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Herr Christian Sötebeer, der Wirt des »Strelitzer Hofes« zu Moltzahn, stand vor der Glasveranda seines stattlichen Hauses am Marktplatze und ließ sich behaglich die liebe Frühlingssonne auf die weiße Weste scheinen, die ihm ein rundliches Bäuchlein prall umspannte. Die Geschäfte gingen gut, und so recht zufrieden stand er da mit seinem feisten Vollmondsgesichte, in dessen Mitte eine stumpfe Nase leuchtete gleich einem umgestülpten kleinen Kupferkessel. Seine Stammgäste behaupteten, wenn er im Dunkeln ginge, brauchte er keine Laterne, anderseits aber war ihnen diese rötlich strahlende Nase ein vertrauenerweckendes Zeichen, daß Herr Sötebeer in seinem geräumigen Weinkeller nicht bloß theoretisch Bescheid wußte! Wenn er in seiner freundlich-behäbigen Art versicherte: »Dieses Weinchen ist gut, das kann der Vater mit dem Sohne trinken«, durfte man sich darauf verlassen. Schlechte Weine führte er überhaupt nicht, das überließ er der Konkurrenz, ebenso die minderwertigen Gäste. Im Strelitzer Hofe verkehrte ausschließlich ein vornehmes Publikum, die Spitzen der Behörden, der hohe und höchste Adel der Umgebung. Und Herr Sötebeer verstand seine Gäste vortrefflich zu behandeln, so daß sie sich bei ihm wohl fühlten. Zwei Eigenschaften zeichneten ihn besonders aus vor allen andern Wirten. Daß er's nämlich verstand, zur rechten Zeit hinzusehen und zur rechten Zeit fortzusehen, je nachdem. Wenn an dem großen runden Tische eine Flasche leer war, erspähte er es sofort, gab dem Kellner einen Wink, und es stand eine volle da, der Schaden war behoben. Wenn aber die Herren zu später Stunde zusammenrückten, der Würfelbecher über einem zweigeteilten Papierbogen rasselte oder die Karten sich auf dem Tische breiteten, sah Herr Sötebeer nicht hin. Es interessierte ihn nicht, was da getrieben wurde, denn er hatte leider gar keinen »Kartenverstand«, wußte einen König nicht von einer Dame zu unterscheiden. In andern Hotels trat der Wirt in solchen Fällen an den Tisch, sagte: »Meine Herren, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, Hasardspiele sind polizeilich verboten« und ließ sich erst durch das Versprechen einer großen Zeche zur Duldung bewegen. Herr Sötebeer war durch seine mangelnde Kenntnis vor solchen Mißgriffen geschützt. Und die große Zeche kam ganz von selbst, wenn erst die Köpfe heißer wurden. Dann floß der teure französische Champagner in Strömen, wie Wasser schütteten die jungen Herren ihn hinab, und kein Mensch schmeckte es mehr heraus, daß Herr Sötebeer aus patriotischen Gründen längst schon einen deutschen Schaumwein unter welscher Flagge segeln ließ. Er hatte ein Herz für die heimische Industrie, und weshalb sollten die Franzosen all das schöne Geld verdienen? Seine Gäste befanden sich wohl dabei, konnten ungestört sich an ihrem Spiel vergnügen, denn sie waren ganz unter sich. Zweifelhafte Elemente duldete Herr Sötebeer in seinem Hause nicht, nicht einmal in der Bierstube, in der ausschließlich wohlsituierte Bürger verkehrten, verständige und gesetzte Leute, die sich bewußt waren, daß den jungen Herren von Adel von alters her das Vorrecht zustand, ihr Geld zum Fenster hinauszuwerfen im Kartenspiel, in Sekt oder aus irgendeine andre Art und Weise. Da hatte sich kein Mensch darum zu kümmern, am allerwenigsten die Polizei. Und sie neideten dem Wirte des Strelitzer Hofes nicht den fetten Verdienst. Wenn ein Herr von Adel in ihren Laden kam, schlugen sie ja auch einige grobe Prozente auf den Preis der Ware. Wie eine Respektsverletzung wäre es ihnen vorgekommen, sie ebenso billig zu verkaufen wie bei einem rein bürgerlichen Handel ...

Über den gepflasterten Marktplatz kam mit klappernden Hufen ein einzelner Reiter getrabt. Herr Sötebeer kniff die Äuglein ein, die unter den fettgepolsterten Wangen ohnedies schon fast verschwanden, und erkannte ihn wohl. Gestern, auf dem zwanglosen Abend der »Kameradschaftlichen Vereinigung von Reserveoffizieren aus Moltzahn und Umgebung«, war viel von ihm die Rede gewesen. Und es hatte nur eine Stimme gegeben, er müßte natürlich geschnitten werden »bis auf die Knochen«. Lange Zeit war er verschollen gewesen, und man hatte schon angefangen, mit einer gewissen bedauernden Achtung von ihm zu sprechen. Daß er wohl eingesehen hätte, für Leute seines Schlages wäre in der Heimat kein Platz, und daraus die einzig mögliche und anständige Schlußfolgerung gezogen. Seine plötzliche Heimkehr aber zeigte deutlich, daß er doch jenes letzten, den wahren Edelmann auszeichnenden Ehrgefühls entbehrte, und demgemäß hätte man ihn natürlich bei zufälligen Begegnungen zu behandeln. Diese Ausführungen des Tüschower Herrn von Lewenitz hatten allgemeine Zustimmung gefunden, und Herr Sötebeer hatte aufmerksam zugehört. In seinem Strelitzer Hof sollten die Herren der Kameradschaftlichen Vereinigung nicht in die Verlegenheit kommen, solchen peinlichen Begegnungen ausgesetzt zu sein! Er wußte schon, was er dem Renommee seines Hauses schuldig war, und solche Affären erledigte er ganz still und schmerzlos ...

Der junge Graf Römnitz verhielt seinen schweißbedeckten Gaul vor der Glasveranda.

»Na,« sagte er gemütlich auf platt, »Vadder Sötebeer, wat maken Sei fär 'n kamisch Gesicht? As 'n Kater, de dunnern hört? Wunnern Sei sick, dat eck wedder to Hus bin?«

Der Wirt des Strelitzer Hofes verneigte sich, soweit es sein dickes Bäuchlein zuließ.

»Nein, Herr Graf. Ich habe schon gestern abend gehört, daß Herr Graf aus Afrika wieder glücklich zurück sind. Ganz gehorsamst willkommen! ... Es war viel die Rede von Ihnen gestern abend. Wir hatten nämlich den allwöchentlichen zwanglosen Abend der Kameradschaftlichen Vereinigung, und Herr von Karnitz auf Götschendorf war zufällig an der Bahn gewesen, wie Sie ankamen.«

»So, so,« sagte Malte und ordnete irgend etwas am Zaumzeug, »war wieder mal die ganze Klerisei beisammen? Na, dann rufen Sie irgendeinen dienstbaren Geist! Der Kerl soll aber 'nen Strohwisch nehmen und mir den Gaul ordentlich abreiben, ehe er ihn in die Box führt. Es ist warm, und ich bin ein bißchen scharf zugeritten« ... Er hob schon das Bein, um sich aus dem Sattel zu schwingen, Herr Sötebeer aber sah mit strahlender Freundlichkeit in die Höhe, zerfloß fast vor Untertänigkeit und Ergebung.

»Ach, einen Augenblick, Herr Graf! Ich möchte nämlich Hochdieselben bitten, sich geneigtest nicht zu derangieren. In meiner Ausspannung ist leider alles besetzt ... einige von den Herren sind der Bequemlichkeit halber gleich über Nacht geblieben, sitzen da drinnen beim Frühschoppen ... neuer Besuch ist dazugekommen ...«

»Na, aber irgendein Bonze wird doch da sein, der mir den Gaul auf dem Hof herumführt, bis ich was gefuttert Hab' und beim Rechtsanwalt gewesen bin?« ...

Herr Sötebeer wurde noch freundlicher. Eine Verneigung folgte der andern, so daß ihm das Blut beängstigend zu Kopfe stieg.

»Auch das nicht, Herr Graf! Leider nicht! Zu meinem allergrößten Bedauern nicht! Es ist ein ganz fatales Zusammentreffen ... ich bitte tausendmal um Entschuldigung, aber alle meine Leute sind beschäftigt, und so was kann doch wohl mal vorkommen, nich?« ...

Malte grub die weißen Zähne in die Unterlippe, er hatte verstanden. Und er ärgerte sich, daß er nicht gleich so hellhörig gewesen war. Einen kurzen Augenblick überlegte er, ob er das winselnde Gemüse da unten nicht auf den Kopf schlagen sollte, daß es auf dem Pflaster einen großen Fettflecken gab. War er denn schon ein solches Nichts, daß ihm dieser feist gewordene ehemalige Kellner den Unterstand verweigern durfte? Hier in Moltzahn, wo der Name Römnitz fast mehr galt als der des allerhöchsten Landesherrn ...? Der Ingrimm schüttelte ihn, aber er bezwang sich mühsam.

»Es ist gut, Herr Sötebeer, Sie sind ein außerordentlich tüchtiger Geschäftsmann. Ich wünsche Ihnen, daß Sie sich nicht verspekuliert haben. Die Moden wechseln. Ein neuer Herr Erblandmarschall könnte vielleicht finden, daß drüben im Hotel zur Stadt Rostock auch ein ganz angenehmer Aufenthalt ist ... na Sie verstehen mich schon. Da laufen die andern dann nach« ...

