, der Tinte, der Schrift und des Umfanges der Lagen zeigen deutlich, daß die Abfassung der Gedichte sich auf einen längeren Zeitraum ausdehnte. Auf das Titelblatt folgen die »Merckpünctlein für den Leser«, die in Form und Anordnung von den späteren Fassungen sehr verschieden sind. Die folgenden 112 Blätter sind mit den Zahlen 1–226 bezeichnet; das falsche Endresultat entsteht infolge von verschiedenen Zählungsversehen.

Die in der Handschrift enthaltenen Gedichte sind zum Teil schon Reinschriften, zum Teil erst Entwürfe. Alle sind wiederholt durchkorrigiert und zwar so, daß in den meisten Fällen die ältere Lesart noch zu erkennen ist. Da diese Handschrift also sozusagen das Handmanuskript des Dichters darstellt, ist sie für die Beurteilung der Echtheit späterer Lesarten und besonders der im Drucke vorgenommenen Änderungen von größter Wichtigkeit. Wenn nämlich der Druck gegenüber den handschriftlichen Fassungen ähnliche Änderungen wie die im Straßburger Manuskript vorgenommenen aufweist, so liegt der Schluß nicht fern, daß dieselben von der Hand des Verfassers stammen.

Die Reihenfolge der Gedichte im Straßburger Manuskript ist noch nicht die des Druckes. Auf den letzten drei von Stockflecken fast gänzlich zerstörten Seiten jedoch befindet sich ein Entwurf zu einem Register, das, soweit sich erkennen läßt, die neue Anordnung bereits durchführt. Zwei Gedichte, Nr. 35: »Der Wind auf leeren Straßen« (im Text S. 211) und Nr. 37: »O Schäflein unbeschoren« (S. 221), fehlen. Dafür ist auf S. 87 und 88 der Handschrift das Gedicht »Da Jesus an dem Kreuze stund« aus dem Güldenen Tugendbuch aufgenommen, später aber durchstrichen und mit der Randbemerkung »Omittatur hoc totum« versehen.

Für die Echtheit dieser Originalhandschrift des Dichters sprechen die zahlreichen von derselben Hand wie der Text selber herrührenden Korrekturen und Zusätze. Einen weiteren Beweis dafür gibt ein auf Seite 113 eingeklebtes Brieffragment des Verfassers an einen Amtsbruder, dem er das auf dieser Seite geschriebene Gedicht zur Durchsicht sandte.

Ein etwas jüngeres Manuskript kennzeichnet sich ebenfalls als Autograph des Dichters, da seine Schriftzüge mit dem der Straßburger Handschrift genau übereinstimmen. Dasselbe liegt in der Stadtbibliothek zu Trier und trägt die Nummer C. M. 1118–LXXII. Das Format ist Sedez und es trägt einen gleichaltrigen Pergamenteinband; nur der Rücken ist neu. Auf dem Titelblatt Siehe am Ende S. XXV., das sonst fast genau der Straßburger Handschrift gleicht, fehlt die Federzeichnung, jedoch ist ein eingerahmtes Rechteck anscheinend dafür freigelassen. Die » Merckpünctlein für den Leser« nehmen die nächsten drei Seiten in Anspruch und dann sind fünf Seiten leer, anscheinend für das Register bestimmt. Hierauf folgen die 51 Gedichte auf 325 nicht numerierten Seiten in der Reihenfolge des Kölner Druckes. Über jedem Gedicht ist ein kleines mit Strichen eingerahmtes Rechteck freigelassen, das vielleicht zur Angabe der Melodie bestimmt war. Es ist freilich bemerkenswert, daß in vielen Fällen der freigelassene Raum für die Melodie nicht ausreichend wäre. Das ganze Büchlein ist mit der größten Sorgfalt geschrieben; die wenigen Korrekturen sind entweder auf Rasur oder auf übergeklebten Papierstreifchen gemacht.

