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Erstes Kapitel

1

Diese Fahrt enthielt alles, was Dworak von jeher und zutiefst haßte: die Unvernunft, das Unvorhergesehene, die Ordnungswidrigkeit; willkürlichen Zwang.

Bevor ihm von einem übermäßig höflichen Zehetner mitgeteilt worden war, er werde – leider – in der Silvesternacht Dienst machen müssen, hatte er sich diese Zeit, wie jede, genau im vorhinein eingeteilt. Vorgesehen war ein gemeinsames Abendessen mit Sohn und Frau (das hatte sie ihm abgebettelt), dann eine dringende Besprechung mit dem neuen Kassier der Ortsgruppe (was sich aber voraussichtlich in die Länge gezogen hätte), hierauf eine Rede bei der Silvesterfeier des Arbeiterbildungsvereins (um in der heiteren Veranstaltung auch einmal kurz an den Ernst der Zeit zu erinnern), schließlich ein gemütliches Beisammensein im Gasthaus »Zur Republik«.

Aus alledem wurde somit nichts. Es hieß, diese Nacht, gebraut aus Schnee, Hagelstößen und bissigkalter Finsternis, auf der Maschine zu verbringen, und der Heizer Gellert war nicht der Mann, um eine solche Situation angenehmer zu machen. Ja, gerade durch Gellert wurde die Sache schlimmer, als sie es sein mußte. Und schlimmer, als sie es sein mußte, machte sie sich schon fühlbar, als die Bahnhofsstreckensignale grün-blau-rot vorbeigestrichen waren. Im Flockenwirbel verschwamm Wien zu einem nebligen Lichtfleck, darin sich irgendwo das Gasthaus »Zur Republik« befand; das Extrazimmer, der Stammtisch. Dort verrann ohne Dworak seine einzige, wirkliche Ruhestunde im Jahr.

Guter Bierdunst hing über der Runde; der bauchige Wirt bediente selbst. Eitel ließ er den Bizeps spielen, wenn sein violett-fleischiger Arm die Fracht über die Köpfe der Sitzenden schwang. Üppig schäumend landeten die Krügel auf der Tischplatte. Waren alle bedient, so schob er sich einen Sessel dazu, gönnte sich auch etwas: »Prosit, die Herrschaften!« Alle kannten ihn. Im Fünferjahr, als Schankbursch, hatte er sich einmal geweigert, ein paar Achterdragoner zu bedienen, die durstig waren vom Attackereiten gegen Wahlrechtsdemonstranten. Das hatte ihm mehrere Tag Arrest eingebracht und die Stellung gekostet. Damals hatte jedes Kind im Bezirk die Geschichte gekannt. Jetzt nützte dem Wirt »Zur Republik« auch die Brusttätowierung nicht mehr viel, die dieses Ereignis symbolisch darstellte. Nur die älteren Genossen wußten ihm noch Dank für die Tat. »Prosit, Herr Chef!« So begann der Abend.

Aber jetzt war er wohl schon weiter fortgeschritten. Vielleicht war schon im großen Gastzimmer die Lotterie ausgelost, an der sich immer einige aus dem Extrazimmer beteiligten. Vergangenes Jahr hatte Kaliwoda von der Schutzbundkompanie »Friedrich Engels« den ersten Preis gewonnen: eine kolossale geselchte Haxe, mit roten Papiernelken garniert. Er hatte getan, als ob es damit nichts auf sich hätte, und hatte die Nelken unter den Damen verteilt. Aber dann hatte er über das klägliche Achtel Gespritztes hinweg einen sehr bedeutungsvollen Blick mit seiner Frau getauscht. Die beiden waren ja hundsjung, und er war ausgesteuert. Die hatten am Geselchten drei Wochen zu leben.

Oder war auch schon die Lotterie vorbei? Prophezeiten die Frauen schon aus dem Kaffeesatz, die Männer aus der »Arbeiter-Zeitung«? War man bei den Trinksprüchen angelangt? Dann prostete Spannmeyer, Obmann der zwölften Sektion, wohl wie jedes Jahr der leichtbekleideten Dame zu, die im geschnörkelten Goldrahmen an der Wand hing, unter dem großen, alpinistischen Wappen der »Naturfreunde«. Im wallenden Griechengewand, auf dem Kopf eine Jakobinermütze, schritt sie kräftigen, nackten Fußes, unbewehrt und siegreich über einen Haufen gestürzter Throne, Kronen, Zepter, zerbrochener Schwerter, ohnmächtiger Kanonenrohre hinweg. Hinter ihr ging die Sonne auf. Sie war die Freiheit.

Jüngere Genossen machten sich über den Öldruck lustig, aber man ließ ihn hängen. 1890, als er noch nicht brüchig und vergilbt, sondern blitzend neu und prachtvoll anzusehen war, hatte Victor Adler selbst in diesem Zeichen die Gründung des Bezirks-Arbeiterbildungsvereins vollzogen: knapp nach dem allerersten Mai-Aufmarsch.

Sicherlich kamen wieder welche aus benachbarten Wirtshäusern zu Besuch. Auch aus Wohnungen, wo Silvester privat gefeiert wurde, kamen der Gastgeber oder die Frau auf einen Sprung herunter, holten an der Schank neue Vorräte ein, klapperten unentschlossen mit den Schlüsseln, blieben ein Viertelstündchen hocken. Junge Taugenichtse kehrten ein, auf einer endlosen Drahrerei durch alle Gasthäuser begriffen, schon schwer besoffen; berüchtigte Gestalten waren darunter, Plattenbrüder oder Lumpen aus der SA. Eisiges Schweigen, unterstützt vom Räuspern der Schankburschen, trieb sie bald wieder in die Nacht hinaus. Vergangenes Jahr war aber eine Jugend aufgetaucht, die Dworaks Herzen näherstand. Sein Sohn, mit einer ganzen Bande von Burschen und Mädel, alle SAJler. Alle in Skianzügen, die Bretter geschultert, so waren sie vom Bahnhof hergepoltert. Man hatte ihnen die Ehrenplätze im Extrazimmer eingeräumt. Ihre Wangen waren noch rot gewesen vom scharfen Alpenwind. Sie hatten heißen Tee getrunken – keinen Tropfen Bier oder Wein –, »Antialkoholiker« durch die Bank. Ihre Gespräche: Stemmbogen, gerissener und gezogener Kristiania, Schuß in vereistem Hohlweg, Gleitwachs und Steigwachs – und mittendrin war der Student Weigel auf die kleine Ruth Eisner losgestürzt: »Aber, wenn ich dir schon sag', daß Marx sagt, daß die Diktatur des Proletariats eine Diktatur der Majorität ist und infolgedessen ...«

Und auch, wenn heuer diese Jungen nicht dort waren – wer von den Bezirksmitgliedern nur halbwegs in der Nähe der Gasse wohnte, wer nur halbwegs in der Gegend vorbeikam, machte seinen Respektsbesuch im Gasthaus »Zur Republik«. Denn dort saßen die führenden Genossen aus den meisten Sektionen zusammen, dort war an schlimmen Tagen das Hauptquartier jener Armee, an Feiertagen das Festzimmer jener Familie, die »Sozialdemokratische Arbeiterpartei« hieß.

War man im Extrazimmer schon bei den Erinnerungen angelangt? Isonzo-russische Kriegsgefangenschaft – Parteitag im Siebenerjahr – die große Schuhmeierversammlung auf der Schmelz im Siebenerjahr –, und jedermanns Erinnerungen vermengten sich mit den fremden und doch gemeinsamen, bis auch die Schweigsamsten vom Schlage Dworaks aus sich herausgingen und sich der Redseligkeit hingaben, für sie doppelt köstlich. Dann versickerten die Gespräche, man wurde still und saß still im guten Bierdunst, Kopf und Herz angenehm geklärt. Plötzlich bemerkte Spannmeyer, daß es knapp vor 12 war. Er sprang auf, das Krügel in der Hand, stotterte etwas Feierliches durch den schaumbedeckten Schnurrbart, und dann war's soweit, und alle standen auf; die Männer küßten ihre Frauen, jeder hatte so viel Wünsche, daß keinem etwas einfiel, und Spannmeyer hob nochmals das Krügel, und alle schrien mit ihm: »Prosit Neujahr!«, »Hoch der Sozialismus!« –

Die sternlose Himmelsdecke stülpte sich über den letzten schmalen Schimmer, der Wien war. Gleichgültige Dorflichter schwammen vorüber. Im Gasthaus »Zur Republik« würde die Feier ohne Dworak vergehen. Es war schade drum; es war schon ein richtiger Verdruß.

Und der ließ sich schwerer verwinden, als Dworak vermutet hatte. Der sachlichste Funktionär des Bezirks konnte hier plötzlich ein paar lockende Silvestereinbildungen nicht loswerden, welche im Hintergrund seiner Gedanken standen, hastig gewiegt vom Vorwärtsstampfen der Maschine. Es gelang ihm nicht, sich auf die Tatsache einzustellen, daß er nun einmal der Mann war, der diesen D-Zug heil und gesund an die Grenze zu bringen hatte. Der gewohnte Dienst wurde erstaunlich schwierig und lästig. Sooft Gellert die Feuerungsklappe öffnete, stieß die Hitze wie mit Faustschlägen an die Augenlider. Der Streckenwind fuhr durch die Fenster herein, fraß sich mit kleinen Bissen eisig in Waden und Nacken, während vom Gesicht der Schweiß rieselte. Dworak kam auf eine Befürchtung, die ihm im normalen Zustand einfach läppisch geschienen hätte: Ob er sich nicht erkälten würde? Auf Gluthitze, Dezemberkälte und Rußgestank war er eingearbeitet wie nur je ein ordentlicher Mensch auf sein Handwerk. Er hatte gelernt, die notwendigen Griffe mit einem Minimum von Körperbewegungen zu verrichten. Mit einem Minimum von Worten wußten er und sein Heizer sich nötigenfalls zu verständigen. Das Erforderliche ging längst automatisch von der Hand. Er hatte sich selbst in der Arbeit streng rationalisiert, wie es ja auch nicht anders ging, wenn man seine Kraft, Schlafzeit, Gesundheit einem Staatsbetrieb zur Verfügung stellte, der vor lauter Ausgepowertheit ausbeuterischer wirtschaftete als Henry Ford. Es hieß systematisch mit sich haushalten; was nebenbei eine gute Funktionärsschulung war. Den arbeitslosen jungen Leuten fehlte sie, und man sah's ihnen an. Das war Dworaks Meinung, und das war der ganze Dworak! – Aber in dieser Nacht war er es offensichtlich nicht. Er las den Manometer ab, wendete sich zum Fenster, um auf die Straße zu sehen, und wußte plötzlich nicht, ob es achteinhalb oder neun Atmosphären gewesen waren. Dann wieder wurde der Regulatorhebel widerspenstig. Einmal, als Dworak sich aus dem Fenster beugte, riß ihm der Fahrtwind fast die Mütze vom Kopfe. Das Einfachste erforderte Konzentration.

Dworak war seit zehn Jahren nicht einmal krank gewesen. Im Spiegel pflegte er sich nur genau so lange zu besehen, als es nötig ist, um festzustellen, ob man sich sauber gewaschen hat. »Kruzifix, was ist denn los mit mir«, knurrte er ungeduldig. – Und wer die Sache schlimmer machte, war der Heizer Gellert. Als Dworak gegen seine Gewohnheit zu fluchen begann – auf Zehetner zu fluchen –, sah es noch aus, als wolle Gellert ihn verstehen. Verstehen nämlich, wie schwer einem Menschen vom Range und in der Lage Dworaks so etwas fällt.

Er ist Obmann einer der mächtigsten Eisenbahnergruppen des Landes. Er ist außerordentliches Mitglied der Exekutive der Bundesbahndirektion Wien. Hoher Bezirksfunktionär im Republikanischen Schutzbund. Er war im Jahre 18 die Nebenregierung auf dem Bahnhof. Nebenregierung? Was waren denn damals die offiziellen Regierungen? Schatten. Zwar, das hat sich nun geändert. Seither hat sich im Lande manches begeben. Aber nichts, was ihm Anlaß gibt zu zweifeln, daß im Betrieb eigentlich er die Autoritätsperson ist. Wie verhandelt der Vorstand mit ihm? Ausgesucht höflich. Von Großmacht zu Großmacht. Hinter dem Hofrat steht die Gewalt des Generaldirektors, hinter dem Lokomotivführer die Gewalt einer 92prozentigen freigewerkschaftlichen Belegschaft. Wer ist mächtiger? Beide ziehen es vor, das vorläufig dahingestellt zu lassen, bis die Wirtschaft sich erholt hat. Jeder der beiden trägt seine Verantwortung für die Ordnung im Betrieb. Der Lokomotivführer: die schwerere. Manchmal tönt durch den Rundfunk unvermutet eine scharfe Regierungsrede, der kleine Kanzler macht in einer Bauernversammlung drohende Andeutungen, der fürstliche Tunichtgut ruft seine Söldner zur Vernichtung des Bolschewismus auf. Die Partei tobt im Parlament, beruft Protestversammlungen ein. Was dem Volk lieber sei: die Diktatur eines Fürsten Starhemberg oder die Diktatur des Proletariats? Der Hofrat und der Lokomotivführer wissen, jeder für sich, Bescheid: Weder – noch. All das sind Geplänkel. Die Hauptschlacht ist vertagt. Man muß bis dahin irgendwie miteinander auskommen. Großmacht und Großmacht ... Keine Dienstplanänderung, keine Lohnkürzung geht im Betrieb durch, ohne dem Lokomotivführer vorgelegt zu sein. Er kennt das Gewirr der Dienstpläne, Dienstplanmuster, Lohntabellen, Ergänzungsbestimmungen, Disziplinarvorschriften, Bundesbahnsanierungs-Gesetze besser als der Generaldirektor und so gut wie dessen Leibjuristen. Er könnte ohne jede weitere Vorbereitung Verkehrsminister werden, auch Innenminister oder Heeresminister. Im Parlament säße er schon lange, wenn er damals im Jahre 1924 nicht lieber bei seinen Leuten im Betrieb geblieben wäre. Doch davon lieber nichts in dieser Nacht. Denn jetzt wird er nach alldem, im vierzehnten Jahr der Republik, von einem schäbigen, kleinen Kanzlisten willkürlich in die Arbeit gejagt wie ein Schlosserlehrling vom Meister. Dem Buchstaben der Dienstordnung nach hätte er sich auch in früheren Zeiten dagegen nicht wehren können, so geschickt ist die Schikane eingefädelt. Aber wann hätte die Nichtigkeit eines Zehetner sich auch nur in Gedanken an ihn herangetraut? Bisher hat er diesen Zehetner überhaupt nicht beachtet. Oder hat ihn, wenn der Name auftauchte, historisch erklärt, wie er es gelernt hatte, das heißt entschuldigt: »Er ist halt ein kleinbürgerlicher Mensch. Laßt's ihm die Gesinnung.« Nun muß er zur Kenntnis nehmen, was geschehen ist. Es ist nicht mehr als ein boshafter Mückenstich und läßt sich doch nicht verschmerzen.

Dworak begann den Maschinenmeister ausgiebig zu verfluchen. Er spuckte die Flüche nicht aus, sondern schlürfte sie hastig schnaubend in sich hinein. Er beabsichtigte, sich in seiner Wut einen richtigen Rausch anzutrinken. Und zunächst schien Gellert zu verstehen, wie schwer das Dworak fiel und daß er es nur tat, um sich gehörig in Hitze zu bringen, um, mit einem Wort, irgendwie über den Verdruß hinwegzukommen. Gellert machte darüber keine einzige seiner höhnischen Bemerkungen. Er half mit wie ein guter Freund. Während Dworak hinausgelehnt stand, legte der Heizer wieder nach und schleuderte Flüche und Kohlenbrocken in die Feuerung. »So ein feiger Hund, so ein verdächtiger! Wann's soweit is', bin i derjenige, der was den Herrn an die Wand stellen tut! Den wer'n ma garantiert obidrahn! Soll'n sich no lang net aufpudeln, die Herrschaften! Bei uns san's no lang Zweite!« Das tat wohl. Dworak lächelte zu den nächtlichen Dörfern hinüber, deren Lichter in weiten Kreisbögen vorüberschwammen. In dieser Landschaft war ihm jeder Feldrain bekannt. Er durchfuhr sie seit 25 Jahren. Sie war ihm vertraut bei Tag und Nacht. Die Flocken fielen spärlicher. Keine Befürchtung, daß die Strecke verschneit sein mochte. Überhaupt war ihm schon viel leichter zumute.

