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Viertes Kapitel

1

Wenngleich Karrierist, hatte Dreher sich bisher um die Fragen von »Glück haben«, »Pech haben« wenig gekümmert. Er betrachtete seinen Aufstieg als historische und damit gerechtfertigte Notwendigkeit: Wie anders könne der Machtzuwachs des Proletariats sich äußern als dadurch, daß es seine besten Söhne die Sprossenleiter des Staates hinaufklimmen lasse? Und, was das Wettklettern selbst betraf, hatte es in diesem Lande weit weniger den Charakter eines Hasardspiels als etwa in der französischen Demokratie. Listenwahlrecht, Zweiparteiensystem, strenge Parteidisziplin – das hieß in diesem Fall: sich langsam hinaufdienen müssen. Nur wer eine genügende Weile auf Bürostühlen gesessen war, hatte sich durchgesetzt und durchgewetzt. Für Eigenbrötler und Renegaten war nichts zu holen. (Auch schon darum nicht, weil die Bourgeoisie hier so arm war, daß sie kaum die eigenen Korruptionisten zu sättigen vermochte.) Das System der Glückssterne verlief in geregelten Bahnen. Kometen waren rar. Daß Dreher 1924, getragen von einem ungeheuren Aufschwung der Wahlstimmen (damals fehlten, so schrieb Otto Bauer, nur 300 000 zur Einführung der klassenlosen Gesellschaft in Österreich), als Vierziger ins Parlament gelangt war, galt schon als staunenswert. Doch, einmal arriviert, war man unter solchen Umständen heroben derart gut geborgen, daß auch ihm nicht annähernd der Gedanke kam, er könne je wieder hinunterpurzeln. Und da sein Aufstieg zwar hurtig, aber normgemäß erfolgt war, vermißte auch er in seiner Stellung keineswegs das gesunde Bewußtsein: Ich habe lange genug selbstlos dem Proletariat gedient – jetzt darf ich mit Recht die Früchte ernten. Ja, seine Verbundenheit mit der Klasse war zweifellos stark. Auf jeder der zurückgelegten Stufen, bis zur untersten hinab, besaß er eine Schar dort zurückgelassener, meist neidloser Freunde. Ihm war wohl in den Kommissionen des Parlaments; stattete er aber dem Betrieb einen Besuch ab, so fand er sich dort ebenso zu Hause. Nicht einen Moment lang empfand er einen leeren Raum zwischen sich und den 700 000. Er fühlte sich als Proletarier und war stolz darauf.

Sein Ehrgeiz war auf lange hinaus befriedigt. Höhere Ziele mochten erst in Betracht kommen, wenn eine Koalitionsregierung aktuell würde. Davon war seit der intransigenten Haltung des Kabinetts Buresch, abgesehen von einigen sehr vagen Besprechungen bei Bildung des Kabinetts Dollfuß, keine Rede gewesen. Was ist aus alldem verständlicher, als daß die Probleme von Geschick und Mißgeschick ihm wenig am Herzen lagen? Nüchtern sah er seinem nüchternen Schicksal ins Gesicht.

Dies aber muß hier darum betont werden, weil in den Märzwochen ein geradezu abergläubischer Gedanke sich in Drehers Kopf festsetzte: Mit dem bewußten Besuch am 11. Februar habe Dworak ihn demoralisiert, mit irgendeiner Mißlaune angesteckt, mit läppischen Sorgen arbeitsunfähig gemacht, ja, irgendwie sein körperliches Wohlbefinden gestört. Kurz, das lief schon fast auf den Glauben an einen »bösen Blick« hinaus. Selbstverständlich war daran nichts haltbar als eben die Tatsache, daß der Lokomotivführer ihn in einem unglücklichen Moment auf einen wunden Punkt seines Lebens und seines Selbstbewußtseins getroffen hatte, indem er jene Angelegenheit des Jahres 24 wieder auftauchen ließ. Untertags hielt Dreher seine Verdächtigungen denn auch für puren Unsinn. Aber nachts spann er an ihnen weiter, beim Nichteinschlafen-Können, wenn selbst der Verantwortlichste sich im Halbtraum solch unverantwortliches Zeug erlaubt. Als robusten Egoisten zog es ihn an diesen Tagen unwiderstehlich zu derartigen Gedanken. Denn in eben diesen Tagen klappte plötzlich verschiedenes mit ihm nicht. – – Ja, das wußte er selbst, darauf liefen all die ungewohnten Hirngespinste hinaus: Er war außer Form geraten. Er war ganz und gar nicht in der idealen Verfassung, um sich dem Gewimmel der politischen Ereignisse zu stellen, die jetzt überfallsartig hereinbrachen. Bald nach dem Anfall von Depression, dem er zufällig gleichzeitig mit Dworak unterlegen war, hatte er körperliches Unwohlsein verspürt; ein Unbehagen des Magens nach den Mahlzeiten, heftiges Aufstoßen, leichtes Sodbrennen. Vielleicht war das nichts Neues bei ihm, und er mochte solche kleinen Beschwerden früher einfach nicht wahrgenommen haben. Jetzt ging er sogleich zum Arzt. Der Arzt stellte Überschuß an Magensäure fest. Das sei nichts Ernstes, trete häufig bei vielbeschäftigten Männern auf und sei wahrscheinlich die Folge zu wenig gründlichen Kauens. Er verordnete ein Pulver. Vorsichtig und unter verlegenen Scherzen über jenes scheußliche Mißgefühl befragt, erklärte der Doktor, auch das sei nichts Gefährliches. Männer im Klimakterium seien oft Opfer solcher seelischen Erscheinung. Natürlich hänge deren Schwere zum Teil von äußeren Umständen ab. Während er das Pulverrezept gegen die Magensäure aufschrieb, fügte er lächelnd hinzu: »Wegen Ihnen mach ich mir keine Sorge, Herr Nationalrat. Wenn die politische Lage so gesund wäre wie Sie –«, und er benützte die Gelegenheit, um den einflußreichen Mann über die Parlamentskrise auszufragen und darüber, »was überhaupt diesem unglückseligen Österreich bevorsteht «. Denn die Untersuchung erfolgte am 8. März, und nachts vorher hatte die Regierung die Vorzensur verhängt, politische Kundgebungen verboten und der Staatsanwaltschaft das Recht dekretiert, Zeitungen ohne Gerichtsentscheid zu konfiszieren, was ein offener Verfassungsbruch war.

»Das ist es ja!« seufzte Dreher, als er, nur wenig beruhigt, die Ordination verließ. »Die äußeren Umstände –«, und wieder fragte er sich, warum er in drei Teufels Namen nach so viel gesunden Jahren gerade in diesen Tagen hatte krank werden müssen und warum er jetzt, statt sich pflegen zu dürfen, hundert wichtige Entscheidungen aufgebürdet bekam. Dieses Zusammentreffen seiner persönlichen Schwächeperiode mit einer politischen Krise, und mit einer verflucht ernsten dazu, brachte ihn dermaßen aus der Fassung, daß es sich allein schon zu einer Separat-Krankheit auswuchs. –

Auf der Straße wartete das Auto. Es war ein Wagen, der höheren Funktionären, welche keinen eigenen besaßen, nötigenfalls zur Verfügung stand. In diesen Tagen fuhr meist Dreher darin. Die Situation hatte ihn, den bewährten »Packler« zu einem der wichtigsten Männer in der Partei gemacht. Er wußte es und wußte, daß man von ihm jetzt Leistungen verlangte. Während der Wagen ihn zum Parteihaus fuhr, versuchte er, sich zu konzentrieren. Seit dem 5. März führte er hauptsächlich mit zwei einflußreichen christlichsozialen Abgeordneten Verhandlungen. Genauer gesagt, hatte er einen von ihnen auf Grund persönlicher Beziehungen dreimal in dessen Wohnung aufgesucht, während er mit dem anderen täglich im selben Gasthaus in der Nähe des Parlaments aß. Obgleich das Abgeordnetenhaus seit dem 4. März nicht mehr zusammentrat, waren beide der Gaststätte treu geblieben. Dreher tat es mit Vorbedacht und auf ausdrückliche Weisung. Denn schon begannen Dollfuß und seine Kabinettsmitglieder jedem Kontakt nach Kräften auszuweichen, und Beziehungen wie diese wurden wertvoll. Der erste Abgeordnete hatte ihm erklärt, er halte die Regierungsbestrebungen, das Parlament nicht mehr zusammentreten zu lassen, für baren Unsinn. (Nur hatte er dies selbstverständlich sanfter ausgedrückt.) Gleichzeitig schien ihm die juristische Begründung der Regierungskreise bei den Haaren herbeigezogen (lächelnd: »aber schon sehr!«). Wenn die drei Parlamentsvorsitzenden, fuhr er fort, etwa bei einem Zugunglück umkämen – wäre dies etwa ein Grund, den Parlamentarismus aufzugeben? (Das war wörtlich eine Argumentation Otto Bauers aus dem Leitartikel. Dreher nahm's für ein gutes Zeichen.) Und wohin solle das führen? Gäbe es denn in Österreich irgend jemand, der an Diktatur dächte? Er sei überzeugt, die Lage werde sich in wenigen Tagen entwirren.