Die Pariser Nationalbibliothek besitzt in der Handschrift » Fond. allem. 134« eine schön ausgestattete und recht sorgfältig gemachte Abschrift des Güldenen Tugendbuches und der Trutznachtigall. Es ist ein in Schweinsleder gebundener Quartband und enthält 390 paginierte Blätter. Die Abschrift der Trutznachtigall füllt den Raum von Seite 311a–389a. Trotz der äußeren Sorgfalt, mit der das Manuskript hergestellt ist, findet sich eine Unmenge von Schreibfehlern. Viele der Fehler sind solcher Art, daß die Vermutung naheliegt, daß der Schreiber seine Vorlage nicht gut lesen konnte. An zwei Stellen findet sich der Name des Schreibers und das Datum der Abschrift; auf Seite 305 b steht in seiner eigenen Hand: » Anno 1640. 8 July. Scribebat F. Leonardus Gülichius. Benedictinus Brauweilerensis.« Auf dem Titelblatt des Tugendbuches steht von fremder Hand: » Hunc librum ex autographo Auctoris excripsit Leonardus Gulichius. Religiosus Benedictinus in Brawiler. A. 1640«

Die Reihenfolge der Gedichte ist dieselbe wie im Druck und in der Trierer Handschrift. Ein großer Teil der Gedichte ist jedoch in der Abschrift des Tugendbuches enthalten, während in der Trutznachtigall von diesen nur der Titel, der erste Vers und die Seitenzahl im Tugendbuch angegeben ist. Es sind dies die Gedichte Nr. 3–8, 11–18, 20–22, 24, 25, 28, 38, 42 und 43 Nicht, wie Balke versehentlich angibt, 36, 40 und 41.. In den meisten Fällen erscheinen diese im Tugendbuch unter anderem Titel als dem im Text der Trutznachtigall angegebenen. Von den Gedichten 12, 13, 17 und 36 teilt das Manuskript auch die Melodien mit.

Dieselbe fremde Hand, die auf dem Titelblatt den Namen des Schreibers nennt, hat auch im Text eine Anzahl von Randbemerkungen gemacht. In diesen wird verschiedentlich auf das » Manuscriptus Censorum« hingewiesen, die Handschrift, die im Jahre 1649 zur Zeit des Drucks den Vorgesetzten des Jesuitenordens zur Zensur vorlag. Da dieses Manuskript jedenfalls im Besitz des Provinzialkollegiums des Ordens verblieb, ist vielleicht anzunehmen, daß die Randbemerkungen in der Pariser Handschrift von befugter Hand herrühren.

Der Pariser Handschrift angebunden ist ein aus vier Blättern bestehendes Manuskriptfragment. Dasselbe enthält den Titel, das Distichon » Ad Musas de Auctore« Dasselbe findet sich auch in der Trierer Hs. Es lautet:

» Sicelides Musae Sacrùm decorate Poëtam
Qui vos Germano nunc facit ore loqui.
«
, die » Merckpünctlein« und das Register. Die Reihenfolge der Gedichte im Register ist dieselbe wie im Trierer Manuskript. Von den Gedichten selber ist leider nichts erhalten. Das Fragment ist weder in Spees eigener Hand, noch in der des Leonardus Gülichius.

Auf der ersten Seite des Fragments befindet sich folgende Randbemerkung von späterer Hand: » Hoc fragmētū est ex ms. Treuirensi P. Frid. Spe Trutznachtigal ex quo excusus(?) est ipse liber Trutznachtigal 1649.« Diese Bemerkung beruht sicher auf einem Irrtum, denn das Fragment ist nichts weiter als eine wortgetreue Abschrift des bekannten Trierer Manuskripts. In dem Druck von 1649 ist nämlich nicht nur der Titel wesentlich verschieden und fehlt das Distichon an dieser Stelle, sondern die » Merckpünctlein« sind in Form und Anordnung ganz anders. Da diese » Merckpünctlein« in dem Druck unter dem Titel » Vorred des Authoris« erscheinen, ist wohl kaum anzunehmen, daß der Herausgeber Wilhelm Friessem sich mit Spees Wortlaut solch weitgehende Freiheiten erlaubt hätte. Sollte das Fragment wirklich dem Druck zugrunde liegen, dann müßten die vielfachen Abweichungen des Drucks von der Trierer Handschrift von Friessems Feder stammen. Solch willkürliches Verfahren entspräche kaum der ausgesprochenen Absicht des Herausgebers, den ursprünglichen Wortlaut des Verfassers zu erhalten. Es ist daher wohl ausgeschlossen, daß das Pariser Fragment als Friessems Druckvorlage anzusehen ist.