Und so wäre die Nacht wahrscheinlich ruhiger verlaufen, wenn Gellerts Mitgefühl weiter gereicht hätte. Der beruhigte Dworak wandte sich halb ins Innere des Führerhäuschens, und während er die Strecke sicher im Auge behielt, begann er über die versäumte Silvesterfeier zu sprechen. Nicht übermäßig laut, denn, wie gesagt, hatten die zwei gelernt, den Lärm der Maschine zu überhören. Nicht übermäßig verärgert. Dworak war schon bereit, sich mit dem Verdruß abzufinden. Schließlich war er ein Arbeitsmensch. Aber weil er eben auch ein Gewohnheitsmensch war, brauchte er irgendeinen Ersatz für das Versäumte. Er wollte nichts, als eine ruhige halbe Stunde mit seinem Heizer plaudern. Über Spannmeyer und Pawlick. Über den Organisationstratsch. Über alte Bezirkserinnerungen. Kurz, über all die leichten Dinge, die ihn mit unter gewichtigeren Gründen bewogen hatten, damals im 24er Jahr den Weg zu Ruhm und Aufstieg einem anderen zu überlassen. Er wollte ein bißchen Familienbehaglichkeit haben, um darin die unterirdischen Sorgen, unerledigten Fragen, angehäuften Selbstvorwürfe des vergangenen Jahres endgültig zu begraben. Das Kommende würde noch genug Neues bringen. Es kommt vor, daß man eine solche halbe Stunde dringender braucht als alles andere. So brauchte sie Dworak nun am Ausgang dieses Jahres 1932, und er hatte sich lange vorher darauf gefreut. – Hier ließ Gellert ihn im Stich. Auch Geliert war im Gasthaus »Zur Republik« erwartet worden. Bei den Zusammenkünften in jenem Extrazimmer war er fast immer anwesend. Aber störend wirkten immer wieder seine plötzlichen höhnischen Bemerkungen. Womit der Stammrunde keineswegs Verständnis für Humor oder Kritik abgesprochen werden soll. Spannmeyers Spottlust zum Beispiel war gefürchtet. Vergangenes Jahr hatte Dworaks Sohn Hans einen tückischen Witz über den Parteivorstand gerissen und damit viel Gelächter und Streit ausgelöst. Wenn der Kompanieführer Kaliwoda sich einen Spitz antrank (und dazu brauchte er nie mehr als 3 Achtel, denn er trank auf leeren Magen), starrte er ins Glas und murmelte: »Aber Juden san's halt doch ...!« Das alles war dazugehörig. Gellerts Bemerkungen nicht. Sie erregten nur Unbehagen. Sie kamen aus einer fremden Sphäre. Eigentlich lud man ihn nur ein, weil Dworak einen Narren an ihm gefressen hatte.

Jetzt ließ Gellert die Feuerungsklappe niedersausen, daß es knallte. Er stützte den Bauch auf den Schaufelgriff und reckte den Kopf gegen Dworak vor. Der rote Widerschein des Feuers war von seinem Gesicht abgefallen wie eine Maske; nun starrte es schwärzlich, kurz und breit, mit aufgestülpter Nase, die die großen Nasenlöcher sehen ließ, mit zusammengekniffenen Lippen. Unter dem hochgeschobenen Mützenschild quollen ein paar feuchte Haarsträhnen hervor. In der rußverschmierten Haut sahen die hellgrauen Augen fast weiß aus. Noch bevor er sprach, wußte Dworak, was kommen würde. »Ujeh! Mir scheint gar, du hast Heimweh nach dein' Veteranenverein? Also, wannst mi fragst.« – »I hab di net gfragt!«

»Deswegen werd i noch immer meine Meinung sagen dürfen in aner demokratischen Republik! Also, wanst mi fragst ...«

Dworak lehnte sich wütend hinaus und hörte nicht weiter zu. So war dieser Gellert. Was man für ihn tat, war umsonst getan. Er war das geblieben, als was er vor 6 Jahren aufgetaucht war: ein fremdes Element. Ein anständiger Arbeiter soll von einem Vagabunden keine Dankbarkeit erwarten. Von keinem Menschen darf man Dankbarkeit erwarten.

»Ferdl – Dworak.«

Der Heizer tippte ihn auf die Schulter und hielt ihm die 2 Blechbecher und eine Flasche Bier entgegen. Ungeschickt lächelnd: »Schenk ein, 's ist gleich 12 Uhr!« Ja, der war plötzlich verlegen, die Augen hielten nicht stand. Seine ungewöhnlich breiten Schultern wurden hilflos. Er war um einen Kopf kleiner als sein hagerer Lokomotivführer. Dworak nahm wortlos den Becher an. Der andere machte einen armseligen Versuch zur Ermunterung. »Na, alsdann, sag'n ma, es war nix. Prosit! – Skal sagen die Schweden! Es lebe die Partei!«

Das klang verlegen und hatte in Dworaks Ohren trotzdem einen höhnischen Unterton. Er brummte sein Prosit und setzte das Glas an. Immerhin, das Bier war gut. Wo hatte der Vagabund die Flasche aufgehoben, daß das Pilsener sogar kühl war? In diesem Augenblick fuhr ein eisiger Schreck Dworak durch den Leib. Angst preßte ihm den Magen zusammen, daß er fast das Getränk erbrach. Er hatte das sichere Gefühl, soeben das Haltesignal eines Blockhauses überfahren zu haben. Er griff nach der Notbremse, stieß den Oberkörper zum Fenster hinaus. Die Signale leuchteten grün. Er hatte sich geirrt, alles in Ordnung. Der Schreck zerrann. Aber eine Unruhe blieb; irgendein undeutliches Vorgefühl, das nichts Gutes besagte ... Dem völlig gesunden Mann gelang es nicht, sich Rechenschaft darüber zu geben, was im Laufe der nächsten Stunden eigentlich mit ihm geschah. Beim Aufenthalt im großen Bahnknotenpunkt, wo für gegebene Fälle Ersatzleute bereitstanden, gedachte er einen Augenblick ernstlich, sich ablösen zu lassen. Er befand sich in einer Verfassung, die es Fahrtbediensteten zur Pflicht macht, sich zur Fortsetzung der Arbeitsleistung außerstande zu erklären. »Wegen Behinderung der vollen geistigen und körperlichen Arbeitsfähigkeit!« sagte die Dienstordnung. Nur hätte er diesen Zustand an sich nicht näher präzisieren können, und so fuhr er weiter. Der Heizer ahnte nicht das Geringste. Sonst hätte er seinen Kollegen sofort krank gemeldet. Wenn aus keinem anderen Grund, so aus Angst um seine Knochen und um die der Fahrgäste. – Der Schneefall hatte ganz aufgehört. Der Himmel hatte sich gelichtet. Halbe Stunden lang ohne Unterbrechung flog der weißliche Mond neben der Lokomotive. Die Sicht war einwandfrei. Trotzdem wich von Dworak nicht die Besorgnis, irgendwo weiter könnte die Strecke blockiert sein. Wußte man denn, wie stark es vorne in den Bergen geschneit hatte und ob es noch schneite? Das Schreckerlebnis mit dem scheinbar übersehenen Haltesignal befiel ihn wiederholt, wenn auch weniger heftig, weil er sich mißtraute. Aber daß er sich mißtraute, war quälend genug. Gellert mußte mehrmals an seiner Statt die Geschwindigkeit regulieren. Tat er's selbst, so schien auf die Meßapparate überhaupt kein Verlaß zu sein. In Wirklichkeit aber auf ihn nicht, und das wußte er. Die gewohnte Verantwortung für alles, was dem Zug zustoßen mochte, war plötzlich fast unerträglich geworden. Was ist nur los mit mir? fragte er sich mehrmals, ohne eine Antwort zu finden. Gegen 3 Uhr morgens hielt er es nicht mehr aus, sich allein damit herumzuschlagen, und schrie heraus: »So kommt's zu die Eisenbahnkatastrophen! Und nachher schieben's alles auf uns. Die Hunde, die denken ja gar net auf den Betrieb! Nur immer auf die verfluchte Politik, sonst auf gar nichts! Aber daß einer ein Mensch ist, das ist denen Wurscht! Jessasmaria!«

»Ja, was denn?«

»Aber nix«, stöhnte Dworak. Er hatte ja auch beim Eigentlichen vorbeigeredet und wußte nichts anderes dazu zu sagen. Immerhin war die Spannung zwischen den beiden damit beendet. Dworak konnte dem anderen wenigstens mitteilen, was er über die Eisenbahner dachte, die ihnen in fast jeder Station Neujahrswünsche brachten. Das hatte sich schon ein Dutzend Male wiederholt und quälte seine gereizten Nerven. Er hätte am liebsten diese lächelnden Männer beschimpft. Über fast jeden Funktionär sind böse Gerüchte im Umlauf, Dworak, der sonst prinzipiell kein einziges für wahr hielt, glaubte jetzt plötzlich an alle. Dreck und Gemeinheit starrten ihm überall entgegen.

»Hast den Fahrtdienstleiter Andreas gesehen, mit sein' abgeschleckten Grinsen? Das ist nix wie die Angst, mein Lieber. Die Kassa in dem seiner Ortsgruppen, die gehörte amal gründlich revidiert. Und der junge Hagleitner! Um was wetten wir, daß der ein Nazi ist? Der Fallot ist nur zum Spionieren bei uns.«

»Aber geh, der Hagleitner? Hör auf!«

»Freilich, der Hagleitner. Stille Wasser sind tief. Zu keinem Menschen kannst im Leben ein Vertrauen haben. Zu niemand, sag ich dir ...« Auch das war vorbeigeredet und half nichts. Und wieder ergriff ihn die Angst vor einer Katastrophe. – Es kam zu keiner Katastrophe. Das war unter solchen Umständen viel eher ein Zufall zu nennen, als wenn es dazu gekommen wäre. Gegen 5 Uhr ließ er die Maschine ordnungsgemäß im Heizhaus der Endstation abfertigen. 5 Stunden blieben ihm zum Ausschlafen, um 11 Uhr 30 hatte er dann einen Personenzug nach Wien zurückzuführen. Zerschlagen, wie er war, fühlte er sich dennoch außerstande, einzuschlafen. Er schlug darum nicht den Weg zur Eisenbahnerkaserne ein, sondern in die Stadt hinaus. Gellert begleitete ihn; das war ihm recht. Auf den Straßen lag knöchelhoch Schnee. Kein Gasthaus mehr hielt offen, die kleingedrehten Laternenlichter brannten kaum. Auch diese Provinzgemeinde war verarmt, man mußte an allen Ecken sparen. Im kargen Mondlicht lag die kleine Stadt tot. Die zwei Eisenbahner kannten sich hier recht gut aus, aber so, wenn alle Denkmäler überschneit, alle Fenster blind, alle Wirtshäuser geschlossen waren, wurde die Stadt wieder fremd. Frost brach herein, sie begannen trotz ihrer mit Schaffell gefütterten Winterjacken zu frieren, gingen aber weiter, ziellos durch die engen Quergäßchen. Vor einer eisernen Brunnenmadonna, die, eine Schneekappe auf dem Kopf, mit erfrorenem Lächeln ihr verschneites Christkind splitternackt in die Kälte hinaushielt, blieben sie stehen, um sich Zigaretten anzuzünden. Dworak blies der Jungfrau Rauch ins Gesicht. »Pfaffenland!«

Sie gingen weiter.

»Im Viererjahr, wie ich in die Partei eingetreten bin, hab' ich geglaubt, in höchstens 10 Jahren wird die Vernunft die ganze Menschheit erobern!« Gellert, der um 15 Jahre jünger war, begriff die Vorstellung nicht: »Wie meinst du das eigentlich?« –

»Und nach 10 Jahren war der Weltkrieg da.«

Eine Zeitlang stapften sie wieder schweigend nebeneinander. Dworak fragte unvermittelt: »Sag mir einmal ganz ehrlich, Sepp: Bist du ein Kommunist?« Gellert stöberte mit der Schuhspitze in einem Schneehaufen. »Wann der Lenin noch am Leben wär, nachher wär ich ein Kommunist.« Darauf wußte Dworak im Augenblick nichts zu sagen. Übrigens hatte er eigentlich schon wieder danebengefragt. Er hatte nur seiner Unruhe irgendwie auf den Grund kommen wollen, und das gelang ihm nicht.

Wie das in einem kleinen Nest so geht, gerieten sie immer wieder auf den Hauptplatz zurück, jedoch ohne es zu bemerken. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. Gellerts wechselnder Lebenslauf hatte ihm schon oft Gelegenheit dazu gegeben. Anders Dworak: Er dachte zum erstenmal so recht über sich nach, und angesichts so vieler neuer Fragen fühlte er sich völlig hilflos. Die Kälte ging ihm schon durch und durch. Nässe drang in seine Schuhe, alle Knochen schmerzten. Und da machte er eine ungewöhnliche Entdeckung. Genauer gesagt, stieß er auf eine sehr natürliche und durchaus nicht erstaunliche Tatsache, und erst, daß sie ihm eine Entdeckung erschien, war das Ungewöhnliche daran. Er erinnerte sich nämlich, daß er eigentlich schon an die 50 Jahre alt war. Alt? Damit war er ja noch nicht alt, aber immerhin 50 Jahre!

2

In den folgenden Wochen fand jedoch kein Bahninspektor Ursache, sich über Dworak dienstlich zu beschweren. Nichts fiel vor, was seinen Ruf vollster Zuverlässigkeit hätte trüben können. Das mochte daran liegen, daß er im Monat Jänner nur selten Nachtdienst zu leisten hatte. Außerdem aber berichtet Gellert, daß der Lokomotivführer damals auf besondere Weise mit den Maschinen Frieden schloß. Beim pflichtgemäßen Ölen und Nachprüfen der wichtigen Bestandteile trug er neben der gewohnten Sorgfalt geradezu eine Art Liebe zur Schau. Länger als nötig machte er sich mit gerührtem Blick an Kolben und Ventilen zu schaffen. Auch begann er, den Maschinen menschliche Namen zu geben, ein Brauch aus den verhältnismäßig gemütlichen Betrieben der tiefsten Vorkriegszeit, der sich aber nur mehr in der und jener kleineren Werkstatt erhielt. – Daß sich mit Dworak damals eine Wandlung vollzog, merkte man vor allem in unserer Bezirksorganisation. Es begann damit, daß er, bekannt als die Ruhe selbst, sich auf einmal in einen sehr anfechtbaren Versammlungsvorsitzenden verwandelte. In schroffer Art, offenbar willkürlich, schnitt er Diskussionsrednern das Wort ab oder verkündete überhaupt eine Beschränkung der Redezeit. Zunächst nahm man das mit Rücksicht auf Dworaks Autorität schweigend hin. Weyer war der erste, der Einspruch erhob; ein alter Genosse, unantastbar gemacht durch seine 35 Jahre alte Mitgliedskarte. Er begnügte sich mit einer geflüsterten Bemerkung am Vorsitzendentisch, wo er neben Dworak präsidierte. Daraufhin – das geschah bei einer Gewerkschaftssitzung – schlug Dworak mit der Faust auf den Tisch: »Laßt's mich in Ruh mit eurer Tagesordnung! Ihr habt's ja nix im Kopf seit 30 Jahren wie eure Tagesordnung!« Das war arg. Und gar aus dem Mund eines Mannes, der unter der Victor-Adler-Büste unerschütterlich und gerecht wie die leibhaftige Tagesordnung selbst zu thronen pflegte, klang das geradezu unglaublich. Noch merkwürdiger war, daß er nach diesen und wiederholten anderen Ausbrüchen mit einem Male jedes Interesse an der Sitzung zu verlieren schien und im bewegtesten Disput, die Brauen gerunzelt, eigenen Gedanken nachhing. Er verspätete sich mehrmals. Die erste scherzhafte Ermahnung darüber löste eine Lawine aus: »30 Jahre hab ich mich für euch geopfert! Auf's Nationalratmandat habe ich wegen euch verzichtet! Meine Nerven habe ich ruiniert wegen euch!«, usw.