Herr Sötebeer salvierte sich auf die oberste Stufe seiner Veranda. Diesen Herren war nicht zu trauen, von ihren hochseligen Vorfahren her hatten sie eine gewisse Neigung zur Gewaltsamkeit an sich. Der junge Randiener Graf von Dißnack zum Beispiel warf immer gleich mit 'nem Sektglase, wenn der vor Müdigkeit eingeschlafene Kellner der erforderlichen Aufmerksamkeit ermangelte ... Und oben verneigte er sich von neuem, murmelte allerhand entschuldigende Worte. Der gnädige Herr Graf sollten um Gottes willen doch nicht glauben ... und es wäre wirklich nur ein bedauerlicher Zufall ...

Malte lachte kurz auf. Zu komisch sah der kleine Kerl aus, wie er sich immerfort verneigte, daß die dicken Armwürste fast den Boden berührten.

»Na schön, Herr Sötebeer, dann grüßen Sie mir die Herren von der Kameradschaftlichen Vereinigung recht herzlich. Ich komme mal nächstens herüber, um in aller Gemütlichkeit was auszuprobieren. Heute habe ich dazu keine Zeit. Weiter brauchen Sie nichts auszurichten!« ... Und er lachte noch, als er quer über den Markt zum Hause des Justizrates Stahmer ritt. Bis er plötzlich aufschlucken mußte. So grüßte ihn wieder einmal die Heimat, nach der er sich zuweilen gebangt hatte da draußen, daß ihm das Herz wie ein schwerer Stein hinter den Rippen hing ... Aber weshalb wunderte er sich? Darauf hätte er sich ja gefaßt halten müssen, als er gestern abend das zweite Schreiben des hohen Bezirkskommandos las ... Die Herren mit dem blanken Schild ritten vorn. Wer einen Klecks dran hatte, war gerade gut genug, hinter der Front die Arbeit von Troßknechten zu verrichten ... Der Teufel sollte das holen, und das ließ er sich nicht gefallen ...

Vor dem Hause des Justizrates Stahmer lungerte ein halbwüchsiger Junge herum. Er warf ihm die Zügel zu: »Da, mien Sähn, föhr mi dat Peerd 'n beeten up un dal, eck kam gliek wedder rut« ...

»To Befehl, Herr Graf« ...

Malte stieg die knarrende Holztreppe empor. Immer hübsch eins nach dem andern ... Zuerst kam der Herr Onkel in Hohenrömnitz an die Reihe, das übrige fand sich später, mal bei Gelegenheit. Die Herrschaften hier sollten sich nur nicht einbilde», er ließe sich von ihnen so ohne weiteres den Platz anweisen draußen vor der Tür ... Den Kleinmut hatte er abgetan, endlich, und mittlerweile war er ja auch zwei Jahre älter geworden, hatte in der Zeit mehr erlebt und durchgemacht als sie alle miteinander ... Und er freute sich schon auf den Tag, da er sich einen von ihnen aus unbeträchtlichem Anlasse herausfischen würde. Nur um an einem Beispiel festzustellen, daß niemand sich anmaßen dürfte, an ihm vorbeizusehen oder ihm die Genugtuung zu weigern ...

Oben in der Schreibstube empfing ihn ein junger Mann mit einer scharfen Brille vor den kühlblickenden Augen.

»Womit kann ich dienen, mein Herr?«

Malte stellte sich vor und fügte hinzu, er wünschte den alten Sachwalter seines Hauses, den Herrn Justizrat Stahmer zu sprechen.

Der andre verneigte sich höflich.

»Ich bin sein Nachfolger. Mein Herr Kollege hat mir bereits vor anderthalb Jahren die Praxis verkauft, ist nach Berlin gezogen, um sich zur Ruhe zu setzen, dort aber schon nach kurzer Zeit gestorben. Er hat von seiner wohlverdienten Muße nicht viel gehabt.«

»Tut mir herzlich leid,« sagte Malte mit ehrlichem Bedauern, »aber Sie werden mir jedenfalls auch die gewünschte Auskunft geben können. Ich komme aus Vellahn und habe dort unter den Papieren meines Vaters vergeblich nach der Abschrift eines ganz bestimmten Dokumentes gesucht. Es muß irgendwie in Verlust geraten sein. Aber das hat nicht viel auf sich, ich weiß genau, daß eine weitere Ausfertigung sich hier bei Ihren Akten befinden muß.«

»Die Akten des Lehnsgutes Vellahn,« erwiderte der andre, »sind auf Anforderung Seiner Exzellenz nach Hohenrömnitz gegangen. Ich gestatte mir hinzuzufügen, daß ich schon seit längerer Zeit die Funktionen eines Justitiars der Herrschaft Hohenrömnitz ausübe. Falls Sie, Herr Graf, also beabsichtigen sollten, an die Durchsicht des fraglichen Dokumentes irgendwelche Entschließungen zu knüpfen, die in die Rechtssphäre meines Herrn Mandanten übergreifen, müßte ich bedauern, Ihnen nicht weiter dienen zu können.«

Malte hatte die geläufige Auseinandersetzung nur halb verstanden. »So, so,« sagte er langsam, »das ist ja ein ganz toller Fall. Ich gehe zu Hause an den Schrank in meinem Schreibzimmer, denke, ich brauche bloß 'reinzugreifen ... Alles ist da, nur das eine Schriftstück fehlt! Ich jage hierher – Sie sagen mir, die Akten sind drüben in Hohenrömnitz! Sie werden mir zugeben, Herr Justizrat, das kommt mir einigermaßen merkwürdig vor« ...

Der andre klappte die Hacken zusammen.

»Nur ›Rechtsanwalt‹, wenn ich bitten darf, Herr Graf. Was aber die Sache selbst angeht, so bin ich nicht in der Lage, Ihnen eine irgendwie geartete Auskunft geben zu können. Ich habe die umfangreichen Akten seinerzeit nicht gelesen, sondern auf Anordnung des Vellahner Lehnsherrn, Seiner Exzellenz des Herrn Erblandmarschalls, einfach zusammengepackt und nach Hohenrömnitz geschickt.«

»Aha«, sagte Malte und rückte näher an den Schreibtisch, »bisher war es mir nur 'ne Vermutung, aber jetzt möchte ich darauf schwören, da ist irgendeine grobe Schweinerei passiert. Da werden wir also meinem verehrlichen Lehnsherrn recht gründlich ans Leder gehen! Es handelt sich nämlich« ...

Der Herr Rechtsanwalt stand auf.

»Verzeihen Sie, Herr Graf, ich darf Ihnen nicht weiter zuhören. Ich bemerkte schon vorhin, ich bin der Vertreter Ihres Herrn Oheims. Zwei Parteien zugleich kann man nicht dienen. Wenn Sie mir aber gestatten wollen, sozusagen unter Comment suspendu ein paar Worte zu sprechen« ...

»Ich bitte« ...

»Nun denn, Herr Graf, ich entnehme aus Ihren Worten, Sie beabsichtigen, mit Seiner Exzellenz irgendeinen Prozeß anzufangen. Ich möchte Ihnen den Rat geben, sich darauf nicht einzulassen, es wäre von vornherein aussichtslos. Der Herr Erblandmarschall hat erst vor kurzem mit mir eine ganz eingehende Beratung abgehalten aus Anlaß des ihm bevorstehenden freudigen Familienereignisses. Ich habe sämtliche in Betracht kommende Dokumente aufs sorgfältigste geprüft, die Ehe des Herrn Erblandmarschalls Grafen Römnitz entspricht in jeder Hinsicht und voll und ganz den Anforderungen Ihres strengen Hausgesetzes. Wenn aus dieser Ehe ein männlicher Erbe entspringt, haben Sie nicht die geringsten Ansprüche. Im entgegengesetzten Falle aber« ...

»Danke,« sagte Malte und stand auf, »die Litanei habe ich nun schon oft genug gehört. Wenn's 'ne lütte Deern gibt, darf ich noch ein Weilchen sitzen bleiben auf Vellahn, bis zum nächsten freudigen Ereignis in der Hohenrömnitz! Wieviel Töchter ich meinem Herrn Onkel in ununterbrochener Folge wünsche, können Sie sich wohl denken! Bin ich für die Konsultation etwas schuldig?«

Der Rechtsanwalt gab ihm lächelnd das Geleit zur Tür. Diese jungen Herren vom hohen Adel hatten zuweilen ganz merkwürdige Anschauungen über das, was im Justizbetrieb gang und gäbe war ...

»Herr Graf, ich bemerkte schon vorhin, daß ich als Vertreter der Gegenpartei« ...

»Ja richtig,« sagte Malte, »ich hatte es nur vergessen. Dann werde ich mir eben einen andern Rechtsanwalt suchen« ... Er ging die knarrende Holzstiege hinab, unterwegs aber mußte er sich schwer auf das Geländer stützen. Es gab keinen Zweifel mehr, in dem stolzen alten Hause, zu dem er gehörte, wurde gelogen und betrogen! Als wenn ihm plötzlich ein Schleier vor den Augen zerriß, sah er die klare Handschrift seines Vaters vor sich ... »eine mecklenbörgisch Jungfrouw soll es sin von untadeligem Adel« ... Das eine Wort, das sein Recht war, hatte man ihm gestohlen, damit er's nicht finden sollte, wenn er gegen alles Erwarten wieder heimkehrte! Und der Dieb war das Oberhaupt seiner Familie, der Name Römnitz stand am Pranger, wenn er entlarvt wurde ... Schmachvoll war es und kaum auszudenken, schier ekelhaft das hämische Gezischel im Lande, wenn die Schandtat vor aller Öffentlichkeit offenbar wurde ... Ein paar Sekunden lang schloß er die Augen, stand schwankend da, ob es nicht besser wäre, alles ruhen zu lassen und still heimzureiten ... Da aber flog der Haß über ihn mit lohendem Fittich: da drüben stand sein Recht! Ehrlos war er selbst, wenn er darum nicht kämpfte mit Klauen und Zähnen! Und der andre hatte ja auch nicht gezaudert, sondern war blindlings seinem Haß gefolgt ...

