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Resumé zum 19. Kapitel

Käthe Haider, eine junge Sozialistin, von Beruf Kindergärtnerin, aber arbeitslos, ist freiwillige Aufseherin in einer Tagesheimstätte für Arbeiterkinder. Sie ist von Natur aus eine außergewöhnlich mütterliche Frau und wünscht sich schon lange ein Kind. Ihr Freund Franz Seidel, ein treuer Sozialdemokrat und Schutzbündler, gutbezahlter Arbeiter in einer Garage, hat nichts dagegen, will aber erst genug zusammensparen, um eine eigene Werkstätte aufmachen zu können. So haben sie beide ein festes Ziel auf ein kleines, solides Glück hin. Im Sommer 1933 (eine Zeit, da der Faschismus langsam, aber zähe vordringt und die Arbeiter zur Vaterländischen Front zu pressen beginnt) wird Käthe schwanger. Sie entschließt sich, acht Wochen lang ihrem Freund nichts davon zu sagen, und spielt lange, ohne feste Absicht, mit dem Gedanken, das Kind zu haben.

19. Kapitel

Käthe ging Franz aus der Garage abholen. Sie träumte auf der Straße:

Der Franz kommt nach Haus, und das warme Wasser ist schon vorbereitet, und die Glyzerinseife liegt daneben, damit das Schmieröl von der Haut runtergeht. Der Franz streift das Hemd ab, steht bei der Waschschüssel, Gesicht, Ohren und Hals, den ganzen Oberkörper voll Seife. Sie fragt, was es Neues gibt in der Garage, ob er sich mit dem Chef gestritten hat. Er pritschelt und scharrt mit der Bürste und knurrt wie immer, wenn wer vom Herrn von Russ zu reden anfängt, und er sagt nein, er hat sich nicht gestritten, er und der Chef streiten nie, weil sie beide wissen, wenn sie einmal ins Streiten kommen, gibt's einen Totschlag, das wissen sie beide ganz bestimmt. Er weiß nicht, warum er den Mann so haßt, aber eins weiß er, wenn's einmal zum Bürgerkrieg kommt und er und der Chef treffen einander wo, dann kommt nur einer von ihnen lebend weg. Und sie lacht, weil das seit Jahren dieselbe Geschichte ist, und sagt, er soll sich doch nicht unglücklich machen, jetzt, wo er ans Kind zu denken hat. Sie führt ihn an die Wiege, aber vorher muß er sich die Genagelten ausziehn, weil der Peter schläft. Er heißt Peter, weil er ein Bub ist. Dann besprechen sie, was er einmal werden soll, und sie sagt, ein Arbeiter darf er nicht werden, es wäre schade um ihn, wo er so intelligent ist. Und der Franz lacht und fragt, woher sie das weiß, wo der Herr Doktor noch gar keine Zähne hat. Aber sie sagt, er soll still sein, sie weiß es schon.

Sie stieß mit einem alten Dienstmann zusammen.