Bei eben dieser Sitzung des Bezirksvorstandes erreichte sein sonderbares Gehaben den Höhepunkt. Auf sein Betreiben wurde die ganze Tagesordnung im Eiltempo durchgepeitscht, weil er zum Punkt »Allfälliges« wichtige organisatorische Vorschläge zu machen hatte. Als es soweit war, kramte er lange in einem Stapel von Merkzetteln herum, legte eins ums andere kopfschüttelnd beiseite, um schließlich, an das letzte Stück Papier geklammert, eine ausführliche Ansprache loszulassen. Er redete in energischem, mitreißendem Ton, den man an ihm von großen Gelegenheiten her kannte. Ganz große Worte fielen wie: »Parteidisziplin, Sein oder Nichtsein, Freiheit und Fortschritt, Sackgasse ...« Aber das alles lief schließlich auf die unglaublich einfache Forderung hinaus, die Beiträge müßten fleißiger kassiert und schneller abgerechnet werden. Für den Bezirksvorstand gab es nichts auf der Welt, was so selbstverständlich, so grundlegend gewesen wäre, und nichts, worüber man öfter geredet hätte. Die Vorstandsmitglieder blickten einander befremdet an. Man konnte sich nicht einmal zu einer formellen Erwiderung aufraffen. Unter Räuspern und Sesselrücken löste sich die Sitzung auf, während einige verlegen noch ihr »sehr richtig« murmelten.

Nun war es aber bekannt, daß Dworak nur entscheidende Dinge zu sagen pflegte und meist nur dazu das Wort ergriff. Außerdem war man schon damals in der Partei gewöhnt, hinter den Worten führender Genossen einem Sinn nachzuspüren, der aus parlamentarischen, außenpolitischen, innerparteilichen oder anderen taktischen Rücksichten nur andeutungsweise vorgebracht werden durfte. Die politische Stimmung war erregt, vornehmlich über Gerüchte, die vom Reich herkamen, und wegen einer kürzlich, von der Parteipresse aufgedeckten faschistischen Waffenschiebungsaffäre. Als Dworaks Rede, noch verschwommener, als sie ursprünglich gewesen war, sich unter den Funktionären herumsprach, fand sie viele Ausdeuter. Am passivsten blieben die Abenteuerlichsten. Augenzwinkernd begnügten sie sich mit ebenso kühnen wie unverbindlichen Theorien. »Is ja logisch! Die Entente fordert von Österreich eine Entschuldigung dafür, daß die Regierung die italienischen Waffen hat nach Ungarn schmuggeln lassen. Jetztn – einerseits – müssen wir Frankreich beruhigen – anderseits – müssen wir schau'n, daß wir net ins italienische Fahrwasser kommen. Außerdem muß eine Regierung her, was sich einen solchen diplomatischen Ton net gefallen laßt, weil Österreich zwar in Europa naturgemäß der letzte Dreck ist, aber was zuviel ist, ist zuviel. Alsdann – da gibt's eben nur eins – Koalitionsregierung!« Und sie wiesen bedeutsam auf irgendeinen Satz, nein auf irgendein Wort in der »Arbeiter-Zeitung«. – »Da seht ihr's ja! Der Genosse Bauer wird jetzt eine Zeitlang nichts zu reden haben. Man muß zwischen die Zeilen lesen können. Wann der Renner im Feber net Bundeskanzler ist, heiß' ich Veitel! Wer Ohren hat zum Hören, für den haben ja die Ausführungen von Genossen Dworak schon alles Nötige gesagt.« Gleichzeitig wurde das Gegenteil gemutmaßt. So saßen die ahnungslosen Propheten von jeher an ihren Sektions- und Wirtshaustischen, über alles und jedes spekulierend. So sollten sie noch eine Spanne Zeit sitzen, mit dem Fingernagel Worte aus der »Arbeiter-Zeitung« unterstreichend, den erloschenen Virginiastengel zwischen überlegen gekräuselten Lippen, mit pfiffigem Blick und kurzem Gedächtnis, streitsüchtig, in ihrer Art glücklich. Und so blieben sie auch diesmal auf ihren Stühlen. Andere aber wandten sich, mehr oder minder zögernd, direkt an diesen Genossen Dworak, der, bisher kühl und unnahbar, nun irgendeiner nicht ganz verständlichen Veränderung unterlag. Es war erstaunlich, was an Wünschen, Zweifeln, Hoffnungen, Plänen, von seinem unklaren Verhalten magnetisch angezogen, sich ihm plötzlich von allen Seiten aufdrängte. Einige Mitglieder der Sektion 4 baten ihn, sie im Kampf gegen ihren Obmann zu unterstützen, der den Sektionsausschuß systematisch mit bezirksfremden Elementen durchsetzte und noch dazu mit Intellektuellen, während die manuellen Arbeiter nichts zu reden hätten. Eine Gruppe kleiner Funktionäre forderte seine Hilfe gegen die Genossin Prischnigg, die noch immer im Bezirksvorstand saß, wiewohl sie eine Flitsche mit Lebenswandel sei und den Genossen Petschina schwer beleidigt habe. Die religiösen Sozialisten des Bezirks beschworen ihn, sie gegen die Tyrannei der Freidenker zu schützen. Einzelweise gingen ihn Kassierer, Kontrollkommissionsmitglieder, Vereinssekretäre mit ihren Beschwerden an, gewissenhafte kleine Bürokraten, die aus irgendeinem papierenen Grund zu Eiferern geworden waren. Diese hatten eigentlich noch am ehesten Ursache, sich auf jene Rede Dworaks zu berufen. – Aber ein 100prozentiges Mißverständnis lag offenbar vor, als ein Schutzbündler der 3. Kompanie bei ihm in der Wohnung erschien und mit einem festen Händedruck vertraulich erklärte: »Freut mich, Genosse, daß Sie als verantwortlicher Genosse endlich in der Beziehung etwas unternehmen wollen. Wir von der 3. Kompanie stehen vollständig auf demselben Standpunkt.«

»Ja, ich weiß nicht recht ...«

Der Mann augenzwinkernd: »Schon in Ordnung, Genosse Dworak, die 3. Kompanie schweigt wie das Grab.« Und im Weggehen: »Wär' ja auch eine Schande, wenn die SA das Ammonit zentnerweise hamstern tut, daß wir ohne ein Körndl Sprengstoff dastehen. – Na was denn – wir verstehen uns schon. Sonst möchten wir ja wirklich in die Sackgasse kommen, wie Sie so treffend ausgedrückt haben!« – Auch der alte Fellhammer kam. Seine spärlichen Haare standen wirr vom glänzenden Schädel ab. Er sprach erregt, die wasserblauen Augen wurden ganz dunkel vor Leidenschaft. Vom Ganzen begriff der Angeredete nur zwei Sätze: »Ganz recht ham's« und »Das Unglück hat ja schon im 7er Jahr angefangen, wie der selige Genosse Schuhmeier den unseligen Gang zur Hofburg gemacht hat«.

Doch auch diesen Alten hörte Dworak geduldig bis zum Ende an. Er kannte dessen Steckenpferd seit 20 Jahren und hatte oft darüber gelacht. Er kannte auch längst (und liebte im Grunde genommen) all die Gruppen und Grüppchen, die ihn da plötzlich umdrängten. Er betrachtete sie von jeher als zum Leben der Organisation gehörig, als den natürlichen Bodensatz dieses Lebens, zusammengesetzt aus erfolglosem Ehrgeiz, erfolglosem, schlechtem oder allzugutem Willen, aus politischen und unpolitischen Schrullen, Idealen, Süchteleien, menschlichen Schwächen aller Art. Hier und da, meist vor Bezirkskonferenzen, wirbelten diese Leidenschaften auf, um bald wieder niederzusinken. Daran war er schon gewöhnt. Diesen Bodensatz von Unzufriedenheit irgendwie analysieren zu wollen, wäre ihm absurd erschienen. Dworak hatte keine hohe Meinung von den Menschen im allgemeinen. Im Vergleich zu den hohen Idealen von Vernunft und Gerechtigkeit, welche ihnen seiner Überzeugung nach als Aufgabe gesetzt sind, waren sie ihm immer als ziemlich verächtliche Geschöpfe erschienen; sie bedurften in hohem Maß der Obhut verantwortlicher Funktionäre. So führte er dann auch seit zwei Jahrzehnten jede Spielart dieser Unzufriedenheit auf die natürliche menschliche Unzulänglichkeit zurück. Zwischen der Ehrenaffäre Pruschnigg–Petschina, die sich seit nunmehr 5 Jahren hinzog, und etwa jener linken Opposition, die sich seit anderthalb Jahren entfaltete und im Herbst 32 gar keine Miene gemacht hatte, mit den Kommunisten in einer »Antifa« sich zu vereinigen, sah Dworak nur einen Unterschied im Grade der Schädlichkeit, aber keinen prinzipiellen.

Weder die einen noch die anderen hatten begriffen, was das eigentlich war: die Partei. Und weil es immer Menschen geben mußte, die es nicht begriffen, waren die einen wie die anderen unvermeidlich. Doch hatte Dworak bisher auch hier Wichtiges und Kleinliches genau zu unterscheiden gewußt, hatte in hohem Grad jenen Orientierungssinn besessen, der führende Menschen davor bewahrt, im Morast der 1000 Überflüssigkeiten steckenzubleiben. Nun schien er es verloren zu haben. Das Gesicht ungeduldig verzogen, schien er hinter allem, was ihm wortreich oder stammelnd vorgebracht wurde, etwas Verstecktes zu suchen. So gab er sich über eine Woche lang mit allen ab, die ihm die Türe einrannten. Dann mit einem der jähen, ärgerlichen Entschlüsse, die ihn damals zu fassen pflegten, verschrieb er sich mit Haut und Haar den Bürokraten. Viele unter diesen waren's erst mit der Zeit geworden. Vor Jahr und Tag war an ihnen eine ähnliche Unruhe bemerkt worden wie nun an Dworak. Nur hatten diese Unbedeutenden damit kein Aufsehen erregt. Und da hatten sie sich denn in die Kleinarbeit festgebissen, waren blind und taub geworden gegen alles übrige. – Mit ihnen trieb er bis Ende Jänner. Sie hielten halbe Nächte lang Arbeitssitzungen ab, wo man sich an pedantischer Emsigkeit still berauschen konnte wie an Opium. Sie begruben sich hinter Katasterblättern. Eine übervolle Aktentasche unter dem Arm, stelzte Dworak die dienstfreie Zeit hindurch von Sekretariat zu Sekretariat. Weyer, der ihn für dringlich gewordene Maßnahmen gegen oppositionelle Eisenbahner brauchte, war gezwungen, ihn schließlich buchstäblich in eine Zimmerecke zu drängen. Das nützte nichts. Der Obmann hörte weg, seine Augen wichen aus. »Ja, ja, macht's, was ihr wollt's. Eins nach dem andern. Ich muß jetzt weg.« Und undeutlich fügte er etwas von »revidieren« hinzu. Drüben im Reich knallten allnächtlich Schüsse. Kommunisten und SA führten einen opferreichen Kleinkrieg. Der alte Hindenburg sprach vom geleisteten Eid: »Die Treue ist das Werk der Ehre.« Um das rätselhafte Kabinett Schleicher kreisten Gerüchte: Osthilfeskandal – Reichswehrputsch. Im Gasthaus »Zur Republik« hatten die Propheten Hochkonjunktur. In den Sektionen wurden Lichtbildervorträge» zugunsten politischer Referate verschoben. Die Tagesordnungen liefen geräuschvoll ab, und zum Hauptpunkt wurde – was selten vorkam – der Punkt Diskussion. Dworak duckte sich hinter Palisaden von Katasterblättern und revidierte irgend etwas. »Was zum Kuckuck revidiert er denn?« fragte sich der Bezirksrat Pawlik, gequält von einem schlechten Gewissen. »Revidiert er am Ende in Wirklichkeit mich?« Wiewohl er keinen Anhaltspunkt hatte, zweifelte er kaum mehr, daß Dworak ihm auf gewisse Pläne gekommen wäre, Pläne, die um das lukrative Korruptionszentrum des Direktors Rupprich von der Parteikino-AG kreisten, und zwar schon so eng, daß Pawlik sich kaum mehr hätte herauswinden können. Heuchelte Dworak (so fragte sich das schlechte Gewissen, unlogisch, wie schlechte Gewissen eben sind), heuchelte er etwa Inaktivität und Amtsmüdigkeit, um dann plötzlich Pawlik zu entlarven? Oder bereitete Dworak sich vor, seine Bezirksfunktionen niederzulegen, weil ihm eine höhere Karriere bevorstand? »Dazu«, sagte sich Pawlik ratlos, »braucht er doch nicht über meinen Kopf zu steigen und mich ruinieren. Bei seinen Beziehungen!« Für jeden Fall warnte er Rupprich und nahm den Stadtrat Kollmer gegen Dworak ein. So entstand selbst in diesem hohen Kreis eine gewisse Verwirrung. »Was ist denn los mit ihm?« fragte sich auch Gellert, der sich auf Dworaks Gehaben in den ersten Tagen viel zugute getan hatte. Denn, was anderes hatte er sich jahrelang gewünscht, als diese unerschütterliche Ruhe endlich einmal wanken zu sehen, als endlich in den selbstzufriedenen, festgeschlossenen, unzugänglichen Kreis dieser Gedanken einzubrechen. Ob aus Neid, aus regulärer Feindschaft oder aus Liebe, darüber hatte er nicht nachgedacht. Deutlich sah er jedenfalls, daß jetzt der Erfolg kein Erfolg war. »Du, frag net so viel, tu lieber deine Arbeit.« Und: »Von dem verstehst du nix, bist halt ein Vagabund.« Und die erstaunlichste Entdeckung an seinem Obmann blieb dem Heizer für den Morgen des 31. Jänner vorbehalten. Sie stießen an einer Straßenecke zusammen. Neben Dworak trottete ein gewisser Robert Blum, Kassier in der 12. Sektion, nebenbei ein klägliches Geschöpf, dem im Leben nichts gelungen war als korrekte Monatsabrechnungen. Man tuschelte, Dworak wolle ihn zum Bezirkskassier machen, aber wie verflucht unwichtig war das an diesem 31. Jänner! Gellert, der seit dem gestrigen Nachmittag keinen wesentlich genaueren Gedanken fassen konnte neben dem einen: »Also doch – also doch«, Gellert packte Dworak bei der Hand. »Also was sagst du dazu?«

Jener Blum machte erstaunte Augen hinter seiner Brille. Der Heizer beachtete ihn nicht und wiederholte dringlicher: »Also, Ferdl, was du zu Deutschland sagst, möcht ich wissen.« – Dworak machte sich stirnrunzelnd los: »Laß mich in Frieden mit dem ewigen Raunzen wegen der Tolerierungspolitik. Kauf dir den ›Vorwärts‹, dann wirst es wissen.« Gellert sperrte den Mund auf: »Ja, weißt du denn nicht, daß gestern...?« Nein, Dworak wußte nichts. Zufällig. Er hatte von Spätnachmittag bis spätnachts mit Blum gearbeitet und hatte morgens die Zeitungen nicht gelesen. Dworak, seit 25 Jahren Parteimitglied, Ortsgruppenobmann, Personalausschußmitglied, Schutzbundkommandant, Mitglied des Bezirksvorstandes, hatte seine »Arbeiter-Zeitung« nicht gelesen, ging am 31. Jänner durch die menschenerfüllten Straßen seines Arbeiterbezirkes und wußte nicht, daß am Vortag Hitler Reichskanzler geworden war...!