Unten auf der Straße stellte er den Jungen, der den braven Wotan auf und nieder führte.

»Segg mal, mien Sähn, göfft dat hier nich noch 'nen annern Awkaten?«

»Chewoll, Herr Graf,« kam eifrig die Antwort, »äwerst da gahn bloß de armen Lüd hen. Hei is nämlich 'n Jud ...«

»Um so besser,« lachte Malte ingrimmig auf, »Leute, die Grütz' im Kopf haben, kann ich gebrauchen!« – – –

Herr Rechtsanwalt Markuse, der auf der andern Seite des Marktplatzes sein Bureau hatte, empfing den unerwarteten Klienten mit besondrer Zuvorkommenheit und hörte ihm eifrig zu. Ließ sich den interessanten Fall mit allen Einzelheiten auseinandersetzen und tat manche Frage dazwischen, die von eindringendem Verständnis zeugte. Als sein Besucher endlich fertig war, legte er den scharfgeschnittenen Kopf ein wenig auf die Seite und spielte nachdenklich mit einem langen Bleistifte ...

»Gewiß, Herr Graf, wie Sie die Sache darstellen, spricht vieles dafür, daß während Ihrer Minderjährigkeit und auch in den letzten zwei Jahren das Lehnsgut Vellahn in einer Art und Weise verwaltet worden ist, die – gelinde gesagt – nicht gerade in Ihrem Interesse lag. Aber, Sie sagen es selbst, alle dort von Ihrem Herrn Onkel getroffenen Maßnahmen sind unter Zustimmung des Obervormundschaftsgerichtes geschehen. Die öffentliche Meinung dürfte vielleicht finden, daß der Herr Erblandmarschall trotz des nahen Verwandtschaftsverhältnisses an Ihnen recht lieblos gehandelt hat, über solche Sentiments aber hat das Gericht nicht zu urteilen, es hat nur die nackte Rechtslage zu prüfen. Und da stehen die Unterschriften der Behörde unter den Rechnungsabschlüssen. Alles ist für gut und richtig befunden, Sie werden mit Ihrer Klage abgewiesen, von Rechts wegen! ... Und nicht viel anders steht es mit Ihrer Absicht, die Ehe Ihres Herrn Oheims anzufechten, sie entspräche nicht den Bestimmungen des Hohenrömnitzer Hausgesetzes und die aus ihr zu erwartende Deszendenz wäre infolgedessen von der Erbfolge ausgeschlossen. Auch dieser Prozeß erscheint mir von vornherein wenig aussichtsvoll.«

Malte beabsichtigte, etwas dazwischen zu sagen, der Rechtsanwalt aber hob die Hand.

»Bitte, Herr Graf, ich möchte Ihnen meine Ansicht über die Rechtslage zunächst einmal im Zusammenhange vortragen, über Einzelheiten können wir uns nachher unterhalten ... Also, ich gebe zu, Ihre Angabe, die Abschrift von der Hand Ihres Herrn Vaters sei plötzlich in Vellahn verschwunden, und die Tatsache, daß Ihr Herr Oheim die Akten des verstorbenen Justizrates Stahmer nach Hohenrömnitz hat schaffen lassen, das beides zusammen, ja das macht allerdings beim ersten Hinsehen einen etwas befremdenden Eindruck. Für die Überführung der Vellahner Akten wird aber Seine Exzellenz als Lehnsherr sicherlich eine recht plausible Erklärung haben, die dem Gerichte genügt, und selbst wenn auch aus diesen Akten die Abschrift des Dokumentes verschwunden sein sollte, wird das wenig Eindruck machen. Es fehlt an jedem schlüssigen Beweise, daß sie sich überhaupt jemals bei den Akten befunden hat! Ebensowenig aber werden wir beweisen können, daß eine solche Abschrift in Vellahn existiert hat, unter den nachgelassenen Papieren Ihres Herrn Vaters.«

»Aber ich kann's beschwören,« sagte Malte erregt, »ich habe das Blatt mit meinen eigenen Augen gesehen!«

Der Rechtsanwalt schüttelte den Kopf.

»Sie sind Partei, Herr Graf, Ihr Eid wird nicht angenommen. Nun bleibt uns noch das im Schloßarchiv zu Hohenrömnitz aufbewahrte Original der Urkunde, dessen Einsichtnahme Ihnen, als dem nächstbeteiligten Interessenten, nicht verwahrt werden darf. Und da möchte ich aus meiner Kenntnis des Herrn Grafen Christoph Römnitz – ich hatte verschiedene Prozesse gegen ihn zu führen – ja also da möchte ich aufs entschiedenste bezweifeln, daß sich in der Urkunde an der von Ihnen angezogenen Stelle das Wort »mecklenburgisch« finden sollte! Ich halte es für ganz und gar ausgeschlossen, daß der Herr Erblandmarschall bei einer so wichtigen Handlung, wie der Eingehung einer neuen Ehe, eine derartig einschneidende Vorschrift übersehen haben sollte! Und da neige ich fast zu der Ansicht, daß in diesem Falle, wie Shakespeare sagt, der Wunsch des Gedankens Vater war. Sie haben sich's so lebhaft vorgestellt, das Wort müßte in dem Dokumente drinstehen« ...

»Ah nein,« sagte Malte und legte die schwere Faust auf den Tisch, »ich sehe es so klar und deutlich vor mir, wie hier die Schrift auf dem Aktendeckel!« Und er erhob seine Stimme: »Wenn das Wort in der Urkunde fehlt, dann ist diese Urkunde gefälscht!!«

Der hagere kleine Mann auf der andern Seite des Schreibtisches sprang auf und sah ihn schier entsetzt an.

»Um Gottes willen, Herr Graf, das ist eine Behauptung ... Sie sprechen von Seiner Exzellenz dem Herrn Erblandmarschall Grafen Römnitz!! Dem ersten und angesehensten Edelmanne nicht nur hier unsers Kreises, sondern weit darüber hinaus« ...

»Jawohl,« sagte Malte nachdrücklich, »von meinem Onkel Christoph auf Hohenrömnitz! Der mir mein Erbe nicht gegönnt hat vom ersten Tage, wo ich auf der Welt war, weil er mich haßte, wie ... nun wie meinen verstorbenen Vater nur noch! 'ne Stunde lang müßte ich Ihnen erzählen, alte Geschichten ausbuddeln, woher das alles gekommen ist – mir selbst sind erst vor kurzer Zeit die Augen aufgegangen. Aber jetzt begreifen Sie wohl, weshalb die beiden Abschriften haben verschwinden müssen, die eine aus meinem Schranke in Vellahn, die andre aus den Akten?« ...

»Höchst seltsam in der Tat! Und wenn man dazuhält, daß der Herr Erblandmarschall aus seiner zweiten Ehe wirklich auf Nachkommenschaft zu rechnen hat« ...

»Na dann kommen Sie,« drängte Malte, »wir nehmen sofort einen Wagen und fahren nach Hohenrömnitz hinaus. Mein Onkel hat mir ja zugesichert, ich dürfte das Dokument jederzeit einsehen« ...

Der Rechtsanwalt war in der Stube auf und ab gegangen, die Hände auf den Rücken geschlagen. Jetzt blieb er stehen und schüttelte den Kopf mit den an der Schläfe schon grau gefärbten Haaren.

»Mein lieber Herr Graf, das dürfte uns wenig helfen. Gesetzt den Fall, Sie hätten recht: die Technik ist heutzutage auch auf diesem Gebiete so weit vorgeschritten, daß uns der Herr Erblandmarschall die Urkunde getrost zur Ansicht vorlegen dürfte! Wir würden nichts herausfinden. Falls wir aber, was ich nebenbei auch noch bezweifle, einen Gerichtsbeschluß durchsetzen, sie zur Prüfung durch Sachverständige für einige Zeit in die Hand zu bekommen ... ja dann, fürchte ich, wird sie ebenso verschwinden wie ihre beiden Abschriften. Der Zufälle gibt es viele auf der Welt. Weshalb sollte in Hohenrömnitz zum Beispiel nicht plötzlich mal ein Brand ausbrechen?« ...

»Ja dann aber,« sagte Malte eifrig, »wäre doch für jeden vernünftigen Menschen die Beweiskette geschlossen. Dann läge es doch klar auf der Hand, daß mein Onkel in seinem blinden Haß auch vor diesem letzten Mittel nicht« ...

»Einen Augenblick, Herr Graf,« unterbrach ihn der andre, »haben Sie vorhin bemerkt, wie entsetzt ich auffuhr, als Sie hier Ihren Verdacht äußerten?«

»Allerdings« ...

»Nun sehen Sie, genau so wird es dem Herrn Staatsanwalt gehen, wenn er unsre Anzeige in die Hand bekommt. ›Um Gottes willen,‹ wird er sagen, ›das ist ja eine ganz unerhörte Verleumdung gegen unsern allverehrten Herrn Erblandmarschall! Und aus so wenig substantiierte, man könnte fast sagen, frivole Behauptungen hin leite ich ein Verfahren selbstverständlich nicht ein!‹ ... Also wir bekommen einen abschlägigen Bescheid, beschweren uns beim Landgericht in Waren. Dort dieselbe Geschichte, allgemeines Entsetzen, die Beschwerde wird glatt abgewiesen ... Und da möchte ich doch sagen, die ganze Sache sieht mir sehr nach einem anständigen Vergleiche aus. Wenn ich Sie vorhin recht verstanden habe, ist Ihnen von seiten Ihres Herrn Onkels für den Verzicht auf die Erbfolge das Lehnsgut Vellahn geboten worden, zu ewigem Besitz für sich und Ihre Nachkommen« ...

Malte schnitt mit der flachen Hand durch die Luft.