Der Druck von 1649 wurde in der Offizin des Kölner Druckers Wilhelm Friessem hergestellt. Das Büchlein scheint in zwei gleichzeitigen Auflagen, die eine mit, die andere ohne Melodien erschienen zu sein. Die mit Melodien versehenen Exemplare sind inzwischen zu bibliographischen Seltenheiten geworden. Sogar Goedeke Grundriß ²III, S. 194. weiß nichts von einem Erstdruck mit Melodien. Der Druck enthält außer den 51 Gedichten der Trierer Handschrift noch ein zweiundfünfzigstes, für das die handschriftliche Vorlage fehlt. Das dem Text vorstehende Widmungsgedicht stammt jedenfalls von Wilhelm Friessems eigener Feder.

Der nachstehenden Ausgabe der Trutznachtigall ist der Text des Druckes von 1649 zugrunde gelegt, während im Apparat die Varianten der beiden Autographen sowie der Pariser Abschrift angegeben sind. In dieser Beziehung unterscheidet sich unser Neudruck von allen früheren Ausgaben; denn bisher ist stets die Trierer Handschrift als Grundlage benutzt worden. Die Wahl dieser Handschrift beruht auf der Annahme, die auch Gustav Balke im Vorwort zu seiner Ausgabe ausspricht, daß in derselben die letzte Redaktion des Dichters vorliegt. Die Sorgfalt, mit der der Dichter diese Reinschrift herstellte, spricht nämlich für die Vermutung, daß dieses Exemplar als Druckvorlage bestimmt war. An der Verwirklichung seiner Absicht soll dann nach Balkes Meinung der Verfasser durch den Tod verhindert worden sein.

Wenn wir also unserer Neuausgabe den Druck von 1649 zugrunde legen, müssen wir unsere Wahl dadurch rechtfertigen, daß wir den Beweis führen, daß in demselben eine noch spätere Eigenredaktion des Dichters vorliegt. In dieser Verbindung verweisen wir zunächst auf die Vorrede Siehe S. 3*-4*. des Verlegers Wilhelm Friessem. In derselben erklärt er, daß der Dichter leider gestorben sei, ehe es ihm möglich war, seine Schriften in Druck zu geben; daß dieselben » nicht ohne Gefahr vielfältiger Fehler zum öfteren ausgeschrieben« worden seien; und daß sie jetzt » endlich ordentlicher Weise revidirt und approbirt« der Öffentlichkeit übergeben würden. Nachdem der Herausgeber in solchen nicht mißzuverstehenden Worten seine Meinung über Abschriften ausgesprochen hat, kann man wohl nicht annehmen, daß er eine derselben als Druckvorlage benutzt hätte. Es unterliegt also keinem Zweifel, daß dem Drucker ein Autograph des Dichters vorlag. Wir kennen derer nur zwei, das Trierer und das Straßburger. Diese kommen aber nicht in Frage, denn ein genauer Vergleich der Lesarten zeigt, daß sie zu stark von dem Druck abweichen. Es muß damals also noch mindestens ein drittes gegeben haben, das uns leider nicht erhalten blieb. Gegen die Annahme, daß die abweichenden Lesarten des Druckes von Friessems Feder stammen, spricht erstens die deutliche Absicht des Herausgebers, den ursprünglichen Wortlaut des Dichters zu erhalten, zweitens aber auch die Tatsache, daß die in dem Druck vorkommenden Neuerungen und Änderungen von derselben Art wie die schon in den Handschriften vorgenommenen sind.

Obwohl in den verschiedenen Revisionen des Verfassers Verbesserungen und Neuerungen aller Art vorkommen, so handelt es sich doch in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle um Änderungen in der Wortstellung. Von Anfang an ist der Dichter bestrebt gewesen, seinen in den » Merckpünctlein« niedergelegten Grundsätzen treu zu bleiben. In folgenden umständlichen Worten macht er darauf aufmerksam, daß der Versakzent stets mit dem Wort-, bzw. Satzakzent, zusammenfallen muß: » Was aber die quantitet, mensur oder maß an kürtze und länge der Syllaben angeht, wird dieselbe am füglichsten genom̅en auß gemeinem und bewehrtem brauch der recht- und wolredenden Teutschen, also daß hie ein delicat oder zart gehör von nöthen ist, und accents urtheil. Dan in gemeiner sprach die Syllaben für lang gehalten werden, auff welche der accent fällt, und die anderen für kurtz. Zum exempel: bruder hat zwey Syllaben, die erste ist bey den Teutschen lang, dann ja ein Teutscher nicht sagt brudér, usw. Doch muß man in den Trochaischen Verßen (wil es rund bekennen) zu zeiten nachsehen, und die außsprach etwas glimpflicher lencken, nach dem sprūg derselben Versen; ist aber also lind angeordnet, daß entweder der Leser es gar nicht vermercken noch achten, und auch die ohren nicht verletzen wird. Und auß diesem merck-puncten entstehet die liebligkeit aller Reym-versen, welche sonsten gar ungeschliffen lauten, und weiß mancher nicht, warumb sonst etliche verß so ungeformbt lauten, weil nemblich der Author kein acht hat geben auff den accent.«