3

Da bogen sie auch schon um die Ecke, voran die SA, Reitstiefel, Braunhemd, Koppelriemen, Hakenkreuzbinde, alles tadellos adjustiert. Rollende Trommeln, schmetternde Trompeten, prasselnder Marschtritt. Studenten, Kommiß, aber dazwischen immer wieder Arbeitergesichter. Arbeitslose? Gewiß, viele Arbeitslose, das war eine Beruhigung für Dworak, das half, sie zu bagatellisieren. Aber er sah auch Arbeiter, tüchtige Menschen, denen er in früheren Jahren, nein, vor Monaten noch in der Gewerkschaft begegnet war. Dann waren sie immer seltener zu den Abenden gekommen, immer verschlossener, mürrischer, mit Augen, aus denen schlechtes Gewissen und Herausforderung sprach. Bis sie ganz ausblieben. Jetzt fand er sie hier wieder. Es schien ihm, sie sähen in der SA-Uniform wie verkleidet aus. Doch fühlten sie selbst offenbar nichts dergleichen. Hinter ihnen marschierten Hitlerjugend und glücklich erregte Zivilisten. Schimpfworte wurden ihnen nachgerufen. Vor einem Jahr hatte man sie noch ausgelacht. Sie hatten keine Furcht. Hie und da griffen die Braunhemden drohend zu ihren Koppeln. So zogen sie, »die Fahne hoch, die Reihen dicht geschlossen«, eine Invasionsarmee, quer durchs feindliche Gebiet. Am Karlsplatz sollte ihre Siegesfeier sein. – Dworak ließ den Heizer und den Kassier stehen, wo sie standen, sprang in die nächste Elektrische und fuhr heim. Auf dem zweiten Treppenflur mußte er einen Augenblick stehenbleiben, um auszuschnaufen. Er hatte Atemnot. Atemnot? Das war das Neueste. Er lehnte sich ans Geländer und betrachtete das saubere Türschild: »Robert Blum, Beamter a. D.« Darunter war ein Zettel geheftet: »Fürsorgerat, Sprechstunden: Dienstag und Freitag von 6–8.« Er verstand, daß ihm dieses Glück nicht erreichbar war. Die kleinen Funktionäre mochten hinter Katasterblättern ihre Ruhe finden. Ihm war dieser Fluchtweg versperrt. Er stand schon zu hoch. Er hatte schon zu viel Verantwortung. Verantwortung – ein teuflisches Wort. Früher hatte es ihm Kraft gegeben. Er hatte es zielsicher erregten Versammlungen entgegengeschleudert, und die Besserwisser, die Klugscheißer, die Verantwortungslosen waren verstummt. Jetzt drückte ihn diese Verantwortung nieder. Wenn er eine so große Verantwortung auf sich genommen hatte, warum nicht auch deren Annehmlichkeiten? Warum hatte er den Betrieb nicht verlassen, damals im 24er Jahr? Und was hinderte ihn jetzt daran? Er war außerordentliches Mitglied der Exekutive Wien. Er brauchte sich nur als ordentliches Mitglied kooptieren lassen, und schon würde er vom Dienst enthoben werden, würde ein Gehalt von der Gewerkschaft beziehen, seine Eisenbahnerpension dazu und ein Büro, um dort die Verantwortung zu tragen, die – so groß war sie schon – nicht mehr anders zu tragen war. Ein kleiner Schritt nur, und der unnatürliche Zustand war hinter ihm. Ja, der unnatürliche Zustand. Denn, was hat ein Generalstabsoffizier im Schützengraben zu suchen?

Dworaks Parteiführer, Otto Bauer, liebte aus irgendeinem Grund militärische Vergleiche. Jetzt kam dem Mann, der langsam die Treppenstufen zu seiner Wohnung hinaufstieg, das Wort »Marneschlacht« in den Sinn. Hieß es nicht, ein kranker Generalstäbler wäre damals zwischen die flutenden Truppenmassen geraten? Er hätte den Wirrwarr einer operierenden Armee zu nahe gesehen: steckengebliebene Kanonen, Transporte stöhnender Verwundeter, aufgelöste Kompanien, verwirrte Kommandanten, Regimenter, die vor- oder zurückmarschierten, ohne zu wissen, warum. Er hätte die Übersicht verloren und allgemeinen Rückzug verfügt...

Die Frau und der Sohn schon in der Wohnküche beim Nachtmahl. Die Frau lächelte vor Freude, als er kam, und stellte ihm seinen Teller dazu. Sie hatte verwischte Gesichtszüge, graue Haare, sah um Jahre älter aus als er. Er wusch sich die Hände. Als er nebenan im Schlafzimmer den Schrank öffnete, um ein frisches Handtuch zu nehmen, hing an der Innenseite der Kastentür, mit einem Reißnagel angeheftet, ein kleines Marienbild. Er riß es herunter.

»Seit wann hängt der Dreck da in meinem Kasten?«

Die Frau erschrak, saß ganz still und klein hinter dem Tisch. Ihre Nasenflügel wurden wachsgelb und zitterten. »Aber schon immer, Vater.« – »Lüg' mi net an! Sag lieber gleich, daß du unter die Kerzelweiber gangen bist!« Sie schwieg und schenkte ihm schüchtern Suppe ein. Es war durchaus möglich, daß sie nicht log, daß das Bildchen schon seit Jahren dort hing, von ihm unbemerkt. Durchaus möglich, daß sie sonntags in die Kirche ging, ohne daß er es wußte. Er hatte sie im Neunerjahr geheiratet, hauptsächlich, weil er sich als anständiger, klassenbewußter Arbeiter nicht ewig mit allerhand Weibsbildern herumtreiben wollte und die Bordelle satt hatte, die man in den Umkehrstationen aufsuchte. Nach der Heirat hatte er versucht, die Bauerntochter, die ein braves Dienstmädchen gewesen war, in die Bewegung zu ziehen. Als das nicht gelang, kümmerte er sich immer weniger um sie. Ohnedies nahm ihn die Organisation jede freie Minute in Anspruch. Den Sohn schenkte sie ihm im Jahre 15, 9 Monate nach dem ersten Fronturlaub. Er hatte ihm den ersten besten nichthabsburgischen Namen gegeben: Hans. Er hatte ihn gern auf den Knien reiten lassen und dem 13jährigen Roten Falken, dem es doch ein klein wenig um die Konfirmation leid tat, eine silberne Uhr geschenkt. Und wenn Spannmeyer ihn einen Haustyrann nannte, so wahrscheinlich nur darum, weil Spannmeyer unterm Pantoffel lebte. – Bei Tisch wurde nichts geredet. Von der politischen Katastrophe, die Dworak eben erfahren hatte, verstand die Frau nicht das Geringste, und die verwirrten Ansichten seines Sohnes interessierten Dworak nicht. – Hans schob den halbvollen Teller beiseite. »I mag nimmer, immer die Einbrenne«, sagte er mit einer kleinen Grimasse. Dworak sah die gekränkte Miene der Frau. Sie tat ihm plötzlich leid. Hätte sie es jetzt nötig, mit ihrer Suppe Kummer zu erleben, wenn er seine Aufstiegsmöglichkeiten ausgenützt hätte? Er war schuld. Als sie jung waren, hatte sie ihn manchmal scherzhaft »Herr Reichsratsabgeordneter« genannt und hatte schöne Träume gesponnen. Aber er bekam nie einen Vorwurf zu hören. Sie war brav und liebte ihn. Er hatte immerhin einiges an ihr gutzumachen. Er nahm sich vor, regelmäßiger heimzukommen. Auch sollten sie in Zukunft öfter wie Mann und Frau zueinander sein. »Ich bin ja noch lang jung genug, daß ich ihr das bissel Freud antu«, sagte er sich. Und er befahl mürrisch: »Iß, was man dir gibt!« Hans zuckte die Achseln: »Wann's mir aber net schmeckt...« Er griff nach seinem Schmalzbrot. Die Frau seufzte. Dworak, der Frieden schließen wollte, streichelte ihr sanft über den Scheitel. »Kränk di net, Mutter, zahlt si ja net aus, wegen dem Falloten. Soll froh sein, daß er überhaupt was kriegt, wo er keinen Groschen nach Haus bringt.« Hans war aufgesprungen. »Nachher is vielleicht meine Schuld, wann ich arbeitslos bin?« Dworak löffelte ruhig seine Suppe. »Meine Schuld is gewiß net. Wie ich so alt war wie du, war ich ein selbständiger Mensch und hätt von mein Vater selig kein Stückel Brot umasonst angenommen.« Erst als er die Tür zukrachen hörte, taute er auf. Der Junge war aus der Wohnung gestürzt. Die Frau kniete auf dem Fußboden und klaubte ängstlich ein ausgespucktes Stück Brot auf. – Also nicht einmal dem eigenen Kind durfte man die Meinung sagen? Jetzt verstand er schon gar nichts mehr. Seit 15 Jahren – seit seiner Heimkehr vom Feld – sah er den Buben täglich, sprach mit ihm, belehrte ihn, erzog ihn zu einem vernünftigen, klassenbewußten Menschen, und jetzt mußte er sich fragen, ob er diesen 18jährigen überhaupt besser kannte als irgendeinen beliebigen anderen Jungfrontler. Wozu die Mühe und die Liebe? Und diese SA-Burschen. »Siegreich woll'n wir ...« Wenn man das damals ihren Vätern im Schützengraben prophezeit hätte ... Und jetzt marschierten die Väter mit. »Nie wieder!« hatte man verkündet. Jetzt war Hitler Reichskanzler! Wozu die Arbeit? War die Vernunft, an die er über alles geglaubt hatte, eine falsche Vernunft gewesen? Gab es keinen Fortschritt? – Dworak, den Kopf zwischen den Händen, dachte an seinen Heizer. Als dieser Gellert im Betrieb aufgetaucht war, abgehetzt und entwurzelt, wie hatte er sich um den Burschen gekümmert! Er hatte ihn fest in die Organisation eingepflanzt, hatte ihm Funktionen verschafft, hatte ihm so alles gegeben, was ein Mensch seiner Meinung nach braucht, um Ruhe und Halt zu finden. Es hatte nichts genützt. Wozu das alles? Wozu war er, Dworak, 50 Jahre alt geworden? Unbeholfen stand er wieder, wohin er in der Silvesternacht zufällig und zum ersten Mal im Leben geraten war: sich selbst gegenüber. – Er zog einen Brief aus der Tasche, den er morgens vom Bezirksrat Pawlik erhalten hatte.

»Werter Genosse Dworak!

Hoffe, daß Du einem alten Mitkämpfer nicht bös sein wirst, wenn er aufrichtig zu Dir ist. Habe nämlich den Eindruck, daß Du in letzter Zeit mit Funktionen zu sehr überlastet bist, wie es leider grade unseren besten Genossen in der Partei oft und oft geht, die sich ohne Rücksicht auf ihre Nerven fürs Ideal opfern, und darum würdest Du vielleicht ein bißchen Erholung brauchen können. Übrigens ist das unabhängig von mir auch zufällig die Meinung von Herrn Stadtrat Genossen Kollmer und gebe ich Dir daher den freundschaftlichen Rat ...«

War dieser Pawlik also ein Schuft? Daß er Karriere machen wollte, war für Dworak nicht neu. Er kannte ja den Mann seit 30 Jahren. Aber jetzt schien es, als hätte er ihn falsch eingeschätzt, die 30 Jahre hindurch. Als wäre der gewandte, ein wenig zu rücksichtslose, aber immerhin brauchbare Pawlik, den er kannte, eine Attrappe. Wieviel solche Attrappen – fragte sich Dworak – gab es in seiner Welt?

Die Frau tippte ihm schüchtern auf die Schulter. Ob er einen Verdruß gehabt habe; er sähe so krank aus.

Dworak zuckte die Achseln. »Gar nix, ich hab' morgen eine wichtige Besprechung mit dem Nationalrat Dreher«, log er, nur, um etwas zu sagen. So kam er auf den Gedanken, es könne wirklich nicht schaden, wieder einmal den alten Freund zu besuchen. – Jedoch verzögerte sich die Zusammenkunft um fast 2 Wochen, da Dworak erst die aufgehäufte Unzahl der von ihm vernachlässigten wichtigen Angelegenheiten ordnen wollte. Er tat es mit Liebe und Sorgfalt. Selbst das, was nicht durch seine Verwirrung im Laufe des Monats Jänner in Unordnung geraten, sondern schon von früher her, ohne sein Verschulden, in Rückstand geraten war und was er sich erst im Urlaub zu erledigen vorgenommen hatte, wurde aufgearbeitet. Kompetenzgebiete, die sich im Lauf der Jahre zwischen ihm und anderen Leitungsmitgliedern unmerklich verschoben hatten, wurden wieder abgegrenzt. Bevorstehende Besprechungen, Sitzungen in der Wienzeile, Schutzbundappelle und dergleichen, wurden, obgleich er sie im Gedächtnis zu behalten pflegte, jetzt säuberlich vorgemerkt. Dies alles aber nunmehr mit einem sehr präzisen Zielbewußtsein.

»Als ob du morgen auf Urlaub fahren tätst«, staunte Spannmeyer.

»Als ob du demissionieren wolltest«, scherzte harmlos Blum.

»Als ob er etwas anderes im Auge hätt'«, mutmaßte mißtrauisch Pawlik.

Als Dworak gegen Mitte Februar das Gefühl hatte, alles sei auf Glanz und in musterhafte Ordnung gebracht, setzte er zwei Stunden für den Besuch bei Dreher fest. Es waren 2 Samstag-Nachmittag-Stunden am 11. Februar. Zur selben Zeit sollte auf der Ringstraße eine große Parteidemonstration stattfinden, als Antwort auf die hakenkreuzlerische Siegesfeier der vergangenen Woche. Dworak beschloß, an der Demonstration nicht teilzunehmen. Er hatte in diesen Wochen Tagdienst und würde, auf lange hinaus, keine Zeit mehr innerhalb der Bürostunden Drehers erübrigen können. Den Abgeordneten daheim aufzusuchen schien ihm aber unpassend, unter anderem deshalb, weil der Zweck des Besuches dienstlich war: Beschleunigung der ordnungswidrig verzögerten Beförderung eines Bremsers zum Schaffner. Der Fall war dringend. Und ein Ersatzmann für die Führung der Eisenbahnerkompanie wahrend des Aufmarsches war selbstverständlich vorhanden. So wenigstens lautete die Argumentation Dworaks sich selbst gegenüber ...

Drehers Kanzlei befand sich im Gebäude der Generaldirektion der Österreichischen Bundesbahnen auf dem Schwarzenbergplatz. (Da er als Gewerkschaftsvertreter Mitglied des Verwaltungsrates war, saß er dort in durchaus offizieller Funktion.) Dworak, nur mehr eine Minute Weges von dort, zögerte, die Ringstraße zu überqueren. Sie war schon dicht eingezäunt von einem Menschenspalier, erfüllt von marschierenden Massen, überweht von Gesang, Rufen und Fahnen. Dworak überlegte, daß es noch lange dauern würde, bis die Kolonne seines Bezirks vom Sammelpunkt heranmarschiert und in den Ring eingemündet wäre. Bis dahin könnte er mit Dreher fertig sein und doch noch ein Stück Weg lang die Führung der Eisenbahnerkompanie übernehmen. Er schob sich also eilends zwischen den Zuschauern vor, machte aber ganz vorne wieder halt. Die Menschenreihen strichen an ihm vorbei. Dworak war längst selbst im Instinkt Funktionär. Völlig grundlos wollte ihm eine Hemmung verbieten, fortzugehen, während seine Eisenbahner auf der Straße waren. Er seufzte unentschlossen und betrachtete den Zug.

4

An diesem 11. Februar marschierten wir ohne Musik. Um den kämpferischen Sinn der Demonstration zu betonen, hatte die Partei uns angewiesen, die Kapellen daheim zu lassen. Wir waren damals auf die Straße gegangen, wie wir es seit 15 Jahren taten. Bewegt von den Regungen des Tages, aber mit dem einen grundlegenden, unerschütterlichen Bewußtsein, daß sie uns gehörte. Diese Ringstraße, umsäumt von den prunkenden Häßlichkeiten der versunkenen Monarchie, dieser Ring um den Bezirk der reichen Leute, war unseren Demonstrationen vertrauter Boden. Das eine gehörte zum anderen. Zum scheußlichen pseudogriechischen Tempel des Parlaments gehörten 72 sozialdemokratische Abgeordnete. Zum gotischen Rathaus unsere rote Zwei-Drittel-Mehrheit. Und zum ersten Mai wie zum 12. November gehörte eine Ringstraße, durchflutet von Menschen, dröhnend von Gesang, brennend von unseren Fahnen. Nur einmal, im Jahre 27, waren hier zu unserer namenlosen Bestürzung Polizeisalven losgekracht. Ihr Echo grollte und drohte nach 5 Jahren noch immer durchs Land. Aber was konnte das an der elementaren Tatsache ändern, daß die Stadt, daß die Straße uns gehörten? Nicht anders war uns zumut, als wir an jenem 11. Februar demonstrierten. Die Gefahr, deren Atem todeskalt von Deutschland herüberwehte, war eine undeutliche, unverständliche Gefahr. Sie hatte nach 11 Tagen Dasein ihr Gesicht noch nicht entblößt. Wir zögerten sogar, sie »Faschismus« zu nennen. Sie trug damals nur einen Namen, hinter dem sich alles verbarg, was wir noch nicht wußten und später erfahren sollten: »Hitler«.

Nicht nur die Musik fehlte bei diesem Aufmarsch, der feuchten Kälte wegen auch die vielfältigen Farben strahlender Maifeiern: die Blauhemden der Jugendlichen, die weißen Leibchen der Turner, die grünen Blusen der Falkenkinder, die bunten Festtagskleider der Frauen. Heftig rot leuchteten auf ihren hellen Bambusschäften nur die Sturmfahnen in all dem schweigenden und brüllenden Grau von Himmel, Häusern, Menschenmassen.