»Diesen Vergleich habe ich schon abgelehnt. Eher verrecke ich wie ein Hund an der Straße, ehe ich aus der Hand meines Onkels ein Almosen annehme!«

»Nun,« wandte der andre ein, »Almosen ist wohl kaum der richtige Ausdruck. Vellahn umfaßt meines Wissens etwa viertausend Morgen guten Acker, Wald und Wiesen ... Außerdem wäre da vielleicht auch noch manches andre zu überlegen. Die Frage zum Beispiel, ob das Kind, das der Herr Erblandmarschall erwartet, auch am Leben bleibt. In diesem Falle würde doch wieder Ihr Erbrecht in Kraft treten?! ... Und ich gehe wohl nicht fehl, daß die Gegenpartei in Anbetracht der besondern Umstände auch zu weiteren Zugeständnissen bereit sein würde ... Wenn Sie also die Unterhandlungen mir anvertrauen wollten, würde ich mich wohl anheischig machen« ...

Malte unterbrach ihn rauh.

»Heißen Dank, Herr Rechtsanwalt, mit meinem Herrn Onkel unterhandle ich nicht mehr. Ich will nichts weiter als mein Recht. Und deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Es muß doch noch irgendeinen andern Weg geben, ihm ans Leder zu gehen? Nicht nur durch diesen Herrn Staatsanwalt, der vor Respekt gleich zusammenklappen würde wie ein Taschenmesser!« ...

»O ja, gewiß, die Zivilklage. Aber das ist eine Geduld- und Geldsache mit höchst zweifelhaftem Ausgange. Ehe sie entschieden wird in letzter Instanz, kann Ihr ganzes Geschlecht ausgestorben sein, und für die Gerichtskosten würde wohl das Lehnsgut Vellahn nicht ausreichen in Ansehung des riesigen Objektes. Das ist natürlich ein wenig übertrieben,« fügte der Rechtsanwalt hinzu, »aber eins bleibt jedenfalls bestehen: ein gehöriges Stück Geld ist zu dem Prozesse nötig!«

»O weh,« sagte Malte mit einem verlegenen Lächeln, »damit sieht's freilich nicht sehr festlich aus. Unter uns, ich bin ein ziemlich armes Luder. Auf dem Speicher ein paar Wispel Weizen und Roggen, die ich an den ... ja, die ich« ...

»An den Juden verkaufen kann,« vollendete Herr Rechtsanwalt Markuse, als der andre stockte. »Sprechen Sie's nur ruhig aus, mich geniert es nicht, daß die Getreidehändler meistens meines Glaubens sind. Es ist ein ganz anständiges Geschäft!«

»Nun denn,« versetzte Malte, »außerdem noch etwa achttausend Mark bares Geld in Gestalt eines Guthabens bei der Landwirtschaftlichen Genossenschaftsbank in Waren. Ich fürchte, das wird für den Prozeß nicht ganz reichen?« ...

»Bei der Landwirtschaftlichen Genossenschaftsbank in Waren?«

Über das blasse Stubenhockergesicht des Rechtsanwalts glitt ein mitleidiger Schimmer. Er reichte seinem Klienten ein Zeitungsblatt vom Tische: »Da, bitte, lesen Sie, Herr Graf!«

Malte streckte die Hand aus. Die Buchstaben tanzten ihm vor den Augen. Gerade nur die Überschrift hatte er gelesen, »Fallissement der Landwirtschaftlichen Genossenschaftsbank in Waren«, dann knüllte er das Blatt in der Faust, ließ sich schwer in den Stuhl zurücksinken. »Mein Herr Onkel scheint wirklich mit dem lieben Gott in einem ganz besondern Verhältnis zu stehen,« sagte er heiser. »Kaum vor vier Stunden gab er mir den Rat, mein bißchen Geld nicht in einem Prozeß zu verplempern, und jetzt ist's schon fort« ...

Der andre trat zu ihm, legte leise die Hand auf seine Schulter.

»Es ist ein harter Schlag, Herr Graf. Wer vielleicht ist's auch ein Fingerzeig. Ich an Ihrer Stelle würde es mir jetzt noch einmal überlegen, ob der gebotene Vergleich unter diesen Umständen einem aussichtslosen Prozesse nicht vorzuziehen wäre« ...

Malte sah ihn feindselig an.

»Sind Sie mein Rechtsanwalt oder der meines Onkels?« ... Und nicht ganz so schroff fügte er hinzu: »Sie können sich vielleicht in die Gedankengänge von unsereinem nicht ganz hineinversetzen! Da wächst man auf als Erbe des größten Besitzes im ganzen Lande, wird vom Schicksal hin und her geschmissen, kehrt glücklich heim mit tausend guten Vorsätzen in der Brust, und mit einem Male wankt das alles. Heimtückisch hat Ihnen einer den Boden unter den Füßen weggezogen. Da sucht der bedächtige Bürgersmann wohl nach einer rettenden Planke, unsereins aber greift nach der Gurgel des Gegners: du oder ich, und wenn's nicht anders geht, wir alle beide« ... Er sah einen Augenblick starr geradeaus mit zusammengebissenen Zähnen ... »Na, ist gut! Was bin ich Ihnen für die Konsultation schuldig?«

»Herr Graf,« sagte der andre, »ich hätte Ihnen gerne geholfen, aber Sie haben meinen Rat ja nicht annehmen wollen. Was nun das Honorar angeht ... Einer Ihrer Tagelöhner, der Heinrich Fiedler, prozessiert gegen die Vellahner Gutsverwaltung wegen ungerechtfertigter Lohnabzüge. Er ist unzweifelhaft im Recht, aber Ihr Verwalter Bergemann macht allerhand Einwendungen, die nur schwer zu widerlegen sind« ...

»Ich habe verstanden,« erwiderte Malte, wollte ihm die Hand schütteln. Aber der kleine Rechtsanwalt stand schon in der Tür zum Wartezimmer, aus dem der bittere Armeleutegeruch gleich einer Wolke drang ...

»Empfehle mich bestens, Herr Graf, und der Nächste, wenn ich bitten darf« – – –

 

Unten im Flur mußte Malte sich ein paar Augenblicke lang gegen die Wand lehnen, ehe er wieder ins Helle hinaustrat. Ein Gefühl der Verlassenheit und Ohnmacht war über ihn gekommen, lähmte seine Knie. Draußen, durch die halbgeöffnete Tür deutlich erkennbar, hob sich am schmalen Ende des Marktplatzes die alte Stadtkirche. Ein verwitterter Ziegelbau, der nach der Überlieferung aus dem vierzehnten Jahrhundert stammte. Daneben der runde Glockenturm, ein trutziges und hochragendes Bauwerk aus unbehauenen Findlingssteinen wie der Burgfried der Hohenrömnitz. Die Jahrhunderte hatten ihm nichts anhaben können, fest und aufrecht stand er da. Ein kleiner Dackel sprang kläffend an seinem Fuße herum ... da mußte Malte fast auflachen: das war das rechte Bild! Der feste Turm da drüben der Herr der Hohenrömnitz, das kleine Hündchen aber er. Er konnte soviel kläffen, als er wollte, der Turm blieb stehen ... Und da beschlich ihn wieder der alte Kleinmut: ob es doch nicht besser wäre, demütig mit dem vorliebzunehmen, was er vorhin verächtlich ein Almosen genannt hatte? ... Ein Grauen kroch ihm den Rücken entlang, wenn er an die Zukunft dachte ... Alles ringsum trieb ihn wieder auf den dunkeln Weg, den er damals gemieden hatte ...

Ein paar Leute kamen die Treppe herunter, er nahm sich zusammen und trat auf die Straße hinaus. Als er in den Sattel stieg, kam über den Marktplatz eine elegante Gig gefahren, eine junge Dame saß auf dem Kutschierbock und lenkte die schlank trabenden Hannoveraner mit sichrer Hand in die zum Bahnhofe führende Straße. Ein hoch mit Gepäck beladener Leiterwagen rumpelte hinterdrein. Malte wandte den Kopf zur Seite, mit einem einzigen kurzen Blick hatte er erkannt, wer da von dannen fuhr. Und nach den vielen Koffern und Kisten zu schließen, dachte sie wohl nicht mehr an eine Wiederkehr ... es war aus und vorbei für alle Zeiten ... natürlich, denn er hatte sie ja bis aufs Blut gekränkt gestern abend ...

Da schoß es ihm jäh durch den Sinn, hier bietet dir das Glück vielleicht zum letzten Male die Hand ... setz deinem alten Wotan die Sporen ein und reit nach ... wenn du recht herzlich um Verzeihung bittest ... »Ah pfui Teufel,« sagte er laut zu sich selbst, so daß der Junge, der ihm den Bügel hielt, verwundert aufblickte. Er warf ihm ein Trinkgeld zu und ritt langsam die Straße hinab, die zwischen niedrigen Häusern ins flache Land hinausführte, nach Vellahn ... Und mitten im hellen Sonnenschein trieben sich finstere Gedanken hinter seiner Stirn ...

War er denn schon so erbärmlich klein gewogen, daß er hinter einer Weiberschürze Zuflucht suchen mußte? Noch dazu mit einer eklen Lüge im Herzen? Überall, wo er ging und stand, dachte er an eine andre, mitten in den Verhandlungen, die er mit dem Rechtsanwalte geführt hatte, war ihm das Bild der zierlichen kleinen Frau plötzlich vor den Augen erschienen ... Hatte ihm das Blut rascher durch die Adern getrieben und die Gedanken verwirrt, so daß er den Faden der Rede verlor ... Das mußte natürlich auch ein Ende haben, dieses törichte Gefühl, aber mit dem Bilde im Herzen konnte er der Gertrud Köhnemann doch keine Liebe vorheucheln? Selbst wenn es ums Leben ging, einen letzten Stolz mußte man doch behalten ...