»Oha, Fräulein! Gar so traumhapert! Denken's an Ihren Bräutigam?«

»An meinen Sohn.«

»Ah, da gratulier ich. Na, lang kann er noch net auf der Welt sein.«

»Er kommt erst.«

Auf diese Art war der Dienstmann der erste, der's erfuhr. Vor Franz und vor ihr selbst. Denn erst, als sie weiterging, entschloß sie sich endgültig, nun, da es einmal herausgesagt war. Sie hatte zu lange mit dem Gedanken »Peter« gespielt. Kinder, mit denen sie spielte, gewann sie noch lieber, als sie überhaupt Kinder liebhatte. »Ja, jetzt lieb ich's schon«, dachte sie betroffen. Sie versuchte es aus ihrem Leben wegzudenken. Das ging nicht. Franz angelogen zu haben, gezögert zu haben, bis es für eine gewöhnliche Auskratzung zu spät war – alle diese Gewissensbisse verschwanden. Sie fühlte sich glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Es war schon ½6 Uhr. Sie machte ihre langen Wanderschritte, um ihn nach Arbeitsschluß nicht zu verfehlen. Ein Lied im Herzen, legte sie sich alles genau zurecht: Franzi, ich hab dir etwas sehr Wichtiges zu sagen. Ich hab dich acht Wochen lang angeschmettert, Franzi. Ich hab mir alles überlegt. Ich will das Kind haben. Du verdienst was, und ich werde vielleicht auch bald Arbeit kriegen. Viel Aussicht ist nicht, so wie's jetzt mit dem Gemeindekindergarten steht, aber die Zeiten werden schon einmal anders werden. Es wird schon reichen. Ich bin schon jetzt selig, wenn ich dran denk'. Das ist mein fester Entschluß. Außerdem ist's für eine gewöhnliche Auskratzung zu spät. Heiraten können wir, wann du willst, oder auch nicht.

Was für ein Gesicht er machen wird, der Franzl? Er wird ausschaun, als ob er selbst ein Baby wär'. »Nein« – wird er nicht sagen. Wenn's bei ihr heißt: fester Entschluß – gibt's kein »Nein«, das hat er schon heraus. Sie lachte laut, warf die langen Beine noch weiter, sang das Lied.

Als sie zur Garage kam, war's ½7 vorbei. Sie wunderte sich, ihn noch nicht warten zu sehen. »Der Russ schindet schon wieder Überstunden«, dachte sie und trat in die Halle. Sofort fiel ihr etwas auf, sie wußte nicht gleich, was. Im spärlichen Schein der paar elektrischen Birnen glitzerte der Lack der garagierten und kranken Autos. Wie immer krümmten sich Rücken in Overalls unter geöffneten Motorhauben, wie immer ragten Beine in öligen Arbeitshosen unter Karosserien hervor. Aber (jetzt wußte sie es) es war still, vollkommen still. Kein Werkzeug und keine Stimme waren zu hören. Es war, als wären sie mitten in der Arbeit eingeschlafen. Aber das Gesicht des Monteurs, der da vor einem Wagen kniend stumm vor sich hinstarrte, war nicht das Gesicht eines Schlafenden, war blaß und atemlos gespannt. Sie folgte seinem Blick und sah Franz. Franz stand vor der Glastür des Chefzimmers; ihm gegenüber in vier oder fünf Schritten stand Russ. Käthe erstarrte und hielt den Atem an. Sie fühlte: Wenn du dich rührst, wenn sich irgendwas rührt, geschieht dort eine Katastrophe. Franz' blühendes Gesicht war verzerrt, der Mund verkniffen. Er schaute auf Russ, als wollte er sich mit den Augen an dem festklammern, als hinge alles davon ab, ihn nicht eine Sekunde aus dem Blick zu lassen. Seine Arme hingen schlaff. Russ hatte die Hände in den Rocktaschen geballt. Sein rechtes Lid war nur halb gesenkt, und darunter drohte das stahlblaue, hemmungslose gesunde Auge. Das linke Lid war weit offen, die Glaskugel darunter funkelte grünlich. Auch er wagte nicht, von Franz wegzusehen. Plötzlich rührte sich seine Faust in der rechten Hosentasche. Die Tasche bauschte sich nach vorne länglich aus, als streckte Russ drinnen einen oder zwei Finger vor. Ein Schweißtropfen fiel Franz von der Stirn auf die Wange. Ohne den Blick von dem anderen abzuwenden, griff er seitwärts, am Kotflügel lag ein schwerer Schraubenschlüssel. Käthe wollte schreien, hinlaufen, aber es ging nicht. Sie war gefesselt, und tief in ihrer Kehle steckte ein Knebel. Plötzlich fuhr in der Stille die Stimme des alten Schmidt zitternd auf. »Meine Herren«, sagte er sehr höflich, fast untertänig, »bitte nicht, meine Herren, Sie kommen nach Stein, meine Herren.« Russ nahm langsam die Fäuste aus der Tasche. Endlich brach ihr der Schrei durch den Knebel. »Franz!«

»Schon gut«, sagte er und wendete endlich einen Blick lang die Augen von Russ zu ihr. Dann atmete er mehrere Male tief aus und ein. Seine Glieder lockerten sich. »Ich hab Ihnen also meinen Standpunkt klargemacht. Daß ich in die Vaterländische Front eintrete, davon kann keine Rede sein. Dasselbe gilt für meine Kollegen.«

Russ war wieder ein eleganter Kavalier, tadelloser Scheitel, stramme Haltung, breite Schultern, groß, fesch, trotz des Glasauges.