Allerdings war das am 5. morgens gesagt worden, also drei Tage vor dem gestrigen Verfassungsbruch. Noch gestern aber, also am 7. hatte der andere und weit wichtigere zwischen Kalbsgulasch und Linzertorte etwa folgendes erklärt: »Also ich persönlich bin über die Absichten von Herrn Bundeskanzler in dieser peniblen Angelegenheit net informiert. I glaub a net, daß der Herr Bundeskanzler selber – also – äh – gewissermaßen ein festumschriebenes Ziel verfolgt. Soweit meine Informationen reichen, handelt sich's in erster Linie um eine gewisse Ausweitung der Regierungsvollmachten und um eine Reform der Geschäftsordnung, welche eine reibungslose Durchführung gewisser Maßnahmen ermöglichen soll – also net wahr – vor allem budgetärer Natur. Weil, Sie wissen ja, Herr Kollega, daß unser Land diesbehufs net auf Rosen gebettet is' und daß wir in der kommenden Parlamentssession wenig auf die Popularität unserer Gesetze Rücksicht nehmen können.« Dreher, äußerst angenehm berührt vom Ausdruck »kommende Parlamentssession«, hatte eingewendet, daß man besagte Reformen doch unschwer von der Sozialdemokratie erreichen könne. Auch der Sozialdemokratie gehe der Sinn für reale Gegebenheiten nicht ab usw.

»Das sag' ich mir ja auch«, hatte er, der andere, erwidert. »Zweifellos wird's dem Herrn Bundeskanzler auch gelingen, diese gesunde Auffassung gegen den Einfluß gewisser Kreise – Sie verstehen schon, wen ich mein' – durchzusetzen. Leider bin ich zum Beispiel heut früh in nicht mißzuverstehender Weise, also schon direkt gehindert worden, beim Herrn Bundeskanzler vorzusprechen.« Das war wichtig. Dollfuß stand unter dem verstärkten Einfluß der Heimwehr. Dreher war einer der ersten gewesen, die dies mit Bestimmtheit melden konnten. Dollfuß war der Gefangene der Heimwehr. Das hatte sich in der letzten Nacht prompt und drohend bestätigt. Drehers Bitten an jene zwei »demokratischen Elemente«, sie möchten ihren Einfluß geltend machen, waren, wie der Verfassungsbruch bewies, vergeblich gewesen, ebenso wie parallele Aktionen anderer Genossen gemeinsam mit Dreher und separat. Heute, knapp vor dem Besuch beim Doktor, war er in jenem wichtigen Gasthaus gewesen. Der christlichsoziale Kollege war pünktlich erschienen. Nach dem Geschehenen war Dreher schon gefaßt, ihn nicht anzutreffen. Denn dieser Tischgenosse gehörte weder der demokratischen Kunschak-Gruppe an noch dem Kollmann-Kreis, sondern den jüngeren Christlichsozialen etwa um Schuschnigg herum, zu jenen Herren also, die sich »Frontkämpfergeneration« zu nennen liebten und mit einer gewissen Skepsis auf die alten Demokraten ihrer Partei blickten. Es war wichtig, vielleicht entscheidend zu erfahren, wie dieser Mann zum Verfassungsbruch stand. Ob er versucht hatte, die Tat zu verhindern? Und wenn nicht, warum? Weil er nicht wollte oder nicht konnte? Vielleicht wußte er auch, wieweit Dollfuß persönlich inzwischen getrieben war?

Der Mann gab die lächerliche Antwort: »Der Herr Bundeskanzler wird heute in einer Radiorede das Wünschenswerte mitteilen.« Dann blieb er auf alle Fragen stumm wie ein Karpfen. Es war, als hätte der Verfassungsbruch seiner Partei ihm den Mund vernagelt. Hatte er Angst zu reden?

Dreher schlug einen resoluteren Ton an. Er war frühmorgens der Parteivorstandssitzung beigezogen worden. Er wußte, daß man die Gefahr sehr hoch einschätzte und sich zu einer äußerst scharfen Sprache entschlossen hatte. Er teilte dem Christlichsozialen mit, daß man eben einen Aufruf druckte, worin man ziemlich unumwunden, für den Fall, daß das Parlament nicht wiedergewonnen werden könnte, das Volk auf Generalstreik und Revolution vorbereite. Hierauf schlug er sofort die joviale Skala an, die doch seine eigene Spezialität war: Ob das alles wirklich notwendig wäre, ob die Regierung denn die Sache auf die Spitze treiben wollte? Ob man in diesem »verflixten, geliebten Land« keine anderen, keine gemeinsamen Sorgen hätte? – Darauf kam kein Ja und kein Nein, sondern irgendeine gespenstig hohle Redewendung. Vor diesem wortgewandten Schweigen, vor der offensichtlichen Angst des anderen bekam Dreher plötzlich selbst Angst. Ja, erst in diesem Augenblick erschrak er wirklich vor dem, was in dieser Nacht geschehen war. (Bis dahin hatte er keine Zeit dazu gehabt vor tausend hastigen Informationen, Dispositionen, Konferenzen.) Jetzt auf einmal, angesichts dieser behäbigen »Beziehung«, die mit Bierschaum im Schnurrbart Beuschl mit Knödl vertilgte, jetzt, in der Stille des kleinen Extra-Zimmers, stieg vor ihm drohend das Gespenst einer Welt auf, die man sich zur Zeit des Pfrimerputsches unter endlosen Lachsalven bis ins kleinste ausgemalt hatte: die Welt, wo Dorfapotheker sich in allmächtige Landsknechtführer verwandeln, Stammtischreden in Verfassungen, Fabrikanten in Arbeiterführer; Morphinisten, Sadisten, Mordbrenner in Staatsmänner ... Erst jetzt erschrak er zutiefst, was sich drüben in Deutschland abspielte, begriff er mit einem Schlag, daß schon kein historischer Vergleich, keine gewohnte politische Kombination mehr ausreichte, um das Maß jenes Geschehens auszumessen, und daß sehr bald auch die menschliche Phantasie nicht mehr reichen würde. –

Er begriff, was drohte. Seine Eingeweide krampften sich zusammen. Und in diesem Moment (er konnte sich's noch immer nicht verzeihen) hatte er zu sprechen aufgehört, hatte mit dem Kauen innegehalten und versucht, einen halbfertigen Fleischbissen im Munde, in seinen Magen hinein zu horchen. Denn dort rührte sich's, und das Sodbrennen griff mit noch nie gekannter Heftigkeit um sich. Der Christlichsoziale war schon beim Moccaschälchen angelangt. Das war das Stadium, in dem er redselig zu werden pflegte. Dreher versäumte die Gelegenheit. Wohl sprach er – aber zuwenig eindringlich, zuwenig jovial. Auch geschah es, daß er Antworten, die vielleicht wichtige Andeutungen enthielten, halb überhörte. Denn immer wieder nahm ihn sein Magen in Anspruch, und statt an Wichtigeres zu denken, hatte er in dieser vielleicht entscheidenden Viertelstunde beschlossen, nachmittags zum Arzt zu gehen. –

Nun, im Auto, machte Dreher sich Vorwürfe, statt sich zu konzentrieren. Der Parteivorstand tagte in Permanenz. Man erwartete ihn. Was konnte er berichten? Doch nicht etwa das, was ihm das Arbeiten vergällte? Doch nicht das, was sich frühmorgens, bevor er zum erstenmal ins Parteihaus gefahren war, beim hastigen Frühstück abgespielt hatte? (Beim viel zu hastigen Frühstück, von dem die Magensäure kam.) Er konnte doch nicht folgendes referieren: Genossen und Genossinnen vom Parteivorstand! Ich habe zwei Söhne. Fredl und Eduard. Der Eduard ist ein dicker Medizinstudent, den ich aber weniger mag als den anderen, vielleicht weil er mit Hilfe meines guten Namens sich ein bißchen zu früh zum Parteibonzen hinaufstrebert. Der Fredl ist ein 17jähriger Maturant, den ich sehr liebe, vielleicht, weil er so schlank ist und irgendwie nobel ausschaut, so daß ich mich manchmal wundere, woher er das hat. Und heute früh, wie ich ihm beim Frühstück die Zeitung zustecke, mit der Nachricht vom Verfassungsbruch, da entschlüpft ihm plötzlich ein »Bravo!«. Ich sperr vor Staunen das Maul auf und frage ihn, ob er verrückt ist. Er wird puterrot, stottert herum und fährt mich plötzlich an: Jawohl, sehr gescheit, daß man jetzt fremde Staatsoberhäupter nicht mehr straflos beleidigen darf. Da werden sich's die Juden jetzt überlegen, bevor sie den Hitler weiter angeifern! – Ich stelle ihn zur Rede. Er ist wie im Rausch. Er schreit mir ins Gesicht: »Ja, ich bin ein Nazi! Ein SA-Mann, und in einigen Wochen weht über Österreich die Hakenkreuzfahne!«

Ich, Josef Dreher, gestehe, daß ich die Juden auch nicht besonders mag, aber daß in meinem Haus, mein Fleisch und Blut–

Das kann ich denen doch nicht referieren, dachte Dreher, von Wut und Schmerz zerfressen. Es gibt ja Wichtigeres: Ich war nicht jovial genug mit dem Pfaffenknecht, mit dem jesuitischen. O verfluchte Hetz noch einmal! In dieser Aufwallung spie er auf den Teppich des Austro-Daimler. Als er die Spucke mit dem Fuß verwischte, bemerkte er im Speichel winzige Blutfäserchen. Er nötigte sich, das Ereignis kühl und sachlich zu betrachten wie ein Fremder, wie ein Arzt. Er dachte: Magensäure? Das schaut nicht nach Magensäure aus. Merkwürdig – aus dem Krieg bin ich ohne einen Kratzer heimgekommen; als Lokomotivführer habe ich im schweinischsten Sauwetter höchstens hie und da einen Schnupfen gekriegt; als Abgeordneter bekomme ich eine Berufskrankheit und alles ausgerechnet in diesen Tagen. Und alles auf einmal.