Der Weg führte bergan, der alte Wotan fiel in Schritt, warf unwillig große Schaumflocken von der Gebißstange. So schweren Dienst hatte er schon lange nicht mehr getan, fast fünf Stunden ging er unter dem Sattel, und dazwischen hatte es nur eine kurze Futterpause gegeben. Die Freude, die er beim ersten Wiedersehen mit seinem Reiter empfunden hatte, war beträchtlich gedämpft, und mit banger Sorge sah er in die Zukunft. Wenn diese Anstrengungen sich von nun an womöglich Tag für Tag wiederholten, fühlte er sich ihnen nicht mehr gewachsen. Da mußte man also beizeiten klug vorbauen – es waren ja noch genug Jüngere im Stall, die weniger geleistet hatten als er ... Auf der Höhe am Wegweiser, wo die Straße sich gabelte, rechts nach Hohenrömnitz, links nach Vellahn, blieb er stehen. Der im Sattel schnalzte mit der Zunge, drückte die Schenkel an, er aber schüttelte nur unwillig den Kopf, daß die Schaumplacken flogen, ließ die Ohren hängen. Und da begriff's der da oben endlich ... Er klopfte ihm den feuchten Hals und gab das Antreiben auf: »Hast recht, Alter, verschnauf dich ein Weilchen. Und oft werd' ich dich wohl nicht mehr strapazieren« ...

Die Sonne neigte sich zum Untergange, golden fiel ihr Schimmer über die grünen Wintersaaten, den noch kahlen Sturzacker und den bräunlichen Buchenwald, in dem zwischen schwellenden Knospen die trockenen Blätter hingen vom vorigen Jahr. Von fernher, hoch über dem schwarzen Saume, der den Blick begrenzte, kam ein Blitzen und Funkeln wie von einem kostbaren Geschmeide ... Die goldene Spitze der Fahnenstange auf dem Hohenrömnitzer Burgfried war es, die im Abendsonnenschein ihre Strahlen warf ... Alles ringsum, so weit die blitzenden Strahlen reichten, war sein, wenn ... ja wenn ...

Malte biß die Zähne aufeinander und starrte in den funkelnden Glanz, bis er die schmerzenden Augen schließen mußte. Und ein jäher Zorn fiel ihn an, das Schicksal mit einer Gewalttat zu seinen Gunsten zu wenden. Er brauchte nur nach Hohenrömnitz zu reiten: lieber Onkel, verzeih, ich hab's mir inzwischen überlegt. Ich nehme deine Bedingungen an, zuvor aber möchte ich die Urkunde sehen, die du mir heute mittag schon ja zeigen wolltest ... Gewiß, sagte der andre, und sie standen in dem Erdgeschoß des Burgfriedes allein ... ein Diener noch vielleicht, der die Lampe hielt beim Öffnen des eisernen Schrankes, aber darauf kam es nicht an, im Notfalle nahm er es mit zweien oder dreien auf. Und dann ein rascher Griff, er barg das kostbare Dokument in der Brusttasche, zwei Faustschläge rechts und links – ehe die beiden wieder zu sich kamen, saß er längst schon im Sattel, war auf und davon ... Die Sachverständigen beugten sich über das Pergament, wiesen mit dem Finger auf die Stelle: hier, da sitzt die Fälschung! ... Er aber stand dabei, schlug ein höhnisches Lachen auf: laß ihn dir jetzt einsalzen, deinen Bankert, Onkel Christoph, die Hohenrömnitz ist mein ...

Dem braven Wotan war es beim Stehen in dem kühlen Frühlingsabend mit einem Male kalt geworden. Er schubberte mit der schweißbedeckten Haut und setzte sich ganz von selbst wieder in Trab, den gewohnten Weg entlang nach Vellahn. Und sein Herr fiel ihm nicht in den Zügel, lachte nur kurz auf. Aus seinen gewalttätigen Entschlüssen wurde nichts. Sei es, daß die eigenen Gedanken ihm in den Arm fielen oder ein unvernünftiges Vieh, das in einen andern Weg lenkte. Wer wollte wissen, welcher Weg der richtige war? ... Und während er in stuckerndem Trabe dahinritt, graute ihm vor dem langen Abend mit seiner Einsamkeit. Was blühte ihm in dem stillen alten Haus? Ein neues Verhör mit dem Diener Lentz, ob in den zwei Jahren nicht doch ein Fremder das Schreibzimmer betreten hätte, ein neues Kramen und Suchen in alten Papieren und Schränken, und schließlich der brütende Stumpfsinn. Am Ende betrank man sich, nur um vor den quälenden Gedanken Ruhe zu finden und wie ein nasser Sack so schwer ins Bett zu fallen. Aus den Gedanken wurde ja doch keine Tat ... Drüben aber in der niedrigen Stube des Forsthauses saß eine und wartete auf ihn ... »Auf Wiedersehen,« hatte sie gesagt, »hoffentlich recht bald!« ... Eine zierliche Feine war es, von ganz anderm Schlage als all die plumpen Landfräuleins in der Runde ... mit wuchtendem Schritte gingen die in ihren Schuhen, und schwerfällig waren ihre Bewegungen ... Und man versündigte sich ja noch nicht, wenn man an die im Forsthause dachte. Törichtes Begehren konnte man fest im Busen verschließen, und die einsame kleine Frau dachte auch ja an nichts andres als einen ehrbaren Zeitvertreib ...

Es dunkelte schon, als er wieder vor der Freitreppe hielt, und fast mußte er lachen: die lieben beiden Altchen standen fröstelnd in der Abendkühle da, wie sonst, als wären die beiden letzten Jahre spurlos vorübergegangen. Er stieg aus dem Sattel, gab die Zügel dem wartenden Reitknechte: »Na, was Neues, Lentz?«

Der Alte nahm ihm Hut und Reitstock ab.

»Chewoll, Herr Graf, ein Brief is gekommen von der gnädigen Frau Bankdirektor, wo sich nach dem Unfall gestern in der Försterei einquartiert hat. Die Zofe hat ihn eben gebracht. Und denn: der Verwalter is ja soweit ganz friedlich abgezogen. Erst wollte er wohl noch ewige Fisimatenten machen, aber der Herr Förster hat ihn auf den Schwung gebracht« …

Das letzte hatte er gar nicht gehört, es interessierte ihn auch nicht. Er hob den Kopf: »Wo ist der Brief? Und ist Frau Steinfeld vielleicht schon wieder nach Alten-Krakow gefahren?«

»Noch nicht,« sagte Lentz, »aber vorhin war die Frau Förster da. Sie meint', lang würd' sie sich die Rawasche nicht mehr ansehen. Es macht ihr zu viel Arbeit, in einem fort auf ihren Mann aufzupassen. Kaum daß sie den Rücken dreht, sitzt er in der Stube bei der Frau Direktor drin, macht Augen wie ein verliebter Kater und erzählt ihr Jagdgeschichten.« Und Miken, die auf einer Tablette den Brief gebracht hatte, fügte eifrig hinzu: »Che, und den Geruch, hat sie gesagt, würd' sie wohl nich in 'nem Jahr 'rauskriegen aus den Tapeten und ihren Betten. Nach Rauchtabak müßt' es in einer ordentlichen Försterwohnung riechen, meint sie, aber nich nach Parfäng wie in 'nen Apothekerladen!«

Malte riß ärgerlich den Umschlag auf.

»Die gute Schwarzin soll sich gefälligst nicht haben! Frau Steinfeld bleibt da, so lange es der Arzt für nötig hält. Wenn's nicht anders geht, kann sie ja bis zu ihrer Genesung hier im Schloß wohnen, und ich zieh' für die paar Tage ins Verwalterhaus!« ...

»Ach du mein lieber Gott,« wollte Miken sagen, Lentz aber hieß sie mit einer kurzen Handbewegung schweigen. Wenn man bei solchen Dingen widersprach, machte man sie nur schlimmer ...

In dem Briefe standen nur ein paar Zeilen in einer großzügigen steilen Schrift, fast wie von einer Männerhand. Er wartete nicht, bis die Lampe angesteckt wurde, trat ans Fenster. Der letzte Abendschimmer, der durch die Scheiben drang, reichte noch gerade zum Lesen ...

»Der prächtige alte Förster hat mir viel von Ihnen erzählen müssen, mein lieber Herr Graf, ich habe den ganzen Tag an Sie gedacht. Man findet so selten Menschen, deren nähere Bekanntschaft verlohnt. Ich bange mich fast danach, Sie wiederzusehen. Und morgen früh muß ich fort von hier ...

Liselotte S.«

Malte schob den Brief in die Brusttasche, die Hand zitterte ihm dabei. Ein Fieber und eine Unrast brannten in seinen Adern, wie in jener Stunde, als ihm hier einer von dem fernen Wunderlande gesprochen hatte und lockenden Abenteuern ...

»Rasch, Lentz, leg mir 'nen anständigen Rock zurecht, und du, Miken: eins von den Küchenmädeln soll sofort nach dem Forsthaus springen und eine schöne Empfehlung ausrichten. In spätestens einer halben Stunde würde ich mir die Ehre geben, der gnädigen Frau meine Aufwartung zu machen.«

»Chewoll,« sagte die Alte und stieg leise brimmelnd die Treppe zur Küche hinab. Dazu brauchte sie nicht erst die Frau Försterin, das fühlte sozusagen ein Blinder mit dem Krückstock: der junge Herr brannte lichterloh! Aber was war da zu machen? Man mußte es brennen lassen! Einem jungen Menschen konnte man leider keinen alten Kopf aufsetzen ...

Und nachher, als sie auf der Diele das unberührte Nachtessen wieder abräumte, spann sie denselben Faden weiter.