Robert Blum, Kassier der 12. Sektion, schritt in der ersten Reihe seines Bezirks. Der bäuchige Spannmeyer hatte ihn, schon als der Zug sich formierte, unter den Arm gefaßt und mit jovialen Redensarten nach vorn und in ein Gespräch mit dem Bezirksrat Pawlik gezogen. Damit hatte es nichts weiter auf sich. In gutgelaunten Stunden verschenkte Spannmeyer seine Gunst wahllos. Daß Blum über Dworak ausgehorcht werden sollte, war höchstens ein entfernter Nebenzweck. Blum fühlte sich geschmeichelt. Unmittelbar vor ihm bewegten sich die Honoratioren der Bezirksorganisation, überragt von der gewaltigen Greisengestalt des Vorstehers Kärndl, dessen gigantische Hinterfront Blum die Aussicht verstellte. Das störte ihn nicht. Der breite, leichtgewölbte Rücken, der fleischige Nacken mit den schlohweißen Haaren, der zurückgeschobene steife Hut waren ihm Aussicht genug. Zu seiner Linken wurde die Standarte der Bezirksorganisation getragen. Sie war alt und ehrwürdig wie Kärndl. 43 Jahre hatten den schweren, weinroten Stoff, hatten die komplizierte Goldstickerei dunkel gebeizt. »Wissen ist Macht«, sagte geschnörkelt die Stickerei. Denn im Anfang war der Bildungsverein. Daß die Ehrwürdige nach der Art katholischer Prozessionsfahnen zugeschnitten war, recht häßlich in all ihren Goldfäden, recht unhandlich mit ihrem Griff voll Drechslerkunststücken, war unwichtig. Wichtig und köstlich, was unsichtbar von ihr herabströmte. Wer hinter ihr ging, den Kopf gesenkt, konnte dieses Unsichtbare vom Straßenpflaster auflesen: Erinnerungen! –

Obgleich Blum nur durch Zufall hier vorne marschierte, machte er sich ein geheimes Spiel daraus, sich mit dem unruhigen Rundblick eines Verantwortlichen immer wieder nach den trippelnden, schlendernden, breit ausschreitenden Reihen der Organisierten umzuwenden. Die Frauen und die Alten waren's vor allem, die in diesen unübersehbaren Sechzehner- und Zwanziger-Reihen jeden gleichmäßigen Marschtakt unmöglich machten. Sie (ebenso wie Blum) hatten kein Verständnis für militärische Präzision. Mit dem unrhythmischen Scharren der Füße kam ein dumpfes Murmeln zahlloser Gespräche aus dieser Masse. Die Frauen beredeten Kindersorgen und Hauswirtschaft. Doch hielt fast jede ihr Taschentuch in der Hand, um gelegentlich dem dichten Spalier zuzuwinken. »Freundschaft!« riefen sie immer wieder unvermittelt aus ihren kleinen Gesprächen heraus oder schrill und wütend: »Nieder mit dem Faschismus!« Versuche jüngerer Genossen, mit wiederholtem Schrittwechsel einen Marschtakt herbeizuführen, wurden mit mütterlichem Hohn aufgenommen: »Hörst, Genosse Lechner, was hupfst denn wie ein Gaßbock?« und anschließend, um einen Ton gedämpfter: »Is des net der, was neulich beim Tanzkränzchen vom ABV mit der Fritzi vom Siebzehnerhaus – – – « Dann, diesmal ganz leise: »Mei Alter ist scho direkt so kommod wie a fünfstöckiger Hausherr. Ob's es glauben oder net, neulich, wie s' in der Nacht in Wienerwald gefahr'n san, die Krachen vom Schutzbund vergraben, hat er sich drucken wollen. Aber bei mir net, Frau Andritz, wiar i den aus'n Bett aussag'stampert hab – des hätten's sehen soll'n!«

Blums Bezirk war in der Arbeiterbewegung berühmt und geachtet. Ununterbrochen Zurufe und Händeklatschen bei seinem Auftauchen zu empfangen, war für den kleinen Kassier überwältigend und merkwürdigerweise neu. Denn in den 29 Jahren seiner Parteiarbeit hatte er sich kein einziges Mal zum Spitzen- oder Flügelmann aufgeschwungen. Er wußte, daß er keine repräsentative Erscheinung war und daß es sich ihm geziemte, im Hintergrund des Lebens zu bleiben. Jetzt, als älterer Mensch, genoß er zufällig das unverhoffte Erlebnis, an der Spitze eines bejubelten Zuges zu schreiten. Während die jüngeren Genossen geradenwegs von der Arbeit gekommen waren, hatte er, als kaufmännischer Pensionist, die Muße gehabt, seine Feiertagskleider anzulegen. Schwarz umschloß ihn der Überrock, und im trüben Wetter waren nicht einmal die schäbigsten Stellen an den Rändern des Samtkragens sichtbar. Schwarz bedeckte ihn der steife Hut, schwarz glänzten die blankgewichsten Stiefel, und rot flatterte in seiner Hand das 29 Jahre alte Seidentüchlein. Die Wangen waren grausam rasiert. Die tadellose Reservebrille, wenn auch angelaufen, saß unverrückbar fest. Blums äußere Erscheinung durfte es wagen, in einer Reihe mit den obersten Bezirksfunktionären aufzutreten. – Von irgendwoher kam Gesang heran; die Frauen brachen ihre Gespräche ab. Die alten Genossen, festlich gekleidet wie Blum (denn für sie war jeder Ringaufmarsch, unter welcher Losung immer, eine heitere Siegesfeier für jenen 1. Mai 1890, als sie zwischen k. k. Bajonetten das Recht auf die Straße erobert hatten), die alten Genossen räusperten sich andächtig. Blum richtete wieder den Blick auf den Rücken des Bezirksvorstehers. Dann hatte das Lied ihn erreicht. Es war so häßlich und so machtvoll wie die Bezirksstandarte. Blum hatte es lange vor der »Internationale« gelernt und kannte alle Strophen auswendig. So stimmte er es an, das »Lied der hohen Braut, die ward den Menschen angetraut, eh er selbst Mensch ward noch. Was sein ist auf dem Erdenrund, entsproß aus diesem heil'gen Bund, die Arbeit ho-ho-ho-o-o-ch, die Arbeit hoch!«

Hans Dworak, 18 Jahre alt, sang das Lied der Arbeit nicht mit. Denn er marschierte in der Kompanie »Friedrich Engels«, und hier erfolgten Lied und Sprechchor nur auf Befehl des Kommandanten. So war's Hans recht. Er zog zum ersten Mal im Schutzbund mit. Während seine Genagelten (er hatte Genagelte angezogen, weil es militärischer aussah) im prasselnden Takt von 120 Gleichschritten das Pflaster traten, rumorte in seinem Kopf verstohlen die Weise von den Soldaten, die durch die Stadt marschieren, und von den Mädchen an Fenstern und Türen ... Die Uniform bestand aus einer abgedienten, blauen Straßenbahnerjacke und einer blauen Schirmkappe. Aber das Riemenzeug, das neue, gelbe, umschloß straff den Oberkörper; und die Kappe saß schief überm Ohr, und eine Haarsträhne hing fesch heraus. Jetzt dachte Hans weder an die Schwierigkeiten mit Paula noch daran, wie man ihn zu Hause behandelte, seit er arbeitslos war; noch an den Termin, da seine Unterstützung ablief. Es gab anderes zu tun; zunächst vor dem Spalier tadellose Haltung zu bewahren. Mit geheimem Zorn schielte er zu manchen älteren Arbeitern in der Kompanie hinüber, die gar nicht daran dachten, ihren Brustkorb zur Geltung zu bringen und ihren Augen einen starren Ausdruck zu verleihen, sondern sich's in ihren nachlässigen, gegürteten Jacken so bequem machten wie möglich. »Die gehören ja in die Reserve!« dachte Hans wütend. Obzwar viele der Betreffenden nur gerade so alt waren, um den Weltkrieg mitgemacht zu haben, schienen sie ihm verächtliche Greise zu sein. Er vergaß vollständig, daß sie ihm unter manchem anderen das eine voraushatten, ausgezeichnet schießen zu können, während er von dieser Kunst noch nicht viel Ahnung hatte. Überhaupt war er zur Zeit ziemlich von sich eingenommen. Wachsam spähte er aus, ob das Spalier nicht stellenweise spärlichere Begeisterung zeigen wollte. Hatte es nicht geheißen, die Nazi würden Störungsversuche unternehmen? Wo steckten sie? Schon fuhr die Hand zum Koppel, gerührt von der knarrenden Schönheit des herrlichen Leders, begierig, es über Feindesköpfe zu schwingen. Doch da entfaltete sich auf den Gesichtern der Zuschauer schon das verzückte Lächeln, da sprossen wieder Hunderte Fäuste empor, und da schrien sie: »Hoch, der Schutzbund!« Es war fast ärgerlich. »Frei-heit! Frei-heit! Frei-heit!« antwortete man präzise im Takt der geschwungenen Hand Kaliwodas. Aber das befriedigte nicht. Und als Kaliwoda langgezogen begann: »Prole-e-e-t-« und man dröhnend einfiel: »Erwache!« und als er heiser emporwarf: »Hitle-e-e-e-er-« und man, wirklich von Haß aufgerührt, mit dem »verrecke!« zustieß; und als diese brüllende Litanei sich so lange wiederholte, bis Tausende ringsherum losbrachen und mitschrien; und als aus dem Getöse dann plötzlich Rhythmus und Melodie entstand, wurde Hans von einem Wachtraum benommen. Die singende, marschierende Masse wiegte ihn in ihren Schoß. Während er sang, träumte er, alles sei nun soweit und sie marschierten schon in das letzte Gefecht. Ferner Kanonendonner ertönte. In den Seitengassen ratterten die Maschinengewehre. Das Herz krampfte sich zusammen, aber nicht vor Angst, sondern vor lustvoller Ungeduld. Hob Herrmann nicht schon seine Trompete zum Signal? Flatterten die Fahnen dort nicht schon der ersten, stürmenden Reihe voran? Der Tag der Entscheidung, den man ihm versprach, solange er denken konnte, sprang mit einem Ruck aus dem Horizont, und Hans' weit offene Augen sahen ihn so nahe wie die nächste Ringbiegung. – Allerdings war das ein sehr phantastischer Traum unter einem ungünstigen Federhimmel. Allerdings stand eine ganz andere Wirklichkeit bevor. Allerdings würde dieser Traum nach einigen Augenblicken nichts anderes hinterlassen als Verlegenheit. Allerdings würde damit auch Hans' hohes Selbstbewußtsein ein Ende finden, dieses kurzlebige Gemisch aus umgeschlagener Unsicherheit und gewaltsam vergessenen Demütigungen, künstlich aufgepulvert vom Rausch der Demonstration. In einigen Augenblicken mußte alles zu Asche zerfallen. Da konnte auch die Uniform nichts helfen und der stramme Marschtakt nichts. Aber eben diese wenigen Augenblicke lang sprach die »Internationale« dem armen Traum Ermutigung zu.

Erich Weigel, 24 Jahre alt, sang mit, ohne daß ihn dies hinderte, sich gleichzeitig allerhand Gedanken zu machen. Samt und sonders drehten sie sich eilend um die Frage: »Ist das gegenwärtige Stadium der Diktatur der Bourgeoisie in Deutschland, also das Kabinett Hitler-Hugenberg, noch als Bonapartismus oder schon als Faschismus zu bezeichnen?« Hastig stöberte er im Geiste nach Aussprüchen Marxens über Louis Bonaparte und Trotzkis über Kerenski. Denn die Sache war die, daß vor Erich Weigels Jungfront-Abteilung eine Kolonne kommunistischer Jugendlicher zog. Erich hatte bei einer gestrigen Bezirksbesprechung der Jugendfunktionäre laut und deutlich die historische Bedeutung der Tatsache hervorgehoben, daß zum ersten Mal seit Bestehen der österreichischen Arbeiterbewegung Kommunisten und Sozialdemokraten zusammen demonstrierten. Trotzdem war es ihm recht peinlich gewesen, daß die Gruppe dort, gespickt mit Standarten, brodelnd und heulend, sich grade vor seine Jungfrontier eingeschoben hatte. Seine Befürchtungen hatten sich sofort bewahrheitet: An der Berührungslinie zwischen der Nachhut der einen und der Vorhut der anderen waren Diskussionen losgebrochen. Und wo einem Fahnenträger (denn gerade diese harmlosen Burschen wurden am stärksten mitgenommen) die Argumente ausgingen, da wandte er sich an Weigel. (Nicht an den Obmann Fink, dessen Stellung in der Gruppe völlig untergraben war.) Nun war Erich Diskussionen mit Kommunisten durchaus nicht abgeneigt. Aber es mußten ruhige Unterhaltungen unter vier Augen sein und nicht grobschlächtige, öffentliche Polemiken. Denn Erichs keineswegs negative Einstellung zum Leninismus (wohlgemerkt nicht zur Kommunistischen Partei, hier mußte man Unterschiede wahren) war komplizierter Natur. Außerdem war sie mit einer sehr scharfen Kritik an der SP verbunden, die, in vollem Umfang öffentlich zu äußern, zur Zeit vor der Obmannsneuwahl taktisch unklug gewesen wäre. Hielt man sich aber zu eng im Rahmen der eigenen Partei, so geriet man in die Gefahr, auf Argumente zu verfallen, die gar nicht die eigenen waren; Gedankengänge anzuwenden, die man für gewöhnlich selbst als verbrecherischen Reformismus brandmarkte. (Ganz abgesehen davon, daß man vor den provokatorischen Phrasen der Kommunisten oft genug unversehens in seinem Herzen eine unverantwortliche Liebe zum altersschwachen Bürgermeister Seitz oder zum fetten Klassenverräter Renner entdeckte.) Über alle diese Schwierigkeiten sann Erich Weigel, während er mechanisch mitsang. Die Dauer des gemeinsamen Liedes bedeutete Waffenstillstand. Allerdings durchbrachen ihn die Kommunisten vorzeitig, indem sie den Schluß des Refrains nach eigenem Modus gestalteten. Diesem Text zufolge sollte nicht schlechtweg die Internationale das Menschenrecht erkämpfen, sondern »Die Dritte Internationale von Lenin«, was schon im Rhythmus des Liedes unangenehm auffiel. Sobald der letzte Ton ausgeklungen war, hob Fink die Hand, um den Auftakt zu einem Freiheits-Sprechchor zu geben. Sein »Frei« blieb aber in der Luft hängen. Keine einzige Stimme fiel ein. Auch als er rücklings schreitend den Versuch wiederholte, blieb er ergebnislos. Was das bedeutete, begriff Fink im gleichen Augenblick wie Erich. Beide erblaßten, der eine vor Schreck, der andere vor Freude. Das Schweigen der Jungfrontler war offensichtlich demonstrativ. Es war eine endgültige Mißtrauenskundgebung für Fink. Der von höherer Stelle eingesetzte Obmann wurde nicht mehr anerkannt, wurde auf Verabredung ignoriert. Gleichzeitig sagte das Schweigen, Erich Weigel brauche nicht die übermorgige Generalversammlung abzuwarten, um sich als neuer Obmann zu betrachten. Die so plötzliche Mission mit allem, was sie andersgearteten Naturen an Zweifel und kleinen Verlegenheiten gebracht hätte, verwirrte ihn nicht im mindesten. Er war seit seinem 16. Lebensjahr Jugendführer gewesen. Er wußte, daß von nun ab seine Worte und Bewegungen, seine Gewohnheiten, seine trüben und frohen Launen, seine Mädchen- und Männerfreundschaften nicht mehr ihm gehörten; sondern dies alles wurde rastlos beobachtet, mußte erbitterten Kritiken standhalten und, was schwieriger war, hingebenden Gemütern als Norm und Vorbild dienen. Schon spürte er, wie die Blicke 17jähriger sich an ihn hefteten, zudringlich, grenzenlos ergeben. So war's vier Jahre lang bei den Roten Falken gewesen und drei Jahre lang bei der SAJ. Der Zustand bereitete ihm kein Behagen. Schon mußte die erste Entscheidung gefällt werden: Die Kommunisten hatten das Sowjetfliegerlied intoniert und hielten bereits knapp vor der zweiten Strophe. Das Spalier maß sie nicht unfreundlich, war aber spürbar über die gleichzeitige Passivität der eigenen Jugend befremdet. So ging es, wenn man hinter Kommunisten marschierte. Man durfte die Stimmbänder nicht schonen – was den anderen an Zahl fehlte, wollten sie durch Geschrei wettmachen. Und da war keiner unter den Zuschauern, der in diesem Augenblick nicht, mehr oder weniger bewußt, die 12 mal 100 000 sozialdemokratischen Wahlstimmen mit den wenigen Zehntausend kommunistischer verglich und die 700000 Parteimitglieder mit den Sektierern. Man empfand das gedämpfte Unbehagen einer reichen Familie, die arme Verwandte empfangen muß. Und wie peinlich wird die Situation erst, wenn die schäbigen Gäste im Millionärshaus einen lauten Ton anschlagen, statt andächtig die Gobelins zu betrachten! Hier mußte schnell etwas geschehen. Ohne Zögern und demonstrativ für alle jene, die noch zweifeln mochten, daß die Jungfront von nun ab die Avantgarde der linken Opposition im Bezirk war, stimmte Weigel heute die zweite Strophe des Fliegerliedes an: »Wir reißen hoch die Riesenapparate ...« Das Spalier war dadurch wenig befriedigt. Die Massen kannten dieses zugereiste Lied nicht. Aber, da es unsere Jungen sangen, spitzten viele die Ohren, schon aufnahmefähiger für die merkwürdigen Worte, die da nichts von Galilei, von hohen Bräuten und anderen Symbolen wußten, sondern schlechtweg von Flugzeugen erzählten. Und als die Jungfrontler am Schluß für die »Dritte Internationale von Lenin« Revanche nahmen, indem sie mit ganzem Stimmaufwand betonten: »Ein jeder Propeller ruft surrend Frei-heit«, ging das gleichzeitige »Rot Front« der anderen in einem Massenecho unter. Der KJV gab das Rennen nicht auf. Ohne Atem zu schöpfen, hämmerten sie mit ihrem neuesten Sprechchor los: »Proletarier an die Front! Hoch die rote Einheitsfront!« »Hoch!« stimmte das in Schwung gebrachte Spalier zu. Aber hier fühlte sich Erich verpflichtet, eine Grenze zu ziehen. Er überholte die Fahnenreihe der Jungfront und tippte einem KJV-Burschen auf die Schulter. Der wandte sich um, sein Gesicht kam Erich bekannt vor. Möglicherweise von der Universität her; vielleicht auch von der oder jener Versammlung. Und hatte er nicht einmal vor der kommunistischen Arbeiter-Buchhandlung mit ihm diskutiert?