Er sah, daß er schon über den Ring fuhr und bald im Parteihaus sein mußte, jetzt aber Schluß mit dem Blödsinn, sagte er sich mit einem Ruck. Er zwang sich, über die neuentstandene Lage nachzudenken und die möglichen Folgen zu erwägen. Doch lief alles, was er dachte, auf die eine, eigentlich recht unwichtige Frage hinaus: Wozu das Ganze?

Wozu? Die ganze Situation war von der ersten Minute an ebenso gefährlich wie läppisch gewesen. Jetzt wurde sie lebensgefährlich und dabei im Grunde immer lächerlicher. Diktatur? Wer wollte eine Diktatur? Etwa Dollfuß? Der gewiß nicht. Seine Umgebung? Dreher war überzeugt: Wenn man nur Gelegenheit hätte, jedem einzelnen aus dieser so rätselhaft gewordenen »Umgebung« die Frage ad hominem zu stellen – niemand würde geradewegs ja sagen. Außer den Heimwehrführern. Und auch da gab's einige, die immer mit sich reden gelassen haben. Weiteres: Wo war der Diktator?, der österreichische Hitler? Wieder Dollfuß, der kleine Herr Dollfuß als Diktator. Weniger lächerlich, als es bis vor kurzem geschienen hatte, aber doch sehr unwahrscheinlich. Die Autorität des kleinen Mannes war selbst in seinen Kreisen nicht größer als er. Der Lebemann Starhemberg? Da lachte man selbst in dieser bitteren Zeit. Weiteres: Was konnte die Bourgeoisie trotzdem zur Diktatur treiben? Das Budget, die »unpopulären« Sparmaßnahmen? Allerdings – damit hatte man ihnen Schwierigkeiten gemacht, aber keine allzu großen. Einige Male hatte man die Regierung sogar eigenhändig vor dem Sturz bewahrt: Man hatte die Lausanner Anleihe toleriert, die opferreiche Sanierung der Creditanstalt, die Sanierung der Bundesbahnen; man hatte den Massenaussteuerungen wahrhaftig keinen allzu heftigen Widerstand entgegengesetzt, und endlich, am 1. März, hatte man's bei einem zweistündigen Demonstrationsstreik bewenden lassen. »Dank vom Hause Österreich«, knurrte Dreher erbost. Aber man wollte nötigenfalls noch nachgiebiger sein. Auch die Regierung wußte das. – Oder sie wurden diktatorisch, weil sie Angst vor den Nazis hatten? Gegen die konnte niemand besser helfen als die Partei der 700 000 oder der 41%. Oder handelte es sich um eine Anbiederung an Hitler? Vielleicht? Aber, soviel Dreher wußte, waren die ewigen Verhandlungen zwischen Nazi und Regierung nicht intensiver geworden. Und war es denkbar, daß Kollmann, Kunschak, der kleine Klerus – kurz die demokratischen Gegenkräfte – da mittun wollten? Vielleicht war Mussolini der Anstifter? Aber ebensosehr wie von ihm war die Regierung von Frankreich abhängig (wenn nicht sogar stärker, infolge der Lausanner Anleihe). Und Fritz Adler hatte von Leon Blum erfahren, daß Dollfuß dem Ministerpräsidenten Daladier feste Zusicherungen betreffs der österreichischen Demokratie gemacht hatte.

Fazit: Nichts wirklich Zwingendes lag vor, zur Diktatur zu greifen. Ihre Chancen waren gering. Nur wenige im Lager der Bourgeoisie wollten sie. Kein Diktator stand zur Verfügung. Wozu also das Ganze? Sooft Dreher in diesen Tagen die Lage durchdachte, kam er zu demselben Ergebnis. Er sah für seine Partei noch eine Unzahl unerschöpfter Möglichkeiten, die Arbeitsgemeinschaft mit der Bourgeoisie (welche Arbeitsgemeinschaft ihm längst eine wohlbegründete Notwendigkeit zu sein schien), weiter zu führen. Denn, dachte er, Österreich ist nicht Deutschland. Noch einmal also: Wozu das Ganze? Und doch waren auf dem Ballhausplatz hunderterlei Kräfte am Werk. Keiner schob dort alle anderen, sondern höchstens den Vordermann. Wahrscheinlich wußte keiner genau, was er wollte, keiner nahm die ganze Verantwortung auf sich, keiner dachte den ganzen Gedanken zu Ende. Ja, sie arbeiteten wahrscheinlich einander, wie immer, in ungezählten Cliquen entgegen. Und das Ergebnis war ein eklatanter Verfassungsbruch. So war die Lage: lächerlich und überaus gefährlich.

Was tun?

Als Dreher vor dem Parteihaus ausstieg, mürrisch, nervös, mit angegriffenem Selbstbewußtsein, »ein kranker Mensch« (wie er sich im geheimen schon nannte), antwortete er laut vor sich hin: echt österreichisch!

Das war alles, was er wußte.

2

Hätte ein Untersuchungsrichter kurz nach diesen Märztagen Dreher die Frage gestellt: »Was haben Sie in der Woche vom 8. bis zum 15. gemacht?« – so hätte der Abgeordnete, um genau Bericht geben zu können, die Dinge erst mit großer Mühe rekonstruieren müssen. Ja, nicht einmal an den Abenden der einzelnen Tage konnte er sich über das eben Verflossene präzise Rechenschaft geben. Sein Gesamteindruck war: ein atemloser Wirbel verschiedenster Konferenzen, die allesamt äußerst wichtig waren, sich allesamt um Fragen von Leben und Tod bewegten; und allesamt irgendwie provisorisch verliefen, allesamt mit dem gleichen Wort schlössen: »Wenn ...«

Ja, jetzt machen wir zweifellos Geschichte, dachte Dreher einige Male beim Nicht-einschlafen-Können. Aber wodurch sie eigentlich Geschichte machten, welche von all den Entscheidungen sich als die mit »der historischen Tragweite« erweisen mochte, das blieb im Hin und Her der vielen Fragen, welche in seinem Kopf herumwirbelten, vorläufig unklar. Das 18er Jahr hatte er aus einer anderen Perspektive erlebt. Nun fragte er sich: »Vielleicht war's auch damals so? Vielleicht ist's überhaupt immer so, wenn man Geschichte macht?«