»Haben Sie gerochen, Lentz? An dem Brief war auch Parfäng!«

»Che,« sagte er, »ich hab das wohl gemerkt. Aber neulich hab' ich aus Langeweile in ein' Buch gelesen, das wär' jetzt so Mode. Auch die feinsten Damen würden sich mit einem Wohlgeruch begießen, und jede tät' sich 'nen andern 'raussuchen für sich allein. Das da, zum Beispiel, hat vorhin die Frau Förster gemeint, wär' so was wie Flieder mit 'nem lütten Schuß Pferdestall dazwischen.«

»Ach was,« erwiderte Miken ärgerlich, »'ne anständige Frauensperson, wenn sie sauber ist und tugendhaft, hat sie den besten Wohlgeruch! Wenn sie Parfäng an sich gießt, hat sie was zu verstecken! Und haben Sie das wohl an unsrer seligen Frau Gräfin erlebt, wenn sie durch die Stube ging? Höchstens nach ein büschen Lawendel hat es gerochen, von wegen der Wäsche« ...

»Na ja,« meinte er achtungsvoll, »das war auch 'ne Frau Gräfin!« Und nach einer Pause fügte er beklommen hinzu: »Aber ich weiß nich, Miken – mich is das all den ganzen Tag so schwer auf der Brust ... und ich möcht' auch nichts unnütz bereden, aber das gibt hier bald ein Unglück. Das hat mich noch nie betrogen« ...

Sie zuckte geringschätzig mit den Schultern.

»Das braucht einem nicht erst zu schwanen, das Unglück is schon da! Die Frau Förster hat ja vorhin erzählt, wie schön daß sie's wieder eingefädelt hatte mit der Alten-Krakower Baroneß, und da mußte mit eins diese schlechte Person dazwischenkommen mit ihrem Parfäng! ... Ich hab' noch nie nich geflucht in meinem Leben, aber da möcht' man wirklich Himmelkreuzmillionenschockdonnerwetter zu sagen!« ...

»Fürs erstemal ging es schon ganz gut,« meinte Lentz mit einem trüben Lächeln. Und sorgenvoll sprach er weiter: »Mit unserm jungen Herrn aber ... eins zieht das andre nach. In so einer Zeit, und man wartet auf eine Entscheidung von der Gnade unsres lieben Herrgotts, da soll man sein Herz nich mit 'ner Sünde beflecken. Er läßt sich nicht spotten« ...

»Che,« sagte Miken »und bei diese Frau Bankdirektor aus Berlin können Sie sich nich mit ihrem breiten Puckel dazwischenstellen, wie damals beim Gewehrschrank. Das würd' wohl nich viel helfen« ...

Danach schwiegen die beiden Altchen, jedes in seine trüben Gedanken versunken. Bis Lentz wieder zu sprechen anfing, mehr zu sich selbst ...

»Es kommt ja ganz bestimmt und gewiß, aber wenn man sich's vorstellt, will es einem gar nich in den Kopf herein. Vierzig Jahre hat man nun in diesem Haus seine Arbeit gehabt, gegessen, getrunken und geschlafen, und mit eins soll das zu Ende sein? ... Ich weiß gar nich, was ich dann mit mir anfangen werd', wenn das hier zu Ende ist« ... Und er sah mit schwimmenden Augen in den hellen Kreis, den die Lampe auf dem Tischtuche zeichnete.

»Na,« sagte Miken und strich sich energisch die weiße Schürze glatt, »noch is er ja nich auf der Welt, der uns hier alle zum Tempel 'rausjagt. Und in diesen letzten Tagen hab' ich in der Zeitung was gelesen, und es is mich eine rechte Tröstung gewesen, daß es nämlich auf vier Jungen in Deutschland immer fünf Deerns gibt ... Statistik nennen sie das. Diese Statistik wünsch' ich unserm Herrn Erblandmarschall von Herzen!«

»Ich auch, weiß Gott!« ...

»Na schön,« sprach Miken weiter, »aber ich habe mich für den andern Fall die Sache nu so zurechtgelegt! Fünfzehnhundert Taler hab' ich gespart, da zieh' ich nach Rostock und fang 'n Handel mit Grünzeug an und Räucherfisch. Bloß von meine Renten zu leben, dazu fühl' ich mich noch zu rüstig – ich muß was zu arbeiten haben!«

»Nach Rostock,« sagte Lentz gedankenvoll. »Na wie wär's, Miken, wenn wir beide da zusammenziehen möchten?« ...

»Ach Gott, Herr Lentz« ... Eine flüchtige Röte huschte über das verschrumpelte Altjungferngesichtlein, und sie sah an ihrer dürftigen Gestalt hinunter. »Zusammen? Ich mein', das möchte wohl die Trauungskosten nich mehr verlohnen« ...

»Fräulein Dannappel,« erwiderte er ernsthaft, »das meine ich auch nich. Ich bin Sie nich nachgestiegen, wie Sie noch 'ne nüdliche runde Deern waren – also werden mich solche Dummerhaftigkeiten auch heute nich beifallen. Ich möcht' nur einen Unterstand haben, daß ich Arbeit suchen kann. Meine achttausend Taler, die ich gespart hab' in vierzig Jahren, die sind ... ja, da hab' ich eine Verfügung darüber getroffen für einen andern. Unsereins weiß sich doch eher zu helfen, wenn es hier mal zu Ende is« ...

Miken fuhr sich mit der Hand über die Augen, heulte laut auf.

»Lentz! ... Un da deent man mit so 'nem rugen Kierl tosamen, mehr as dörtig Jahr ... zankt sick un schimpt sick männigmal, wil hei immer as 'n Swinegel rümmergeiht, de Stacheln nah buten gestellt« ...

»Che,« sagte Lentz mit einem trüben Lächeln, »oder as 'n Pannkoken. De ruge Schal is buten, dat söte Plumenmus sitt inwendig ... da möt man sick ierst dörchfreten ... von buten nah binnen« ...

 

In der guten Stube des Försterhauses brannte die Lampe über dem weißen Tischtuche, warf durch das offene Fenster ihren hellen Schein auf die sauber geharkten Beete hinaus. Als Malte nach der Klinke der Gartentür griff, erklang drinnen ein fröhliches Lachen, wie das Klingen eines silbernen Glöckleins hörte es sich an. Ihm aber war es wie eine Warnung, kehr um ... In Einsamkeit und Trauer, hatte er geglaubt, würde sie sitzen, oder zum mindesten in banger Erwartung, und jetzt lachte sie – lachte aus vollem Halse, weil sie von dem alten Förster irgendeine Schnurre gehört hatte ... Das Herz schlug ihm bis in die Kehle hinauf, wie vor einer schweren Entscheidung, gleich danach aber schalt er sich selbst einen Narren. Weil sie mit seinem Schicksal ein bißchen Mitleid empfand, konnte sie selbst doch nicht in Sack und Asche trauern? ... Er klopfte an und trat ein ...

Der Förster Schwarz hatte sich nach einer kurzen Respektspause empfohlen, seine rundliche Gattin aber blieb am Ofen stehen, setzte ein feindseliges Gesicht auf und strickte unverdrossen an einem langen Wollenstrumpfe. Da verlief die erste Unterhaltung recht einsilbig. Frau Liselotte bedankte sich für den gütigen Besuch, er gab seiner Freude Ausdruck, daß sie so rasch sich von dem bösen Sturze erholt hätte, und es entstanden lange Pausen des Schweigens. Nur ein heimliches Einverständnis war zwischen ihnen und gab dem tropfenweis rinnenden Gespräch einen seltsamen Reiz: sie beide wünschten die lästige Zuhörerin von Herzen über alle Berge! Und die rundliche Frau Försterin schien endlich verstanden zu haben. Gegen halb zehn Uhr packte sie ihr Strickzeug zusammen, ging mit einem unwirschen Gutenachtgruß aus dem Zimmer. Als wenn sie hätte sagen wollen: »Ich habe lang genug aufgepaßt. Wem nicht zu raten ist, dem ist nicht zu helfen« ... Noch eine Weile lang hörte man ihre tappenden Schritte durch die dünne Decke des Oberstockes, bis sie sich endlich zur Ruhe begab ...

Frau Liselotte streckte das ringgeschmückte Händchen über den Tisch: »Endlich! ... Endlich komme ich dazu, mich zu freuen, daß Sie gekommen sind. Ich verzweifelte schon, ich müßte ohne Abschied fortgehen, und da kamen Sie endlich!« ...

Er führte die kleine Hand an seine Lippen. Wie ein Rosenblatt so zart lag sie in seiner breiten Ritterfaust. Er aber sagte mit einer gewissen Bitterkeit, von dieser Verzweiflung hätte er nicht viel gemerkt. Als er an der Gartentür gestanden, wäre es ihm vorgekommen, als hätte sie sich recht gut unterhalten ...

»O Gott,« seufzte sie auf, »mißgönnen Sie mir das bißchen Zerstreuung? Wenn man ein so freudloses Leben führt wie ich, da ist man für jeden kleinen Sonnenstrahl empfänglich, den der Zufall bringt ... Und gerade bei Ihnen, Herr Graf, hatte ich auf ein wenig Verständnis gerechnet« ...

»Na ja,« sagte er schwerfällig, »ich lache auch herzlich gerne, aber wenn es einem so koddrig geht wie mir« ... Er brach ab, denn es widerstrebte ihm, von seinen Sorgen zu sprechen.