Diesen Grundsatz behält der Dichter stets vor Augen und deswegen ändert er wieder und immer wieder die Wortstellung seiner Verse. In seinem Bestreben, den Satzakzent und die Vershebung zusammenzubringen, mißrät ihm dann häufig eine Konstruktion derart, daß eine ganz unmögliche oder wenigstens höchst ungewöhnliche Wortfolge entsteht. In solchen Fällen überwindet der Dichter manchmal die Schwierigkeit, indem er später den Vers vollständig umändert. Um diesen Punkt klar zu machen, seien folgende Stichproben angeführt:

Tabelle
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Diese Proben, die übrigens ohne Wahl herausgegriffen sind, zeigen den allgemeinen Charakter der Revision, die Spee seinem Werke immer wieder angedeihen ließ. In der Straßburger Handschrift, wo die älteren Lesarten neben oder unter der Korrektur meist noch zu erkennen sind, finden sich etwa 73 derartiger Umstellungen. Die Trierer Handschrift im Vergleich zur Straßburger weist weitere 61 Änderungen derselben Art. Im Druck von 1649 verglichen mit der Trierer Handschrift erscheinen nochmal 56 ähnliche Umänderungen der Wortstellung.

Das Zahlenverhältnis der eben beschriebenen Korrekturen scheint den klaren Beweis zu liefern, daß dem Druck von 1649 eine Handschrift unterliegt, an der Spee nach oder neben der Trierer Handschrift noch eine weitere Revision vornahm. Die Vermutung, daß eine andere Hand als die des Dichters zwischen der Trierer Handschrift und dem Druck eine so große Anzahl charakteristischer Verbesserungen gemacht haben sollte, wäre wohl glatt abzulehnen. Ein zwingender Grund für die Annahme des Vorhandenseins eines späteren Autographen als des Trierer wäre also gegeben.

Sollte aber die Existenz dieses Autographs noch zweifelhaft erscheinen, so ist noch weiteres Beweismaterial vorhanden. In diesem Zusammenhang sei erstens der » Merckpünctlein für den Leser« gedacht. Diese liegen in drei sehr verschiedenen Fassungen vor. Die Übereinstimmung zwischen der Pariser und der Straßburger Handschrift ist fast wörtlich Siehe am Ende S. XXXVII und XXXIII.. In dieser Fassung bestehen die » Merckpünctlein« aus vier Abschnitten, deren Inhalt ziemlich unlogisch und unzusammenhängend ist. Man sieht dieser Fassung auf den ersten Blick einen frühen Entwurf an. In der Straßburger Handschrift folgt dann noch ein Bruchteil eines fünften Abschnitts, der aber durchstrichen ist und deshalb nicht in die Pariser Abschrift aufgenommen wurde. In der Trierer Handschrift sind die » Merckpünctlein« zu sieben Abschnitten angewachsen Siehe S. 5 die in klarem und logischem Zusammenhang zueinander stehen. Im Druck erscheinen sie unter der Überschrift » Vorred deß Authoris« und zeigen sich als weitere Ausarbeitung der Trierer Fassung. Auch hier finden sich sieben Abschnitte, die sich aber mit den früheren durchaus nicht decken. Verschiedene der älteren Abschnitte sind im Druck zusammengefaßt und neue hinzugefügt, so daß die gedruckte » Vorred« die Trierer » Merckpünctlein« um mehr als die Hälfte übertrifft. Schon Balke erkannte daß » die Vorrede der ersten Ausgabe eine weitere Ausführung der in den Manuskripten erhaltenen Vorrede ist«, zog aber aus dieser Tatsache nicht die notwendigen Schlüsse. Auf jeden Fall bildet die Vorrede eine wichtige Stütze für den Beweis des Vorhandenseins eines späteren Autographs als das Trierer.