In den Büros des Parteihauses und vor allem in den Redaktionen der »Arbeiter-Zeitung« und des »Kleinen Blattes« verlief die tägliche Geschäftigkeit unter höchstem Dampfdruck. Es herrschte übermütige Kampfstimmung. Überall fing er Satzbrocken folgender Art auf: »Wir werden's ihnen schon zeigen, daß Österreich nicht Deutschland ist.« – »Ja, Kinder, jetzt geht's an.« – »Jetzt hört sich der Spaß auf!« – »Bei uns herüben weht halt eine andere Luft, das werden die Herren schon merken ...« usw. Als die »Arbeiter-Zeitung« mehrmals konfisziert wurde, mit weißen Flecken erschien, in den Landtagen immunisiert werden mußte, steigerte das die Kampflust der Redakteure noch mehr; über den Zeitungsköpfen druckten sie die Worte: Unter Vorzensur. Die Schlagzeile verkündete täglich gleichlautend » Die Abwehr...« Die kleinste Lokalnotiz wurde im Tatenfieber verfaßt. Dreher verachtete Schreiberseelen. Er machte, daß er hier schnell vorbeikam. Meist hatte er im dritten Stock zu tun, wo der Parteivorstand tagte. Auch hier ließ die Stimmung zunächst nichts zu wünschen übrig. Als Defaitisten betätigten sich allein die Niederösterreicher, die Rechtesten der Rechten. »Der Dollfuß«, prophezeite einer ihrer Anführer, der mit dem Kanzler die Volksschulbank gedrückt hatte und aus diesem Grund Träger vieler Hoffnungen geworden war, »Dollfuß wird nicht umfallen. Wir müssen ihm schon jetzt mehr entgegenkommen.« Er setzte sich nicht durch. Otto Bauers Linie »schärfster Ton« fand allgemeine Zustimmung. Man war überzeugt, daß Dollfuß umfallen würde. – Vom Beginn der Parlamentskrise an beobachtete Dreher sehr scharf den Parteiführer; er hatte zu Otto Bauer kein unbeschränktes Vertrauen. Erst nach dem Tode Victor Adlers war Otto Bauer, der Oppositionelle von 1916, zum unbestrittenen Selbstherrscher aufgestiegen. Die Katastrophe im Juli 27 hatte seine Autorität gewaltig erschüttert. In der Periode der Neukonsolidierung hatte sich diese Autorität allmählich wieder aufgerichtet. Nun, als Dreher begriff, daß wieder eine Zeit der Taten und Entschlüsse hereingebrochen war, blickte er zuallererst prüfend auf Bauers Gesicht. (Es war breit, seit einigen Jahren glattrasiert, schon von feinen Runzeln bedeckt, die die Ausdrucksfähigkeit erhöhten; Nase und Mund waren scharf geschnitten; das Lächeln zumeist gütig oder schlau; der Ausdruck oft konzentriert nachdenklich; im Typus konnte es als Gesicht eines Gelehrten oder eines älteren Charakterschauspielers von der Art Emil Jannings gelten.) Dreher, als »kranker Mensch«, stand der allgemeinen Stimmung skeptisch gegenüber; seine eigene war miserabel. Er konnte sich nicht einer Welle von Mißtrauen enthalten, die jetzt plötzlich wieder in ihm gegen Bauer aufstieg. Er erinnerte sich, daß Bauer in jenem Juli den Nervenzusammenbruch Julius Deutschs nur sehr unzureichend wettgemacht hatte. Er erinnerte sich, daß Bauer Jude war, er bemerkte wieder Bauers fremdländischen Akzent. Er dachte: »Das hätte er sich aber ruhig abgewöhnen können, wo er schon so lange bei uns lebt. Angeblich ist das Prager Deutsch. Wer's glaubt, wird selig. Kann er nicht anders, oder will er nicht? Ist er ein österreichischer Arbeiterführer oder ein zugereister Bücherschreiber? Schon einmal hat er uns hineingeritten mit seiner Säbelraßlerei. Immer macht er die Regierung nervös mit seinem Radikalismus. Und wenn's zu den Konsequenzen kommt, steht er da und kriegt das Problematische, der Herr Theoretiker.«

Allerdings, das mußte Dreher sich eingestehen, stand Otto Bauer allem Anschein nach diesmal sehr ruhig und zielbewußt da. Vielleicht nahm er sich zusammen, weil alle Augen nun wieder auf ihn gerichtet waren. Als einen der ersten zog er Dreher am Morgen nach dem Verfassungsbruch beiseite: »Also, Genosse Dreher, wie ist die Stimmung bei den Eisenbahnern?« Der Gefragte wußte, daß Bauer ihn als einen Mann der Praxis sehr schätzte. Er vermutete sogar, daß der Theoretiker vor Männern von Drehers Schlag gewisse Minderwertigkeitsgefühle hegte. Doch war das nur eine Vermutung, und trotz aller persönlichen Antipathie machte ihn Bauers Vertrauen jedesmal ein wenig stolz. Er antwortete vorsichtig. Denn in solchen Zeiten mußte man höllisch aufpassen, sonst war man auf ja und nein an allem schuld. Er schloß: »Wenn's losgehen sollt, gehen die Eisenbahner mit.« Und stellte sofort die Gegenfrage: »Also, wie ist's mit dem Generalstreik?« Bauer sagte: »Ja, also die Presseverordnung von heute nacht ist ja keinesfalls ein möglicher Anlaß. Pressefragen bringen die Massen nicht in Erregung. Wir dürfen solche Fragen von unserem Schreibtisch aus nicht überschätzen.«

Dreher fand diese Ansicht sehr vernünftig. Er erkundigte sich, was man nach Bauers Meinung also zunächst machen sollte.

»No schaun Sie, Genosse«, sagte Bauer, »wir können den Herren in den Landtagen sehr unangenehm werden. Wir werden auch den Hauptausschuß ausnützen müssen. Wir müssen zunächst alle legalen Mittel versuchen. Wenn das vergeblich ist, so ist ja allen Genossen klar, was wir zu tun haben.«

Wir wurden ihnen in den Landtagen unangenehm. Der niederösterreichische und der steirische stimmten mit Majorität gegen die Regierung. Der Wiener Landtag rief aus: »Die Regierung ist nicht in der Lage, irgendeine Vorlage zu nennen, die sie ernstlich angestrebt hat und die der Nationalrat nicht erledigt hätte. Das freie Land Wien wird sich nicht knechten lassen! Die österreichische Arbeiterschaft wird dem Totentanz der Demokratie nicht ruhig zusehen, sondern sich mit Leib und Leben gegen jeden Versuch wehren, die Diktatur gegen die arbeitenden Menschen aufzurichten.« Der letzte der drei Präsidenten des Nationalrats, der großdeutsche Abgeordnete Straffner, berief nach Beratung mit Renner das Hohe Haus für den 15. des Monats zusammen. Die Regierung erwiderte lächerlicherweise, »das sei eine Verfassungsbeugung«, die sie verhindern werde. Und wie das? Man erfuhr: nicht auf gewaltsame Weise. »Also dann – auf welche Weise?« Man mobilisierte die Massen. Bauer hielt vor einer tobenden Versammlung der Wiener Vertrauensmänner eine Rede, die wahrscheinlich zu den gewaltigsten seines Lebens gehört. In der Massenversammlung der Jugend rief ihr Sekretär Kanitz: Ihr werdet die Freiheit mit Eurem jungen Leben verteidigen.« 482 Sektionsversammlungen (infolge der neuen Verordnung als Versammlungen für geladene Mitglieder kaschiert) wurden gleichzeitig in Wien abgehalten. Die ganze Provinz war in Bewegung. Die Reichsvorständekonferenz der Freien Gewerkschaften ermächtigte feierlich und leidenschaftlich den Bundesvorstand, nötigenfalls den Generalstreik auszurufen. Hier ergriff Dreher das Wort. Wie alle Redner dieser Tage fand er aufrüttelnde Formulierungen. Er schrie seine ganze Empörung hinaus: »Wir haben noch am 7. der Regierung unsere ehrliche Mitarbeit angeboten! Wir haben anerkannt, daß außergewöhnliche Zeiten außergewöhnliche Maßnahmen erfordern, und waren bereit, der Regierung die Möglichkeit zu solchen Maßnahmen zu geben! Was war der Dank? Was war die Antwort? Ein Verfassungsbruch. Genossen! Warnend steht vor unseren Augen das Beispiel des 20. Juli 1932 in Preußen. Aber hier in Osterreich werden wir keinen solchen Tag erleben! Wir weichen nicht der Gewalt! Wir werden uns nicht von einem Leutnant und drei Mann einschüchtern lassen! Wir werden nicht auf den Eid irgendeines Hindenburg vertrauen, bis es zu spät ist! Genossen! Im Namen von 40 000 Eisenbahnern verspreche ich euch, daß an dem Tage, wo jemand es wagt, die österreichische Demokratie anzutasten, daß an diesem Tag auf allen Strecken des Landes die Räder stillstehen.« Er hatte kaum Zeit, das Ende des Beifalls abzuwarten. Der Stadtrat Danneberg wartete draußen schon auf ihn, und wieder ging's zu einer der zahllosen Verhandlungen. Denn die Verhandlungen waren's, die Dreher täglich 10–12 Stunden in Anspruch nahmen. In diesem entfesselten Klassenkampf gehörte er zur Kompanie derer, die allen in Betracht kommenden Bürgerlichen die Türen einzurennen hatte. Der ganze Generalstab wußte: dieser Frontabschnitt ist bis auf weiteres der wichtigste. Hier wurden die Attacken von Danneberg dirigiert. Danneberg, obgleich Jude, war dem Gewerkschaftsführer sympathisch. Diese Abart mochte er gut leiden. Der da war kein abstrakter Theoretiker, kein Säbelraßler. Über den Budgetberechnungen der Gemeinde Wien leistete er Wunder an Fleiß und Hingabe. Ein großer Rechenmeister! Und welch ein Verhandlungskünstler. Neben ihm war selbst Dreher an den grünen Tischen nur ein Statist. Er achtete Danneberg von jeher. In dieser Woche lernte er ihn fast verehren. Denn man hatte es verflucht schwer, als »Packler«, ja, entschieden so schwer, wie noch nie. Sie kamen zum Vizekanzler Winkler, dem Führer der nationaldemokratischen »Landbund-Partei«. Winkler hatte zur Sozialdemokratie immer vertrauliche Querverbindungen gepflegt. Er zuckte die Achseln. »Wenn Sie wüßten, meine Herren, wie ich jetzt im Ministerrat dastehe! Wissen Sie, daß ich heute schon wieder nicht beigezogen bin? Hüten Sie sich vor dem Fey, meine Herren. Das ist ein noch viel gefährlicherer Intrigant, als wir bisher dachten. Ich denke stark an Demission.« Sie kamen zum Sozialminister Resch. Die österreichischen Arbeitslosen haßten ihn fast ebenso wie Hitler. Aber Resch war ein guter Demokrat. Er hatte immer Fühlung mit der Freien Gewerkschaft behalten. Auch war er persönlich sympathisch und, bei seiner unerhört grausamen Aussteuerungspraxis, von humanen Anschauungen. Er lächelte: »Ich kann Ihnen nimmer helfen, meine Herren, hab eben demissioniert. Wenn's wüßten, was am Ballhausplatz vorgeht – na! Ich bin schon zu alt für so was.«