»Letzteres stimmt ganz gewiß nicht.«

»Wieso denn nicht, Herr Russ?« (Warum nannte er ihn nicht von Russ oder Herr Rittmeister? Alle taten das, auch die Kunden!)

»Weil Ihre Kollegen heute früh korporativ beigetreten sind.« (Er hatte das näselnde Aristokratenwienerisch, das Franz nicht ruhig anhören konnte.) »Es wundert mich, daß sie Ihnen noch nichts gesagt haben.«

»Stimmt das, Kollegen?« fragte Franz. Der Monteur neben Käthe begann eilig eine Zündkerze auszuwechseln. Keiner antwortete. Russ hatte schon wieder eine Wutgrimasse aufgesetzt. Die Offiziere kommen aus dem Häusel, wenn man ihr Wort anzweifelt. Franz wußte das genau. Warum benahm er sich so unvernünftig?

»Auch du, Genosse Schmidt?« Schmidt brabbelte etwas.

»In meinem Betrieb gibt es keine Genossen, sondern nur Arbeiter, Österreicher! Wollen Sie sich das endlich merken oder nicht?«

»Werd's versuchen, Herr Russ.« Das rechte Lid des Rittmeisters senkte sich wieder.

»Und was sagen Sie jetzt?«

»Ich sag', daß es mich wundert, daß aufrechte Menschen so schnell vor dem Druck zurückweichen.«

Russ ballte die Faust, näselte scharf: »Und?« Franz lächelte spöttisch und maß ihn von Kopf bis Fuß. Käthe wußte jetzt, daß es ganz gleichgültig war, was die zwei einander sagten. Mit dem Tonfall allein, mit dem Gesichtsausdruck allein reizten sie einander bis aufs Blut. Sie verstand nicht diese geheimnisvolle Feindschaft, aber sie versuchte, sich in sie einzufühlen, und weil sie Franz seit einer Stunde mehr liebte als je und in diesen Minuten am stärksten, begann auch sie Russ zu hassen, als hätte sich alles, was in der Welt gehaßt werden mußte, in seinem eleganten, stramm-schlenkrigen Körper vereinigt.

»Und?« sagte Franz. »Mir macht Terror keine Angst.«

»Genauso weit waren wir schon vorhin.« Russ machte mit seinem Offiziersgang, drohend geduckten Schultern, Fußspitzen leicht auswärts, zwei Schritte auf Franz zu. »Genauso weit.«

Käthe dachte: »Wenn Männer sehr aufgeregt sind, wird ihre Stimme meistens sehr lächerlich.« Im selben Augenblick begriff sie, was drohte. »Nein«, dachte sie und schluckte die Angst mit einer Menge Speichel hinunter.

»Da wundert's mich direkt, Seidel, daß ein Herr wie Sie, in einem Betrieb, wo solcher Terror herrscht, drei Jahre, zwei Monate und zehn Tage arbeiten konnte...«

»Wie? Ah, so meinen Sie das!« Franz schmiß sich herum, das Gesicht zu den Mechanikern. »Genossen, habt ihr's gehört? Ich bin Betriebsrat, und er droht mir mit der Entlassung! Das ist ungesetzlich! Laßt ihr euch das gefallen, Genossen?«

»Nein«, dachte Käthe mit aller Kraft.