»Ich habe davon gehört,« erwiderte sie leise, »es muß schrecklich sein, wenn man bei der Heimkehr alles so verändert findet! Und ich möchte Ihnen so gerne helfen, aber was vermag eine schwache Frau? Nichts als ein recht herzliches Mitleid empfinden« ... Und als er nicht antwortete, fuhr sie fort: »Seltsam ist es, wie der Zufall die Menschenkinder durcheinanderwirbelt. Gestern vormittag hatte ich noch keine Ahnung von Ihnen, heute sitzen wir uns gegenüber, sprechen von dem Letzten, was unsre Herzen bewegt. Fast ist es wie eine Fügung ... Und ich glaube daran ... An jene geheimnisvolle Macht, die Menschen zueinanderführt, die freudlos durch das Leben wandern ... ein umgekehrter Magnetismus ist es gewissermaßen, der Gleiches zu Gleichem gesellt« ... Sie brach ab, eine kleine Träne schimmerte zwischen ihren seidenweichen Wimpern ...

Und Malte saß da, verschränkte die groben Hände ineinander, daß die Gelenke krachten, und wußte nichts zu erwidern. Zu hoch war der Flug der Gedanken, da konnte er nicht mit. Nur das Herz schwoll ihm in der Brust, schnürte ihm fast den Atem ab ...

Und die zierliche kleine Frau fuhr fort zu sprechen mit dem feinen Stimmchen, das sich wie Sammet so weich ins Ohr schmiegte. Erzählte von einer trostlosen Jugend mitten in Luxus und kalter Pracht ... einer Jugend ohne Liebe, denn die Eltern lebten getrennt ... ganz einsam hätte sie zwischen den beiden haßerfüllten Menschen gestanden, von zwiespältigen Gefühlen hin und her gerissen. Und weiter erzählte sie, wie sie dem ersten gefolgt wäre, der um sie warb, nur um aus diesen trostlosen Verhältnissen herauszukommen ... Einem wenig achtungswerten Menschen, den sie leider zu spät in seiner ganzen Hohlheit erkannt hätte ... Bloß um ihr großes Vermögen wäre es ihm gegangen und um den gewaltigen Einfluß des Schwiegervaters, der in der Handelswelt aus unbeträchtlichen Nullen vollwichtige Ziffern zu machen verstand ... Und seither lebten sie gewissermaßen aneinander vorbei, kein gemeinsames Band wäre zwischen ihnen als die stille Übereinkunft, dem Gerede der Welt keine unnötige Nahrung zu geben. Sie ginge in die Einsamkeit mit ihrem Schmerz, er aber käme von Zeit zu Zeit zu Gast, um wenigstens den Schein zu wahren ...

So sprach Frau Liselotte mit ihrem feinen Stimmchen, und der junge Graf Römnitz hörte zu. Manches war da, was ihn an eigenes Erleben erinnerte ... er war ja auch ohne Liebe durchs Leben gegangen; der ihm am nächsten stand nach dem Verluste der Eltern, verfolgte ihn mit unauslöschlichem Haß ... Mit zehrendem Mitgefühl sah er das zierliche kleine Persönchen an, das da drüben, von Trauer und Schmerz überwältigt, den blonden Kopf gegen die harte Leiste des Sofas lehnte. Die großen Augen geschlossen ... wie ein dunkler Schimmer lagen die langen Wimpern über den zarten Wangen ... Die Brust zersprengte «e ihn, fast vor Liebe und Mitgefühl ...

Und da geschah es fast wie ein Wunder ...

Eine sanfte Röte stieg ihr ins Gesicht, wie unter einem Zwange stand sie auf mit geschlossenen Augen und tastete sich um den Tisch ... ging ein paar Schritte ins Zimmer, mit einem leisen Wehlaut sank sie in dir Knie ... Da griff er zu, um sie zu stützen, willenlos hing sie in seinem Arm. Er preßte sie an sich, bedeckte ihr Gesicht, Mund und Augen mit brennenden Küssen ... Und mit einem Male kam sie wieder zum Bewußtsein, sah ihn aus zornigen Augen an. Mit der geballten kleinen Faust stieß sie ihn gegen die Brust, wehrte sich heftig in Verwirrung und Scham, nur um so fester griff er zu. Da erlahmte ihr Widerstand, und zwischen brennenden Küssen stammelte sie abgerissene Worte, halb wie ein widerwilliges Geständnis ... Schon in der ersten Sekunde hätte sie's gefühlt, daß sie ihm verfallen wäre mit Leib und Seele, er aber raunte an ihrem kleinen Ohr, ihm wäre es nicht anders ergangen. Nur ein ganzes Ende früher schon. Als er sie gestern abend in seinen Armen nach Hause getragen, wäre ihm zumute gewesen, als trüge er sein Schicksal ...

Danach saßen sie lange zusammen, Hand in Hand, tauschten Küsse und allerhand törichte Liebesworte. Wenn er aber einen Anlauf nahm, um ernsthaft über die Zukunft zu sprechen, über die Schritte, die nun doch notwendig wären, ihre unwürdige Fessel zu lösen, hielt sie sich lachend die Ohren zu ... Womit er sich jetzt schon den Kopf beschwerte, das käme alles von selbst! ... Aber ein Stelldichein wollten sie verabreden für den nächsten Tag – ob sie ihn nicht heimlich besuchen könnte in seinem Schloß? Sie verginge vor Neugier, zu sehen, wie ihr Liebster hauste ... In Maltes Seele regten sich Bedenken, was würden wohl Lentz und die Miken dazu sagen? ... Wer schließlich war er doch der Herr und reichlich erwachsen, und weshalb sollte er seine Braut nicht in seinem Hause empfangen, wenn auch unter etwas ungewöhnlichen Umständen? ... Und ob sie nicht wenigstens eine Freundin hätte, die bei dem Besuche als Anstandsdame mitkommen könnte, fragte er. Da schloß sie ihm mit einem Kusse den Mund: »O du lieber großer Junge du, ganz allein will ich mit dir sein, und wo soll ich hier in der Geschwindigkeit eine Freundin hernehmen? Vielleicht die stolze Baronin Perkwald?« ...

Es gab ihm einen Stich im Herzen, als sie den Namen aussprach, aber sie konnte ja nicht wissen, an was sie damit rührte ... Und er tat, als überlegte er eifrig, wie sie es am besten anstellen könnten, damit sie ungesehen ins Schloß käme. Auf der Straße, die durchs Dorf führte, wäre es unmöglich, bis es ihm plötzlich einfiel, auf der andern Seite läge ja der See! Wenn sie mit Dunkelwerden am Ufer warten wollte, würde er mit dem Boote kommen, sie abholen. Und er beschrieb ihr genau die Stelle. Eine gewaltige Eiche stände ganz allein am Rande einer niedrigen Fichtenschonung, sie könnte gar nicht fehlgehen. Und sie brauchte sich nicht zu fürchten, denn er würde natürlich längst vor ihr am Platze sein, mit dem Boote im Uferschilf warten ...

Sie schmiegte sich zärtlich an ihn: »Mich fürchten, wenn du in meiner Nähe bist?« ... Und mit einem unsäglich liebreizenden Lächeln fügte sie hinzu: »Wie der Zufall spielt ... Nichts als Ruhe habe ich für meine alten Tage hier gesucht, und jetzt erlebe ich ein romantische Abenteuer nach dem andern« ...

»Alt?« sagte er mit trunkenen Augen und zog sie an sich, daß er das Pochen ihres Herzens spürte, »das Leben fängt jetzt erst an! Für mich bist du die Jüngste und Schönste und Herrlichste auf der Welt! Und ich werfe alles hinter mich, nur dir gehöre ich allein. Will dir dienen als dein getreuer Knecht und Herr zugleich, dich schirmen und schützen gegen alle Gefahr« ...

Sie erschauerte leicht in seinem Arm, an der zum Nebenzimmer führenden Tür pochte es leise. Frau Liselotte strich eilig die verwirrten Haare zurecht, setzte sich ehrbar wieder aufs Sofa. »Herein,« sagte sie mit klarer Stimme.

Die Zofe erschien auf der Schwelle.

»Gnä' Frau, ick bitt' sehr um Entschuldigung, aber der Herr Doktor hat mir jesagt, er reißt mir 'n Kopf ab, wenn ick Sie nich um elf Uhr wieder zu Bett bring'« ...

Frau Liselotte lächelte.

»Diese Herren Ärzte – die reinen Tyrannen!« ... Sie sah nach einer auf dem Tische stehenden kleinen Stutzuhr, schlug erschreckt die Hände zusammen: »Aber wahrhaftig, es ist ja schon mehr als 'ne halbe Stunde drüber! Wie beim Plaudern die Zeit vergeht ... nun denn, Herr Graf, entschuldigen Sie eine arme Patientin, wenn Sie Ihnen für heute den Stuhl vor die Tür setzt« ...

Malte errötete heftig vor Verlegenheit. Erst jetzt bemerkte er, daß er sitzen geblieben war, wie ihm später einfiel, vor Verwunderung, daß die kleine Frau so rasch von einer Stimmung in die andre fand. Wer sie sah, wie sie so ruhig mit der Dienerin sprach, hätte wohl kaum geahnt, daß sie noch vor wenigen Minuten in heißer Umarmung trunkene Liebesworte gestammelt hatte ... Er sprang auf, entschuldigte sich verwirrt, er hätte gar nicht gemerkt, wie spät es schon wäre. Sie streckte mit kokettem Lächeln die ringgeschmückte Hand über den Tisch ...

»Nun, jedenfalls ein Beweis, daß Sie sich nicht gelangweilt haben, Herr Graf ... Auf Wiedersehen also, recht bald ... Und, Marie, nehmen Sie die Lampe, leuchten Sie dem Herrn Grafen« ...

Während Malte das zierliche Händchen an die Lippen führte, drang es wie ein Hauch an sein Ohr: »Denk an mich, Liebster, und träume von mir« ...

Wie trunken ging er hinaus, auf dem Flur griff er in die Tasche, leerte sein Portemonnaie in die ausgestreckte Hand. Und er achtete nicht darauf, daß die hübsche Zofe trotzdem ein wenig zufriedenes Gesicht machte. Als wenn sie von den Gästen ihrer Herrin noch ein andres Trinkgeld gewöhnt wäre ...