»Also, wird die Regierung das Parlament zusammentreten lassen?«

»A – na, das ganz g'wiß net!«

Dies wurde drei Tage vor der einberufenen Sitzung gesagt. Täglich sandte der Ministerrat eine Reihe neuer Notverordnungen in die Welt hinaus. Zum Teil bösartige, antimarxistische, zum Teil indifferente. Sie wollten das Volk an diese Art regiert zu werden gewöhnen. Dollfuß konnte zwar dem dichten Netz von Unterhändlern nicht immer entschlüpfen, aber festhalten, greifbar auf etwas festlegen ließ er sich nicht. Man wußte noch immer nicht genau, wo er hinauswollte. Und das war drei Tage, nein, man zählte schon die Stunden – also etliche siebenzig Stunden – vor dem 15. März. Weil man sich im Parteihaus neuerdings sehr für Leben und Psyche zu interessieren begann, erfuhr Dreher, daß dieser immer noch jenem Friseurladen treu geblieben war, wo er sich schon als kleiner Sekretär der Landwirtschaftskammer hatte rasieren lassen. Dreher war früher in jener Stadtgegend zu Hause und beim selben Friseur Stammkunde gewesen. Am Morgen des 13. März betrat er den bescheidenen Barbiersalon und ließ sich den Bart einseifen. Wenige Minuten später nahm der »Louis Bonaparte« der österreichischen Bourgeoisie neben ihm Platz. Aber sogar Napoleon I. war größer gewachsen, beeilte sich Dreher zu denken. Er gönnte seinen gepeinigten Nerven eine Minute Ruhe und labte sich an der körperlichen Kleinheit des Kanzlers. Nach allem, was geschehen war, seit Dreher ihn im Parlament gesehen hatte, erschien er noch winziger: wirklich, nahezu ein Zwerg. Dreher betrachtete ihn mit einer gewissen Neugierde: dieselbe unverhältnismäßig vorgewölbte Stirn, dieselben Pausbäckchen, kurz, der bekannte Embryokopf. Auch die krähende Stimme des unbeholfenen Redners war wohl nicht schöner geworden. Warum sollte der Mann sich schließlich auch in der einen Woche geändert haben? Auch innerlich mußte er derselbe geblieben sein. Welcher Teufel war also in diesen Knirps gefahren? Der Friseur bügelte Dollfuß unter Aufwand von Pomade den Scheitel glatt. Ja, das war jetzt seine neue Frisur. Früher hatte er die Haare ziemlich wirr vertikal aufwärts wachsen lassen, um größer zu erscheinen. Der Fürst Starhemberg hatte ihn wahrscheinlich aufmerksam gemacht, daß das keine Diktatoren-Frisur ist. Lächerlich, dachte Dreher wieder einmal. Dann begann er das Gespräch: »Meine Verehrung, Herr Bundeskanzler.«

»Grüß Gott«, antwortete Dollfuß zerstreut und blickte kurz von seiner Zeitung auf.

Dreher mobilisierte die letzten Bestände seiner Jovialität: »Mir scheint, Exzellenz, wir sind gemeinsame Stammgäst' bei dem Herrn Haarkünstler da? Wir kennen uns doch, vom Parlament her«, fügte er hinzu, als Dollfuß nochmals aufsah.

»Freilich. Herr Toni, geb'ns mir bitte die ›Reichspost‹, wenn's schon frei ist.«

»Wissen Sie, Exzellenz, neulich bei der Unterredung ...«

»Bitte, scharf einspritzen, Herr Toni.«

Unterm Seifenschaum errötete Dreher, daß es ihn brannte. Er erinnerte sich, daß er knapp vor der Parlamentskrise im Couloir laut behauptet hatte, dieser Mann sei der größte Stümper, der je die parlamentarische Maschinerie gehandhabt hatte; mit seiner Mehrheit von einer Stimme lebe er von der Gnade der sozialdemokratischen Fraktion. Er gehöre aber nicht auf eine Ministerbank, sondern bestenfalls in eine Viehkommission. Das war die pure Wahrheit, aber jetzt sehr ungelegen. In Deutschland, fiel es Dreher plötzlich ein, sollen sie gestern den Abgeordneten Sollmann zu Tode gefoltert haben. In einem Kohlenkeller. Aber der Gedanke huschte schnell vorbei – Dreher war nicht feig. Zorn übermannte ihn so stark, daß der Friseur betroffen sein Rasiermesser absetzte. »Oh, dieser Hundling«, dachte Dreher, »dieser Krüppel! Wie gut der's gelernt hat, ehrliche Leute abzuwimmeln! Der Bauernlackel, der gescherte! Der Jesuitenzögling! Daß sich unsereins mit so was hinstellen muß! Verfluchte Hetz! Verfluchte Hetz noch einmal!«

Er saß wie auf Kohlen. Fertig rasiert, verließ er das Lokal, ohne den korrekten Gruß Dollfuß' zu erwidern. Und er raste zu Streeruwitz, einem Kanzler a. D. und Vertrauensmann der Bankleute, der durch die Creditanstalt mit dem französischen Kapital verbunden war und daher Demokrat. Der erklärte, er wäre von allem, was geschah, ausgeschaltet.

Dann mit Danneberg zum Bundespräsidenten. Dieser Linzer Gymnasialprofessor gab einige zu nichts verpflichtende Erklärungen ab, salbungsvoll, als entließe er Maturanten ins rauhe Leben. Er sah auffallend schlecht aus. Gestern noch hatte er präziser gesprochen ... Dann traf man Renner, der berichtete, er und Straffner hätten zum erstenmal eine ausführliche Unterredung mit Buresch erlangt. Das Ergebnis: null. Der erste und der dritte Präsident hatten ihren Standpunkt klargemacht: Die Sitzung sei am 4. März ordnungsgemäß geschlossen worden, also tage das Parlament nicht mehr, daher sei die für den 15. einberufene Sitzung juridisch gerechtfertigt. (Der Rücktritt Straffners am 4. März aber wäre nicht gültig gewesen, so daß er als Einberufer einwandfrei sei.) Buresch hingegen, der zweite Präsident, wiederholte lediglich den Standpunkt der Regierung. Die Sitzung sei nicht geschlossen worden, daher tage das Parlament theoretisch noch, daher dürfe es zu keiner neuen Sitzung einberufen werden, daher – de facto – nicht tagen. Straffners Rücktritt aber sei gültig, daher er als Einberufer ungültig. Nur der Herr Bundespräsident dürfe das Parlament einberufen. (Weswegen der Arme ja so auffallend schlecht aussah.) Kurz, die Sachlage war um nichts weniger lächerlich geworden, und sie wurde mit jeder Stunde, mit jeder solch ergebnislosen Unterhandlung drohender.

»Der Buresch«, sagte Renner, »ist vielleicht einer von den tückischsten!« Als ob man den Mann nicht seit 20 Jahren kannte! Als ob er je tückischer gewesen wäre als sonst ein Christlichsozialer ...

Und dann ging die Fahrt zum nächsten Vorzimmer und zum übernächsten mit Danneberg, ohne Danneberg, mit Renner, ohne Renner, mit den Niederösterreichern oder ganz auf eigene Faust, endlos, ermüdend, tödlich entmutigend, zum Heil und zur Rettung der österreichischen Republik. Ja, Dreher rechnete die Frist schon nach Stunden. Er dachte nicht: »übermorgen«, sondern »überübermorgen um drei Uhr nachmittags«. Denn selbst am letzten Vormittag konnte noch, mußte doch etwas dazwischen treten.

Dabei laborierte er ununterbrochen an seinen körperlichen Beschwerden. Gegen das Magenbrennen half jenes weiße Brausepulver nur auf beschränkte Zeit. Er nahm es weit öfter ein als vorgeschrieben. Er schleppte die Schachtel und einen Löffel zu allen Verhandlungen mit, bat immer wieder beim Bundespräsidenten oder beim Vizekanzler um ein Glas Wasser dazu, um immer wieder auf besorgte Fragen zu erklären: »Ich bin nämlich magenleidend.« Zuerst brachte er die ungewohnte Auskunft nur mit Ärger und Scham über die Lippen. Dann begann es ihm irgendeinen seltsamen Genuß zu bereiten, eine Rachebefriedigung. Wirkliches Leiden empfand er nur, wenn der Hexensabbat ihm eine Minute Atempause gewährte. Dann »horchte« er gespannt in sich hinein. Ja, es brannte da drinnen. Und schon wieder griff es um sich. War da nicht seit letzthin ein anderer Schmerz dabei? (Denn er begann schon die feinsten Nuancen des Schmerzes zu unterscheiden.) Ob das alles wirklich nur von Magensäure kam? In solchen Minuten konnte er, so sonderbar es ihm später schien, vollständig das fiebernde Land ringsum vergessen, die aufgewühlten Massen, zu denen er doch eben erst gesprochen hatte, die dritte Nachmittagsstunde des 15. März, die ganze Welt. Oder er dachte an all dies, und dann überfiel ihn wölfisch grausamer Egoismus. »Alles auf einmal«, empörte er sich. »25 Jahre Aufopferung – und wenn ich die Früchte ernten will, kommt das alles auf einmal über mich! Wie eine Verschwörung gegen mich ist das!« Daß dieser, sein Magen immer noch ein Politikum blieb, war unerträglich. Er las in der »Roten Fahne«: »Während vor 20 000 gemaßregelten Eisenbahnern und ihren Kollegen sich drohend das Hungergespenst des zweiten Bundesbahn-Sanierungsgesetzes erhebt, während 600 000 Arbeitslose bang dem 15. März entgegenblickten, dem Tag der neuen Welle von Massenaussteuerungen, während alle österreichischen Werktätigen fieberhaft diesem selben Tag entgegensehen, an denen die letzten kläglichen Reste ihrer politischen Freiheit ihnen geraubt werden sollen, trägt der Bonze Dreher seinen wohlgenährten Bauch von Kuhhandel zu Kuhhandel, von Packelei zu Packelei, von Verrat zu Verrat. Prolet, denk nach!«

Er lachte nicht, wie sonst über derlei. Er zerknüllte die Zeitung, warf sie zu Boden, zertrat sie.