Der alte Schmidt begann sehr schnell zu sprechen: »Herr Rittmeister, das wäre ungesetzlich. Das wissen Sie selbst. Einen Betriebsrat dürfen Sie erst nach einer Verhandlung vor dem Einigungsgericht entlassen. So mir nichts, dir nichts war' das ganz ausgeschlossen. Und die Kollegen – würden – das nicht – die Kollegen würden – bestimmt in diesem Fall – weil – das nämlich ungesetzlich – wär'.« Hastig hatte die Rede begonnen, immer langsamer war sie geworden, während Schmidt nach den Mienen der Kollegen gespäht hatte. Aufgerichtet hatte sich Schmidt, als er begonnen hatte, blitzende Augen hatte er gehabt, und ordentlich jung hatte er ausgeschaut. Immer mehr hatte er sich dann verkrümmt. Kann ein Mensch in fünf Sekunden so altern? Die Rede endete im Brabbeln eines Greises.

»Nein«, sagte Käthe leise und ballte die Fäuste.

»Ein kleiner Betrieb, Fräulein«, flüsterte der Monteur, »ein Dutzend Angestellte im ganzen, und die im Büro sind Nazi, müssen's wissen.«

Käthe packte ihn bei den Schultern. Es hieß kämpfen. Sie schrie: »So weit ist's mit euch?«

Der Monteur wurde über und über rot. »Verfluchte Zeiten«, murmelte er, »verfluchte Scheiße.« Er warf noch einen zögernden Blick auf die andern. Wie man sich im Trommelfeuer deckt, so hatten sie sich hinter den Autos verkrochen. Sie waren auf einmal fleißig und schweigsam, als bekämen sie Akkordlöhne. Da senkte auch er den Kopf zu der kaputten Zündkerze.

»Genossen«, begann Franz wieder.

Als Russ zum ersten Mal aufbrüllte, verstand ihn niemand. Es klang gerade so, wie wenn einer (nicht Russ, sondern ein ganz unbekannter Mann) Hilfe geschrien hätte. Aber beim zweiten Mal erkannte man's schon. »Raus!« schrie Russ.

»Das ist ganz unmöglich«, dachte Käthe eilig, »ganz unmöglich, so schreit man nicht ›Raus‹, so schreit man ›Hilfe‹, das ist ganz klar, er schreit ›Hilfe‹.« Nichts auf der Welt erschien ihr selbstverständlicher, eindeutiger.

Da wies Russ mit dem Finger geradewegs auf das leuchtende Schild »Ausfahrt«.

Die Stimme, die ihr vor tausend Jahren lächerlich vorgekommen war, heulte zum dritten Mal: »Raus!«

Käthe sah plötzlich die Garage nicht mehr als Ganzes, sondern die Gegenstände in wirrer Folge eins nach dem andern. Als wäre das Ganze ein Zusammenlegespiel, das sich auseinandergeschoben hatte. Sie sah: eine Glastür »Direktion«, ein Schild »Ausfahrt«, einen Chauffeursitz, ein rundes Markenschild, »Steyr«, einen Rücken im Overall, ein grünes Glasauge, einen Schraubenschlüssel, dann ging's immer schneller im Kreis: Schraubenschlüssel, Glühbirne, Pneumatik, Ölkanne, Benzinpumpe, Ausfahrt, Einfahrt. »Halt«, dachte sie, »sonst werd' ich schwindlig.« Ihr Blick klammerte sich im Vorbeisausen an eine Blonde im Automantel. Die Dame lächelte von der Wand. Unter ihr stand:

Selbst chauffieren ein Genuss.
Lernen Sie's bei O. von Russ!

»Ganz unmöglich«, dachte Käthe. Hinter der Dame parkte auf der Wand ein rotes Kabriolett, und hinter dem Kabriolett ragte ein grüner Berg. »Der Leopoldsberg«, dachte Käthe.

 

Erst als sie schon eine Weile stumm kreuz und quer durch die Straßen gegangen waren, traute sie sich zu fragen, ob alles aus sei.