Weiteres Beweismaterial ist in den Musikeinlagen zu suchen. Der erste Druck enthält 24 Melodien und zwar zu den Nummern 1, 2, 4–8, 12, 13, 17–22, 33, 36–38, 40, 44, 46, 48 und 50. Die Straßburger und Trierer Handschriften enthalten keine Melodien, obwohl in der Trierer Handschrift, wie schon oben gesagt, scheinbar Raum für dieselben gelassen wurde. Im Pariser Tugendbuch dagegen sind zu den Gedichten Nr. 12, 13, 17 und 36 die Melodien erhalten. Das im Jahre 1638 gedruckte Psälterlein der Societet Jesu enthält 11 Gedichte der Trutznachtigall und zwar die Nummern 3, 5, 7, 12 -14, 16, 18, 35, 38 und 43. Zu allen mit Ausnahme von Nr. 13 und 14 wird die Melodie mitgeteilt. Die in den beiden angegebenen Quellen erhaltenen Melodien stimmen mit denen in der Trutznachtigall überein. Wenn nun, wie Balke richtig annimmt, das Trierer Manuskript eine ohne Unterbrechung hintereinander fortgeschriebene Reinschrift ist, so hätte der Verfasser doch sicher die Melodien sofort an Ort und Stelle hineinkopiert, anstatt für dieselben Rechtecke von zweifelhafter Größe freizulassen. Die Vermutung, daß diese Reinschrift als Druckvorlage bestimmt war, muß daher wohl abgelehnt werden. Das Vorhandensein einer zweiten gleichzeitigen oder späteren Reinschrift mit Melodien ist jedenfalls gegeben.

Nach den obigen Ausführungen kann es wohl keinem weiteren Zweifel unterliegen, daß dem Druck von 1649 ein späteres Autograph als das Trierer unterliegt. Wenn wir also unserer Neuausgabe die letzte Eigenrevision des Verfassers zugrunde legen wollen, müssen wir notwendigerweise zu dem Erstdruck greifen. Es läßt sich selbstverständlich nicht leugnen, daß diese Wahl auch ihre Nachteile hat. Ohne Zweifel ist bei dem Druck manche unrichtige Lesart in den Text gekommen. Ohne Zweifel hat sich der Drucker manche Freiheit mit der Orthographie und Interpunktion des Verfassers erlaubt. Diesem Übel glauben wir jedoch abgeholfen zu haben, indem in den Apparat jede geringste Variante der verschiedenen Handschriften aufgenommen worden ist. Aus dem Variantenapparat läßt sich also nicht nur die Textgeschichte herauslesen, sondern auch die Orthographie des Verfassers läßt sich daraus wiederherstellen.

Schließlich verlangt auch noch die Aufnahme der Lesarten der Pariser Handschrift in den Variantenapparat eine Rechtfertigung. Da diese Abschrift erst fünf Jahre nach Spees Tode gemacht wurde, scheint es auf den ersten Blick, daß die Handschrift für eine kritische Ausgabe nicht in Frage kommt. Balke verwirft sie ohne weiteres mit der Bemerkung, » daß sie sich eng an die Straßburger Handschrift anschließt«. Wenn dies wirklich der Fall wäre, hätte sie tatsächlich für uns nicht den geringsten Wert. Ein genauer Vergleich der Handschriften auf mathematischer Grundlage führt jedoch zu einem ganz anderen Resultat. Die folgende Zusammenstellung zeigt für jedes Gedicht die Anzahl der Varianten. Bei diesem Vergleich kommen nur wirkliche Varianten in Betracht; geringfügige Unterschiede in der Orthographie, der Interpunktion oder im Wortlaut werden nicht mitgerechnet.

Tabelle
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Aus den ersten drei Spalten in der obigen Zusammenstellung weitere Schlüsse zu ziehen, wäre unnötig. Die Zahlen geben deutlich zu erkennen, daß in der überwiegenden Mehrzahl von Fällen die Trierer Lesart sich mit der des Druckes deckt (Spalte 2) und daß der Dichter bei seiner letzten Revision nur ganz selten auf eine ältere Lesart zurückgriff (Spalte 1). Die dritte Spalte zeigt, daß er in einer nicht sehr großen aber immerhin beträchtlichen Anzahl von Fällen bei der letzten Revision einen ganz neuen Wortlaut wählte, der in keiner der vorhandenen Handschriften erscheint.