Am 12. März fand auf dem Zentralfriedhof ein Massenaufmarsch statt zur Ehrung der Märzgefallenen vom Jahre 1848. Da politische Kundgebungen ja verboten waren, bedeutete diese, polizeilich als unpolitisch angemeldete, eine letzte Heerschau vor dem Schicksal. Die Massen liebten Otto Bauers harten, skandierenden Akzent. Er sprach auch diesmal hinreißend. Er rief ihnen zu: »Noch sind nicht alle Märzen vorbei.«

Neunzehnhundertdreißig – und drei! Dann zogen sie am mit roten Nelken geschmückten Ehrengrabe vorbei. Dreher stand neben Otto Bauer. Sie nahmen das ekstatische »Freiheit« der Arbeiterjugend entgegen; die stummen Schwüre der Schutzbundkompanie; die selbstbewußte Ruhe der Betriebsbelegschaften. Dreher sah in diesem wortkargen Aufmarsch Frauen und Männer weinen. Rühren stieg ihm in kleinen Schlucken die Kehle herauf. Da hörte er neben sich Otto Bauer etwas murmeln. »Wenige –«, sagte Bauer leise, »möcht' wissen, warum's so wenige sind.« Dreher wandte sich scharf zum anderen. Aber Bauers Gesicht war seinen Leitartikeln gemäß: »Ernst und zuversichtlich.« Er grüßte die Menge mit erhobener Faust. – Am nächsten Tag sackte die Stimmung im Parteihaus ab. Es wurde offensichtlich, daß Dollfuß nicht umfiel. Der Zwerg erklärte in einer Radiorede, seine Ziele wären: »Erweiterung der Rechte des Bundespräsidenten, Einführung eines Ständerates, Geschäftsordnungsreform im Parlament und Schutz der Ruhe und Ordnung.« Er hatte in einer endlich gewährten Unterredung den Unterhändlern ungefähr dasselbe mitgeteilt. Diese hatten erwidert, man könne darüber mit sich wohl reden lassen. Daraufhin hatte Dollfuß für Ende des Monats eingehende Verhandlungen in Aussicht gestellt. Aber das Parlament könne er am 15. keinesfalls zusammentreten lassen; er sei nach wie vor entschlossen, diese Sitzung zu verhindern.

Gewaltsam?

Unter Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung.

»Die Herren müssen doch begreifen«, rief Bauer zornig aus, »daß wir die Kampfentschlossenheit von Hunderttausenden auf diese Sitzung gerichtet haben!«

Die Herren begriffen nicht. Unter den niederhagelnden Notverordnungen erschien eine, die sich mit der Regelung des Brennstoffverkaufs befaßte; eine unwichtige Frage – aber wichtig war, daß sie von Rechts wegen zur Kompetenz des parlamentarischen Hauptausschusses gehört hätte. Wollten sie also auch den Hauptausschuß ausschalten? Vereinsversammlungen für geladene Mitglieder, sogenannte §2-Versammlungen mußten, einer anderen Verordnung zufolge, nunmehr 8 Tage vorher angemeldet werden.

»Seht ihr's«, krächzte unheildrohend der Fraktions-Leutner. »Da habt ihr's!« sekundierten ihn die Niederösterreicher. Aber der Ton des Parteivorstandes blieb weiter auf volle Schärfe eingestellt. »Dollfuß droht!« rief die »Arbeiter-Zeitung«. »Unter Drohungen verhandeln wir nicht!«

Am 14. war die Lage unverändert. Die Regierung stahl der Gemeinde Wien mittels Notverordnung 4 Millionen Schilling. Ein Gerücht, »Miklas greift ein«, sprang auf und verflog.

Dreher stieß im Vorraum des Wiener Sekretariats mit jemandem zusammen (mit wem, das vergaß er schon im nächsten Augenblick, so verwirrt war er schon von dem fieberhaften Trubel). »Wissen Sie«, fuhr dieser Jemand auf ihn los, »daß der Schutzbund keine Waffen hat?«

»Blödsinn!« schrie Dreher.

»Nein, nein, es ist schon möglich! In der ganzen Partei wird davon gemunkelt. Wissen Sie schon, daß der Körner gesagt haben soll, er lehnt jede Verantwortung für den Schutzbund ab?«

»Dann werden wir ihn eben von der Schutzbundleitung absetzen, wenn das wahr ist, zum Kuckuck noch einmal!«

»Sehr gut! Wen wollen Sie jetzt absetzen, Genosse? 24 Stunden vor der Sitzung?«

»Hängen Sie sich auf«, schloß Dreher kurzerhand und raste die Treppen hinunter. Man erwartete ihn in der Konferenz der Wiener Betriebsräte. Als er auf die Tribüne trat, begrüßte ihn demonstrativer Applaus. »Ja, die haben mich gern«, dachte er, und das half ihm. Er schleuderte ihnen zu: »Österreich ist nicht Deutschland!« Der Saal brüllte auf. Aber in der Rede fühlte er diesmal an mehreren Stellen, daß seine Leidenschaft von innen her aussetzen wollte. Er füllte diese leeren Stellen mühelos mit Routine aus. Der Schluß der Rede ging in Ovationen unter.

Die halbe Nacht, bis nach 2 Uhr früh, verbrachte Dreher im Parteihaus. Der Schutzbund war im ganzen Land in Alarmbereitschaft gesetzt worden. Eine Weisung vom Parlament aus, über den Parteiapparat allen Sektionen übermittelt, sollte das Zeichen für die Massen sein, die Straßen zu überfluten. Das Ziel: Ringstraße, Parlamentsgebäude. Alle ausschlaggebenden Betriebe standen in direkter Verbindung mit einer zentralen Stelle. Um 2 Uhr nachts erfuhr man, daß Straffner, eben eingeschlafen, durch einen Brief des Bundespräsidenten aus dem Bett geholt worden wäre. Er möge die angesetzte Tagung absagen. Dreher schluckte sein Pulver, trank einen großen Schwarzen und jagte zu neuen Verhandlungen. Morgens wurden die Parlamentsfahnen gehißt, die gewohnte Zeremonie an Sitzungstagen. Niemand hinderte das. Vor dem Gebäude begann sich ein Bummel zu bilden. Die Menschen verhielten sich ruhig und wurden von der Wache nicht belangt. Drehers Konferenzen dauerten den Morgen und den Vormittag hindurch bis 12 Uhr. Schließlich wurde die Antwort Straffners an den Bundespräsidenten aufgesetzt und abgeschickt: Die 125. Sitzung des Parlaments wird heute um 3 Uhr stattfinden. Nach einer Neuwahl des Präsidiums wird sie geschlossen werden. Straffner ist im Recht. Er kann und wird seine Funktion niemandem übergeben.

Oder, noch kürzer zusammengefaßt: wir bleiben dabei.

Es war nach zwölf.

Dreher gönnte sich eine halbe Stunde Atempause. Er wollte heim, unter den Seinen Mittag essen. Im Auto kämpften Erregung und Schläfrigkeit einen zermürbenden, unentschiedenen Kampf in ihm. Die inneren Stadtviertel glitten hinter der Scheibe vorbei. Sie zeigten normales Straßenleben. In seinem Bezirk, dem proletarischen, änderte sich das Bild sofort. Frauen drängten sich vor den Lebensmittelgeschäften; diskutierende Gruppen standen überall herum; Schutzbündler in Uniform, zu dritt und viert waren auf dem Wege in die Bereitschaftslokale. Grüße und Scherzworte wurden ihnen nachgerufen. Der Bezirk rüstete sich.

Am Mittagstisch fand Dreher nur seine Frau. Die Söhne waren ausgeblieben. Der Jüngere unentschuldigt. »Nicht nur wir haben heute Bereitschaft«, dachte Dreher in einer Woge von Gram, »auch die SA, ja, auch die SA. Mein Familienleben ist zerschlagen«, dachte er. Sein Nacken war vom verschwitzten Kragen aufgescheuert. Er zerrte sich das Zeug vom Hals.