Das Wien der Intellektuellen, auch der sozialistischen, war ein Dorf, bestehend aus Bibliotheken, Versammlungssälen und Kaffeehäusern, umgeben von den Fluren des Wienerwaldes. So gab es viele Gesichter, die Erich seine Jugend hindurch begleitet hatten, ohne daß er sie eigentlich kannte. Dieser Gegner da hatte als Bub an derselben Stelle Zelte aufgeschlagen und Lagerfeuer aufgebaut, wo die Erde noch aufgewühlt war von Erichs Falkenzelten und wo noch Asche von Erichs Feuern lag. Er hatte später dieselben Vorlesungen inskribiert, weil sie etwas von wirtschaftlicher Entwicklung ankündigten, und hatte dann, angeekelt, sie ebenso wie Erich geschwänzt. Wenn der eine in der Universitätsbibliothek die »Deutsche Ideologie« nicht ausgefolgt bekam, so darum, weil der andere sie schon las. Er stürzte ärgerlich in den Lesesaal der Arbeiterkammer. Aber da saßen schon lauernd und unersättlich Dutzende seinesgleichen. Es waren dieselben, die im Café Schottentor bei einer Schale Mocca einander gierig den »Manchester Guardian« und die »Weltbühne« abjagten, dieselben, die sonntags auf denselben Wiesen »Ball über den Zwischenraum« spielten. Selbstverständlich kannten nicht alle einander. Aber wenn wieder einmal zwei Bekanntschaft schlössen, war es eigentlich nur ein formeller Akt. Das »Du-Wort« war schnell zur Hand. Die Gespräche knüpften zwanglos an eine lange Kette nicht stattgefundener Gespräche an. So sollte es auch nach Jahren sein, unter blutig geänderten Umständen. »Hab ich dich nicht schon einmal getroffen? Ich meine, früher in der Legalität?« Aber Erich war von solchen Gedankengängen weit entfernt. Er stieß sein blasses spitzes Gesicht im Marschieren gegen den anderen vor und forderte: »Hört's schon einmal auf mit der roten Einheitsfront!« Der Angefahrene lächelte provokant: »Warum denn, ist euch die schwarze lieber?«

Da hatte man's. So waren sie. Unter vier Augen war dieser Kerl sicherlich für eine vernünftige Diskussion, sogar über Neokantianismus zu haben. Hier auf der Straße glaubte er, wie ein besoffener Kutscher argumentieren zu müssen. Das hielt er wahrscheinlich für proletarisches Verhalten. »Ihr wißt sehr gut, daß ihr mit roter Einheitsfront eine Einheitsfront über die Köpfe der Führer meint! Während wir, lieber Genosse, sind schlicht und ehrlich für die Einheitsfront!«

»Auch mit Severing und Grezinski?!«

Da hatte man's wieder. Man durfte nicht einfach »nein« sagen. Man wollte nicht schlechtweg »ja« lügen. Man sah sich gezwungen, unter den spähenden Augen der Jungfrontler, zwischen dröhnenden Menschenmauern, umtost von Sprechchören, den Unterschied zwischen den Bruderparteien zu erläutern. Und zwar in Satzperioden, die ebenso kompliziert waren wie das ganze Verhältnis zwischen hüben und drüben. Erich wich diesem Zwang aus, indem er kurz ausrief: »Lobe hat erklärt, wenn Hitler einen Schritt über die Weimarer Verfassung hinausmacht, dann marschiert die SPD!«

»Ja, gibt's denn noch die Weimarer Verfassung?«

»Natürlich nicht! Aber du wirst doch nicht behaupten, daß drüben schon der Faschismus herrscht!«

»Was denn?«

»Du weißt grad so gut wie ich, daß die Sache nicht so einfach ist, wie ihr sie haben möchtet. Wenn der preußische Staatsstreich vom 20. Juli ...«

Nein, die Sache war wirklich nicht einfach. Und als die Diskussion zwischen Erich und dem anderen Studenten an Übersichtlichkeit verlor, entbrannten an mehreren anderen Stellen Scharmützel. Es ging Mann gegen Mann oder aber, der Übermacht entsprechend, ein Kommunist gegen ein halbes Dutzend Jungfrontler.

Die Schüsse, die allnächtlich in den Arbeitervierteln der reichsdeutschen Städte fielen, diese vereinzelten, schnell verstummenden Schüsse, echoten in ihren Herzen, zugleich verlockend und beängstigend. Gespräche, wie man sie dieser Tage führte: geflochten aus Hoffnungen, Gewissensbissen, Vermutungen – vage beendete Gespräche oder jäh abgebrochene, bohrten immer in den Hirnen. Nahezu zwei Wochen regierte Hitler, und nicht wesentlich anders, als es Papen ein Jahr lang getan hatte. Es schien bereits, man würde sich auch daran gewöhnen können, wie an so vieles andere. Redete man von Deutschland, so stieg wieder der alte, längst gewohnte Morast von Problemen auf. Und schon geschah es unter diesen Jungen immer seltener, daß einer während einer Versammlungsrede, einer Diskussion, eines Liebesgesprächs sich plötzlich umsah; den Mörderschatten Sphinx über diesen Tagen erblickte und plötzlich die beklemmende Angst im Innersten verspürte: Wenn du die Rätsel nicht löst, jetzt, auf der Stelle, dann ist es aus mit uns allen. – – – Die stattliche Reihe der sechs Sturmfahnen hatte sich recht unordentlich verschoben. Polemisieren war das Lebenselement der Jungfront. Den Kommunisten war nichts lieber. Die Invektiven schössen immer lauter hin und her.

»Du bist also mit der Tolerierungspolitik glatt einverstanden?«

»Ihr seid's ja eine Sekte! Eure 100 Mandel da – das ist doch eh der ganze KJV!«

»Selbstverständlich, lieber Genosse, haben wir auch schon in Österreich den Faschismus!«

»– die Befehle aus Moskau –«

»– warum denn sonst habt ihr de facto die Lausanner Anleihe angenommen? Und die 28. Hungernovelle? Und wer hat den Grünbacher Streik abgewürgt?«

»Ich bin selbst Leninist! Aber ihr seid's ja Stalinisten! Wenn Lenin heut leben würde –«

»Aber, warum, habt ihr am 15. Juli die Waffen der Arbeiterschaft an die Bourgeoisie ausgeliefert?«

»Eure blödsinnige Einheitsfrontpolitik –«

»Die SPD toleriert genauso, wie –«

»Aber ihr ruft's jeden zweiten Tag den Generalstreik aus! Aber in Österreich ist die Arbeiterschaft eben einig! Und ihr seid eben nichts anderes als Spalter! Und das ist eben –« »Aha, dann sag mir den Unterschied zwischen Zörgiebel und Hitler!«

In der eifrigsten Debatte fing Erich Weigel plötzlich einen höhnischen Blick Finks auf. Zu Besinnung gebracht, merkte er, daß sie kaum mehr 200 Meter vom Denkmal der Republik entfernt waren, wo die Defilierung abgenommen wurde, und daß in diesem kritischen Augenblick der Zustand der Kolonne desolat war. Er hatte nur noch gerade Zeit, die KJVler zu ihrer Gruppe zurückzutreiben und seine Reihen halbwegs in Ordnung zu bringen. Dann waren sie schon beim Parlamentsgebäude angelangt. Sie schlugen einen strammen Schritt an. Die Fahnen, hoch erhoben, wehten im feuchten Federwind. Erichs Augen flatterten hinter den Brillengläsern. Die unterbrochene Diskussion wogte in seinem Inneren weiter.

»Sie können sagen, was sie wollen«, dachte er, »so einen Aufmarsch bringen sie nie zustand – nicht einmal drüben im Reich. So etwas Grandioses gibt's überhaupt in keinem Land, außer bei uns. Ein Aufmarsch der 200 000 – eine Kundgebung des Trotzes und der Solidarität – und wenn's auch genauso in der ›Arbeiter-Zeitung‹ stehen wird – es ist trotzdem wahr – es ist doch keine Phrase –«

Sie waren bis auf 20 Meter an das Denkmal der Republik herangekommen. Erich gab das Zeichen zu einem demonstrativ linken Oppositionssprechchor:

»Republik ist noch nicht viel –
Sozialismus ist das Ziel!«

Die KJVler hoben die Fäuste zu Schulterhöhe und hämmerten mit ihrem »Rot Front«. Erichs Kolonne hob die Fäuste hoch über den Kopf und verstärkte den Stechtritt. Ihre Augen blickten starr und strahlend. Die KJVler entrollten überraschend eine Standarte: »Schluß mit dem Entzug der Wohlfahrtsunterstützungen!«

Aber im Augenblick nahm Erich diese Überrumpelung nicht wahr. Im Augenblick schaute er mit ganzer Inbrunst nach rechts. Das Denkmal der Republik trug auf glatten grauen Marmorblöcken die Bronzeköpfe Hanuschs, Reumanns und Victor Adlers. Zwei Schutzbündler bewachten die Fahne der 2. Internationale. Sie sah der Bezirksstandarte sehr ähnlich. Davor standen winkend der massige Otto Bauer, der schlanke, alte Seitz und, seinem Vater wie immer erstaunlich ähnlich, nur älter, verwitterter als die Bronzebüste, die Augen rötlich entzündet, die Schultern gekrümmt von 15 Jahren sozialdemokratischer Nachkriegspolitik: Fritz Adler, Sekretär der völkerbefreienden Internationale. Und wie immer dachte Erich: »Der hat also 1916 den Ministerpräsidenten Stürgkh erschossen ...« Er war von grenzenloser Liebe.

Käthe Haider, 27 Jahre alt, ging in den Reihen eines fremden Bezirks. Sie hatte sich zu lange im Arbeiterkinderheim aufgehalten. Am liebsten wäre sie ja überhaupt nicht mitmarschiert, da es diesmal geheißen hatte, es sei ratsam, die Kinder nicht mitzunehmen. Jedoch bestand schon eine Verabredung mit ihrem Freund Franz Seidel, und der war in solchen Dingen sehr genau (zu genau – und sie wußte, wenn ich ihm diese Empfindlichkeit nicht bald abgewöhne, ist es zu spät, denn lange stehen wir nicht mehr so miteinander, daß er mir zuliebe etwas zulernen möchte.) Sie hatte also viel zu lang im Heim herumgetrödelt, weil ihr bang war, die Kleinen unter der Aufsicht der 13jährigen Rosl zurückzulassen, und der Reiterer ewig und ewig nicht kommen wollte, trotz seines Versprechens, er werde mit den Kindern singen und er bürge für alles. Dann war es natürlich zu spät geworden, sie hatte den Bezirk nicht mehr auf dem Versammlungsplatz angetroffen, auch auf dem Weg zum Ring nicht mehr eingeholt. Aussichtslos, sich da noch im Strom von 200 000 Menschen durchzuzwängen, durchzufragen. So hatte sich Käthe irgendwo angeschlossen und erst später erfahren, daß sie unter Floridsdorfern war.

Fremde Gesichter umringten sie. Die Unruhe um das Heim ließ sie nicht los. Sie vermißte die Schar der Kleinen, die an Mai- und Novembertagen hinter ihr über den Ring trotteten. Sie vermißte die ständige Sorge solcher Tage: Ob sie nicht müde sind? Ob sie warm genug angezogen sind? Und die schwierige Aufgabe, den ganz Kleinen erklären zu müssen: Das ist unser Parlament. Weißt du, was das ist, ein Parlament?

Wie jeder von uns seinen Alltag mit den dazugehörigen Menschen und Gedanken um sich hatte, wenn wir auf dem Ring demonstrierten, so brauchte Käthe hier ihre 40 Arbeiterkinder. Ohne die kam sie sich recht überflüssig vor; als wäre sie vom eigenen tätigen Leben hier im Gedränge verloren worden und müsse nun warten, bis es sich wieder ihrer erinnerte, um sie abzuholen; oder als hätte sie sich in ein fremdes Stadtviertel verirrt.

In solchen Lagen gerät man leicht auf abwegige Beobachtungen. Käthe bemerkte einen jungen Burschen, sehr blaß, sehr heruntergekommen. Er hielt im Marschieren die Hände in den Taschen; seine Mütze saß tief über den Augen. Er schwieg. – Der Blick, den er hie und da vom Pflaster erhob und ringsum streifen ließ, war erschreckend stark mit Haß und Verachtung geladen. Was hatte er hier zu suchen? – Käthe hörte wieder einmal den Sprechchor, der diesen Aufmarsch beherrschte: »Hitler verrecke!« Sie fragte sich: Warum haben wir dieses scheußliche Wort von den Nazis übernommen? Wollen wir nicht mit geistigen Waffen kämpfen? Dann wurde sie auf drei merkwürdige alte Weiblein aufmerksam. Tiefschwarz gekleidet, als gingen sie bei irgendeiner jener »schönen Leichen« mit, die sie sicherlich sehr liebten, humpelten sie mühsam in der Reihe, schwatzten miteinander, schwiegen sich dazwischen aus. Und nicht ein einziges Mal beachteten sie in irgendeiner Weise das menschliche Getöse ringsum. Kein Ruf, kein Tücherwinken – ja, nicht einmal ein kurzer Blick vor oder zurück auf die dröhnende graue Lawine, in der sie mitglitten. Vor dem Denkmal der Republik tuschelten sie einander ängstlich etwas zu. Dann humpelten sie weiter um die Ringbiegung, wie drei blinde greise Karussellpferdchen. – Käthe dachte wieder an das helle Kinderheim im Gemeindehaus. Und daß sie eigentlich Sozialdemokratin geworden war, weil die Gemeinde so viel für die Kinder tat. Das war nicht leicht gewesen, damals vor 10 Jahren. Der Vater war ein Führer in der christlichen Gewerkschaft, einer von der alten Garde Kunschaks, durch und durch katholisch und furchtbar verbittert. Er hatte sie dann auch von daheim fortgeekelt. Sie hatte sehr gelitten. Die Familie war bis dahin ihre Welt gewesen. Dann hatte sich das Unverhoffte herausgestellt: Die Partei gibt ihr alles und ersetzt ihr alles, auch die Familie.

»Nieder mit dem Faschismus!« toste die Masse.

»Faschismus?« fragte sich Käthe plötzlich. »Was heißt das eigentlich? Heißt das: Dies alles hört auf?« Sie versuchte, auf diesem Gedanken eine greifbare Vorstellung aufzubauen. Wie würde dann das Leben aussehen? Aus dem Gedanken eine Vorstellung zu machen, erwies sich als unmöglich. Die Frage nach dem Leben als nicht beantwortbar. – Wenn dies alles aufhörte, hörte also das Leben selbst auf.