 

Draußen schien der Vollmond am wolkenlosen Himmel, fast taghell lag die Dorfstraße da mit den niedrigen Häuschen zu beiden Seiten. Malte blickte nach dem Forsthause zurück, hinter dessen Fenstern eben das Licht erlosch: da schlummerte sein Glück! Wie ein Sturmwind so rasch war es gekommen, jetzt durfte es wohl der Ruhe pflegen ... In ihm aber war es wie ein seliger Rausch, trieb ihn, irgendeine Torheit zu begehen. Laut zu schreien und zu lärmen, quer feldein zu rennen oder Rad zu schlagen vor Freude ... Jetzt erst hatte er die Liebe kennen gelernt; alles, was vorher gewesen war, erschien ihm wie ein Trunk abgestandenen Wassers gegen brausenden Schaumwein ... Wie Feuer rann es durch seine Adern, in seinem Herzen war ein Klingen und Singen und das unsägliche Glücksgefühl durchdrang ihn von Kopf bis zu Füßen. Ordentlich leicht schritt er dahin, aller Sorgen ledig ... Ein plattköpfiger, dickbäuchiger Kerl wimmelte da irgendwo herum, den schob man mit einer Handbewegung beiseite: verziehen Sie sich gefälligst, Sie bejammernswertester sämtlicher Sterblichen, Sie haben hier nichts mehr zu suchen. Wer einen Edelstein besitzt und hält ihn wie einen wertlosen Kiesel, braucht sich nicht zu wundern, wenn er ihn verliert ...

Auf der hellen Straße kam ihm ein Männlein entgegen, das anscheinend beim abendlichen Trunke schwer geladen hatte. Im Zickzack ging es, von einer Seite zur andern. Er sah schärfer hin, es war der alte Leibkutscher Fuhbel. Lachend hielt er ihn an.

»Na, Fuhbel, du scheinst ja 'nen Lütten gehoben zu haben?«

Der Kleine blieb erschrocken stehen, riß die Mütze vom Kopfe und nahm sich zusammen.

»Ach du mein lieber Gott, der Herr Graf! Und entschuldigen Sie man vielmals, Herr Graf, es wird nich wieder vorkommen« ...

»Unsinn,« sagte er lachend, »weshalb soll man nicht mal über die Stränge schlagen? Wo hast du dir denn den Affen geholt?«

»In Hohenrömnitz, Herr Graf. Da ist es abends zu gemütlich im Zuterreng mang diese Italieners! Die Kerls spielen auf ein Instrument, wo sie Mandeline zu sagen, wie 'ne Fiedel is es, nur ein büschen dicker, und sie spielen mit die Hand, die Deerns aber kloppen auf so 'ne lütte Trommel mit Schellen dran und drehn sich, daß man die drallen Waden sieht. Zu appetitlich is das!«

Malte drohte ihm mit dem Finger.

»Fuhbel, Fuhbel! Und was sagt deine Alte dazu?«

Der Kleine spuckte in die Hand und machte eine nicht mißzuverstehende Handbewegung.

»Gar nichts sagt sie, ich krieg' bloß meine gewöhnliche Portschon Schacht. Weil sie nämlich stärker is wie ich. Aber es nutzt nichts. Wenn ich 'n Abend frei hab', lauf ich doch wieder hin« ...

»Unverbesserlicher alter Sünder,« lachte Malte und wollte weitergehen. Der Kleine aber machte ein Gesicht, als wenn er noch etwas auf dem Herzen hätte. Dablieb er stehen: »Na, was noch weiter, Fuhbel?«

»Zu Befehl, denn noch weiter ... also heute war das Vergnügen man kurz im Zuterreng. E» hat nämlich im Schloß gebrannt« ...

Malte schreckte zusammen: »Gebrannt?« Der Alte aber hob beruhigend die Hand.

»Es war man bloß ein lüttes Feuer, weil Exzellenz die Lampe umgestoßen hatte im Schreibzimmer oder so. Der Herr Schwager kam in den Zuterreng gelaufen, sagte was auf italienisch, und da haben wir es mit 'nem paar Dutzend Eimer Wasser ausgelöscht, ganz still. Daß nämlich die Frau Erblandmarschall nich beunruhigt werden sollte und wegen dem Kleinen keinen Schaden nich kriegen. Es is auch nich viel passiert ... bloß der Teppich verbrannt und auf dem Schreibtisch 'n Hümpel Papiere, und eins von die alten Bilder war angesengt. Aber der Paalzow hat gemeint, das wär' weiter nich schlimm, das könnt' man wieder zurechtmachen mit 'n büschen Firnis und Ölfarb'« ...

Malte hatte schweigend zugehört. Wie hatte am Nachmittag der kleine Rechtsanwalt gesagt? ... Er würde sich gar nicht wundern, wenn es nächstens mal in Hohenrömnitz zufällig brennen würde ... Der Zufall war gar rasch eingetreten, und nur ein paar alte Papiere waren verbrannt ...

»Gute Nacht, Fuhbel« ...

»Gute Nacht, gehorsamst, Herr Graf« ...

Malte ging langsam weiter, das übermütige Glücksgefühl war verflogen ... »Nur ein paar alte Papiere waren verbrannt« ... Während er hier tändelte und koste, hatte man ihm drüben sein Recht gestohlen. Er war drauf und dran gewesen, danach mit kühner Faust zu greifen, der Kleinmut hatte ihn auf den andern Weg geführt. Oder, wenn er sich genau auf Herz und Nieren prüfte, verliebte Sehnsucht ... Gar nicht erwarten hatte er's können, bis er wieder nach, Hause kam, er hätte ja den alten Wotan mit kaltem Blute in den Weg lenken können nach Hohenrömnitz. Aber da saß eine zierliche Feine im Försterhause, wartete auf ihn ... Und mit einem Male lachte er aus vollem Halse auf: was plagte er sich hier um alte Papiere – sie waren jetzt ja wertlos für ihn wie ein Flederwisch! Mit der zierlichen Feinen hatte er sich ja eben verlobt, ohne daran zu denken, was für strenge Gesetze drüben in der Hohenrömnitz auf einer alten Eselshaut geschrieben standen ... Oder war seine zukünftige Frau Eheliebste vielleicht eine »mecklenbörgisch Jungfrouw von untadeligem Adel?« ... Mit je sechzehn Ahnen von Vaters- und Mutterseite? ... Ein gewöhnlicher Kaufmann war ihr Vater, freilich mit ungezählten Däusern. Und das war ganz gut so, für den Fall, daß es hier schief ging ... Daran hatte er, weiß Gott, nicht gedacht, als er den Arm nach ihr ausstreckte, an alles andre eher – sein Gewissen war rein! Er brauchte sich nicht zu schämen ... er hätte um sie geworben, auch wenn sie arm gewesen wäre wie eine Kirchenmaus! Aber der ungeheure Reichtum – wenn er sich recht entsann, hatte der kahlköpfige Dicke von dreizehn Millionen gesprochen – war keine unangenehme Begleiterscheinung. Von der Summe konnte er sich keine rechte Vorstellung machen, vielleicht war sie groß genug, um damit die ganze Hohenrömnitz zu kaufen ... Und lustig schoß es ihm durch den Sinn: wie, wenn sich nun drüben die Hoffnungen nicht erfüllten? Wenn er nach wie vor der Erbe blieb? Dann hatte der Herr Onkel sich in der eigenen Schlinge gefangen, konnte nicht herkommen und sagen: »Diese Ehe ist nicht gültig, sie entspricht nicht unserm Hausgesetz!« ... Man lachte ihm in die Zähne: »Bitte, produzier es doch, das Pergament, worauf das geschrieben steht ... Und, wie sagst du, es ist damals bei dem Brand in deinem Schreibzimmer vernichtet worden? ... Ach, wie schade! Nun mußt du wohl mit mir einen Prozeß anfangen! Aber bis der entschieden wird in letzter Instanz, können ganze Geschlechter aussterben ... Und wie alt bist du, lieber Onkel? Siebzig Jahre« ... Zu lustig war das – –

Auf der Diele brannte noch Licht. Lentz trat herzu, nahm ihm Hut und Stock ab.

»Die Miken hat noch 'n büschen was Kaltes hingesetzt auf den Tisch. Weil Herr Graf doch zu Mittag und Abend nichts gegessen haben« ...

Malte hieb ihn vergnügt auf die Schulter.

»Essen? ... Nee, Alter! Aber hol 'ne Buddel Sekt aus dem Keller! Ich möchte für mich solo allein ein freudiges Ereignis begießen!«

Der Alte griff mit frohem Schreck nach dem Herzen.

»Um Gott, Herr Graf, hat es vielleicht drüben 'ne lütte Komteß gegeben?« ...

»Nee, noch nich! Aber vielleicht kommt das auch noch mit Gottes Hilfe. Vorläufig sind mal erst in der Hohenrömnitz ein paar alte Schwarten verbrannt« ... Er reckte die Arme in die Lust: »Lentz, ich bin glücklich ... glücklich wie noch nie, seit ich auf der Welt bin ... Ich kann dir das nicht näher erklären, du und die Miken, ihr altmodischen Leutchen, würdet es ja doch nicht verstehen« ...

Lentz nickte nur, stieg schweigend in den Keller hinab. Er brauchte keine näheren Erklärungen, er war ja auch mal jung gewesen als flotter Husar. Und er hatte den schwülen Geruch wahrgenommen, den sein Herr in den Kleidern mitbrachte ... Den kriegte man nicht, wenn man nur so still in der Stube saß und sich ehrbar unterhielt ... Da mußte man schon ganz nahe zusammenrücken mit der, die diesen Geruch an sich hatte – – –


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