»Aber Josef«, sagte die Frau, »wie oft hab ich dich schon gebeten, du sollst bei Tisch nicht den Kragen runternehmen, das ist ordinär.«

Er sah sie an: Ihr aufgedunsenes vierzigjähriges Gesicht war kraß geschminkt. Sie hatte vorigen Monat begonnen, Klavier spielen zu lernen. Ein englischer Lehrer kam 4mal wöchentlich zu ihr. Sie nahm private Stunden in rhythmischer Gymnastik. Vorigen Monat hatte er im Parteihaus hören müssen, wie irgendein Jud zu irgendeinem anderen Juden hinter Drehers Rücken sagte: »Kennen Sie die Frau vom Dreher? Und kennen Sie den ›bourgeois gentil-homme‹ von Molière? Ist das nicht eine Madame Joudain, wie sie im Büchel steht? Madame Joudain, proletaire-bourgeoise!«

Dreher sah die modernen Möbel an, die er unbequem fand, er sah das Stubenmädchen an, das ihn »gnä' Herr« nannte. Er sah das Kollier seiner Frau an. Er sah ihr ins Gesicht, sie erschrak. Vor ihr saß nicht ihr Mann; nicht der, den sie dressiert hatte, zu Hause den Kragen aufzubehalten und ihr in Gesellschaft die Hand zu küssen. Sondern der andere, den sie geheiratet hatte, als sie eine kleine Modistin gewesen war: der Lokomotivführer Josef Dreher. – Der Lokomotivführer vergaß, sorgfältig zu kauen. Ein halbfertiger Bissen würgte sich quälend seine Speiseröhre hinunter. Er schwemmte den Bissen mit einem gewaltigen Schluck Bier hinab. Dann sagte er eiskalt: »Du Schlampen. Heut bricht der Bürgerkrieg aus.«

 

Der folgende Abschnitt wurde vorgreifend abgetippt, um Dir ungefähr einen Begriff von der Figur des Hans Dworak zu geben, der erst hier, am Ende des fünften Kapitels, richtiggehend in der Erzählung auftaucht und eine Hauptperson bilden wird.

Zwischen diesem Abschnitt und dem vorhergehenden liegt also der Schluß des vierten und der Anfang des fünften Kapitels. Der Inhalt ist, was die politischen Vorgänge betrifft, folgender: Das Parlament wird von der Regierung auseinandergejagt, und gegen alte Erwartung rührt sich die SP nicht. Dann bricht ein spontaner Streik der Drucker aus, der den Anstoß zu einem Generalstreik bilden könnte. Der Streik wird abgewürgt. Schließlich wird der Schutzbund aufgelöst. Die Partei nimmt auch diese Niederlage hin. Die Schutzbundauflösung geschieht am 31. März. Das Folgende spielt in der Nacht des 31. März.

3

Fast mondlos und ohne Sterne hing diese Nacht über dem Wienerwald; tief im Dreck und ihrem schwarzgrauen Himmel bis zu ihrer klebrigen Erde herab. Der Wind wehte bissig, unberechenbar. Sprang er an, so spie er seinen eiskalten Speichel in die Gesichter. Zwischen hageren, nackten, unruhigen Waldbäumen konnten die Schutzbündler bis auf die Straße sehen. Dort hoben sich unklar die Umrisse des wartenden Lastautos ab.

»Noch tiefer!« befahl Kaliwoda und stieß ruckweise seinen Spaten in den Grund. Mit ihm waren vier: Panetti, Franz Seidel, Erich Weigel, Hans Dworak. Sie begruben die Waffen der Kompanie »Friedrich Engels«. Fritz saß als Aufpasser drüben im Auto. Es war voll leerer Milchkannen. Unter den Kannen hatte man den Transport, die Gewehrkisten, versteckt gehalten. Sie standen bis zu den Knöcheln in Kot und faulen Blättern und gruben nun fast schon eine halbe Stunde. Der Boden war hier steinig. Sooft Kaliwoda der Schaufel mit dem Fuß nachhalf, hörte man den nassen Schmutz in seinen Halbschuhen quatschen. Sohlen und Oberleder klafften von Löchern. Erst wenn er in Zivil ging (das heißt, wenn er seine alte Straßenbahnerbluse mit der Ärmelstickerei nicht anhatte), sah man plötzlich, daß er zum Verrecken arm war. Panetti blickte von Zeit zu Zeit auf Kaliwodas durchweichte Windjacke und ärgerte sich krank. Warum hatte er, Panetti, nicht seinen Pullover mitgenommen? Er hätte plötzlich erklären können, ihm sei unerträglich heiß, der Kali solle ihm doch um Gottes willen das Zeug abnehmen. Aber den Rock konnte er ihm jetzt nicht anbieten und den Überzieher auch nicht. Denn Panetti hatte seinen pikfeinen (und einzigen) Überzieher an, und Sakko und Knickerbocker darunter waren die prachtvolle, mädchenbetörende Kleidung für Frühlings-, Sommer- und Herbstsonntage, wohlgemerkt für die Sonntage nur. Jetzt hatte er sich aus purer Wut so herausgeputzt. Abends hatte Kaliwoda ihm verboten, in der Uniform hinauszufahren. Erstens dürfe man überhaupt keine tragen, und zweitens wäre eine Uniform in dieser Nacht bei einer so gefährlichen Aktion der helle Wahnsinn. Und da hatte Panetti denn aus Protest seine Sonntagskleider angelegt, die hellgetönten, empfindlichen, noch nicht ganz abgezahlten. Denn das war ebenso kühn und sah auf einem Milchwagen höchst auffallend aus. So pflegten einst adelige Kadettenregimenter mit Glacéhandschuhen in die Schlacht zu ziehen. Mit dem Unterschied, daß Kadetten Reservehandschuhe besitzen. Auch dieses Unterschiedes wegen ärgerte sich jetzt der kotige Panetti. Zum Trost diente ihm, daß sein Mannlicher hier nicht mitvergraben wurde. Das Gewehr lag daheim unter der Matratze. Er schlief darauf, und wie prachtvoll war es doch eingefettet!

Die Spannung der ersten Minuten hatte bei der langweiligen Arbeit nachgelassen. Man unterhielt sich halblaut. Das Gespräch war auf die Provenienz dieser Waffen gekommen. Man erinnerte sich an eine Mainacht vorigen Jahres. Bis dahin waren die Kisten samt Inhalt Besitz der Heimwehr gewesen. Aber da hatte der Bezirkskommandant des Schutzbundes dem Kaliwoda mitgeteilt: »Da und da liegen Hahnenschwänzler-Gewehre; wenn ihr sie haben wollt, holt sie euch.« Ja, das hatte er nicht zweimal sagen müssen, der Bezirkskommandant ...

»Sind eh von unsern Steuergeldern bezahlt«, bemerkte Franz Seidel in diese Erinnerung hinein. Woraus man wieder einmal ersah: der ist nie arbeitslos gewesen. Den drei Stemplern und Erich erschien die Rechtfertigung überflüssig. Panetti lenkte ab: »No, und der Spitzel, von dem wir's haben – wann's dem draufkommen sind –, der kann sich g'freuen. Glatter Fememord, mein Lieber.«

»Geh, red net so daher, so was gibt's net bei die Fünf-Schilling-Mandeln. Denen ihren Fanatismus laß ich mir stücklweis nachhau'n.« Panetti aber, der die Welt nicht liebte, wenn sie unromantisch war, beharrte gekränkt. »Weil'st net weißt! Da haben's eigene Spezialabteilungen für so was. So einen uns'rigen Spitzel stell'ns dir an die Wand wie nichts.«

»Sind ja arme Teufel, im Grund genommen«, bemerkte Erich.

Plötzlich mischte Hans Dworak sich ins Gespräch. Bisher hatte er mit wilder Verbissenheit gegraben. Sein merkwürdiger Tonfall fiel allen auf. »Schweine sind's, keine armen Teufeln! Wann ich heut hingeh' und tu mich an den Starhemberg verkaufen, weil ich arbeitslos bin – möcht wissen, obst mi nachher für einen armen Teufel anschaust.« Seine Stimme hatte etwas Provokantes. Panetti brummte (übrigens recht gutmütig): »No, no, du wirst's g'wiß nötig haben – Bonzensöhnchen ...«

Hans hörte sofort zu graben auf; richtete sich empor. Durch die Dunkelheit sah man, daß seine Hände sich krampfhaft an den Schaufelgriff klammerten. Auch schien es, daß er sehr blaß geworden war. Schrill, gequetscht, weinerlich stammelte er: »A so is das! Ja wer sagt euch denn, daß ich – daß ich net bei der Heimwehr bin, oder – bei die Nazi? Was is, wann – wann i als Spitzel unter euch bin – und ihr – ihr wißt's es gar nicht. Wie? Was is, wann –«

Hysteriker, dachte Erich. Wahrscheinlich hat bei ihm wieder mit seinem Mädel was nicht geklappt. Erich fühlte sich geradezu von diesem Hans Dworak beleidigt. Das wird ihm jeder nachfühlen, der junge Menschen in den Falken-Jahren großgezogen, in der SAJ-Zeit geführt hat und dann sehen mußte: aus dem da und aus der da wird nichts Rechtes. Seit Silvester hatte Erich von Hans nichts mehr gehört und gesehen als wir. Er wußte nur: der Bursch treibt sich irgendwo herum in billigen Tanzschulen, geht nachmittags in kleine Tschechs Billard spielen, alles ohne rechte Freude. Das kläglichste Arbeitslosendasein. Zu Silvester, in der Skihütte war er abends stumpf dagesessen. Bei den Diskussionen: kein Wort aus ihm herauszubringen; greift unterm Tisch nach seiner Paula; erzählt Kartenspielerwitze. Und so was war in Erichs Gruppe aufgewachsen.