Für die Beurteilung der Pariser Abschrift ist die vierte Spalte maßgebend. Etwa die Hälfte der Gedichte zeigt in dieser Spalte eine unverhältnismäßig große Variantenzahl, während die andere Hälfte nur minimale Abweichungen von dem Druck bzw. den Trierer und Straßburger Handschriften aufweist. Die Pariser Handschrift zerfällt demnach in zwei scharf getrennte Gruppen, deren erstere viele von den anderen Handschriften abweichende Lesarten enthält, während sich die zweite im allgemeinen mit denselben deckt. Zu der ersten Gruppe gehören die Gedichte Nr. 3–8, 12, 13, 15–18, 20–22, 25, 28, 38, 43 und vielleicht 50. Alle diese Gedichte aber (außer. Nr. 50), und außerdem noch die Nummern 11, 14, 24 und 42 stehen in der Pariser Handschrift nicht in der Trutznachtigall, sondern in dem mit ihr zusammengebundenen Güldenen Tugendbuch. In der Straßburger Handschrift erscheinen diese Gedichte sämtlich schon als durchkorrigierte Reinschriften. Aus diesen Tatsachen folgt ohne weiteres der Schluß, daß die Gedichte im Pariser Tugendbuch aus einer noch nicht durchkorrigierten Speehandschrift abgeschrieben sind, daß sie also eine noch ältere Fassung als die der Straßburger Handschrift darstellen. Dadurch bekommt die Pariser Abschrift einen ganz anderen Wert, denn sie bewahrt in einem großen Teil ihres Inhalts den ältesten uns bekannten Wortlaut der Gedichte. Es ist natürlich auch in diesem Falle nicht ausgeschlossen, daß sich beim Abschreiben manche Ungenauigkeiten und Versehen eingeschlichen haben. Für die Vollständigkeit der Textgeschichte jedoch ist es von Wichtigkeit, daß die Lesarten der Pariser Abschrift in den Apparat aufgenommen werden.

Es ergibt sich nun folgendes schematisches Bild der Manuskript-Verhältnisse:

Schema

Das Manuskript »X« entstand spätestens im Jahre 1632, vielleicht schon früher, da die Gedichte desselben für das in diesem Jahre erschienene Güldene Tugendbuch bestimmt waren. Im Straßburger Manuskript erfahren diese Gedichte eine Revision und die Entwürfe der übrigen Gedichte der Trutznachtigall kommen noch dazu. Darauf folgt die Trierer Reinschrift und zur selben Zeit, oder vielleicht etwas später, entsteht das Autograph »Y«, das später als Druckvorlage diente. Die im Pariser Tugendbuch 1640 kopierten Gedichte stammen aus dem ursprünglichen Entwurf von 1632, während die Gedichte der Pariser Trutznachtigall der Straßburger Handschrift entstammen, von der auch das Pariser Fragment abstammt.

In bezug auf die schöne Trierer Handschrift sei hier noch eine Vermutung eingefügt. Die in der Pariser Abschrift unter dem Vermerk » in MS Censorum« enthaltenen Einschaltungen decken sich wörtlich mit den betreffenden Stellen in der Trierer Handschrift. Da letztere aus oben angeführten Gründen jedenfalls nicht als Druckvorlage bestimmt war, liegt die Vermutung nicht fern, daß sie dem Ordensvorstand als Zensurexemplar dienen sollte. Die Sauberkeit der Schrift und die Sorgfalt, mit der Schreibfehler auf Rasur verbessert sind, scheint dafür zu sprechen. Da die Zensur sich jedenfalls nicht besonders für die Melodien interessierte, brauchten dieselben nicht im Manuskript zu erscheinen und wurden nur durch kleine Rechtecke über den Gedichten angedeutet. Wirkliche Beweise für diese Vermutung lassen sich selbstverständlich nicht bringen.


 

Chronologische Übersicht der Auflagen der Trutznachtigall.

Trutznachtigal oder Geistliches-Poetisches Lustwäldlein usw. Im Verlag Wilhelm Friessems, Cöllen 1649.

Trutznachtigal. Zum zweyten mahl in Truck verfertigt usw. Cöllen 1654.

Trutznachtigal. 3. Auflage. Cöllen 1656 [GGr]. Cöllen 1660 [Wellers Annalen].