»Der Schuft!« rief er. »Er hat gewußt, wenn er mich fristlos und ohne Abfertigung kündigt, verliert er den Prozeß, weil die Kollegen für mich aussagen werden. Weißt du, was er gemacht hat, nachdem du hinausgelaufen bist? Ins Büro hat er mich kommandiert. Hat das Geld für die Kündigungsfrist und die Abfertigung, zwei Monate Lohn, auf den Tisch geschmissen. ›So! Damit ich mich nicht mit Ihnen vorm Gewerbegericht herumschlagen brauch! Sie haben mich zwar zu beleidigen versucht, und ich könnte Sie ohne einen Groschen wegschicken, aber es wäre mir widerlich, Ihnen eventuell noch vorm Gericht begegnen zu müssen. Das Geld schenke ich Ihnen.‹ Kehrt Euch, marsch! Kalt wie ein Fisch hat er das gesagt. Und man kann so einem Dreckskerl sein schäbiges Geld nicht einmal ins Gesicht schmeißen, dazu braucht man's viel zu sehr, und man kann nicht einmal – gar nichts kann man tun –« »Du bist doch Betriebsrat. Du kannst ihn klagen.«

»Was schert sich heutzutage so ein Sturmscharmacher ums Betriebsrätegesetz? Daß ich von Terror gesprochen hab, kann ich nicht ableugnen. Ah, der möcht's sich schon richten.«

»Aber die Kollegen –«

»Hast sie eh gesehen, vorhin. Ich nehm's ihnen nicht übel. Der Russ hätt sie alle hinausgeschmissen. Das haben wir davon; daß wir das Streikverbot schön brav geschluckt haben. Oh, der haßt mich! Aber, seine Fotzen wird er sich von mir noch fangen, jetzt, wo ich sein Geld schon in der Tasche hab, das schwör ich dir. Und wenn's einmal kracht und er lauft mir in die Quer...«

»Solltest du's nicht doch mit der Klage versuchen, Franz?«

»So gib schon Ruh, wenn's keinen Zweck hat!« schrie er ärgerlich. »Du weißt es ja grad so gut wie ich. Was sekkierst du mich? Der Posten ist futsch.«

»Futsch«, dachte sie. »Aber daraus folgt gar nichts. Andere sind arbeitslos und kriegen auch Kinder. Man darf halt kein Feigling sein.« Alles andere war Unsinn? Sie erschrak. »Was war Unsinn? Wer hat denn was vom Nichtkriegen gesprochen? Und wen will ich überzeugen?« Plötzlich stürzte in ihrer Seele etwas zusammen, mit stummem Getöse. Das war unerwartet, unglaubhaft, wie der Einsturz eines großen Hauses in einem Erdbeben. Aber sie schaute und horchte von dem Einsturz weg. »Wir werden mutig sein«, dachte sie. »Wir werden uns durchwurschteln. Was braucht schon so ein kleines Kind? Und jetzt muß er's endlich auch wissen.«

Sie begann: »Franzl, ich hab dir etwas sehr Wichtiges zu sagen.«

»Bitte.«

Ja, aber das übrige Sprüchlein paßte nicht mehr. Alles mußte jetzt ganz anders erklärt werden. Der Gedanke: ich will das Kind haben, schaut jetzt ganz fremdartig aus. Sie suchte neue Worte, aber sie stieß immer wieder auf das alberne unpassende Sprüchlein, bis sie sich ergab und begann, es tonlos abzuleiern.

»Ich hab dich 8 Wochen lang angeschmettert, Franzl.«

»Schon gut«, sagte er. »Ich versteh schon.«

Es kam ein langes Schweigen. Sie dachte: »Wir werden mutig sein. Wir werden uns durchs Leben schlagen, zu dritt. Schließlich ist man nicht sein ganzes Leben lang arbeitslos. Der Franz hat den Lohn auf 2½ Monate voraus. Erspart hat er sich auch schon was, das reicht fürs erste. Dann wird der Peter noch lange Zeit klein sein, was braucht schon so ein kleines Kind, dann werden andere Zeiten kommen. Andere sind auch arbeitslos, haben arbeitslose Männer und werden doch Mütter.« Aber dann erinnerte sie sich unter großen Qualen an alles, was sie diesen arbeitslosen gepeinigten Müttern gepredigt und vorgeworfen hatte. Hatte sie, Käthe, das alles gesagt? Ja. War sie, Käthe, die arbeitslose Mutter? Ja. Wer von den beiden hatte recht? »Unsinn«, dachte sie. »Feigheit!« Dann erinnerte sie sich an die Kinder aus dem AKH. An die Kinder der arbeitslosen Mütter wie sie –