5

Der Nationalrat Josef Dreher war nicht das, was man eine durchgeistigte Erscheinung nennt. Eher das Gegenteil: durchkörperlicht. Drehers Leib spielte nämlich eine gewichtige Rolle in dessen persönlichem Auftreten und öffentlicher Betätigung. Den Hetzern galt dieser Bauch als Inbegriff des Bonzentums. – »Seht, wie er sich von euren sauer ersparten Beiträgen angefressen hat!« riefen sie den Eisenbahnern zu. Sie logen. Denn schon in Friedenszeiten hatte der Schlossermeister als Wiener vom alten Schlag das Essen und Trinken kultiviert – und, damals nur unbezahlter Sekretär seiner Fachgewerkschaft, hatte er die Mittel durch seiner Hände Arbeit verdient. Der Drehersche Bauch wußte nichts von Orgien und sinnlosen Schlemmereien; dementsprechend war er kein aufgeschwemmtes Anhängsel, kein widerlicher Hängebauch, sondern eine fast natürliche Erweiterung des Leibes. Auch die Karminröte, die Drehers gewaltigen Schädel bis tief zum Hals und zum Nacken hinunter übergossen hatte, war nichts Krankhaftes. Sein Haarwuchs war dicht; struppiges, graues Moos, wild wuchernd auf Kopf und Oberlippe, in dichten Büscheln die säuglingsblauen Augen überschattend. Übrigens wußte Dreher, daß auch maßvolle Unmäßigkeit ihn in seinen! Alter mit einem Schlaganfall bedrohen könnte. Er hielt seit einiger Zeit eine sanft vorbeugende Diät ein. Er war ein vernünftiger Mensch, dem viel am Leben lag. Für seine Gesundheit war nichts zu fürchten. Im Schützengraben hatte das erfreuliche Aussehen des Feldwebels zur Aufrechterhaltung der Kampfmoral unter den Deutschmeistern beigetragen. Wenn dieser blühende Kamerad Dreher um die Grabenbiegung kam, verlor das Trommelfeuer der Isonzoschlachten einen winzigen Hauch seiner Schrecknisse (gerade den winzigen Hauch, der die große Sache für Geduld und Verstand endgültig unerträglich gemacht hätte). Daß er, die breitärschige Zielscheibe, nicht einen Kratzer davontrug, erregte nicht Neid, sondern Optimismus.

Was hatte ihm zu seinem wachsenden Einfluß in der Gewerkschaft verholfen? Zweifellos sein energischer Hausverstand, der nicht von schlechten Eltern war. Aber wenn er jetzt, inmitten seiner zahllosen Funktionen einmal Zeit fand, sich seine Jugendjahre durch den Kopf gehen zu lassen, so erzählte ihm die Erinnerung, daß seinem frühen Aufstieg ein wichtiges Hindernis erspart geblieben war: vor den graubärtigen Genossen als zu jung zu gelten. Tatsächlich hatte er in seiner Leibesfülle mit 20 – wie ein 30er ausgesehen. Er war untermittelgroß, und der Bauch ließ ihn kleiner, aber imponierender erscheinen. Ein solcher Mann ist nicht zu übersehen und zu überhören, sobald er auf einer Tribüne steht. Jedenfalls schenkt man ihm lieber Vertrauen als einem halbverhungerten Heimkehrer aus der russischen Gefangenschaft, der mit verwirrten Worten von Sowjets und Bürgerkrieg erzählt. So war's im Jahre 18 gewesen. Schon damals aber und jetzt mehr denn je war seine eigentliche Spezialität die Besprechung im engen Kreis, mit einigen guten Freunden (seien's christlichsoziale Abgeordnete oder rote Arbeiter), die man unter Scherzen am Ärmel oder am Westenknopf gepackt und in eine Ecke zusammengeschleppt hatte. Da strahlte von Drehers jovialer Körperlichkeit eine wirkliche Macht aus. Die Eiferer begannen, sich ihrer Kompromißlosigkeit zu schämen. Ein körperliches Minderwertigkeitsgefühl beschlich sie vor diesem lachenden Dickbauch. Sie fürchteten plötzlich, als Hysteriker zu erscheinen, als griesgrämige Jammerlappen, als impotente Zeloten. Sich versöhnen – leben und leben lassen – Verdauungsbeschwerden vermeiden – den Modus vivendi finden – dieses Ziel im Zeichen des Fleisches rückte den fanatischsten Prinzipienreiter in verständliche Nähe. Schritt er, quecksilbrig trotz seines Fleischberges, durch Werkstätten und Bahnhofssäle, so sahen ihm die Arbeiter lachend nach. »Solang wir solche Bröckerln haben«, dachten sie spöttisch und liebevoll, »solang kann uns nix gescheh'n.« Diese Erscheinung stand im krassen Gegensatz zum hageren Leib, zum schmalen Schädel, zur scharfen Nase Dworaks. – Vor dem Jahre 1924, als Dreher, noch nicht dienstenthoben, mit Dworak in demselben Bahnhof arbeitete, hatte die kommunistische Betriebszeitung die beiden oft nebeneinander abgebildet. Das machte die Karikatur schärfer. Dann war Dreher ins Parlament gewählt worden, und zwar den meisten Voraussagen entgegen; denn man war sich fast einig, nicht er, sondern Dworak würde nominiert werden. Dworak war schon damals Ortsgruppenobmann und die eigentliche Autorität gewesen. Mit einem Scherzwort, statt jeder Erklärung, hatte der Favorit dem Außenseiter freiwillig Platz für die große Karriere gemacht: »Geh nur, Dicker, du kannst besser reden.«

Und Erich Weigel, damals frühreifer Gymnasiast und Falkenführer, hatte den folgenden Aphorismus auf eine Mittelschülerversammlung losgelassen: »Sancho Pansa, Genossen, hat die Gouverneursinsel gekriegt, Don Quichotte reitet weiter!« Als Don Quichotte in Sancho Pansas Kanzlei eintrat, stand sofort jene Angelegenheit vom Jahr 24 zwischen ihnen. Bei keiner der häufigen Begegnungen seither war sie erwähnt worden. Jetzt, als wäre ein stillschweigend vereinbarter Termin abgelaufen oder ein geheimes Signal erfolgt, schlüpfte sie knapp vor Dworak durch die geöffnete Tür. Ehe die beiden Männer noch ihr Servus getauscht hatten, wußten sie, daß davon irgendwie die Rede sein werde.

Während der Lokomotivführer dem Nationalrat gegenüber so Platz nahm, daß der umfangreiche Schreibtisch zwischen ihnen blieb, begann die Unterredung mit dem üblichen jovialen Redeschwall Drehers. »Daß d' wiedermal an mi denkst! Wie geht's denn allaweil? Bist ja wieder amal hundsmüd, alter Spezi! Gibst der Saubande no immer das Mädchen für alles ab? Die alte Geschieht – wie a Funktionär sich a bisserl fürs Ideal opfern tut, schieben's ihm gleich die ganze Arbeit am Buckel. Das ist halt der Jammer mit uns. No – und der Hansl? Noch immer ka Arbeit? No – da wern ma a bissei antauchen müssen. Was is er geschwind? Richtig, Elektriker. Morgen komm i eh mit 'n Oberbaurat Swoboda z'samm, in der Finanzkommission – da wern ma halt schaun, ob in Salzburg bei die Elektrifizierungsarbeiten net a Posten frei is. Ha, war ja noch schöner, wann a Eisenbahnerfunktionär für sein Sohn kan Posten bei uns finden tät! So weit is' no lang net, Gott sei's Dank! No – und der Spannmeyer? Was macht denn der immer? I muß wieder amal aussa, mi a bissel im Bezirk umschaun. Zu blöd, so was. Ma kommt ja net los von dem Werkel da! Ein Bürokratendasein is des! Du hast aber keine Ahnung, was die Herren jetzt wieder aufführen mit dem 2. Bundesbahnsanierungsgesetz. No nie war'ns so scharf aufs Lohnschinden, no nie sag ich dir. Alles wolln 's glei auf amal habn. Sie wittern halt Morgenluft in den Segeln. Kannst aber den Kollegen ruhig sagen: s' wird net so heiß gegessen wie gekocht. No, und wie geht's vorwärts mit dem Mandolinenverein?« Dreher hatte seine Vorsitzenden-Funktion im Arbeitermandolinenverein des Bezirks noch immer nicht zurückgelegt. Er fand natürlich längst keine Zeit mehr, weder um zu spielen noch um zu präsidieren. Es kam ihm mehr auf die Symbolik der Situation an: Ein Abgeordneter, ein Mitglied des Zentralausschusses und des Verwaltungsrates eines der größten Betriebe im Land, ist noch immer Obmann des obskuren kleinen Zirkels, der irgendwo »draußen« in einem Extrazimmer – 12 Mann hoch – zusammenkommt.

Während des herzlichen Ergusses betrachtete Dworak verstohlen eine auf dem Schreibtisch liegende reichsdeutsche Illustrierte. Das Titelfoto zeigte die große Lustgarten-Kundgebung der Eisernen Front 196. Darunter stand: »Nach Hitler – kommen wir!« Der Nationalrat schien ihm nicht in bester Laune zu sein. Die Jovialität klang diesmal ein bißchen mechanisch. Es war, als ob im Innern des geräumigen Leibes selbsttätig eine oft abgespielte Grammophonplatte abliefe. Vielleicht hatte es damit nichts auf sich. Wer – das Dröhnen der Masse noch im Ohr – einen engen Raum betritt, dem scheinen Einzelstimmen manchmal unecht zu klingen. Es mochte sich jetzt um diese akustische Täuschung handeln. Dworak selbst war im Augenblick keineswegs bedrückt; im Gegenteil. Er hatte die Demonstration, deren Atem gedämpft durchs Fenster kam, mit dem Hakenkreuzler-Aufmarsch vom 1. Februar verglichen. Er hatte geglaubt, feststellen zu können: Dort die Hysterie – hier die ruhige Kraft; dort die Dressur – hier das lebendige Leben. Im gleichen Augenblick hatte er beschlossen, seinen Bezirk nicht abzuwarten, sondern unverzüglich Dreher aufzusuchen. Und dieser Entschluß, kaum gefallen, hatte sogleich eine viel größere Wirkung getan, als es scheinbar seinem unbedeutenden Gewicht entsprach. Eine Welle munterer Tatkraft war hochgestiegen. Hinter ein ganzes Kapitel schien plötzlich der Schlußpunkt gesetzt. Eine neue Seite war aufgeschlagen. Dworak, leseunkundig, was sein Inneres betraf, nahm die gute Stimmung ohne weiteres hin. Er brauchte sie nötig nach jenen ziemlich düsteren Wochen. Und nun fragte er nicht nach Drehers anscheinender Mißlaune, sondern setzte ihm den Fall des Bremsers Jackl auseinander, der, obzwar er mit Erfolg alle fünf Schaffnerprüfungen abgelegt hatte, noch immer auf seine Beförderung zum Revisionsdienst warten mußte. Dreher hob den Telephonhörer ab; das werde man gleich haben. Aus der Muschel kam quäkend das Beamten-Wienerisch eines im höheren Stockwerk befindlichen Hofrates. Dann schmiß Drehers grauhaarige Pranke den Hörer wieder hin. Sie war rissig und rot, als hätte all die 8 Jahre hindurch in den Couloirs des Parlaments noch immer ein bissiger Fahrtwind den enthobenen Lokomotivführer umweht. »Muß das Akterl heraussuchen, der Herr Hofrat. Ein Skandal überhaupt, daß so ein Fall bis zur Generaldirektion g'schleppt werden muß. Unfähige Bande. Aber beim Tarockieren – da is er Kaiser.«

Dworak, zu Gefälligkeiten aufgelegt, tat dem anderen die Freude: »Soooo – du tarockierst mit ihm?«

Ein kindisches Lächeln zeigte sich unter Drehers grauem Schnurrbart. Seine wasserblauen Augen leuchteten einen Augenblick lang auf. Dann war die kurze Fröhlichkeit vorbei. Nun war es nicht mehr zu übersehen, daß all das Fleisch im blühenden Gesicht recht schlaff geworden war.

»Und das Defizit«, murmelte Dreher. »Weil's hier nichts ander's im Kopf hab'n, wie die verfluchte Politik. Wir sollten den Betrieb amal in die Hand kriegen – wir möchten ihnen schon zeigen, was a geschäftstüchtige Leitung erreichen kann ...« Er schnaufte kurz durch die Nase. Es ergab sich eine Stille. Solche Gesprächspausen erweckten für gewöhnlich in Dworak Unbehagen. Meist begann er sich zu fragen, ob er den vielbeschäftigten Freund nicht von Wichtigem abhalte; ob das Schweigen nicht ein Zeichen wäre, die Audienz sei beendet und der Bittsteller könne gehen.

Dieses Gefühl, das Gefühl des armen Verwandten (nebenbei gesagt der Grund, warum er seit Jahren Drehers Wohnung und Familie mied), stellte sich diesmal nicht ein. Beide wußten, daß alles bisher Besprochene nur die Einleitung zum eigentlichen Thema war. Eine Empfindung der Überlegenheit dem anderen gegenüber, die mit der Zeit vor so viel Ämtern und Würden verlorengegangen war, fand sich nunmehr wieder in Dworak. Undeutlich spürte er, daß Pausen und Verzögerungen diesmal für ihn arbeiteten. Er wartete.

Dreher wußte genau, worauf. Er wußte, daß Dworak gekommen war, um den Vorschlag zu hören, der ihm schon mehrmals gemacht worden war und den er regelmäßig mit der Begründung abgelehnt hatte: »Mich brauchen sie im Betrieb.« Vielleicht wollte sich Dworak diesmal nur vergewissern, daß ihm der Weg noch offenstand. Vielleicht wollte er ihn heute beschreiten. Vielleicht wußte er es im Moment selbst noch nicht. Zweifellos aber saß er dieser Frage wegen hier. Dreher schwieg und schnaufte nachdenklich: Der Vorschlag stammte von ihm selbst. Daß der andere endlich annehme, war immer sein Herzenswunsch gewesen. Sein Gewissen war seit jenem Jahr 24 nie ganz beruhigt. Er fühlte sich trotz hoher Verdienste um die Bewegung hie und da als Usurpator. Nahm aber Dworak an, so war alles wieder gut. Wozu ein Dilemma, wenn immer noch Platz für so viele war.

Andererseits stand zu erwägen, daß Dworak nun auf einmal aus eigenem Antrieb erschien. Das war nicht so ohne. Wollte er am Ende plötzlich ganz hoch, über Drehers Kopf hinaus? Fähigkeiten dazu besaß er – mehr als Dreher selbst –, das wußte man. Und ganz oben, wo man als Fachmann für Eisenbahnerfragen saß, war Platz für wenige. Feinde zählte man genug, Fehler hatte man auch genug gemacht, man war ja nur ein Mensch. Was also war jetzt zu tun? Nichts kam Dreher derzeit ungelegener als dieser Fragenkomplex. Konnte man solche Sorgen nicht auf ruhigere Zeiten verschieben? Hatte man jetzt nicht genug anderes? Mußte man schon wieder mitten aus dem Alltag heraus eine Gefahr auftauchen sehen, wo doch ohnedies hier im Amt so viel Gewohntes plötzlich drohend, so viel heimisch Gewordenes plötzlich unheimlich wurde? – Aber Dworak wartete. Dreher wußte, daß sein Beschwichtigungsgenie diesem gegenüber immer unwirksam gewesen war. Ein Unglück kommt selten allein, dachte er seufzend und erhob sich. Während er mit seinem fröhlichen Gummimännchengang kreuz und quer durchs Zimmer wippte, fühlte er selbst, wie unnatürlich diesmal der humorige Baß aus ihm hervorkam.