Während Erich sich dergestalt beleidigt fühlte, waren die anderen verlegen geworden. »Mir scheint, den muß man heut in Ruhe lassen«, murmelte Panetti. »Was der zusammenplauscht – möcht wissen, wozu wir das Baby überhaupt mitgenommen haben? Der Bub hat ja –«

»Ruhe!« keuchte plötzlich Kaliwoda.

Das war so hervorgebracht, daß alle sofort zur Landstraße blickten. Dort kamen zwei Fahrradlichter aufs Auto zugeflitzt: hielten. Die Fahrer stiegen ab, wurden im Lichtschein erkennbar: Gendarmen. Sie lehnten die Räder an den Wagen, nahmen die Gewehre von den Schultern. Fritz sprang vom Führerplatz. Ein Gendarm schaltete die Scheinwerfer des Autos ein, der andere suchte Fritz ab. Fritz redete gestikulierend, legitimierte sich. Ein Gendarm stieg in den Wagen, begann die Milchkannen zu durchstöbern. Warf eine nach der anderen auf die Straße. Fritz stand Hände hoch.

Pfui Teufel, dachte Erich. Er versuchte mit aller Kraft, ein Jucken im Schlund zu unterdrücken: Hustenreiz. Der Reiz wurde stärker. Erich blähte sich auf, bog den Oberkörper vor, preßte die Hand vor den Mund, versuchte, »in sich hinein« zu husten, schüttelte sich stumm wie im Krampf. Die anderen hatten gemerkt, was mit ihm los war. Sie standen erstarrt, preßten die Fäuste vor Hilflosigkeit zusammen, ihre Gesichtszüge zuckten. Da lachte Hans Dworak laut auf. Sie standen noch eine Sekunde ganz still vor Staunen, nur Erich hustete selbstverständlich los, weil ja ohnehin alles verloren war. Dann packte Panetti den Burschen beim Kragen und holte mit der Faust aus. Hans lachte noch immer, ohne sich zu wehren, dem großen Mann ins Gesicht. Das verwirrte Panetti derart, daß er wieder losließ. Hans lachte. Panetti verlor vollständig den Kopf und warf sich herum, da er Schritte im Laub hörte und jeden Moment das »Hände hoch« der Gendarmen erwartete. Was er aber sah, war: die Schutzbündler rannten durch den Wald auf die Straße zu, Fritz winkte ihnen grinsend, schneller zu kommen, die Gendarmen zackelten auf ihren Rädern langsam davon.

Panetti, fassungslos, war mit zehn Schritten beim Auto. Fritzl, hüpfend vor Freude, hielt ihm eine Legitimation entgegen. Was für eine? »Eine Heimwehrlegitimation. G'stohlen, ja, g'stohlen hab ich's – erst vorgestern! Im letzten Moment denk ich drauf – Milchlieferung, sag ich, ist das keine, Kamerad – ja, Kamerad hab ich zu dem Gendarmen gesagt – also Milch net, aber wir haben da a paar Kisteln zum Vergraben – eh schon wissen – Bataillonsbefehl – Er – naturgemäß – salutiert höflich, und dann verschwinden's wie a Wolken...«

Ja, das war ein Glück. Aber ein größeres Glück, ein »Mordsglück«, wie wir später sagten, war es, daß Erich Weigel den Hans Dworak seit 8 Jahren kannte, daß er ihn nach dem Gelächter schon insgeheim zu verstehen begonnen hatte, so daß er die Befürchtung hegen mochte: Der Bub wird heut noch etwas anstellen – oder daß er einfach noch beleidigt war – kurz (und darauf kam es an), daß er sich in diesem Moment nach Hans umdrehte. Und auch, daß er die Geistesgegenwart nicht verlor, als er Hans mit einer Pistole auf die Gendarmen zielen sah, ist ein Zufall gewesen. – Vielleicht hätte Hans nicht sogleich losgedrückt, und wahrscheinlich hätte er nicht getroffen, denn seine Hand zitterte entsetzlich – aber es war gut, daß Erich weder daran noch an sonst etwas dachte, sondern sich auf Hans warf. Sie fielen zu Boden und rangen. Die anderen begriffen nicht, was vorging. Den Revolver, den Erich Hans zu entwinden versuchte, sahen sie nicht. Der einzige von den vieren, der in dieser Sekunde etwas tat, was sich beschreiben läßt, war Fritz. Er ließ den Automotor losdröhnen. Aus Instinkt: wo eine Rauferei im Gange ist, muß irgendein unschuldiger Lärm gemacht werden, damit die Polizei nicht aufmerksam wird. Die zwei auf dem Boden keuchten. Hans' Körper war schmächtig. Aber während Erich auf ihm lag und sein rechtes Handgelenk umzudrehen versuchte, bog er den Arm mit Erichs Umklammerung daran ruckweise aufwärts. Vielleicht gelang das darum so leicht, weil der andere seine Absicht nicht kannte. Hans' Gesicht war zum Erschrecken verzerrt. Nun keuchte er nicht mehr, sondern schluchzte mit krampfhaften Zuckungen des ganzen Leibes. Erst, als die Pistole nahezu in der Höhe von Hans' Schläfe war (und das war sie nach wenigen Sekunden seit dem Losbruch dieses Ereignisses), hörten die Umstehenden Erich aufbrüllen. »Er will sich umbringen!« Sie stürzten los.

Aber die zwei Jungen lagen einige Meter von der Straße abseits im Wald. So fügte es sich, daß in dem Zeitteilchen, das die Laufenden brauchten, um diese Entfernung zurückzulegen, niemand da war, der Erich helfen konnte. Das war aber das entscheidende Zeitteilchen.

Erich sah die in Qual verzerrte Fratze, die vor 1000 Jahren das Gesicht eines jungen Menschen gewesen war. Er sah die Lippen heftig zittern, und etwas wie ein stoßweises Jammern kam zwischen ihnen hervor. Er sah die Augen weit aufgerissen, dem Himmel zugewendet. Er wußte, daß er jetzt im Sekundenbruchteil das Wort finden mußte, um dieses Leben zu retten. Wenn es so ein Wort überhaupt gab, dann war es das einzige, und kein anderes konnte es ersetzen. Er mußte es jetzt, augenblicklich, sagen, kein Suchen und Versuchen war denkbar. Das alles begriff er in einer einzigen Aufwallung von Todesangst, schon, während er aufbrüllte: »Er will sich umbringen!«

Und eng hinter dieser ungeheuren Woge von Schreck durchbrandete ihn genau in dem Nu, der alles entscheiden mußte, eine noch größere Woge von Liebe: zum schmalen, zuckenden Körper, zur fiebergeschüttelten Seele des Kameraden. Diese Grundwoge war's, die ihm das Wort ins Bewußtsein schleuderte. Er preßte seinen engen Kopf in den engen Raum zwischen dem Revolver und der Schläfe von Hans und stammelte ihm ins Ohr: »Hänschen – Genosse – wir brauchen dich ja, wir werden losschlagen, ich schwöre dir, wir werden losschlagen!«

Hans ließ langsam den Revolver sinken.

Im dahinrumpelnden Auto hielt er Erichs Hand umklammert und versuchte, sich zu rechtfertigen. »Verstehst du, wie ich geseh'n hab, daß ich schon so viel Blödheiten gemacht gehabt hab' und wie ich schon vor euch dasteh, als – als was für ein Element, da war mir schon alles Wurscht, verstehst du?« Er blickte sich scheu nach den anderen um. »Jetzt werd ich wahrscheinlich aus dem Schutzbund rausfliegen – wenn der Bezirkskommandant das hört. –«

Panetti drosch ihm brüllend die Schulter: »Er wird's net hör'n, du Haderlump!«

»Is wahr?« murmelte Hans in Glückseligkeit. Und da klappte er auch schon zusammen und lag der Länge nach zwischen den scheppernden Blechkannen. Sie bemühten sich um ihn wie die barmherzigen Brüder.

Franz Seidel schüttelte den Kopf: »Meiner Seel' – im Kindergarten bei der Käthe geht's erwachsener zu ...«

»Is scho gut, Hanserl, is scho wieder gut ...«, murmelte Panetti ununterbrochen und strich ihm mit der Riesenpranke übers Haar. (Dabei begannen dem Panetti die Tränen nur so herunterzukollern.)

Kaliwoda hatte nachdenklich die Brauen gerunzelt und nagte an der Unterlippe.


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