Trutznachtigal. 4. Auflage. Cöllen 1664 [GGrJ. Cöllen 1672 [Wellers Annalen].

Trutznachtigal. 5. Auflage. Cöllen 1683.

Trutznachtigal. 6. Auflage. Cöllen 1709.

Zdoro-Slawjcek. Ins Böhmische übersetzt v. P. Felix Radlinski S. J. Prag 1661.

Philomela. Ins Lateinische übersetzt v. M. D. L. Frankfurt 1719.

Fr. Spee's Auserlesene Gedichte. Hrsg. v. Heinrich von Wessenberg. Zürich 1802. [enth. 9 Gedichte; der 2. Bd. v. Wessenbergs »Sämtlichen Dichtungen« (1834 bis 1837) enthält 12].

Gedichte der Trutznachtigall. Erneuert v. Friedrich Schlegel. Im »Poetischen Taschenbuch für 1806«. [14 Gedichte].

Trutz-Nachtigall von Friedrich von Spée. Hrsg. v. P. L. Willmes. Köln 1812.

Trutz-Nachtigal. Vermehrt mit den Liedern aus dem Güldenen Tugendbuch dess. Dichters. Hrsg. v. Clemens Brentano. Berlin 1817.

Trutz-Nachtigal. Auszug. [Bibliothek deutscher Dichter des 17. Jahrh., hrsg. v. W. Müller, fortgesetzt v. K. Förster, 1822ff., 12. Bd.] Leipzig 1831.

Trutz-Nachtigal. Nach der ersten Ausgabe v. W. Friessem Hrsg. v. V. Hüppe u. W. Junkmann. Coesfeld u. Münster 1841.

Trutz-Nachtigal. Hrsg. v. P. L. Willmes. Wohlfeile Ausg. Köln 1841.

Des ehrw. P. F. Spee Trutz-Nachtigal. Nach der Cöllner Auflage v. 1654 treu bearbeitet v. P. Fr. Xav. Weninger S. J. Innsbruck 1844.

Fromme Lieder von Friedrich Spee. Der heutigen Sprachweise angeeignet. Hrsg. v. W. Smets. Coesfeld 1845. [28 Gedichte und 4 aus dem »Tugendbuch«].

Dasselbe. Zweite Auflage. Bonn 1849.

Der Trutznachtigal Lieder der Liebe und des Lobes Gottes v. Fr. v. Spee. Umgedichtet in die Sprache unserer Zeit. Hrsg. v. J. Pape. Arnsberg 1862.

Friedrich Spee's Trutz-Nachtigall. Verjüngt v. Karl Simrock. Heilbronn 1876.

Trutz-Nachtigal von Friedrich Spee. Hrsg. v. G. Balke. [Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts, hrsg. K. Goedeke u. J. Tittmann, 1869ff., 13. Bd.] Leipzig 1879.

Trutznachtigall. Erneut v. K. Pannier. [Reclams Universal Bibliothek Nr. 2596–98.] Leipzig 1890.

Das deutsche Kirchenlied im 16. und 17. Jahrh. Hrsg. v. Eug. Wolff. [Deutsche National Litteratur, hrsg. v. Jos. Kürschner, 31. Bd.] Stuttgart 1894.

Friedrich von Spe, Trutznachtigall. Nebst den Liedern aus dem Güldenen Tugendbuch desselben Dichters. Nach der Ausgabe von Clemens Brentano kritisch neu hrsg. v. A. Weinrich. Freiburg i. B. 1908.

Friedrich Spee, Lieder. Erneuert von rheinischen Romantikern. Köln 1924.

Friedrich Spee, Trutznachtigall. Mit Einleitung hrsg. v. W. Muschg. [Die kleine Bibliothek, Bdch. 8.] Zürich 1925.

Friedrich Spee, Trutznachtigall. Für die Oberstufe ausgewählt v. H. A. Klein. [Diesterwegs deutschkundliche Schülerhefte, Reihe 4, Heft 2.] Frankfurt a. M. 1925.

Trutznachtigall. Erneut v. K. Pannier. [Neudruck in Reclams Univ. Bibl. Nr. 2596–98.] Leipzig 1926.

Friedrich Spee, Trutznachtigall usw. Im Auftrage v. Hch. Beck unter Druckleitung v. F. H. Ehmcke gedruckt München 1929. [150 numerierte Exemplare.]


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