»Ha ja, mein lieber Ferd'l, wir wern alt. Alt wern wir alle miteinander. Das is' es. Es kommt der Tag, wo ich auf 'n Fauteuil mein Fett g'spürn werd' und du auf der Maschin' deine Knochen. Gell, ja, alter Spezi.« Dann ging's weiter, wie eine schlecht eingelernte Rolle. »A propos; in der nächsten Zeit wem ja die Wahlvorschläge für 'n Personalausschuß ausgearbeitet. Ich mein, du könnt'st dich ruhig einiwählen lassen. Und die Exekutive könnt dich als ordentliches Mitglied kooptieren. Is ja lächerlich, wo du eh längst mehr Arbeit machst wie jedes ordentliche Mitglied. Verdient hast du's ja, möcht ich meinen? Oder willst dich am Ende bis zur Pensionierung im Betrieb abschinden?« Dworak hatte den anderen mit den Augen verfolgt. Sobald der Vorschlag fiel, wurde ihm mit voller Selbstverständlichkeit klar, daß er hergekommen war, um ihn anzunehmen. Jetzt zögerte er nicht eine Sekunde. Bevor er antwortete, wickelte sich in seinem Kopf noch blitzschnell die Spule der Rechtfertigungen ab, denen der Entschluß schon zuvorgekommen war. Selbstverständlich habe er die gutbezahlte Funktion verdient. Frau und Kind – dreißig Jahre Arbeit – fünfzig Jahre alt – hatte er's nötig, sich der Willkür jedes kleinen Zehetner auszusetzen – schrien die Jungen unten nicht, daß auch sie drankommen, nachrücken wollten? Hatte er nicht längst so viele Erfahrungen gesammelt, daß es geradezu seine Pflicht war, sie in höherer Funktion zu verwerten? – Er wartete das Ende gar nicht ab, sondern erklärte kürz: »Einverstanden, kannst mich nominieren!«

Drehers Antwort, noch kürzer, lautete: »Bravo, Ferdl« und war von einem Seitenblick begleitet, in dem schon offenes Mißtrauen lag. Dieser Seitenblick maß bereits die Wendigkeit des Rivalen, dessen persönliche Verbindungen zum Parteivorstand, dessen Feinde, die man sich vielleicht zu Freunden würde machen müssen. Und als Dreher von den Schwierigkeiten zu reden begann, die ihm seit Tagen das Leben verbitterten, geschah es aus Berechnung. »Wenn du glaubst, mein Lieber«, war der schadenfrohe Nebensinn, »wenn du glaubst, daß du da oben auf Rosen gebettet bist ...« Der Hauptzweck des Berichtes ging aus folgenden Redewendungen hervor: »Da sage ich, du, Ministerialrat« – »da nimmt mich der Sekretär König ganz privatim auf die Seite« – »beim Generaldirektor, wo ich aus und ein gehe« – »ich, natürlich, lass gleich den Parteivorstand zusammentrommeln –«

Der Tatbestand aber, beunruhigend genug, war dieser: In der Verwaltungskommission hatte der Generaldirektor Seefellner die budgetäre Lage des Betriebes als verzweifelt geschildert. Wenn es nicht gelänge, bis zum Monatsende größere Geldmittel aufzutreiben, wäre man gezwungen, in der Auszahlung der Gehälter und Pensionen gewisse, »dermalen noch nicht feststehende Verschiebungen« vorzunehmen. Die freigewerkschaftlichen Vertreter hatten sofort protestiert. Der bewährten Taktik folgend, größere Opfer durch kleinere zu vermeiden, hatten sie versucht, die Frage der Werkstättenarbeiter aufs Tapet zu bringen. Und Dreher hatte erklärt, man werde über eine eventuelle Auszahlung in zwei Raten mit sich reden lassen, wenn man die Garantie erhielte, daß keine Arbeitsaufträge mehr an die Privatindustrie erteilt werden würden, was die Bahnwerkstätten vor weiterem Personalabbau schützen könnte. Seefellner war starrsinnig geblieben. Daß das Personal weitere Opfer nicht mehr ruhig ertragen würde, schien er nicht zu glauben oder mit einem bisher nie gesehenen Leichtsinn zu ignorieren. – Noch beunruhigender waren die zahllosen unverbindlichen und doch so wichtigen Couloir- und Privatgespräche. Da wurde von Seiten der Direktion und ihrer Leute ein sehr merkwürdiger, sehr ungewohnter Ton angeschlagen. So war Dreher im Bundeskanzleramt von einem guten Freund auffallend kühl empfangen worden. So hatte man aus offiziösem Mund den heftigen Ausspruch gehört: »Dann werden wir am 1. März eben gar nichts auszahlen!« Selbstverständlich war das als Erpressungsmanöver aufzufassen, und wenn die läppische Drohung nicht schleunigst zurückgezogen werden sollte, würde die Partei eine Kampagne eröffnen.

»Aber«, schloß Dreher nachdenklich, »ich hab bei der ganzen Geschichte a schlechts G'fühl – a schlechtes G'fühl wie schon lang nimmer.« Dies alles hörte sich Dworak ruhig an. Er sah durchaus den Ernst der Lage. Jedoch, das fühlte er beglückt, mit neuen Augen. Im vergangenen Jahr war den Eisenbahnern der Lohn allmählich um 25 % gekürzt worden, und ebenso, Schritt für Schritt, waren sie vielerlei Rechte verlustig gegangen. Wenn Dworak nach nervenaufreibenden Verhandlungen schließlich vom Zentralausschuß erfuhr, man müsse wieder einmal ein sogenanntes »kleines Opfer« hinnehmen, verband sich damit die immer gleiche, immer drückendere Vorstellung: »Er betritt den Betrieb, Dutzende von Fragen bestürmen ihn; er durchquert die Halle, verfolgt von hunderten forschenden Blicken; stundenlanges Spießrutenlaufen; schließlich Betriebsversammlung, wo er den Kollegen klarmachen muß, daß man wieder an ihre Einsicht appelliert, daß diese Maßnahme ein schwierig erzieltes Kompromiß sei, daß man in der Krise nicht streiken könne, daß Widerstand die Sache nur schlimmer machen würde usw. Die Opposition springt auf, krawalliert. Familienväter rechnen der Versammlung unbeholfen vor, wieviel sie für Gas, Licht und Essen ausgeben müssen. Niemand bedenkt, daß Dworak dasselbe Opfer bringt. Er vertröstet alle, ihn vertröstet keiner. – So war's bisher gewesen. Jetzt hatte er andere Assoziationen. Er würde an einem Schreibtisch sitzen und die Vorschläge des Generaldirektors kritisch durchrechnen, in Kommissionen zähe verhandeln. Ein präzises Referat für den Zentralausschuß vorbereiten. Er dachte: »Ich werde jetzt einen besseren Einblick in die verzwickte Lage haben, von höherer Warte aus.« Aber in seinem sonst sehr nüchternen Hirn entstand für den Bruchteil einer Sekunde die Vorstellung eines überfüllten Saales, der dem Sitzungssaal des Parlaments verdammt ähnlich sah. Der Abgeordnete Dworak hielt eine flammende Rede gegen die Ausplünderung der Eisenbahner und verhöhnte schlagfertig die Zwischenrufe der Rechten. Mittags schon las er selbst davon in den Zeitungen. (Währenddessen deckte das Stubenmädchen den Tisch, und der Bub kam von der Technischen Hochschule heim ...)

In den letzten Wochen hatte jene plötzlich aufgetauchte Angst vor dem Altwerden Dworaks Zigarettenverbrauch eingeschränkt. Jetzt lehnte er sich im Stuhl zurück und brannte ohne Zögern eine an. »Ja«, sagte er, »die Herrschaften glauben halt, sie dürfen sich jetzt alles erlauben, übrigens, was sagst du zum Hitler?«

Der Nationalrat ließ einige Binsenwahrheiten los: »Der? Der wird in an Jahr abwirtschaften. Außer, er beißt sich scho am 5. März die Zähn'd aus bei den Reichstagswahlen! S' kommt halt alles aufs Zentrum an. S' Zentrum is das Zünglein auf der Waage!« Er griff nach seiner Pfeife. »I sag immer –« Hier stockte er, auch seine Hand stockte mitten in der Bewegung. Aus irgendeinem Teil des ungeheuren Direktionsgebäudes war schwach das Geräusch einer sich schließenden Tür gekommen. Für Dreher schien dieser Laut von großer Wichtigkeit zu sein. Horchend glotzte er einen Augenblick ins Leere und zischte hastig: »Der Sektionschef.« Dann war er schon bei der Türe, die er zu schließen vergaß, und draußen. Kaum auf dem Gang angelangt, vollführte er eine geradezu groteske Bewegung. Die rechte Hand wurde etwas über Schulterhöhe gehoben und einige Male locker im Gelenk geschwenkt: So begrüßt man von ferne jovial, ja ein wenig gönnerisch, einen Bekannten. Gleichzeitig aber klappte der ganze Oberkörper zu einem tief devoten Bückling vor. Und wie der Kellner in irgendeiner Pose sich mittels einer geschmeidigen Wellenkurve des Rückgrats aus der Verbeugung plötzlich in eine Kreuzhohlstellung aufschwingt und auf den Zehenspitzen, die Füße auswärts gedreht, lautlos dem werten Gast entgegeneilt – so schoß Dreher in eine unbekannte Richtung davon. Dworak mußte laut auflachen. Aus den Tiefen des Korridors kam die Stimme des Sektionschefs, und wieder hatte der Besucher die Empfindung, eine Grammophonplatte zu hören; diesmal näselte sie stark, und die Feder des Apparates war fast zu Ende abgelaufen, so daß die unerträglich gedehnte Stimme bei jedem Satze wehmütig zu ersterben schien. »No schau – ns – ober geh – ns – halt eine penible Komplikation« – außer diesen verbindlichen Wendungen war nichts zu verstehen.

Nach einigen Minuten fiel Dreher durch die Tür in seinen Lehnstuhl. Die fleischigen Züge waren erschreckend verstört; die Wangen zwei schlaffe Taschen. Zum ersten Mal fiel es auf, daß unter den Säuglingsaugen runzlige Tränensäcke hingen. In der Röte der Haut waren unregelmäßige, wachsbleiche Flecken aufgetaucht. Dreher tastete wie blind nach seiner Pfeife, zwischen seinen Lippen kam eintöniges Gemurmel hervor: »Verfluchte Hetz – verfluchte Hetz – verfluchte Hetz noch einmal – verfluchte –«

»Ja, was ist denn los?« staunte Dworak. Der dicke Mann zündete ununterbrochen Streichhölzer an, die immer wieder verlöschten, bevor er sie zur Pfeife führen konnte.

»In drei Raten – in drei Raten wolln's im März die Gehälter auszahlen und die Pensionen – in drei Raten –.«

Dworak verstand nicht. »Das ist ja kein solches Malheur nicht. Wenn man das gewissermaßen als eine Zwangsanleihe der Direktion beim Personal auffaßt – ohne Zinsen – so ist der Verlust höchstens ein paar Schilling?« – – – Dreher winkte ab: »Das is' ja net, das is's ja net, Ferdl. Du gneist es net. Er hat mir gesagt – vertraulich – wenn die Gewerkschaft net dafür stimmt – nocha – nocha –« (er sprach jetzt im tiefsten Dialekt) »tan's es erscht recht! Woas sagst jetztn?« Er warf die Faust vor, in der er mit aller Kraft die Pfeife umklammert hielt. Aus der Faust schnellte der Daumen vor, reckte sich, ein plumper, krummer Einser aus Fleisch und Blut. »Zum ersten Mal!«

Die Erregung eines anderen löste in Dworak immer eine Reserve von Kaltblütigkeit aus. Er begann ausführlich von allem zu reden, was hier beruhigend wirken konnte: 1. mochte die Information vielleicht nicht authentisch sein; 2. spreche sie lediglich von einem Plan, und die Courage der Regierung wäre in diesem kläglichen Winkelstaat schon mehr als einmal von selbst unter den Tisch gefallen; 3. handelte es sich zwar um einen eklatanten Bruch der Dienstordnung, der, wie Dreher richtig gesagt habe, zum ersten Mal in solcher Deutlichkeit erfolgte, aber vielleicht wäre die Nachricht eben deswegen so zu verstehen, daß man vorher der Gewerkschaft eine neue Dienstordnung zur Beratung vorlegen wolle. Eine Dienstordnung mit gewissen außerordentlichen Vollmachten für die Direktion; 4. man habe auch schon in gefährlicheren Fragen ein Kompromiß gefunden.

Das bäuchige Kompromißgenie schüttelte den Kopf. Dworak schwieg. Das Schweigen schwoll an und lastete schwer wie Wassermassen.

Dann kamen die Möbel des Zimmers leise knarrend und knackend zu Wort: häßliche alte Prunkstücke, aus einem ehemaligen k.k. Ministerium hierher verpflanzt, gebeizt von der Zeit, Erbgut vieler Beamtengenerationen. Aus den Ecken krochen sacht die ersten Schatten der Dämmerung. Das Bild des Volksschullehrers und Bürgermeisters Seitz war schon in Dunkelheit ertrunken. Aber immer noch kamen durchs Fenster die gedämpften Töne der großen Brandung. – Die zwei Männer im Zimmer versuchten schweigend die Folgen des Erfahrenen abzuschätzen. Aber deutlich war nur, was unmittelbar drohte. Die Regierung, welche jahrelang die Arbeiter attackiert hatte, ritt jetzt die erste Attacke gegen den Parteiapparat. Zwei Partner hatten Karten gespielt; es war eine aufgeregte Partie gewesen, aber man war am selben grünen Tisch gesessen und hatte dieselben Spielregeln befolgt. Da stand der eine Partner auf und schlug dem andern ins Gesicht.

Dworak räusperte sich und sagte: »Du, Pepi, du brauchst mich nicht für den Zentralausschuß nominieren. Ich bleib im Betrieb. So, wie's jetzt ausschaut, werdet's ihr mich dort eher brauchen. Wir werden die Kollegen beruhigen müssen, und außer mir kann das keiner in mein Betrieb.« Er wollte noch etwas hinzufügen. Dreher wollte antworten, wollte dem anderen heuchlerisch zureden, wollte Genugtuung verspüren. Aus alledem wurde nichts. Während sie einander in die Augen sahen, wurden sie gleichzeitig von einer eiskalten Panik ergriffen. Sie rührte von keiner Überlegung des Verstandes her, sondern gehörte zu den sinnlosen Ängsten, wie sie Männer manchmal an der ersten Grenze des Alters durchleben.

Was man sein Leben lang aufgebaut hat, scheint in Zeiten solcher Anfälle wertlos und gebrechlich. Wertlos und gebrechlich, umlauert von Krankheit und Tod sieht man sich selbst. Der Freund ist falsch. Schon am Tage, da ihr euch kennengelernt habt, hat er dich verkauft. Hinterrücks verlacht er dich. Die geliebte Frau betrügt dich, weil du sie nie befriedigt hast. Die geliebte Sache ist ein Betrug, weil du sie verraten hast. Dich selbst hast du ja auch immer betrogen, denn nichts von allem, was du dir als Leistung anrechnest, hält einer Prüfung stand. Und du hast keine Zukunft mehr. Du wirst immer scheitern. Was du hältst, wird dir entrissen werden. Was du aufgebaut hast, wird ein Windhauch umblasen. Was du angreifst, ist Dreck. Dreck und Zunder – das ist die Welt. Und du bist wehrlos; denn du bist alt. Ein alter Mann. – Sie standen gleichzeitig auf, und ohne einander anzusehen, als fürchteten sie, auf dem Gesicht des anderen scheußliche Wundmäler zu erblicken, zwängten sie sich in ihre Überkleider. Erst auf der Straße atmeten sie leichter. – Langsam den Schwarzenbergplatz überquerend, genossen sie mit bedachter Wollust die Vorfreuden der Demonstration. Sie kauften bei einem kleinen Falkenmädel rote Nelken und schmückten sich. Sie tauschten Vermutungen aus, ob der Aufmarsch nicht doch noch am Ende verregnen würde. Sie kamen dem Getöse näher, es wurde betäubend, man mußte sich lauter verständigen. Hinter dem Spalier angelangt, betrachteten sie eine Zeitlang die Sturmfahnen, die in der beginnenden Dämmerung vorbeistrichen, rote Segel auf dem noch nicht sichtbaren Strom.

»Die dritte Stunde«, sagte Dreher.

»Ein Aufmarsch der 200 000«, rezitierte Dworak.

»Eine Kundgebung des Trotzes und der Solidarität«, fiel der Abgeordnete ein.

Dann machten sie sich daran, mit geübten Schulterwendungen einen Weg durch die gestauten Leiber zu bahnen. Schon waren sie den Vordersten, Glücklichsten näher, schon sahen sie eine singende Schutzbundkompanie vorbeimarschieren. Endlich standen sie auf dem Fahrdamm, spürten durch die Schuhsohlen die sanften Granitbuckeln des Ringpflasters. Ein unbekannter Bezirk zog vorbei. »Freiheit«, schrien Tausende. »Freiheit«, brüllten Dreher und Dworak und schoben sich in die marschierende Reihe.


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