Dann merkte sie, daß er sie wieder vor die Garage geführt hatte.

»Wart hier auf mich, Käthe.«

»Was willst du drinnen, Franz, um Himmels willen, bring dich nicht in Unglück!«

»Kannst ruhig sein«, antwortete er. Er schaute mehr tot als lebendig aus. »Ich geh zum Russ und erklär mich bereit, in die Vaterländische Front einzutreten. Vielleicht hilft das noch was, wenn er sieht, wie ich mich vor ihm – vor ihm –« Er brachte, sie verstand nicht wie, ein Lächeln zustande, zögerte, schaute sie fragend an, verschwand.

Gegenüber der Garage war eine elektrische Uhr, die auf ½8 Uhr zeigte. Käthe hob den Blick zum Zeiger und faltete die Hände, wie Kerzelweiber vor dem Kruzifix. Zwei Minuten lang betete sie zum Zeiger. Dann brach eine Sturzflut von Scham über sie. »Und ich hab ihn gehen lassen. Ich hab geduldet, daß er sich verkaufen geht! Daß er sich demütigen geht, vor dem Russ, vor dem Russ! Ja, um Gottes willen, bin ich denn ganz wahnsinnig geworden? Ja um Gottes willen – was – ist – mir – eingefallen?« Sie erstickte. Eine Straßenbahn schepperte heran. Auf die Schienen schmeißen, befahl sich Käthe. Die Straßenbahn fuhr vorbei. »Oh, ich bin feig, feig, feig!« Sie weinte.

»Komm«, befahl Franz plötzlich hinter ihr und zog sie fort.

Die Hoffnung verschlug ihr den Atem. »Hat er dich wieder aufgenommen?«

»Er hat mir ins Gesicht gelacht. Dann hat er ein paar Minuten geschwiegen, er wollte den Triumph genießen. Dann hat er mich rausgeschmissen. Ich geh jetzt ins Wirtshaus.«

Sie litt in großen Schmerzen, die regelmäßig anschwollen und abflauten wie Ebbe und Flut, wie Wehen. Wenn Ebbe war, konnte sie denken. Sie dachte: »Hoffentlich tut die Abtreibung nicht so weh wie das jetzt.« Sie dachte, und alles funktionierte weiter, der Straßenverkehr, der Atem, das ganze Leben: »Unmöglich, daß alles ruhig weitergeht, das muß ein Irrtum sein, der Irrtum muß gutgemacht werden. Jetzt versteh ich, warum Leute Selbstmord verüben.« Sie dachte: »Trotzdem! Fester Entschluß!«

Sie sah: Der Franz kommt nach Haus, und das warme Wasser ist schon vorbereitet, und die Glyzerinseife liegt daneben, damit das Schmieröl von der Haut runtergeht. Der Franz streift das Hemd ab, steht bei der Waschschüssel, Gesicht, Ohren, Hals, den ganzen Oberkörper voll Seife. Sie fragt, was es Neues gibt in der Garage, ob er sich mit dem neuen Chef verträgt, und er lächelt und sagt: Ja, wunderbar. Sie führt ihn an die Wiege, aber vorher muß er sich die Genagelten ausziehn, weil der Peter schläft.

Aber Franz' Lächeln, die Wiege, der Schlaf des Kindes, das alles lag hinter einem Schleier von Qual, weil Käthe ununterbrochen wußte: Es ist nur ein Wachtraum, ein kläglicher, fiebriger Wachtraum.


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